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Drittes Kapitel

Land und See in der Bucht von Sandag

Ich war am nächsten Morgen früh munter und machte mich, sobald ich einen Bissen gegessen hatte, auf meinen Forschungsgang. Eine innere Stimme sagte mir ganz deutlich, daß ich das Schiff der Armada finden würde; und wenn ich mich auch nicht gänzlich diesen hoffnungsfrohen Gedanken hingab, war ich doch leichten Herzens und wandelte wie auf Luft. Aros ist eine sehr rauhe kleine Insel; ihr Boden ist mit großen Felsblöcken bedeckt und zottig von Farn und Heidekraut. Mein Weg führte mich in fast grader nordsüdlicher Richtung über den höchsten Hügelrücken hinweg, und obwohl die ganze Entfernung noch keine zwei Meilen betrug, brauchte ich dazu doch mehr Zeit und Kraft als zu vier Meilen ebenen Weges. Auf der Anhöhe hielt ich an; sie war nicht sehr hoch – noch keine dreihundert Fuß nach meiner Schätzung –, überragte aber das benachbarte Flachland der Roost um vieles und gewährte eine umfassende Aussicht auf das Meer und die Inseln. Die Sonne, die schon eine ganze Weile aufgegangen war, brannte heiß auf meinen Nacken; die Luft war schwül und gewitterschwer, wenn auch von durchsichtiger Klarheit. Nordwestlich, in weiter Ferne, wo die Inseln am dichtesten lagen, hatte sich ein halb Dutzend kleiner Wolkenfetzen zusammengeballt, und das Haupt Ben Kyaws trug nicht nur einige Nebelschleier, sondern eine feste Nebelhaube. Eine Drohung lag im Wetter. Wohl war das Meer so glatt wie Glas: selbst die Roost glich nur einem weißen Rand am weiten Wasserspiegel und die ›Tollen Männer‹ einer Reihe von Schaumkappen. Aber meinen Augen und Ohren, denen alle diese Orte so vertraut waren, erschien des Meeres Schlummer voller Unruhe. Ein Laut, einem langen Seufzer ähnlich, stieg zu mir empor, und die Roost selbst schien mir in ihrer Ruhe auf Unheil zu sinnen, muß ich doch hinzufügen, daß wir alle, die wir in diesen Gegenden lebten, diesem seltsamen und gefährlichen Geschöpf der Fluten wenn auch nicht prophetisches Wissen, so doch zum mindesten die Gabe warnender Prophezeiung beimaßen.

Ich beschleunigte meinen Schritt und war bald den Aroser Abhang hinunter nach jenem Teil abgestiegen, den wir die Bucht von Sandag nennen. Diese ist im Vergleich zu der Insel selbst ein ziemlich großes Wasser, gegen alles, die vorherrschenden Winde ausgenommen, wohl geschützt, sandig und schal, im Westen von niedrigen Dünen begrenzt und im Osten sich an einige klafterhohe Felsen anschmiegend. Dies war die Seite, wo zu gewissen Zeiten der Flut die von meinem Onkel erwähnte Strömung stark gegen die Bucht trieb; kurz danach jedoch, wenn die Roost zu steigen beginnt, setzt eine noch stärkere, tiefere Gegenströmung ein, und sie ist es auch wohl gewesen, die den Boden hier so tief ausgehöhlt hat. Von der Bucht von Sandag aus ist nichts als ein kleiner Ausschnitt des Horizontes sichtbar und, bei schwerer See, die Sturzwellen, die sich an einem unsichtbaren Riffe brechen.

Schon von der halben Berghöhe herab erkannte ich das Wrack vom vergangenen Februar, eine Brigg von beträchtlicher Tonnage, die mit zerbrochenem Rücken hoch und trocken im östlichen Winkel der Dünen lag. Ich hielt in grader Richtung auf sie zu und hatte bereits den Dünenrand fast erreicht, als mein Blick plötzlich wie gebannt auf eine von Farn und Heidekraut gesäuberte Stelle fiel, auf der sich einer jener niedrigen, länglichen, gräberähnlichen Hügel erhob, die wir von den Friedhöfen her so gut kennen. Ich hielt, wie von einer Kugel getroffen, inne. Man hatte mir nichts von einer Leiche oder einem Begräbnis hier auf der Insel gesagt; Rorie, Mary und mein Onkel hatten alle drei geschwiegen. Von Mary zum mindesten war ich überzeugt, daß sie nichts wußte; dennoch stand hier vor meinen Augen der unumstößliche Beweis einer Tatsache. Hier war ein Grab; und ich mußte mich mit einem Schauder fragen, welche Art von Mensch dort seinen letzten Schlaf hielt und an jener öden, meerumbrausten Ruhestatt des Zeichens des Herrn harrte? Mein Geist gab mir keine Antwort, außer der einen, die ich anzunehmen mich fürchtete. Schiffbruch mußte er unter allen Umständen erlitten haben; vielleicht stammte er wie die ehemaligen Matrosen der Armada aus einem gesegneten Lande jenseits des Meeres; vielleicht war er einer meines Stammes, der mit dem Rauch seiner heimatlichen Hütte vor Augen hier elendiglich verderben mußte. Ich stand eine Weile barhäuptig an seiner Seite und wünschte fast, es hätte in unserer Religion gelegen, für den unglücklichen Fremdling ein Gebet zu sprechen oder nach altem klassischen Brauch sein Mißgeschick äußerlich zu ehren. Ich wußte wohl, daß seine unsterbliche Seele, obgleich sein Gebein dort als ein Teil von Aros ruhte, bis die Posaune des Gerichts ertönte, in weite Fernen entflohen war, um die Wonnen des ewigen Sabbats oder die Qualen der Hölle zu kosten. Dennoch zitterte ich innerlich wie vor Furcht, daß er, während ich an seiner Grabstätte wachte, sich in meiner Nähe an dem Ort seiner Leiden aufhielt.

Gewiß ist, daß ich mit gleichsam überschattetem Gemüt mich von dem Grab hinweg dem kaum weniger melancholischen Schauspiel des Wracks zuwandte. Der Schiffsrumpf lag höher, als die ersten Flutwellen reichten; und dicht vor dem Vordermast oder vor der Stelle, wo er gesessen hatte – denn jetzt, wahrlich, besaß das Schiff keine Masten mehr, da beide bei dem Unglück abgebrochen waren – war er zersplissen; und da der Strand sich scharf neigte, und der Bug viele Fuß tiefer lag als das Heck, klaffte der Riß weit auseinander, so daß man durch das ganze arme Schiff hindurch bis auf die andere Seite sehen konnte. Sein Name war auch schwer lesbar, und ich konnte nicht klar erkennen, ob es nach der norwegischen Stadt Christiania oder nach der guten Christin in dem alten Buch, Christian Weib, Christiana getauft war. Dem Bau nach war es ein ausländisches Schiff, ich konnte seine Nationalität indes nicht feststellen. Ursprünglich war es grün gestrichen gewesen, aber die Farbe war abgeblaßt und verwittert und schälte sich in Streifen ab. Die Trümmer des Hauptmastes lagen zur Hälfte im Sande begraben daneben. Es bot in der Tat einen trostlosen Anblick, und ich sah nicht ohne Bewegung die Tauenden ihm zur Seite baumeln, die in den Händen so mancher lärmender Matrosen gewesen, oder die kleine Springluke, die die Leute bei ihrer Arbeit hinauf- und hinabgeeilt, oder den armen nasenlosen Engel von einer Gallionsfigur, der in so manche Woge hinabgetaucht war.

Ich weiß nicht, ob sie in erster Linie vom Schiff oder von dem Grab ausgingen, aber ich empfand, als ich so mit der einen Hand gegen die zerbeulten Planken gelehnt dastand, plötzlich einige melancholische Skrupel. Die Heimatlosigkeit der Menschen, ja selbst der leblosen Schiffe, die an fremdem Ufer gestrandet sind, fiel mir schwer auf die Seele. Aus dergleichen jammervollen Mißgeschicken Profit zu schlagen, erschien mir als eine unmännliche und schmutzige Handlung, und ich fing an, meine Aufgabe für eine Art Sakrileg zu halten. Als ich mich indes Marys erinnerte, faßte ich wieder Mut. Mein Onkel würde niemals in eine unvorsichtige Heirat willigen und sie, nach meiner festen Überzeugung, nie ohne seine volle Zustimmung heiraten. Es kam mir also zu, für meine Frau zu sorgen, und, mich selbst auslachend, dachte ich daran, wie lang es her sei, daß jene schwimmende Burg, die »Espiritu Santo«, ihr Gerippe in der Bucht von Sandag gelassen, und welche Schwäche es wäre, so lang erloschene Rechte und Schicksalsschläge, die im Laufe der Zeit längst vergessen waren, zu achten.

Ich hatte meine Theorie, nach der ich nach den Überresten suchen wollte. Die Richtung der Strömung wie die Lotmessungen wiesen mich nach der Ostseite der Bucht unter die Felsvorsprünge. War das Schiff wirklich in der Bucht von Sandag gescheitert, und hielten nach all den Jahrhunderten noch einige Trümmer davon zusammen, so mußte ich es dort finden. Das Wasser erreicht, wie gesagt, sehr bald eine große Tiefe und mißt hart an den Uferfelsen bereits mehrere Faden. Wie ich so am Rande spazieren ging, konnte ich weit und breit den sandigen Meeresboden überschauen. Die Sonne leuchtete klar und stetig in seine grünen Tiefen. Die Bucht schien einem ungeheuren durchsichtigen Kristall zu gleichen; nichts verriet das Wasser außer einem leisen Beben im Innern, einem Zittern der Sonnenstrahlen und des Netzwerks von Schatten und einem gelegentlichen matten Plätschern und ersterbendem Glucksen am Uferrand. Die Schatten der Felsen erstreckten sich zu ihren Füßen um einige Längen ins Meer hinaus, so daß mein eigener Schatten, wenn ich mich weiterbewegte und tief über den Rand beugte, mitunter über die halbe Bucht hinausragte. Dieser Schattengürtel war es, den ich vor allem nach der »Espiritu Santo« durchforschte, denn hier war auch die Unterströmung am stärksten. So kühl die ganze Wasserfläche an jenem siedend heißen Tage schien, hier lockte sie am kühlsten und barg in meinen Augen eine geheimnisvolle Anziehungskraft. So sehr ich indes auch spähte, ich vermochte nichts zu entdecken als einige Fische oder einen Klumpen Seetang und verstreutes Gestein, das von oben abgebröckelt war und jetzt am sandigen Meeresboden ruhte. Zweimal schritt ich von einem Ende des Felsgestades bis zum anderen, ohne irgendwo eine Spur des Wracks oder mit einer einzigen Ausnahme auch nur eine Stelle zu finden, wo es möglicherweise hätte sein können. Letztere war eine große Felsterrasse, die sich in einer Tiefe von rund fünf Faden ziemlich hoch vom Sandboden abhob, und die, von oben gesehen, einem Auswuchs der Felsen glich, auf denen ich stand. Das Ganze bildete eine einzige, grottenähnliche Masse von Seetang, deren wahre Beschaffenheit ich nicht erkennen konnte, die jedoch in Größe und Form einem Schiffsrumpf nicht unähnlich war. Hier, zum mindesten, war meine beste Chance. Lag die »Espiritu Santo« nicht dort unter dem Seetang begraben, dann lag sie überhaupt nicht in der Sandager Bucht; ich bereitete mich daher vor, diese Frage ein für allemal zu entscheiden und entweder als reicher Mann nach Aros zurückzukehren oder auf ewig von meinen Träumen kuriert zu sein.

Ich entkleidete mich vollständig und stellte mich zaudernd, mit gefalteten Händen, hart am Rande auf. Die Bucht lag in jener Stunde vollkommen regungslos; weit und breit kein Laut, außer von einer Schar von Tümmlern, die irgendwo außer Sicht hinter der Landzunge ihre Versammlung hielten; dennoch hielt mich eine gewisse Furcht auf der Schwelle meines Abenteuers zurück. Trübselige Meeresgedanken, Bruchstücke von meines Onkels Aberglauben, Bilder von Toten, von Gräbern und zerborstenen alten Schiffen zogen an meinem Innern vorüber. Allein die kräftige Sonne auf meinen Schultern wärmte mich bis ins Herz hinein, und ich beugte mich vornüber und tauchte in die See.

Mit äußerster Anstrengung vermochte ich einen Büschel des Seetangs, der die Terrasse so dicht umwucherte, zu fassen. Dank diesem provisorischen Anker sicherte ich mich vollkommen, indem ich einen ganzen Armvoll des starken, schleimigen Gewächses ergriff. Meine Füße gegen den Rand stemmend, blickte ich mich um. Nach allen Seiten erstreckte sich die ebene Sandfläche, bis zu den Füßen der Felsen hin, wo durch den Wechsel der Fluten ein Gang ausgegraben war, der einem Gartenweg glich. Vor mir lag, so weit ich sehen konnte, nichts als der gleiche sanft-wellige, von der Sonne durchflutete Meeresboden. Allein die Terrasse, an die ich mich klammerte, war mit starken Gewächsen so dicht bestanden wie ein Moorhügel mit Heidekraut, und der Felsen, aus dem sie hervorquollen, war unter der Oberfläche mit einem Vorhang braunen Tangs drapiert. In diesem Labyrinth von Formen, die sich in der Wellenbewegung hin und her schaukelten, waren die Dinge schwer zu unterscheiden; und ich war nach wie vor unsicher, ob meine Füße sich gegen die natürliche Felswand oder gegen die Planken des Schatzschiffes der Armada stemmten, als der gesamte Tangbüschel in meiner Hand nachgab. Im Nu war ich an der Oberfläche, und die Ufer der Bucht und das lichte Wasser schwammen in purpurner Glorie vor meinen Augen. Ich kletterte auf die Felsen zurück und warf die Meerpflanze vor meine Füße zu Boden. Im gleichen Augenblick gab es einen hellen Klang, wie von einer fallenden Münze. Ich bückte mich, und wahrhaftig! – dort lag eine mit Rost bezogene eiserne Schuhschnalle. Der Anblick dieser armen menschlichen Reliquie griff mir ans Herz; aber nicht mit Hoffnung oder Furcht, sondern mit trübseligster Melancholie. Ich nahm sie in die Hand, und der Gedanke an ihren Besitzer tauchte wie die leibhaftige Gegenwart eines lebendigen Menschen vor mir auf. Sein wettergebräuntes Gesicht, seine Seemannshände, seine vom Schreien vor dem Ankerspill heisere Matrosenstimme, ja der Fuß sogar, der einstmals jene Schnalle auf unsicher schwankendem Deck getragen hatte – seine ganze menschliche Körperlichkeit, die einem Geschöpf, wie ich selbst es war, glich, mit Haaren, Blut und sehenden Augen – erschien mir in jener sonnigen Einsamkeit nicht wie ein Gespenst, sondern wie ein Freund, dem ich ein feiges Unrecht angetan. Lag das mächtige Schatzschiff mit seinen Kostbarkeiten, Ketten und Kanonen, so wie es vor Spanien in See gestochen, tatsächlich dort unten? Sein Deck ein Garten für die Meeralgen, seine Kabine ein Brutplatz für Fische, geräuschlos bis auf das dumpf schlagende Wasser, bewegungslos, den schaukelnden Seetang auf seiner Brustwehr ausgenommen; jene alte, volkreiche, schwimmende Burg jetzt ein Riff in der Sandager Bucht? Oder, was mir wahrscheinlicher erschien, war dies nur ein Stückchen Strandgut aus dem Schiffsunglück der fremden Brigg? War diese Schuhschnalle erst vor kurzem gekauft und von einem Manne getragen worden, der aus der Weltgeschichtsperiode stammte, die auch die meine war, der tagtäglich dieselben Neuigkeiten erfahren, der die gleichen Gedanken gedacht, ja der vielleicht im selben Gotteshaus wie ich gebetet hatte? Wie dem auch sein mochte, düstere Gedanken stürmten auf mich ein; die Worte meines Onkels: »Die Toten sind dort unten«, klangen in meinen Ohren, und obgleich ich noch einmal unterzutauchen beschloß, trat ich doch voll heftigen Widerwillens an den Felsrand.

Im gleichen Augenblick ging eine starke Veränderung über das Antlitz der Bucht. Verschwunden war das klare, durchsichtige Innere, das einem mit Glas gedeckten Hause glich, in dem der grüne Meersonnenschein lautlos schlummerte. Eine Brise hatte wohl ihre Oberfläche getrübt, und eine Art finstere Unruhe erfüllte ihren Busen, in dem grelle Lichter und wolkige Schatten durcheinander wirbelten. Selbst durch die unterirdische Terrasse lief ein verschwommenes Beben. Es schien plötzlich eine ernstere Sache geworden zu sein, sich an jenen Ort voll lauernder Gefahren zu wagen; und als ich zum zweiten Male in das Meer hinabsprang, geschah es zitternden Herzens.

Ich verankerte mich wie bei dem ersten Mal, und suchte tastend in dem wiegenden Tang umher. Alles, worauf ich stieß, fühlte sich kalt, weich und gallertartig an. Das Dickicht wimmelte von Krabben und Hummern, die ungeschickt hin und her watschelten, und ich mußte mein Herz gegen die Greuel ihrer Aaswelt stählen. Allseitig fühlte ich die Risse und Adern lebendigen Gesteins; keine Balken, kein Eisen, keinerlei Spuren eines Wracks; hier lag die »Espiritu Santo« nicht. Ich weiß, daß mich statt der Enttäuschung fast ein Gefühl der Erleichterung überkam, und ich wollte schon aufhören, als etwas geschah, das mich zu Tode erschrocken an die Oberfläche schnellen ließ. Ich hatte mich bei meinen Untersuchungen etwas verspätet; mit dem Flutwechsel wurde die Strömung stärker, und die Bucht von Sandag hatte aufgehört, für einen Einzelschwimmer gefahrlos zu sein. Nun, gerade im letzten Augenblick, zog die Strömung plötzlich stark an und überschwemmte das Meergestrüpp wie eine Welle. Ich verlor meinen Halt und wurde auf die Seite geschleudert, und als ich instinktiv nach einem neuen Halt suchte, schlossen sich meine Finger über etwas Hartem und Kaltem. Ich glaube, ich wußte sofort, was es war. Wenigstens ließ ich den Tang augenblicks fahren, schnellte an die Oberfläche und kletterte in der darauf folgenden Sekunde auf die hilfreichen Felsen hinauf, einen menschlichen Beinknochen umklammernd.

Der Mensch ist ein materielles Geschöpf, langsam im Denken und träge in der Erkenntnis der Zusammenhänge. Das Grab, das Wrack der Brigg, die rostige Schuhschnalle waren sicherlich deutliche Anzeichen. Ein Kind hätte ihre traurige Geschichte lesen können; dennoch packte mich das ganze Grauen vor dem Beinhaus des Meeres erst in dem Augenblick, als ich dieses Stück Mensch leibhaftig in Händen hielt. Ich legte den Knochen neben die Schnalle, raffte meine Kleider auf und rannte so, wie ich war, über die Felsen nach dem bewohnten Gestade. Ich konnte mich nicht weit genug von dem Orte entfernen; kein Schatz war groß genug, um mich zurückzulocken. Das Gebein der Ertrunkenen sollte in Zukunft vor mir sicher sein, mochte es nun auf Seetang oder auf gemünztem Golde ruhen. Sobald ich jedoch wieder auf der guten Erde stand und meine Nacktheit vor der Sonne geschützt hatte, kniete ich, mit dem Gesicht dem Wrack zugewandt, nieder und sandte aus vollem Herzen ein langes, leidenschaftliches Gebet für alle armen Seelen auf dem Meere zum Himmel. Eine warmherzige Bitte ist niemals umsonst; sie mag verweigert werden, aber der Bittende wird, meinem Glauben nach, stets entlohnt durch eine gnadenvolle Heimsuchung. Das Grauen, zum mindesten, wurde von mir genommen; ich vermochte wieder mit ruhigem Gemüt jene gewaltige, strahlende Schöpfung Gottes, das Meer, zu betrachten, und als ich heimwärts den rauhen Abhang von Aros erklomm, war mir von meiner Sorge nichts geblieben als der feste Entschluß, mich nie wieder mit dem Raube gestrandeter Schiffe oder mit den Schätzen der Toten einzulassen.

Ich hatte bereits einen guten Teil des Weges zurückgelegt, als ich innehielt, um Atem zu schöpfen und mich umzusehen. Der Anblick, der sich mir bot, war doppelt merkwürdig.

Der Sturm, den ich vorausgesehen hatte, näherte sich mit fast tropischer Schnelligkeit. Der auffallend leuchtende Meeresspiegel hatte den häßlich stumpfen Hauch runzeligen Bleis angenommen. Schon begannen die weißen Wogen am Horizont, ›des Schiffers Töchter‹, vor einer Brise zu fliehen, von der man in Aros noch nichts spürte, und von längs den Krümmungen der Sandager Bucht drang der Anprall schäumender Wellen zu mir herüber. Die Veränderung am Himmel war noch auffallender. Im Südwesten war ein ganzer Kontinent schwerer drohender Wolken aufgestiegen, aus dessen Rissen die Sonne eine Garbe von Lichtstrahlen sandte, während von seinen Rändern her tintenschwarze Wolkenstreifen den noch unbewölkten Himmel durchzogen. Die Gefahr war nicht zu verkennen und rückte immer näher. Noch während ich stand und schaute, wurde die Sonne ausgelöscht. Jeden Augenblick konnte das Unwetter mit aller Macht über Aros losbrechen.

Die Plötzlichkeit dieses Wetterwechsels hielt meinen Blick so fest am Himmel gebannt, daß einige Sekunden vergingen, ehe ich ihn auf die zu meinen Füßen ausgebreitete und im nächsten Augenblick der Sonne beraubte Bucht richtete. Die Anhöhe, auf der ich stand, überschaute seitlich ein kleines Amphitheater niedriger und zur See abfallender Hügel und daran anschließend den halbmondförmigen Strand und die Sandager Bucht in ihrer ganzen Ausdehnung. Auf diese Szene hatte ich so manches Mal hinabgeblickt, ohne jemals einen Menschen wahrzunehmen. Eben erst hatte ich ihrer Einsamkeit den Rücken gekehrt; wer beschreibt daher mein Erstaunen, als ich an jenem verlassenen Ort ein Boot mit einer Reihe von Männern sah? Das Boot war neben den Felsen gelandet. Zwei barhäuptige Burschen in Hemdsärmeln und mit einem Bootshaken bewaffnet, hielten es bei der immer stärker werdenden Strömung mit Mühe und Not am Ankerplatz fest, während etwas weiter weg am Uferrand zwei schwarzgekleidete Männer von anscheinend höherem Range ihre Köpfe über einer Sache zusammensteckten, die ich auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, die mir aber eine Sekunde später klar wurde – sie waren dabei, mit dem Kompaß ihren gegenwärtigen Standort festzustellen. Gerade in diesem Augenblick sah ich den einen eine Papierrolle entbreiten und mit dem Finger darauf zeigen, als vergleiche er einzelne Punkte auf der Landkarte. Währenddessen schritt ein dritter auf und ab, stöberte in den Felsen umher und spähte über den Rand ins Wasser. Während ich sie noch in lähmender Verwunderung anstarrte und mein Geist das mühsam zu erfassen suchte, was meine Augen ihm berichteten, bückte sich dieser dritte plötzlich zu Boden und holte seine Gefährten mit einem so lauten Ruf herbei, daß es bis zu mir herübertönte. Die anderen liefen auf ihn zu, wobei sie in ihrer Eile sogar den Kompaß fallen ließen, und ich konnte den Knochen und die Schuhschnalle unter den außergewöhnlichsten Gesten und Ausrufen der Überraschung von Hand zu Hand wandern sehen. Im gleichen Augenblick hörte ich die Seeleute aus dem Boot herüberrufen und sah sie westwärts auf die Wolkenmasse zeigen, die mit wachsender Geschwindigkeit den Himmel einhüllte. Die anderen schienen zu beraten, allein die Gefahr war zu bedeutend, als daß man ihr hätte trotzen können, und so sprangen sie ins Boot, meine Funde mit sich nehmend, und machten sich mit aller Kraft der Ruder davon.

Ich machte kein Aufsehen von der Angelegenheit, sondern wandte mich um und lief nach Hause. Wer diese Männer auch sein mochten, mein Onkel mußte sofort von ihrer Anwesenheit erfahren. Die Zeiten waren damals noch so, daß ein Einfall der Jakobiten nicht unmöglich erschien; vielleicht war gar Prinz Charlie, von dem ich wußte, daß mein Onkel ihn haßte, einer der drei Führer, die ich auf den Felsen gesehen hatte. Allein während ich von Stein zu Stein sprang und im Laufen die Sache überdachte, erschien mir diese Möglichkeit mehr und mehr unwahrscheinlich. Der Kompaß, die Landkarte, das Interesse, das sie an der Schnalle genommen, und das Benehmen des einen Fremden, der so oft ins Wasser gestarrt hatte, alles schien auf eine ganz andere Erklärung für ihre Gegenwart auf diesem entlegenen, unbekannten Inselchen des westlichen Ozeans hinzudeuten. Der Madrider Historiker, die von Dr. Robertson eingeleiteten Untersuchungen, der bärtige Fremde mit den Ringen, mein eigenes fruchtloses Suchen am gleichen Morgen in den Tiefen der Sandager Bucht reihten sich in meinem Gedächtnis Stück für Stück aneinander, und plötzlich war ich gewiß, daß die Spanier auf der Jagd waren nach dem verschollenen Schatz und dem untergegangenen Schiff der Armada. Nun sind aber die auf entlegenen Inseln wie Aros wohnenden Leute für ihre Sicherheit selbst verantwortlich; in der Nähe ist niemand, der sie beschützen oder ihnen auch nur zu Hilfe eilen könnte, und die Gegenwart einer Bande ausländischer Abenteurer, die arm, habgierig und aller Wahrscheinlichkeit nach auch gesetzlos waren, erfüllte mich mit Befürchtungen für meines Onkels Geld, ja selbst für die Sicherheit seiner Tochter. Ich überlegte mir immer noch, wie wir sie loswerden könnten, als ich außer Atem auf der Aroser Anhöhe ankam. Die ganze Welt lag im Schatten; nur im äußersten Osten an einer Bergspitze des Festlandes hing ein verspäteter Sonnenstrahl wie ein Edelstein. Es hatte zu regnen begonnen, nicht stark, aber in schweren Tropfen; das Meer wurde mit jedem Augenblicke unruhiger, und schon schlang sich ein weißer Gürtel um Aros und die benachbarte Küste von Grisapol. Das Boot hielt immer noch auf die See zu, und jetzt entdeckte ich erst, was mir vorhin auf halber Höhe verborgen geblieben war – einen großen, vielmastigen, stattlichen Schoner, der an der Südspitze von Aros vor Anker lag. Da ich ihn am Morgen, als ich so angelegentlich nach den Wetteraussichten ausgespäht, nicht gesehen hatte, und ein Segel an dieser einsamen Küste eine Seltenheit war, war es klar, daß er vorige Nacht hinter der wüsten Insel Gour vor Anker gegangen sein mußte, womit der unumstößliche Beweis geliefert war, daß seine Bemannung die hiesige Küste nicht kannte: denn jener Ankerplatz ist trotz seines sicheren Aussehens nicht viel mehr als eine Schiffsfalle. Bei einer so unwissenden Schiffsmannschaft an einer so ungastlichen Küste schien es nicht unwahrscheinlich, daß der kommende Sturm auf seinen Flügeln den Tod mit sich bringen würde.


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