Robert Louis Stevenson
Die Schatzinsel
Robert Louis Stevenson

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Siebzehntes Kapitel
Fortsetzung der Erzählung des Doktors:
Die letzte Fahrt der Jolle

Diese fünfte Überfahrt war ganz verschieden von allen anderen. Erstens war unsere kleine Nußschale von einem Boot weit über ihre Tragkraft beladen. Fünf erwachsene Männer waren überhaupt schon mehr, als die Jolle eigentlich tragen konnte, zumal da drei von ihnen – Trelawney, Redruth und der Kapitän – mehr als sechs Fuß hoch waren. Hierzu kam noch das Pulver, das Schweinefleisch und die Zwiebacksäcke. Das Wasser ging bis ans Dollbord und schwappte verschiedene Male über, wenn auch nicht viel hineinlief; aber meine Hose und meine Rockschöße waren klitschnaß, bevor wir hundert Yards zurückgelegt hatten.

Der Kapitän ließ uns so sitzen, daß das Boot besser im Gleichgewicht war. Trotzdem wagten wir kaum zu atmen.

Außerdem wurde der Ebbstrom jetzt stärker. Eine kräftige Strömung ging nach Westen durch das Wasserbecken und dann südwärts nach dem engen Sund zu, durch den wir am Morgen eingefahren waren. Für unser überladenes Fahrzeug waren sogar die leichten Kräuselwellen eine Gefahr; das schlimmste aber war, daß wir aus unserem richtigen Kurs kamen und über unsere eigentliche Landungsstelle hinaus abgetrieben wurden. Wenn wir uns von der Strömung mitnehmen ließen, mußten wir dicht neben den Gigs landen, wo jeden Augenblick die Piraten erscheinen konnten.

»Ich kann nicht auf das Pfahlwerk zuhalten, Kapitän!« sagte ich zu Smollett. Ich steuerte, während er und Redruth, die noch frisch bei Kräften waren, die Riemen führten. »Der Ebbstrom treibt uns fortwährend ab. Könnten Sie vielleicht etwas stärker rudern?«

»Nicht ohne daß uns das Boot voll läuft,« sagte er. »Sie müssen dicht heranhalten, Doktor, wenn Sie so gut sein wollen – immer dicht heran, bis Sie sehen, daß wir der Strömung Herr werden.«

Ich versuchte es und fand bald, daß der Ebbstrom uns nach Westen riß, wenn ich nicht genau nach Osten steuerte; das war aber im rechten Winkel in der Richtung, in der wir fahren mußten.

»Auf diese Weise kommen wir nie und nimmer an Land,« sagte ich.

»Wenn es der einzige mögliche Kurs ist, Doktor, so müssen wir ihn eben steuern,« antwortete der Kapitän. »Wir müssen gegen den Strom halten. Sehen Sie, – wenn wir einmal leewärts von dem Landungsplatz kommen, dann ist es schwer zu sagen, an welcher Stelle wir an den Strand kommen; ganz abgesehen von der Möglichkeit, daß die Gigs uns über den Hals kommen. Wenn wir aber einfach weiterfahren, muß die Strömung allmählich schwächer werden, und dann können wir dicht am Strande wieder zurückfahren.«

»Der Strom ist schon weniger, Herr,« sagte der Matrose Gray, der vorne am Bug saß; »Sie können hier ein bißchen mehr freien Weg geben.«

»Danke Euch, mein Mann,« sagte ich ganz ruhig, wie wenn gar nichts vorgefallen wäre; denn wir waren stillschweigend alle darüber einig, ihn wie unseresgleichen zu behandeln.

Plötzlich stieß der Kapitän einen Ruf aus, und es kam mir vor, wie wenn seine Stimme etwas verändert wäre.

»Die Kanone!« sagte er.

»Ich habe daran gedacht,« sagte ich; denn ich war überzeugt, daß er an ein Bombardement des Pfahlwerks dachte. »Sie können die Kanone unmöglich an Land schaffen; und selbst wenn ihnen das gelänge, könnten sie sie doch nicht durch den Wald schleppen.«

»Sehen Sie sich um, Doktor!« antwortete der Kapitän.

Wir hatten den langen Neunpfünder ganz und gar vergessen und sahen jetzt auf einmal zu unserem Entsetzen, daß die fünf Halunken eifrig beschäftigt waren, der Kanone die Jacke auszuziehen, wie man die starke Segelleinwand nennt, mit der sie während der Fahrt zugedeckt ist. Und es war nicht nur das; sondern in demselben Augenblick fiel mir ein, daß wir die Vollkugeln und das Pulver für die Kanone zurückgelassen hatten; ein einziger Streich mit der Axt mußte die Munition in den Besitz der fünf Bösewichte bringen.

»Israel war Flints Kanonier!« sagte Gray mit eigener Stimme.

Aller Gefahr zum Trotz lenkten wir das Boot schnurstracks auf den Landungsplatz zu. Wir waren mittlerweile so weit aus der Strömung herausgekommen, daß das Boot selbst trotz unserem naturgemäß sehr langsamen Rudern genug Steuerfahrt hatte, und ich konnte gerade auf das Ziel loshalten. Aber das schlimmste dabei war, daß wir bei dem jetzigen Kurse der Hispaniola unsere Breitseite anstatt unseres Sterns zudrehten, so daß wir also ein Ziel wie ein Scheunentor darboten.

Ich konnte nicht nur hören, sondern auch sehen, wie der Schuft mit dem versoffenen Branntweinsgesicht, Israel Hands, eine Vollkugel auf das Deck warf.

»Wer ist der beste Schütze?« fragte der Kapitän.

»Herr Trelawney, ohne allen Zweifel,« sagte ich.

»Herr Trelawney, wollen Sie mir bitte einen von diesen Leuten wegputzen? Wenn möglich Hands!« sagte der Kapitän. Trelawney war kalt wie Stahl; er sah nach dem Zündkraut seines Gewehrs.

»Aber sachte mit der Flinte, Herr!« rief der Kapitän; »sonst läuft uns das Boot voll. Alle sitzen ganz ruhig, während er zielt!«

Der Squire erhob seine Muskete; das Rudern hörte auf, und wir beugten uns nach der anderen Seite hinüber, um das Gleichgewicht herzustellen. Dies alles wurde so genau gemacht, daß kein Tropfen Wasser ins Boot kam.

Die Meuterer hatten unterdessen die Kanone auf ihrem Pfosten herumgedreht; Hands, der mit dem Wischer bei der Mündung stand, war infolgedessen am wenigsten gedeckt. Aber wir hatten kein Glück; denn gerade in dem Augenblick, als Trelawney feuerte, bückte Hands sich; die Kugel pfiff über ihn hinweg, und es fiel einer von den anderen vier.

Auf den Schrei, den er ausstieß, antworteten nicht nur seine Kameraden an Bord, sondern auch zahlreiche Stimmen vom Strande; und als ich nach jener Richtung lugte, sah ich, wie die Piraten truppweise zwischen den Bäumen hervorkamen und in ihre Boote sprangen.

»Jetzt kommen die Gigs, Kapitän!« rief ich.

»Dann nur einfach geradeaus!« schrie der Kapitän. »Es darf uns jetzt nicht mehr darauf ankommen, ob wir Wasser ins Boot bekommen. Wenn wir es nicht an Land bringen können, ist alles aus!«

»Nur eine von den Gigs wird bemannt,« sagte ich zum Kapitän; »die Mannschaft des anderen Bootes geht wahrscheinlich den Strand entlang, um uns abzuschneiden.«

»Das wird ihnen Schweiß kosten, Doktor,« antwortete der Kapitän. »Sie wissen, wie schlecht zu Fuß Hans Maat zu Lande ist. Nein, die machen uns hier keine Sorgen; wohl aber die Vollkugel der Kanone. Zimmerkegelspiel! Mylady Kammerjungfer könnte nicht vorbeischießen. Sagen Sie uns, Squire, sobald Sie die Lunte sehen; wir werden dann rückwärts rojen.«

Mittlerweile waren wir für ein so schwer beladenes Boot ziemlich schnell vorwärts gekommen, und es war dabei nur wenig Wasser ins Boot gelaufen. Wir waren jetzt dicht an unserem Ziel; dreißig oder vierzig Ruderschläge mußten uns an Land bringen; denn die Ebbe hatte bereits einen schmalen Sandstreifen unterhalb der Bäume freigelegt. Der Ebbstrom, der uns in so unangenehmer Weise aufgehalten hatte, glich jetzt den Schaden für uns wieder aus, indem er unsere Verfolger aufhielt. Die einzige Gefahr drohte uns von dem Geschütz.

»Wenn ich es wagen dürfte,« sagte der Kapitän, »würde ich einen Augenblick halten und noch einen wegputzen.«

Aber es war klar, daß die Meuterer sich durch nichts aufhalten lassen wollten. Sie hatten sich nach ihrem gefallenen Kameraden nicht einmal umgesehen, obgleich er nicht tot war; denn ich sah, wie er von der Kanone wegzukriechen versuchte.

»Fertig!« rief der Squire.

»Halt!« rief der Kapitän, schnell wie ein Echo.

Und er und Redruth setzten mit aller Wucht die Riemen rückwärts ein, und der Stern des Bootes kam unter Wasser. In demselben Augenblick kam der Knall der Kanone. Dies war der erste Schuß, den Jim hörte; denn der Knall von dem Musketenschuß des Squires hatte ihn nicht erreicht. Wie die Kugel flog, konnte keiner von uns genau sagen; aber ich denke mir, sie muß über unsere Köpfe weg geflogen sein, und der Luftdruck, den sie verursachte, mag wohl zu unserem Mißgeschick beigetragen haben.

Jedenfalls sank das Boot, den Stern voran, in drei Fuß tiefes Wasser; der Kapitän und ich blieben einander gegenüber auf unseren Füßen stehen. Die andern drei kamen mit dem ganzen Körper ins Wasser und schnauften und sprudelten, als sie wieder auftauchten.

Dies hatte nicht viel zu bedeuten. Kein Leben war verloren gegangen, und wir konnten in Sicherheit an den Strand waten. Aber alle unsere Vorräte lagen im Wasser, und, was noch schlimmer war, von den fünf Musketen waren nur noch zwei brauchbar. Die meinige hatte ich, sozusagen triebmäßig, über den Kopf gehalten. Der Kapitän hatte seine Büchse an einem Riemen über der Schulter getragen, und zwar als ein kluger Mann mit dem Schloß nach oben. Die anderen drei Musketen waren völlig naß geworden, als das Boot versank.

Unsere Sorgen wurden noch dadurch vermehrt, daß wir bereits Stimmen im Walde am Strande näher kommen hörten; es bestand daher nicht allein die Gefahr, daß wir in unserem halb wehrlosen Zustande von dem Pfahlwerk abgeschnitten wurden, sondern wir mußten auch befürchten, daß Hunter und Joyce vielleicht nicht so kaltblütig sein würden, standzuhalten, wenn sie von einem halben Dutzend Piraten angegriffen würden. Hunter war allerdings zuverlässig – das wußten wir; mit Joyce aber war es zweifelhaft: er war ein freundlicher, höflicher Mann – ein guter Bedienter, der zuverlässig einen Rock sauber ausbürstete, aber nicht eigentlich ein Kriegsmann.

Mit allen diesen Befürchtungen im Herzen, wateten wir so schnell, wie wir konnten, an Land; die arme Jolle und die größte Hälfte unseres ganzen Mundvorrates und Pulvers ließen wir hinter uns.

 


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