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Die Mühle, in der Will mit seinen Pflegeeltern lebte, stand zwischen Fichtenwäldern und hohen Bergen in einem fallenden Tal.
Droben schwebte Hügel über Hügel hinan, bis sie hinausschwebten aus dem Grund der wetterfesten Hölzer und nackt standen gegen den Himmel. Ein Stück Weges über der Mühle lag ein langes, graues Dorf wie ein Saum oder Fetzen von Dunst an einer waldigen Hügelflanke, und bei günstigem Wind konnte der Schall der Kirchenglocken herniedertropfen, dünn und silbern, bis zu Will.
Drunten wurde das Tal steil und steiler und weitete sich gleicherzeit rechter und linker Hand; von einer Anhöhe neben der Mühle wars möglich, seine ganze Länge zu sehen und noch fern darüber hinaus über eine weite Ebene, wo der Strom sich bog und glänzte und sich hinbewegte, von Stadt zu Stadt, auf seiner Fahrt dem Meere zu. Es war so gekommen, daß durch das Tal eine Paßstraße in ein benachbartes Königreich führte; somit – obgleich es ruhig und ländlich dalag – war der Weg längs des Flusses eine bewegte Verkehrsstraße zwischen zwei glanzvollen und machtvollen Staaten. Den ganzen Sommer lang kamen die Reisewagen emporgekrochen oder tauchten hurtig nieder hinter der Mühle; und da sichs zufällig auf der anderen Seite bedeutend leichter steigen ließ, wurde der Pfad wenig benutzt, und die Leute gingen nur in einer Richtung; auch von allen Fuhrwerken, die Will vorüberkommen sah, tauchten fünf Sechstel hurtig bergunter, und nur ein Sechstel kroch bergaufwärts. Noch mehr war das der Fall mit den Fußgängern. All die leichtfüßigen Wanderer, all die Hausierer, beladen mit seltsamen Waren, strebten hinunter wie der Fluß, der ihren Pfad begleitete.
Und das war noch nicht alles. Denn als Will noch Kind war, erhob sich ein unheilvoller Krieg über einen großen Teil der Welt. Die Zeitungen waren voll von Niederlagen und Siegen, die Erde erscholl von Hufen der Reiterei, und oftmals schreckte tagelang und Meilen umher der Aufruhr der Schlachten fromme Menschen Von ihrem Werk auf den Feldern. Von alledem ward im Tal lange Zeit nichts vernommen; am Ende aber trieb einer der Heerführer eine Armee in Gewaltmärschen über den Paß, und drei Tage lang ununterbrochen strömten Pferde und Fußvolk, Kanonen und Pulverkarren, Trommeln und Standarten hinter der Mühle bergab.
Tagelang stand der Knabe und paßte auf den Vorbeimarsch. Der taktfeste Schritt, die bleichen, unrasierten Gesichter und eingebrannten Augen, die verschossenen Monturen und zerfetzten Fahnen erfüllten ihn mit einem Gefühl von Müdheit, Mitleid und Staunen, und ganze Nächte lang, nachdem er zu Bett gegangen war, konnte er das stoßende Rollen der Geschütze hören, das Trappeln der Füße und die große Armee, wie sie vorwärts und bergunter fegte hinter der Mühle. Niemand im Tal hörte jemals vom Ausgang des Unternehmens, denn es lag außerhalb des Weges der Gerüchte in diesen wirren Zeiten; eines aber sah Will deutlich: daß nicht ein Mann zurückkam.
Wohin waren sie alle gegangen? Wohin gingen all die Wanderer und die Hausierer mit seltsamen Waren? wohin all die leichten Reisewagen mit Dienern auf den Außensitzen? wohin das Gewässer des Stroms, das immerfort abwärts rann, immerfort erneuert von oben? Selbst der Wind blies zumeist hinunter durch das Tal und fuhr die toten Blätter mit sich im Herbst. Es schien eine große Verschwörung der Dinge, der lebenden und der leblosen. Alle gingen sie hinunter, flüchtig und heiter hinunter, und er selber allein, so schiens, blieb zurück wie ein Pfahl am Wegrain. Manchmal machte es ihn froh, wenn er die Fische ihre Köpfe stromauf halten sah. Sie wenigstens hieltens treulich mit ihm, während alles übrige hinuntereilte in die unbekannte Welt.
Eines Abends fragte er den Müller, wohin der Fluß geht.
»Er geht das Tal hinab«, antwortete er, »und dreht eine Allmacht von Mühlen – hundertundzwanzig Mühlen, heißt es, von hier bis Unterdeck – und ist keine Spur von müde hinterdrein. Und dann geht er hinaus ins Tiefland und wässert die große Kornlandschaft und läuft durch eine Flucht von schönen Städten (heißt es), wo Könige leben, ganz allein in großen Palästen, und eine Schildwache marschiert auf und nieder vor dem Tor. Und unter Brücken geht er hin mit steinernen Männern oben, die sehen herunter und schmunzeln so neugierig auf das Wasser, und die lebendigen Leute legen die Ellbogen auf die Brüstung und sehen auch drüber weg. Und dann geht er weiter und weiter, hinunter durch Marschland und Geestland, und am Ende stürzt er in die See, wo die großen Schiffe sind, die Papageien und Tabak aus den zwei Indien bringen. Ja, ja, er hat einen langen Marsch vor sich, wenn er singend über unser Wehr geht – Gott segne sein Herz!«
»Und was ist die See?« fragte Will.
»Die See!« schrie der Müller. »Gott steh uns bei, das ist das Größte, was er gemacht hat. Das ist da, wo alles Wasser der Welt in einen großen Salzsee fließt. Da liegt er, so flach wie meine Hand, und tut so unschuldig wie ein Kind. Aber es heißt, wenn der Wind bläst, hebt er sich in Wasserbergen, höher als welche von unseren, und große Schiffe schluckt er über, höher als unsere Mühle. Und er macht ein Getöse, daß du es meilenweit landeinwärts hören kannst. Da sind große Fische drin, fünfmal größer als ein Ochs, und eine alte Schlange, so lang wie unser Fluß, so alt wie die ganze Welt, hat Bart wie ein Mann und eine silberne Krone auf dem Kopf.«
Will dachte, er hätte noch nie so etwas gehört, und brachte weiter Fragen um Fragen hervor über diese Welt, die da unten flußabwärts lag, mit all ihren Wundern und Gefahren, bis der Müller selber ganz bei der Sache war, ihn schließlich bei der Hand nahm und zu der Bergspitze führte, die über das Tal und die Ebene schaute.
Die Sonne, nahe vorm Untergehn, hing tief unten in einem wolkenlosen Himmel. Jedes Ding stand umgrenzt und verklärt in goldenem Licht. Will hatte nie im Leben solch ein Ausmaß von Land gesehen; er stand und starrte mit all seinen Augen. Er konnte die Städte sehen, die Wälder, die Felder und die lichten Krümmungen des Stroms, und weit dahinten den Rand der Ebene, der an den glänzenden Himmel grenzte. Übermächtiges Erregen ergriff den Knaben, Leib und Seele. Sein Herz klopfte so dick, daß er nicht atmen konnte. Die Aussicht schwamm vor seinen Augen. Die Sonne schien sich rundum zu drehn, und im Drehen warf sie seltsame Erscheinungen ab, die verschwanden, gedankenschnell, und andere folgten. Will bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach in einen wilden Tränenstrom aus; der arme Müller, betrübt, enttäuscht und verwirrt, wußte nichts Besseres, als ihn in die Arme zu nehmen und ihn stillschweigend heimzutragen.
Seit diesem Tage erfüllten Will neue Hoffnungen und Sehnsucht. Etwas hielt an, die Saiten seines Herzens zu zupfen; das rinnende Wasser trug seine Wünsche mit sich fort, wenn er über seine flüchtigen Flächen hinträumte; der Wind, über unzählbare Wipfelspitzen rinnend, grüßte ihn mit anfeuernden Worten; Zweige winkten hinunter; die offene Straße, wenn sie die Schulter winkelte und, sich drehend und entschwindend, eilig und eiliger das Tal hinabzog, quälte ihn mit ihren Verlockungen.
Er verbrachte lange Stunden auf der Anhöhe, niederblickend in die Strömung und fernhin in die fetten Tiefländer. Er beobachtete die Wolken, fortreisend auf langsamen Winden – violette Schatten schleiften sie über die Ebene. Er konnte auch am Straßenrand lungern und mit den Augen die Wagen verfolgen, die neben dem Fluß talab rasselten. Gleichgültig, was es war: alles, was des Weges zog, Wolke oder Wagen, Bussard oder braunes Wasser im Strom – er fühlte sein Herz ausfließen, ihm nach, in einem Aufruhr der Sehnsucht.
Männer der Wissenschaft erzählen uns, daß alle Abenteuer von Schiffen auf See, aller Strom und Widerstrom der Stämme und Rassen, der die Sage so wirr macht mit seinem Staub und Getöse, nichts Verwickelterem entsprang als den Gesetzen von Angebot und Nachfrage und einer Art von natürlichem Instinkt für billige Lebensmittel. Dem Tieferdenkenden wird dies eine stumpfe und jämmerliche Erklärung scheinen. Die von Norden und Osten ausschwärmenden Völkerstämme, mochten sie tatsächlich vorwärtsgepreßt werden von anderen hinter ihnen, wurden gleichzeitig gezogen vom magnetischen Einfluß des Südens und Westens. Der Ruf anderer Länder hatte sie erreicht; der Name der ewigen Stadt hallte in ihrem Gehör; nicht Ansiedler waren sie, sondern Wallfahrer; sie wanderten nach Wein, nach Golde, nach Sonnenschein; aber ihre Herzen setzten sie an Höheres. Diese göttliche Unrast, diese alte, stechende Unruhe der Menschheit, die alle höchsten Leistungen bewirkte und alle elenden Fehlschläge, sie, die Schwingen mit Ikarus spreizte, sie, die Kolumbus entsandte auf den trostlosen Atlant, sie flößte Odem ein und förderte diese Barbaren auf ihrem gefahrvollen Marsch.
Es giebt eine Legende, die in tiefer Weise diesen Geist widerspiegelt, nach der ein fliegender Trupp solcher Wanderer einem uralten Mann in eisernen Schuhen begegnete. Dieser alte Mann fragte sie, wohin sie gingen, und sie erwiderten eines Mundes: »Zur ewigen Stadt!« – Er blickte sie an, ernsthaft. »Ich habe sie gesucht«, sagte er, »im größten Teil der Welt. Drei Paar solcher Schuhe, wie ich hier an den Füßen schleppe, habe ich bei dieser Pilgerschaft abgetragen, und jetzt ist das vierte daran, dünne zu werden unter meinen Schritten. Und all die Zeit habe ich die ewige Stadt nicht gefunden.« Er wandte sich, seinen eigenen Weg zu gehn, einsam, und ließ sie staunend.
Und doch: dies konnte kaum der Anspannung von Wills Gefühl für die Ebene gleichkommen. Wenn er nur weit genug gehen könnte da draußen … er fühlte es, als würde seine Sehkraft gereinigt und geläutert, als würde sein Gehör zarter, und selbst sein Atem würde kommen und gehen in Üppigkeit. Er war verpflanzt, er welkte, wo er war, er lag in einem fremden Lande und war krank nach zu Hause. Stück um Stück setzte er seine Kenntnisse von der Welt unten zusammen: vom Fluß, immer in Bewegung und Wachstum, bis er hinaussegelte in den königlichen Ozean; von den Städten voll frischer, schöner Menschen, spielender Springbrunnen, Musikbanden und Marmorpalästen, bei Nacht erleuchtet vom einen Ende zum anderen mit künstlichen Sternen von Gold; von den großen Kirchen, klugen Universitäten, tapfern Heeren, und von ungezähltem Gelde, aufgehäuft in Gewölben; von dem hochfliegenden Laster, das sich im Sonnenlicht tummelte, und von der Verborgenheit und Eilfertigkeit mitternächtiger Mordtaten. Ich sagte, er sei krank von Heimweh gewesen; die Wendung hinkt. Er glich einem, der daliegt in dämmerndem, gestaltenlosem Vorleben und seine Hände liebend ausstreckt nach vielfarbigem, vieltönigem Dasein. Kein Wunder, daß er unglücklich war. Er konnte hingehn und zu den Fischen sagen, sie wären für ihr Leben gemacht, sie wünschten nicht mehr als Würmer, fließendes Wasser und eine Höhle unter der Uferbank; er aber wäre für anderes bestimmt, voll von Sehnsucht und Begierden; ihm juckten die Finger, ihm brannten die Augen, denen die ganze mannigfaltige Welt nicht genug tun konnte mit Aussicht und Erscheinung.
Das wirkliche Leben, der wirklich helle Sonnenschein lag weit draußen über der Ebene. Und oh! dies Sonnenlicht nur einmal zu sehen, ehe er starb! Sich zu regen, heitern Geistes, in einem goldenen Land! Die geschulten Sänger zu hören und die himmlischen Kirchenglocken! Die Festtagsgärten zu sehn! Und, ach ihr Fische, konnte er ausrufen, wenn ihr nur einmal eure Nasen stromab drehen wolltet, ihr könntet so leicht in die Fabelwässer schwimmen, könntet die großen Wasserberge über euch musizieren hören, tagelang und tagelang! – Aber die Fische fuhren fort, geduldig in ihrer eigenen Richtung zu sehn, bis Will kaum noch wußte, ob er lachen sollte oder heulen.
Bisher war der Verkehr auf der Straße an Will vorübergezogen, wie dergleichen auf einem Gemälde zu sehn ist: er hatte wohl Grüße mit einem Wanderer gewechselt oder hatte einen alten Mann in Reisemütze an einem Wagenfenster wahrgenommen, aber meistenteils war das ein bloßes Scheinbild gewesen, das er von weither betrachtete mit einer Art abergläubischen Empfindens.
Eine Zeit kam endlich, wo dies sich wandelte.
Der Müller, der auf seine Weise ein habsüchtiger Mann war und nie eine Gelegenheit zu ehrlichem Gewinst vorüberließ, verwandelte das Mühlhaus in eine kleine Wegschenke, und von einigen Glücksfällen begünstigt, baute er Stallungen und erhielt das Amt eines Postmeisters an der Straße. Nun wurde es Wills Aufgabe, den Leuten aufzuwarten, wenn sie zum Frühstücken niedersaßen in der kleinen Laube, oben im Mühlgarten; und – seid versichert! – er hielt die Augen offen und lernte eine Menge Neuigkeit über die Außenwelt, wenn er den Pfannkuchen oder den Wein brachte. Ja, er konnte hier und da ins Gespräch mit alleinreisenden Gästen kommen und durch geschickte Fragen und höfliches Zuhören nicht allein die eigene Neugier befriedigen, sondern auch die Wohlgeneigtheit der Reisenden gewinnen.
Viele beglückwünschten das alte Paar zu ihrem Aufwartejungen, und ein Professor war eifrig dabei, ihn mitzunehmen und ordentlich zu erziehn in der Ebene. Der Müller und seine Frau waren gewaltig erstaunt und noch mehr voller Behagen. Sie meinten, es sei doch was Gutes, daß sie den Gasthof aufgetan hatten. Du siehst, konnte der Alte bemerken, er hat eine Art Gastwirtstalent; er hätte nichts Besseres anfangen können! – Und so rollte sich das Leben im Tale ab, zu hoher Zufriedenheit für alle Beteiligten, ausgenommen Will. Jeder Wagen, der das Tor des Kruges verließ, schien ihm ein Stück von ihm selber mitzunehmen, und wenn die Leute ihm spaßeshalber anboten, ihn ein Stück Weges aufsitzen zu lassen, konnte er nur mit Mühe seiner Aufregung gebieten. Nacht um Nacht konnte er träumen, daß er von erhitzten Bedienten geweckt werde, daß eine glänzende Karosse vorm Tore warte, ihn in die Ebenen hinunterzufahren; Nacht um Nacht; bis dann der Traum, der ganz Lustigkeit schien im Anfang, einen Stich ins Ernste anzunehmen begann, und die nächtlichen Aufforderungen samt der harrenden Karosse nahmen in seinem Herzen einen Platz ein wie etwas, das sich fürchten läßt und erhoffen, gleichermaßen.
Eines Tages, als Will ungefähr sechzehn Jahre alt war, kam ein junger, stämmiger Mann gegen Sonnenuntergang an, um zu übernachten. Es war ein Bursche von zufriedenem Aussehn, er hatte ein frohgemutes Auge und trug einen Knappsack. Während das Abendessen angerichtet wurde, saß er in der Laube und las in einem Buch; aber sobald er angefangen hatte, Will zu beobachten, wurde das Buch überseite gelegt; augenscheinlich gehörte er zu jenen, die lebendige Leute Leuten von Tinte und Papier vorziehen.
Will seinerseits, auf den ersten Blick ohne viel Teilnahme für den Fremden, begann ein rechtes Gefallen an seiner Unterhaltung zu finden, da sie von Gutartigkeit und Verständigkeit zeugte, und schließlich gewann er große Achtung vor seinem Charakter und Wissen. Sie saßen bis tief in die Nacht hinein; und gegen zwei Uhr morgens öffnete Will dem jungen Mann sein Herz und erzählte ihm, wie es ihn verlangte, das Tal zu verlassen, und welch lichte Hoffnungen er mit den Städten der Ebene verknüpfte. Der junge Mann tat einen Pfiff und brach in Lachen aus.
»Mein junger Freund,« erklärte er, »du bist ein sehr neugieriger kleiner Schlingel, laß dir sagen, und wünschest eine Menge Sachen, die du nie kriegen wirst. Oho, du wärst schön beschämt, wenn du wüßtest, daß die kleinen Schlingel in diesen deinen Feenstädten alle hinter der nämlichen Art Unsinn her sind und wie ihnen immerzu das Herz bricht, in die Berge hinaufzukommen. Und, laß mich dirs sagen: die, welche in die Ebene hinuntergehn, die sind da eine gewaltig kurze Zeit bloß – bis sie sich herzlich wieder zurückwünschen. Die Luft ist da weder so leicht noch so rein, noch ist die Sonne heller. Und was die schönen Männer und Frauen betrifft, so würdest du manche von ihnen in Lumpen und manche entstellt von scheußlichen Krankheiten sehn. Und eine Stadt ist ein so harter Fleck für Leute, die arm und gefühlvoll sind, daß mancher es vorzieht, durch eigene Hand zu sterben.«
»Sie müssen mich für recht einfältig halten,« antwortete Will. »Wenn ich auch niemals aus diesem Tal herausgekommen bin, habe ich doch, glauben Sie's mir, meine Augen gebraucht. Ich weiß, daß ein Ding vom anderen lebt. Zum Beispiel, daß der Fisch im Strudel hängt, um seine Kameraden zu fangen, und daß der Schäfer, der ein so hübsches Bild abgiebt, wenn er das Lamm heimwärts trägt, es nur heimwärts trägt zur Mahlzeit. Ich erwarte gar nicht, alle Dinge in Ihren Städten schön zu finden. Das beunruhigt mich nicht – vielleicht, daß es das einmal getan hat –, aber obgleich ich immer hier lebte, habe ich mich manches gefragt, habe sicherlich eine Menge gelernt in den letzten Jahren und sicherlich genug, um von meinen alten Einbildungen geheilt zu werden. Aber wollen Sie vielleicht, daß ich verrecke wie ein Hund und nicht zu sehn bekomme, was alles zu sehn ist, und nicht leiste, was ein Mensch leisten kann, mags gut oder schlecht sein? Wollten Sie vielleicht, daß ich mein Lebtag zwischen der Straße hier und dem Fluß herumlungere und mir nicht so viel Bewegung mache, um nach oben zu kommen und mein Leben zu leben? – Ich wollte lieber«, schrie er, »auf der Stelle sterben, als weiter mich umhertreiben wie jetzt!«
»Tausend Menschen«, sagte der junge Mann, »leben und sterben wie du und sind nichtsdestoweniger glücklich.«
»Ah!« sagte Will, »wenns tausend giebt, die das gern möchten, warum sollte nicht einer von denen meinen Platz einnehmen?«
Es war ganz finster. Eine Hängelampe brannte in der Laube, die auf den Tisch leuchtete und auf die Gesichter der Sprechenden; und den Laubenbogen hinunter hoben die Blätter an den Spalieren sich erleuchtet vom Nachthimmel ab, ein Muster von durchscheinendem Grün auf dämmerigem Violett. Der rundliche junge Mann stand auf, nahm Will beim Arm und führte ihn unter die geöffneten Himmel.
»Hast du jemals nach den Sternen gesehen?« fragte er, aufwärts deutend.
»Oft und oft,« versetzte Will.
»Und weißt du, was sie sind?«
»Ich habe mir mancherlei ausgedacht.«
»Welten sind sie wie die unsere,« sagte der junge Mensch.
»Etliche von ihnen kleiner, etliche millionenmal größer; und etliche von den letzten Funken, die du siehst, sind nicht nur Welten, sondern ganze Büschel von Welten, die sich umeinander drehen, mitten im Raum. Wir wissen nicht, was auf einigen von ihnen sein mag. Vielleicht die Antwort auf all unsere Schwierigkeiten und das Heil für all unsere Leiden – und doch können wir sie niemals erreichen. Und alle Geschicklichkeit unserer Tüchtigsten kann kein Schiff erfinden – zum nächsten von diesen unseren Nachbarn hin, noch würde das Leben des Allerältesten für solch eine Reise ausreichen. Ob eine große Schlacht verloren wurde oder ein lieber Freund starb, ob wir lendenlahm sind oder hochgemut: sie scheinen, die Unermüdlichen, dort oben. Wir mögen hier unten stehen, ein ganzes Heer von uns zusammen, und schreien, bis uns das Herz bricht – kein Flüstern erreicht sie. Wir mögen die höchsten Berge erklimmen, und wir sind ihnen nicht näher. Alles, was wir tun können, ist, hier unten im Garten zu stehn und die Hüte abzunehmen; das Sternenlicht scheint auf unsere Köpfe, und wo meiner ist, giebts eine kleine, kahle Stelle, muß ich sagen, du kannst sie im Dunkeln schimmern sehn. Der Berg und die Maus. Das ist wahrscheinlich alles, was wir jemals zu tun haben mit Arktur und Aldebaran. Kannst du eine Parabel anwenden?« setzte er hinzu, indem er seine Hand auf Wills Achsel legte. »Sie gilt nicht soviel wie ein Beweis, ist aber für gewöhnlich weitaus überzeugender.«
Will ließ ein wenig den Kopf hängen, dann hob er ihn abermals gegen den Himmel. Die Sterne schienen sich auszudehnen und ein schärferes Gefunkel zu entsenden, und wie er fortfuhr, seine Augen höher und höher emporzudrehen, schienen sie in Massen zu wachsen unter seinem Schaun.
»Ich sehs ein,« sagte er, zu dem jungen Mann gewandt, »wir sind in einer Mausfalle.«
»Etwas derart. Hast du je ein Eichhorn sich im Käfig drehen sehn? und ein anderes Eichhorn philosophisch über seinen Nüssen sitzen? Ich brauche dich nicht zu fragen, welches von beiden mehr aussah wie ein Narr.«
Die alten Leute starben nach einigen Jahren, Beide in einem Winter, sorglich gepflegt von ihrem Adoptivsohn, sehr still betrauert, als sie gegangen waren.
Einige, die von seinen schweifenden Phantasien gehört hatten, nahmen an, er würde sich eilen, sein Eigentum zu veräußern, und flußabwärts gehen, sein Glück aufzutreiben. Aber ein Anzeichen für solche Absichten war bei Will niemals bemerkbar. Im Gegenteil brachte er den Krug auf besseren Fuß und mietete ein Dienstbotenpaar, das ihn beim Bewirtschaften unterstützte; und so ließ er sich nieder, ein milder, gesprächiger, unergründlicher junger Mensch, sechs Fuß drei Zoll hoch in Strümpfen, mit einem eisernen Körper und einer freundlichen Stimme.
Bald bekam er in der Gegend den Ruf von einer Art Rarität, und das war – schon auf den ersten Blick – nicht eben verwunderlich, indem er ständig voll von Einfällen steckte und die ebensten Gemeinverständlichkeiten in Frage zog. Aber was diesen seinen Ruf vor allem bewirkte, das war der rare Vorgang seiner Werbung um Pfarrers Maleen.
Pfarrers Maleen war ein Mädchen von ungefähr neunzehn Jahren, als Will ungefähr dreißig sein mochte – hübsch genug von Aussehen und viel besser erzogen als irgendein Mädchen in diesem Teil der Landschaft, wie es zu ihrer Abkunft gehörte. Sie trug ihren Kopf recht hoch und hatte bereits verschiedene Heiratsangebote mit großer Miene ausgeschlagen, was ihr bei den Nachbarn harte Namen eintrug. Bei alledem war sie ein gutes Mädchen, eine, die jeden Mann wohl zufriedengestellt hätte.
Will hatte nie viel von ihr gesehn; denn obwohl Kirche und Pfarrhaus nur zwei Meilen von seiner eigenen Tür entfernt lagen, war er nicht bekannt dafür, daß er dort hinging außer Sonntags.
Indessen traf sichs, daß die Pfarre baufällig wurde und niedergelegt werden mußte; der Pfarrer und seine Tochter mieteten sich für einen Monat oder so – bei sehr herabgesetzten Preisen – in Wills Gasthof ein. Nun, was Gasthof, Mühle und des alten Müllers Ersparnisse anlangt, so war unser Freund ein vermöglicher Mann; und davon abgesehen, hatte er den Ruf der Gutmütigkeit und Geriebenheit, was beim Heiraten eine bedeutende Rolle spielt. Also wards ein läufiges Klatschen unter ihren Neidern, daß Pfarrer und Tochter ihren derzeitigen Wohnsitz nicht mit geschlossenen Augen gewählt hatten.
Will war ungefähr der Letzte in der Welt, der sich zum Heiraten hätte beschwatzen oder davon abschrecken lassen. Ihr hättet nur in seine Augen zu sehen brauchen, durchsichtig und still wie Lachen Wassers und doch in einer Art klaren Lichts, das von innen zu kommen schien, und ihr hättet flugs begriffen: hier war jemand, der sein Ich auskannte und zu ihm stand, unerschütterlich.
Maleen selbst hatte nichts Schwächliches im Blick, bei festen, stetigen Augen und entschlossenem und ruhigem Gehaben. Es mochte die Frage sein, ob sie an Standfestigkeit nicht Will gewachsen war, alles in allem, oder wer von den beiden in der Ehe das Zepter geführt haben würde. Aber daran hat Maleen nie gedacht, und wenn sie ihren Vater begleitete, war ihre Unschuld und ihre Arglosigkeit nicht im geringsten erschüttert.
Es war noch so früh im Jahr, daß Wills Gäste vereinzelt und in großen Abständen kamen; aber der Flieder stand bereits in Blüte, und das Wetter war so milde, daß die Gesellschaft ihre Abendmahlzeit unter dem Laubenskelett einnahm, das Tosen des Flusses im Ohr und aus den Wäldern ringsum das Getön der Vogellieder. Will begann alsbald ein sonderliches Behagen an diesen Mahlzeiten zu finden.
Der Pfarrer freilich war eher ein matter Gesellschafter, bei seiner Gewohnheit, über Tafel einzunicken; aber kein rohes oder grausames Wort kam jemals über seine Lippen. Des Pfarrers Tochter hingegen paßte sich ihrer Umgebung mit der schönsten Anmut an, die sich einbilden läßt, und was immer sie sagen mochte, schien so paßlich und lieblich, daß Will eine bedeutende Vorstellung von ihren Gaben empfing. Er konnte, wenn sie sich vorbeugte, ihr Gesicht auf einem Grunde ansteigender Fichtenwaldung sehen; ihre Augen glänzten friedvoll; das Licht lag um ihr Haar wie ein Tuch; etwas, das kaum ein Lächeln war, rieselte in ihren blassen Wangen, und Will konnte sich nicht enthalten, sie anzublicken in einem wohligen Bangen. Sie erschien, selbst in ihren ruhigsten Augenblicken, so erfüllt von sich selber, so lebensfrisch bis in die Fingerspitzen und bis hinunter zu den Borten ihres Kleides, daß alle übrige Kreatur zu einem Fleck wurde – nicht mehr – im Vergleich zu ihr; und wenn Will fortsah von ihr zu ihrer Umgebung, kamen ihm die Baumstämme unbelebt und sinnlos vor, die Wolken hingen im Himmel wie Totes, und sogar die Bergspitzen waren entzaubert. Das ganze Tal konnte sich an Aussehen nicht vergleichen mit diesem einen Mädchen.
Will verhielt sich stets beobachtend in Gesellschaft seiner Mitgeschöpfe; aber sein Beobachten wurde nahezu peinvoll gierig, wenn es auf Maleen ankam. Er lauschte auf jede ihrer Äußerungen und las gleichzeitig ihre Augen – nach der unausgesprochenen Erklärung. Manche gütig«, schlichte und aufrichtige Rede fand Echo in seinem Herzen. Er gewann die Überzeugung von einer schön im eigenen Gleichgewicht ruhenden Seele, sonder Zweifel, sonder Verlangen, eingeschlossen in Frieden.
Unmöglich wars, ihr Denken von ihrer Erscheinung zu trennen. Eine Drehung ihres Handgelenks, der stille Klang ihrer Stimme, das Licht in ihren Augen, die Linien ihres Körpers – klangen in eins mit ihren ernsten und sanften Worten, wie eine Begleitung mit der singenden Stimme stützenden Einklang hält. Der Strom ihres Wesens war einzig, ließ sich nicht teilen oder zergliedern, nur fühlen mit Dankbarkeit und Freude. Etwas aus seiner Kindheit erweckte ihre Gegenwart in Will, und der Gedanke an sie nahm einen Platz in seinen Sinnen neben dem von Morgendämmer, von fließendem Wasser, von ersten Veilchen und Flieder.
Es ist die Besonderheit von Dingen, die wir zum ersten Male oder nach langer Zeit wieder erblicken – wie der Blumen im Frühjahr –, in uns die schärfsten Umrisse des Empfindens aufzudecken, dazu diesen Eindruck mystischer Fremdheit, der sonst mit den kommenden Jahren aus dem Leben schwindet; doch ists der Anblick eines geliebten Gesichts, der das Wesen des Menschen neu macht von den Quellen herauf.
Eines Tages nach dem Abendessen machte Will einen Gang durch die Föhren; ein schöner Ernst nahm ihn ein vom Kopf zu den Füßen, er hörte nicht auf, sich zuzulächeln, sich und der Landschaft, durch die er kam.
Der Fluß ergoß sich mit lieblichem Gefältel zwischen den Trittsteinen; ein Vogel sang laut im Gehölz; die Bergspitzen erschienen ihm unermeßlich hoch, und wenn er von Zeit zu Zeit zu ihnen aufsah, so schienen sie seine Bewegungen zu betrachten mit wohlgesinnter, jedoch ehrfürchtiger Neugier. Sein Weg brachte ihn zu der Anhöhe, welche die Ebene überschaute; dort saß er auf einen Stein nieder und verlor sich in tiefe, behagliche Gedanken.
Die Ebene lag weithin mit ihren Städten und dem Silberfluß. Alles war entschlafen; nur ein großes Gewirbel von Vögeln stieg und fiel unaufhörlich und kreiste in den blauen Lüften. Er wiederholte Maleens Namen laut, und sein Klang erweckte seinem Ohr Zufriedenheit. Er schloß die Augen, und ihr Bild sprang vor ihm auf, ruhig leuchtend, begleitet von guten Gedanken. Der Fluß mochte für immer fließen, höher und höher die Vögel fliegen, bis sie die Sterne berührten. Er sah, es war leeres Getümmel schließlich; denn hier, ohne einen Schritt zu tun, geduldig wartend im schmalen Tal, hier also hatte er den schöneren Sonnenschein erreicht.
Am nächsten Tage machte Will eine Art Erklärung über den Abendtisch hinweg, dieweil der Pfarrer seine Pfeife stopfte. »Fräulein Maleen,« sagte er, »ich weiß nichts, das ich so gern hätte wie Sie. Ich bin gemeinhin ein kalter, unfreundlicher Schlag Mensch, nicht aus Mangel an Herz, sondern aus Absonderlichkeit meiner Denkweise; die Menschen scheinen mir weit weg von mir zu sein. Es ist, als wäre ein Kreis um mich her, der jedermann draußen hielte, ausgenommen Sie. Die Anderen kann ich reden und lachen hören; aber Sie kommen ganz nahe. Kann sein – dies ist unangenehm für Sie?« fragte er.
Maleen gab keine Antwort.
»Sag was, Mädchen!« bemerkte der Pfarrer.
»Bewahre! Wie?« wandte Will ein. »Ich möchte sie nicht drängen, Pfarrer. Ich fühle mich selber zungenlahm, indem ich nicht daran gewohnt bin; und sie ist eine Frau und kaum mehr als ein Kind, mit einem Wort, Aber ich für mein Teil, soweit ich beurteilen kann, Was die Menschen darunter verstehn, ich stelle mir vor, ich muß sein, was sie verliebt nennen. Ich wünschte nicht die Meinung zu wecken, als wenn ich mich verpflichten wollte; ich kann mich ja irren; aber so, denk ich, stehts mit mir. Und wenn Fräulein Maleen hingegen etwas anderes empfinden sollte – vielleicht wäre sie dann so gütig, den Köpf zu schütteln.«
Maleen blieb schweigsam und gab kein Zeichen, daß sie gehört hatte.
»Wie ists, Pfarrer?« fragte Will.
»Das Mädchen muß reden«, versetzte der Pfarrer und legte seine Pfeife hin. »Hier ist unser Nachbar und sagt, er liebt dich, Male. Liebst du ihn, ja oder nein?«
»Ich glaube«, sagte Maleen schwach.
»Schön! das ist alles, was sich wünschen läßt!« rief Will herzhaft. Und er griff nach ihrer Hand über den Tisch und hielt sie einen Augenblick in seinen beiden mit großer Genugtuung.
»Ihr müßt heiraten«, erklärte der Pfarrer und steckte seine Pfeife wieder in den Mund.
»Das wäre –? Meint Ihr?« fragte Will.
»Es ist unerläßlich«, sagte der Pfarrer.
»Gut und fertig«, versetzte der Werber. –
Zwei, drei Tage gingen mit hohem Entzücken für Will vorüber, obzwar ein Zuschauer es kaum ausfindig gemacht haben würde. Er fuhr fort, seine Mahlzeiten Maleen gegenüber einzunehmen, mit ihr zu sprechen und sie anzuschauen in ihres Vaters Dabeisein, aber er machte keinen Versuch, sie allein zu sehen, noch änderte er in irgendeinem Betracht sein Benehmen ihr gegenüber gegen das, was es von Anfang gewesen war. Vielleicht war das Mädchen ein wenig enttäuscht, und das vielleicht nicht unbillig; und doch, wenn es genügen könnte, stets und ständig in den Gedanken eines Andern zu sein und so sein ganzes Dasein zu durchdringen und zu wandeln, hätte sie durchaus zufrieden sein können. Denn sie war niemals außerhalb von Wills Herzen – nur für einen Augenblick.
Er saß überm Strom und betrachtete den Staub des Strudels, die im Gleichgewicht hangenden Fische, die flutenden Wasserpflanzen; er wanderte einsam in den violetten Abend hinaus, wenn rings um ihn her im Walde die schwarzen Amseln sangen. Er stand früh am Morgen auf, sah den Himmel sich aus Grau in Gold wandeln und das Licht auf die Bergspitzen springen; und fort und fort mußte er staunen, als ob er dergleichen nie zuvor gesehen hätte, oder wie das zuging, daß nun alles so anders aussah. Das Geräusch seines eigenen Mühlrades oder des Windes zwischen den Bäumen verwirrte und berückte sein Herz. Die zauberischesten Gedanken stellten sich unerbeten in seinem Herzen dar. Er war so glücklich, daß er nachts nicht schlafen, und so rastlos, daß er kaum stillsitzen konnte, es sei denn in ihrer Gegenwart. Und doch schiens, als ob er sie eher miede, als daß er sie aufsuchte.
Eines Tages, von einer Streife heimkehrend, fand Will Maleen im Garten, Blumen pflückend; und als er bis zu ihr hin kam, verlangsamte er seine Schritte und ging an ihrer Seite weiter.
»Du liebst Blumen?« fragte er.
»Gewiß, ich liebe sie sehr«, erwiderte sie. »Und du?«
»Ich? Nein,« sagte er, »nicht so sehr. Sie sind eine ziemlich kleine Angelegenheit – alles in allem. Ich kann mir Leute denken, die sich äußerst mit ihnen abgeben und die doch nicht das tun, was du eben machst!«
»Was denn?« fragte sie, sich unterbrechend und ihn anblickend.
»Sie abpflücken«, sagte er. »Sie befinden sich weit besser, wo sie sind, sehen auch viel hübscher aus – wenn du's wissen möchtest.«
»Ich möchte sie zu eigen haben,« antwortete sie, »sie dicht an meinem Herzen tragen und in meinem Zimmer behalten. Sie locken mich an – indem sie hier wachsen; sie scheinen zu sagen: Komm und tu etwas mit uns – aber wenn ich sie gepflückt und hingestellt habe, ist der Zauber verletzt, und ich kann sie anschauen ganz leichten Herzens.«
»Du möchtest sie haben,« versetzte Will, »um nicht mehr an sie zu denken. Das ist so was, wie die Gans mit den goldenen Eiern umzubringen. Es ist so etwas wie das, was ich zu tun gedachte, als ich ein Junge war. Da ich einen Hang hatte, über die Ebene hinauszuschauen, verlangte michs, dahin zu gehn – von wo aus ich nicht länger mehr hätte ausschauen können. War das nicht ein guter Schluß? Ach Gott, ach Gott, wenn sie es nur bedächten, würde alle Welt handeln wie ich; und du würdest die Blumen in Ruhe lassen, just wie ich hier oben in den Bergen verbleibe.« Auf einmal brach er scharf ab. »Herr des Himmels!« rief er. Und da sie ihn fragte, was nicht richtig sei, lenkte er die Frage ab und ging ins Haus fort mit einem ziemlich spaßhaften Gesichtsausdruck.
Bei Tische war er schweigsam, – und als die Nacht hereingebrochen und die Sterne oben hervorgekommen waren, ging er in Hof und Garten auf und nieder mit ungleichen Schritten.
Ein Licht war noch in Maleens Kammerfenster – das war ein kleines, längliches Rechteck von rötlichem Gelb in einer Welt dunkelblauer Hügel und silberner Sternlichter. Wills Gefühle flossen stark dem Fenster zu; aber seine Gedanken waren nicht eben die eines Liebenden. »Da ist sie in ihrem Zimmer,« dachte er, »und da oben sind die Sterne – Gottes Segen über sie beide!«
Beide waren gute Kräfte in seinem Leben; beide sänftigten und stärkten ihn in seiner tiefgründigen Zufriedenheit mit der Welt. Und was sollte er mehr von ihrer einem wünschen? Der stämmige junge Mann und seine Ratschläge waren ihm so gewärtig, daß er den Kopf hintenüberlegte und, die Hände an den Mund haltend, laut hinaufrief zu den bevölkerten Himmeln. Kam es nun durch die Kopfhaltung oder durch die plötzliche Spannung und Anstrengung: er glaubte einen jählichen Ruck unter den Sternen zu sehen, und eine Ausstrahlung eisigen Lichts lief von einem zum anderen, den Himmel entlang.
Im selben Augenblick wurde eine Ecke des Fenstervorhangs gelüftet und gleich wieder niedergelassen. Er lachte ein lautes Hoho! – »Erst hier und dann da!« dachte Will. »Die Sterne zittern, der Vorhang geht auf. Ei, bei Gott, was für ein großer Magier muß ich sein! Ja, wenn ich weiter nichts wäre als ein Narr, sollte ich wohl auf einem netten Wege sein!« Und er ging hinein und zu Bett, vor sich hinschmunzelnd: »Wenn ich weiter nichts als ein Narr wäre …«
Am anderen Morgen, hübsch früh, sah er sie wieder im Garten und suchte sie auf.
»Ich habe über das Heiraten nachgedacht«, begann er unvermittelt. »Und nachdem ich alles hin und her gedreht habe, bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß es nicht der Mühe wert ist.«
Sie kehrte sich für einen einzigen Augenblick zu ihm; aber seine strahlende und freundliche Erscheinung würde unter solchen Umständen einen Engel aus der Fassung gebracht haben, und sie blickte vor sich auf die Erde nieder mit Schweigen, Er konnte sie beben sehn.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus«, fuhr er fort, ein wenig betroffen. »Das mußt du nicht. Ich hab es hin und her gedreht, und, bei meiner Seele, es ist nichts damit. Wir werden uns kein Haarbreit näher sein als jetzt und, wenn ich klar sehe, nicht annähernd so glücklich.«
»Es ist unnötig, einen Tanz mit mir aufzuführen«, sagte sie. »Ich erinnere wohl, daß du es ablehntest, dich zu verpflichten, und nun, wo ich sehe, daß du dich geirrt hast und in Wahrheit niemals etwas für mich empfunden, kann ich mich nur traurig fühlen, daß ich so weit irregeführt war.«
Daraufhin schien sie sich wiedergewonnen zu haben; sie wandte sich wortlos, ging hastig durch den Garten und schwand ins Haus, Will in einiger Bestürzung über diesen Ausgang zurücklassend. Er ging auf und ab im Garten, leise vor sich hin pfeifend. Manchmal hielt er an und betrachtete Himmel und Hügelkuppen; manchmal ging er hinunter bis ans Ende des Wehrs, saß da und starrte töricht ins Wasser. All diese Zweifelei und Wirrnis war seinem Wesen und dem Leben, das er sich entschlossen ausgesucht hatte, so fremd, daß er anfing, Maleens Erscheinen in der Mühle zu bedauern. Alles in allem, dachte er, war ich so glücklich, wie der Mensch zu sein braucht. Ich konnte hier herunterkommen und, wenn ich Lust hatte, den ganzen Tag lang auf meine Fische passen. Ja, ich war so gesetzt und zufrieden wie meine alte Mühle. –
Maleen kam zum Abendessen herunter und sah hübsch und ruhig aus; sie saßen kaum alle drei bei Tisch, als sie ihrem Vater eine Rede hielt, die Augen auf ihren Teller geheftet, sonst ohne Zeichen von Verwirrtheit oder Betrübnis.
»Vater,« fing sie an, »Herr Will und ich haben uns ausgesprochen. Wir haben eingesehen, daß wir jeder über unsere Gefühle im Irrtum waren, und er hat auf mein Ersuchen eingewilligt, alle Heiratsgedanken aufzugeben und nur noch mein sehr guter Freund zu sein, so wie vorher. Du siehst, es ist kein Schatten von Zwietracht da, und ich hoffe wirklich, wir werden ihn in Zukunft häufig zu sehen bekommen, denn seine Besuche in unserem Hause sollen uns immer willkommen sein. Natürlich, Vater, du weißt es am besten, aber vielleicht täten wir besser, Herrn Wills Haus vorderhand zu verlassen. Ich glaube, nach dem Vorgefallenen wären wir kaum angenehme Wohner.«
Beinahe drei Jahre standen Will und Maleen auf diesem Fuß, indem sie sich ein- oder zweimal in der Woche sahen, ohne ein Wort von Liebe mitsammen zu sprechen, und die ganze Zeit war Will, glaube ich, fast so glücklich, wie ein Mensch sein kann. Er schränkte sich eher das Vergnügen, sie zu sehen, ein; und er konnte des öfteren halbwegs zum Pfarrhaus hinübergehen und wieder zurück, wie um seinen Appetit zu wetzen.
Wirklich, die Straße hatte da eine Ecke, von wo aus er den spitzen Kirchturm sehen konnte, eingeklemmt in einem Spalt des Tals, zwischen fallenden Föhrenwäldern, und mit einem dreieckigen Zipfel der Ebene als Hintergrund – ein Fleck, von dem er sehr angetan war, um da zu sitzen und zu moralisieren, bevor er sich heimwärts kehrte. Und die Bauern wurden es so gewohnt, ihn dort in der Dämmrung zu finden, daß sie ihm den Namen »Will von der Mühlecke« gaben.
Am Ausgang des dritten Jahres spielte Maleen ihm einen betrüblichen Streich, indem sie auf einmal irgendeinen Menschen heiratete. Will bewahrte tapfer seine Haltung und bemerkte bloß: für das bißchen, das er von Frauen wußte, habe er sehr schlau gehandelt, indem er drei Jahre früher nicht geheiratet hatte. Offenbar wußte sie wenig Bescheid in ihren eigenen Sinnen und war trotz trügerischen Gebarens so flatterhaft und flüchtig wie der ganze Rest. Er durfte sich Glück wünschen, daß er entkommen war, und aus diesem Grunde eine höhere Meinung von seiner eigenen Klugheit gewinnen. Im Herzensgrund aber war er ziemlich ungehalten, brütete nicht unbedeutend hin während eines Monats oder zweier, und fiel von Fleisch zur Verwunderung seiner Dienstboten.
Ein Jahr vielleicht nach dieser Heirat geschahs, daß Will spät in der Nacht vom Schall eines Pferdes aufgeweckt wurde, das auf der Straße galoppierte, und dann kam ein eiliges Klopfen an die Haustür. Er öffnete sein Fenster und sah einen Gutsknecht zu Roß, ein lediges Pferd am Zügel, der ihm zurief, er solle so schnell machen, wie er nur könne, und mit ihm kommen; denn Maleen lag im Sterben und hatte dringend gesandt, um ihn an ihr Bett zu holen. Will war kein Reiter; er brachte unterwegs so wenig Eile auf, daß die arme junge Frau ihrem Ende sehr nahe war, als er eintraf. Aber sie haben ein paar Minuten allein miteinander gesprochen, und er war dabei und weinte bitterlich, dieweil sie ausatmete.
Jahr um Jahr wanderte fort ins Nichts, mit großen Ausbrüchen und Geschrei in den Städten der Ebene: roter Aufruhr entsprang und wurde in Blut zerdrückt; Schlacht schwankte herüber und hinüber; geduldige Astronomen auf den Türmen der Sternwarten machten neue Sterne ausfindig und tauften sie; Spiele wurden aufgeführt in erleuchteten Theatern; Menschen auf Bahren ins Siechhaus getragen – die ganze übliche Plackerei und Aufregung in gedrängten Großstädten.
Oben in Wills Tal machten nur Wind und Jahreszeit Epoche: der Fisch hing im schnellen Strom, oben kreisten die Vögel, Föhrenwipfel rauschten unter Sternen, hinter allem standen die hohen Berge; Will ging hin und her und besorgte seine Wegschenke, bis der Schnee auf seinem Scheitel anfing dichter zu werden.
Sein Herz war jung und lebensfrisch; und hatten seine Pulse auch ebenen Gang, so schlugen sie doch kräftig und stetig in seinen Gelenken. Auf jeder Wange hatte er einen rötlichen Flecken wie ein reifer Apfel; er ging ein wenig gebeugt, aber sein Schritt war noch fest; und seine sehnigen Hände streckten sich jedermann entgegen zu freundlichem Druck. Sein Gesicht war mit jenen Runzeln überzogen, die man in der freien Luft bekommt und die, richtig betrachtet, nichts anderes sind als eine anhaltende Sonnenverbranntheit. Solche Runzeln erhöhen die Dummheit dummer Gesichter; einer Gestalt aber wie Wills – klaräugig und mit lächelnden Lippen – verleihen sie nur einen Reiz mehr, Zeugen eines schlichten, leichten Lebens.
Seine Rede war voll von klugen Aussprüchen. Er hatte Geschmack für andere Leute, und andere Leute hatten Geschmack für ihn. Wenn in der Jahreszeit das Tal voll von Wanderern war, so gab es fröhliche Nächte in Wills Laube; seine Ansichten, die den Nachbarn schrullenhaft vorkamen, wurden oft genug bewundert von gelehrten Leuten aus den Städten und Hörsälen. Gewißlich, er hatte ein recht würdiges Alter und wurde täglich mehr bekannt, also daß sein Ruf in den Städten der Ebene vernommen ward: junge Leute, die im Sommer auf Wanderungen gewesen waren, sprachen in den Cafés über Will von der Mühle und seine rauhe Philosophie.
Glaubt mir, er hatte manche und manche Einladung – aber nichts konnte ihn aus seinem Hochlandstal hinunterlocken. Er konnte den Kopf schütteln und über seine Tabakspfeife hinweg lächeln, daß es wie ein Urteil aussah. »Ihr kommt zu spät«, konnte er antworten. »Jetzt bin ich ein toter Mann. Ich habe gelebt bereits und bin verstorben. Fünfzig Jahre früher hättet ihr mir das Herz im Halse klopfen gemacht, jetzt bringt ihr mich nicht einmal mehr in Versuchung. Aber dies ist das Ziel eines langen Lebens, daß der Mensch aufhört, sich ums Dasein zu kümmern.« Und wieder: »Es giebt bloß einen Unterschied zwischen einem langen Leben und einer guten Mahlzeit: daß nämlich bei der Mahlzeit die Süßigkeiten zuletzt kommen.« Und ein andermal: »Als ich ein Junge war, kam ich ein bißchen durchhin und wußte kaum, war ich es oder die Welt, die merkwürdig schien und wert, hineinzusehen. Nun weiß ich: ich selber bins, und halte mich daran.«
Niemals war ein Zeichen der Schwäche an ihm zu bemerken, sondern er hielt sich bis zuletzt kraftvoll und firm; nur, hieß es, weniger gesprächig wurde er gegen das Ende zu und konnte stundenlang Anderen zuhören, selber in einem belustigten und wohlwollenden Schweigen. Jedoch, wenn er einmal sprach, so wars mehr zur Sache und auch beladen mit langer Erfahrung.
Eine Flasche Wein trank er gern, zumal bei Sonnenuntergang auf der Hügelkuppe oder recht spät in der Nacht unter Sternen in der Laube. Die Aussicht auf etwas, das anzog und unerreichbar war, würze ihm das Vergnügen, pflegte er zu sagen, und er gab zu, lange genug gelebt zu haben, um eine Kerze desto mehr zu bewundern, wenn er sie mit einem Planeten vergleichen konnte.
Eines Nachts, in seinem zweiundsiebzigsten Jahr, erwachte er im Bett in solch körperlichem und geistigem Unbehagen, daß er aufstand, sich ankleidete und ins Freie ging, um nachzusinnen in der Laube.
Es war stichdunkel, kein Stern zu sehn; der Strom schwoll, und die nassen Wälder und Wiesen beluden die Lüfte mit Wohlgeruch. Im Laufe des Tages hatte es gewittert, und es versprach mehr Unwetter für den nächsten Morgen. Eine düstere, stickige Nacht für einen Mann von zweiundsiebzig! War das Wetter schuld oder das Wachsein oder irgendein kleiner Anhauch von Fieber in seinen alten Gliedern – Wills Herz war belagert von aufgebrachten und lärmenden Erinnerungen. Seine Knabenjahre, die Nacht mit dem stämmigen jungen Mann, der Tod seiner Pflegeeltern, die Sommertage mit Maleen, so manches von jenen winzigen Ereignissen, die einem Fremden nichts, doch die für den Menschen selbst den wirklichen Inhalt des Lebens bedeuten – Geschautes, Worte im Ohr, Blicke mißdeutet –, sie standen in ihren vergessenen Winkeln auf und forderten sein Aufmerken. Selber die Toten waren neben ihm, nicht bloß als Teilnehmer an dieser dünnen Heerschau des Gedächtnisses, die an seinem Denken vorüberzog, sondern sie suchten seine leiblichen Sinne wieder auf, wie sie in tiefen und lebhaften Träumen tun. Der stämmige junge Mann legte seine Ellbogen auf die Tischplatte gegenüber, Maleen kam und ging, die Schürze voll Blumen, zwischen Beeten und Laube hin und her, er konnte den alten Pfarrer seine Pfeife ausklopfen hören oder auch seine tönende Nase schnauben. Die Woge seines Bewußtseins ging mit Ebbe und Flut: zuweilen war er halb entschlafen, ertrunken in seinen Vergangenheitsgedanken; zuweilen war er hellwach, verwundert über sich selber.
Aber um die Nachtmitte wurde er aufgeschreckt durch die Stimme des toten Müllers, der aus dem Hause nach ihm rief, wie er zu tun pflegte bei der Ankunft von Gästen. Die Sinnestäuschung war so vollkommen, daß Will von seinem Sitz aufsprang und lauschte, ob die Anrufe sich wiederholen würden; und im Lauschen wurde er eines anderen Geräusches gewahr neben dem Tosen des Stromes und dem Singen in seinem fiebernden Gehör. Es glich dem Stampfen von Pferden und dem Knarren der Geschirre, wie wenn ein Reisewagen von ungeduldigem Gespann die Straße heraufgebracht würde vor das Hoftor.
Zu solcher Stunde, auf diesem holprigen gefährlichen Pfad – die Mutmaßung war recht abgeschmackt; Will entließ sie und nahm seinen Sitz auf dem Laubenstuhl wieder ein. Schlaf über ihm schloß sich wie ein fließendes Wasser. Wieder erweckte ihn der Zuruf des toten Müllers, dünner, geisterhafter als zuvor, und wieder vernahm er das Geräusch einer Kalesche auf der Straße. Und dies dreimal und viermal, der gleiche Traum oder die gleiche Vorstellung seiner Sinne – bis er am Ende, bei sich lächelnd, wie man ein erregtes Kind besänftigt, vorging auf das Tor zu, um seiner Ungewißheit Ruhe zu schaffen.
Die Entfernung von der Laube bis zum Tor war nicht groß, und doch brauchte Will einige Zeit dazu; es war, als ob die Toten im Hof um ihn her dichter würden und seinen Weg kreuzten bei jedem Schritt. Denn zuerst ward er plötzlich überrascht von einer überstarken Süße von Heliotrop; es war, als ob der Garten vom einen Ende zum anderen mit dieser Blume bepflanzt wäre und die warme, feuchte Nacht den ganzen Geruch herausgezogen hätte mit einem Atemholen. Nun war Heliotrop Maleens Lieblingsblume gewesen, und seit ihrem Tode war nicht eine davon auf Wills Boden gepflanzt.
Ich glaube, ich werde närrisch, dachte er. Arme Maleen mit ihrem Heliotrop! –
Überdem hob er seine Augen gegen das Fenster, das einst ihres gewesen war. Und, war er zuvor verwirrt gewesen, nun wurde er nahezu bestürzt; denn in dem Zimmer war Licht; das Fenster war ein rötlichgelbes, längliches Rechteck wie einst; und der Zipfel des Vorhangs ward gelüftet und wieder fallen gelassen wie in der Nacht, wo erstand und den Sternen zuschrie in seiner Bestürztheit.
Die Täuschung währte nur einen Augenblick; aber er blieb ziemlich betroffen zurück, rieb die Augen und starrte nach dem Umriß des Hauses und in die schwarze Nacht dahinter. Dieweil er so stand – und er glaubte, lange Zeit so gestanden zu haben –, erneuten sich die Geräusche auf der Straße; er kehrte sich um und traf im Augenblick einen Fremden, der vorwärts kam über den Hofplatz, ihm entgegen. Etwas wie die Umrisse eines großen Kaleschwagens ließen sich auf der Straße hinter dem Fremden erkennen und, oben darüber, ein paar schwarze Föhrenwipfel, wie ebenso viele Federn.
»Meister Will?« fragte der Ankömmling, kurz, militärisch.
»Derselbe, Herr«, antwortete Will. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Ich habe viel von Ihnen sprechen hören, Meister Will«, versetzte der Andre, »viel von Ihnen und gut. Und obgleich ich beide Hände voller Geschäfte habe, möchte ich eine Flasche Wein in Ihrer Laube mit Ihnen trinken. Bevor ich wieder gehe, werde ich mich vorstellen.«
Will ging vorauf zu dem Laubenwerk, zündete die Lampe an und entkorkte eine Flasche. Derlei artige Verhöre waren ihm durchaus nichts Ungewohntes, und er versprach sich ziemlich wenig von dem hier, gewitzt durch viele Enttäuschungen. Eine Art Wolke hatte sich über seinen Geist gelegt und verhinderte ihn, sich auf das Befremdliche der Stunde zu besinnen. Er bewegte sich wie ein Schlafender; mit Gedankenleichte schien die Lampe Feuer zu fangen, die Flasche sich zu entkorken. Jedoch, er war einigermaßen wißbegierig auf die Erscheinung des Besuchers und versuchte umsonst, das Licht gegen sein Gesicht hin zu drehn; entweder er handhabte die Lampe ungeschickt, oder über seinen Augen lag Verschleierung: er konnte wenig mehr ausfindig machen als einen Schatten am Tische neben ihm. Er starrte und starrte diesen Schatten an beim Auswischen der Gläser und fing an, sich kalt und sonderbar ums Herz zu fühlen. Das Schweigen lastete auf ihm, denn jetzt war nichts zu hören, nicht einmal der Fluß; nur das Trommeln seiner eigenen Adern im Hörgang.
»Ihr Wohl«, sagte der Fremde rauh.
»Das Ihre, Herr«, erwiderte Will, am Wein nippend, der irgendwie absonderlich schmeckte.
»Ich höre, Sie sind ein sehr bestimmter Gesell«, fuhr der Fremde fort.
Will antwortete mit einem Lächeln geringer Genugtuung und einem Nicken.
»Ich auch«, fuhr der Andre fort, »und es ist die Wonne meines Herzens, den Leuten auf die Hühneraugen zu treten. Ich will niemand bestimmt haben, außer mir; nicht einen. Ich kreuzte, zu meiner Zeit, die Launen von Königen, Generalen und großen Künstlern. Und was würden Sie sagen,« fügte er hinzu, »wenn ich hier heraufgekommen wäre, um die Ihren zu kreuzen?«
Will hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, aber die Höflichkeit des alten Wirts überwog; er hielt Frieden und antwortete mit einer artigen Handbewegung.
»Ich kam«, sagte der Fremde. »Und wenn ich Sie nicht in vorzüglicher Wertschätzung hielte, würde ich kein Wort mehr darüber verlieren. Mir scheint, Sie brüsten sich damit, daß Sie stehen, wo Sie stehn. Sie glauben, in Ihrem Gasthof festzusitzen. Nun meine ich, Sie sollten in meine Kalesche zu einem Abstecher mitkommen; und bevor diese Flasche leer ist, werden Sie.«
Die Trübung von Wills Blick war indessen gewachsen; aber irgendwie kam es ihm vor, als wäre er einer scharfen, eisigen Prüfung unterworfen, die ihn belästigte und doch meisterte.
»Sie brauchen nicht zu denken,« platzte er jäh heraus in einem fiebrischen Ausbruch, der ihn selber schreckte und beunruhigte, »daß ich ein Stubenhocker bin; denn ich fürchte mich vor nichts von Gott abwärts. Gott weiß, ich bin müde genug von alledem; und wenn die Zeit für eine längere Reise kommt, als Sie je geträumt haben, so kann ich damit rechnen, gerüstet zu sein.«
Der Fremde leerte sein Glas und stieß es von sich. Er blickte eine Weile nieder; und dann, sich über den Tisch legend, tippte er Will dreimal mit einzelnem Finger auf den Unterarm. »Die Zeit ist da«, sagte er feierlich.
Ein häßlicher Schauder breitete sich von der berührten Stelle. Der Laut jener Stimme war dumpf und erschreckend und widerhallte seltsam in Wills Herzen.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er in einiger Fassungslosigkeit. »Wie meinen Sie das?«
»Blick mich an, und du wirst dein Augenlicht verschwimmen sehn. Hebe die Hand – sie ist todschwer. Dies ist Ihre letzte Flasche, Meister Will, und Ihre letzte Nacht auf Erden.«
»Sie sind ein Doktor?« klapperte Will.
»Der beste, dens gegeben hat,« versetzte der Andre, »denn ich kuriere beides, Leib und Seele, nach demselben Rezept. Ich nehme allen Schmerz weg, und ich vergebe alle Sünden. Und wenn meine Patienten im Leben verkehrt gegangen sind, glätte ich alle Verwicklungen und stelle sie frei auf die Füße.«
»Ich brauche Sie nicht«, sagte Will.
»Für alle kommt eine Zeit, Meister Will«, versetzte der Doktor, »wo das Steuer aus ihrer Hand genommen wird. Für Sie, Da Sie ruhig und klug waren, dauerte es lange, bis sie kam, und Sie hatten lange Zeit, sich für ihren Empfang zu erziehen. Sie haben gesehn, was zu sehn ist um Ihre Mühle her; Sie haben all Ihre Tage eingeschlossen gesessen wie der Hase im Nest; aber das hat nun ein Ende. Und«, fügte der Doktor hinzu, auf die Füße springend, »Sie müssen aufstehn und mit mir kommen.«
»Sie sind ein sonderbarer Arzt«, sagte Will, standfest seinen Gast anblickend.
»Ich bin ein Naturgesetz,« versetzte der, »und man nennt mich Tod.«
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt!« schrie Will. »Ich habe viele Jahre auf Sie gewartet. Ihre Hand und Willkommen!«
»Lehnen Sie sich auf meinen Arm,« sagte der Fremde, »Ihre Kraft nimmt schon ab. Lehnen Sie sich auf mich, so schwer Sie müssen; wenn ich auch alt bin, bin ich doch sehr stark. Es sind nur drei Schritt zu meinem Reise wagen, und da enden all Ihre Wirrnisse. Ah, Will!« setzte er hinzu, »ich habe mich nach dir gesehnt, als wärest du mein Sohn; und von allen Menschen, die mir je vorgekommen sind in meinen langen Tagen, kam ich zu dir am liebsten. Ich bin beißend scharf, ich beleidige manchen auf den ersten Blick; aber ich bin ein wahrer Herzensfreund gegen solche, wie du bist.«
»Seit Maleen fortgenommen ist,« entgegnete Will, »warst du, das erkläre ich vor Gott, der einzige Freund, nach dem ich ausgeschaut habe.«
So ging das Paar Arm in Arm über den Hofplatz.
Einer von den Dienstleuten erwachte um diese Zeit und hörte das Geräusch von Pferden, ehe er wieder einschlief; durch das ganze Tal hinab war in dieser Nacht ein Rauschen wie eines glatten und stetigen Windes, der zur Ebene hinunterwehte; und als die Menschheit am anderen Tage sich erhob, gewiß, da war Will von der Mühle endlich auf die Reise gegangen.
Druck der Spamerschen Buchdruckerei
in Leipzig