Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
An jenem Abend kehrte Herr Utterson in einer sehr ernsten, trüben Stimmung in seine Junggesellenwohnung zurück. Er setzte sich zu Tisch, hatte jedoch keinen Appetit. Gewöhnlich verbrachte er den Sonntagabend mit der Lektüre irgend eines trockenen theologischen Werkes, bis die benachbarte Kirchenuhr zwölf schlug; dann legte er sich ruhig schlafen. An diesem Abend war es aber anders. Sobald der Tisch abgedeckt war, erhob er sich, nahm ein Licht und ging in seine Arbeitsstube. Dort öffnete er einen eisernen Schrank und nahm aus einer kleinen Schublade ein Dokument, auf dessen Umschlag geschrieben stand: »Doktor Jekylls Testament«. Mit tief gefalteter Stirn setzte er sich hin und las es aufmerksam durch. Das Testament war von des Erblassers eigener Hand geschrieben; denn Herr Utterson, obgleich er es in Verwahrung genommen, hatte sich auf das bestimmteste geweigert, bei der Aussetzung desselben behilflich zu sein. Das Testament bestimmte, daß nach dem Tode von Henry Jekyll, Dr. phil., Dr. med. usw. nicht nur sein ganzes Besitztum seinem »Freunde und Wohltäter Herrn Edward Hyde« vermacht werden sollte, sondern auch, daß, falls Doktor Jekyll auf unerklärliche Weise verschwinden oder länger als drei Monate von seinem Hause abwesend sein würde, der genannte Edward Hyde von dein Vermögen Besitz nehmen solle, und zwar »ohne jedwede Verhinderung, Belästigung oder Verpflichtung« außer der Zahlung einiger kleiner Beträge an die Dienerschaft des Doktor Jekyll.
Dieses Testament war Utterson längst ein Dorn im Auge gewesen. Es widerstrebte nicht nur seinem Rechtsgefühl als Advokat, sondern auch seinem gesunden Menschenverstand, dem alles Seltsame, Grillenhafte als etwas Unrechtes erschien. Bis jetzt war es die vollständige Unkenntnis von allem, was diesen Edward Hyde betraf, gewesen, die seine Entrüstung hervorgerufen – jetzt kannte er den Mann. Schlimm genug schon war es gewesen, als dieser Mann für ihn eben nur ein Name war, bei dem er sich nichts Besonderes vorstellen konnte. Nun aber war mit diesem Namen eine niederträchtige Handlung verbunden.
Aus dem schwankenden, dunklen Nebel, der dieses Wesen bis jetzt umschleiert hatte, sprang plötzlich die Gestalt eines Teufels hervor.
»Ich glaubte erst, es wäre Wahnsinn,« sagte er, als er das verhaßte Schriftstück in den Schrank zurücklegte, »jetzt fürchte ich, es ist eine Schandtat.«
Gleich darauf zog er seinen Ueberrock an und ging nach Cavendish Square, wo sein Freund, der berühmte Doktor Lanyon wohnte.
»Wenn irgend einer mir Auskunft geben kann, so ist es Lanyon,« sagte er sich.
Der alte, vornehm und feierlich aussehende Diener des großen Arztes empfing ihn mit üblicher Höflichkeit und Würde und führte ihn in das Speisezimmer, wo Doktor Lanyon nach dem Essen allein bei seinem Glase Portwein saß. Lanyon war ein kleiner, kräftiger, flinker ältlicher Herr, mit blühender Gesichtsfarbe und einer Unmasse von schneeweißem, lockigem Haar – laut, lebhaft und entschieden in seinen Manieren. Sobald Utterson in das Zimmer trat, sprang der Arzt auf, hielt ihm beide Hände entgegen und hieß ihn auf das herzlichste willkommen. Für Fremde hatte diese überfließende Freundlichkeit etwas Theatralisches an sich, aber sie beruhte in diesem Falle wirklich auf einer tieferen Empfindung. Die beiden waren alte Freunde von der Schule und Universität her, sie hegten die größte Achtung voreinander und – was sonst selbst unter diesen Umständen nicht immer der Fall ist – sie fanden großes Vergnügen darin, oft und lange zusammen zu sein. –
Nach einigen Worten über alltägliche Sachen brachte der Advokat die Unterhaltung auf den Gegenstand, der vor allem seine Gedanken beherrschte.
»Lanyon,« sagte er, »ich glaube, daß wir beide Henry Jekylls älteste Freunde sind.«
»Ich möchte, die Freunde wären ein bißchen jünger,« erwiderte Lanyon lächelnd, »ja, ich glaube, wir sind seine ältesten Freunde. Aber was bringt dich darauf? Ich habe ihn seit längerer Zeit nur selten gesehen.«
»In der Tat?« sagte Utterson. »Ich glaubte, eure gemeinschaftlichen Interessen brächten euch häufig zusammen.«
»Früher war dies wohl der Fall,« sagte Lanyon. »Aber ich will dir offen gestehen, Utterson, während der letzten Jahre ist mir Jekylls ganze Art und Weise ein Rätsel gewesen. Irgend etwas ist nicht ganz richtig mit dem Mann: ich weiß nicht, was es ist. Es scheint mir manchmal, als ob er seinen Verstand verlöre. Natürlich nehme ich noch immer großes Interesse an allem, was ihn betrifft, schon unserer alten Bekanntschaft wegen. Ich sehe ihn aber, wie gesagt, sehr wenig. Seine verkehrten Ansichten über wissenschaftliche Dinge würden allein genügen, um Dämon und Phintias zu verfeinden.«
Lanyon sprach diese letzten Worte in einem Tone ungewohnter Erregung, fast mit einer gewissen Gereiztheit aus.
Utterson fühlte sich etwas erleichtert.
»Ach,« sagte er sich, »sie haben sich über irgendeine wissenschaftliche Frage gezankt. Gott sei Dank, daß es nichts Schlimmeres ist.«
Nach einigen Minuten Stillschweigen fragte er Lanyon:
»Kennst du einen gewissen Hyde, einen Bekannten, einen ... Protégé von Jekyll?«
»Hyde?« wiederholte Lanyon. »Nein, ich habe nie von ihm gehört.«
Das war also alles, was Utterson erfahren konnte; alle Aufklärungen, die er mit sich nach seinem dunklen, einsamen Hause brachte. Schlaflos wälzte er sich die ganze Nacht in seinem großen Bett herum, von traurigen Gedanken, von furchtbaren Ahnungen gequält. Die Kirchenuhr schlug die sechste Morgenstunde. Bis dahin hatte er nur das wirklich Tatsächliche in Betracht genommen. Jetzt aber entrollten sich vor seiner erhitzten Phantasie Bilder, die ihn mit Grauen und Entsetzen erfüllten. Alles, was ihm Enfield erzählt hatte, stand jetzt hell und deutlich vor ihm wie ein Gemälde. Er sah die hellerleuchteten einsamen Straßen der großen Stadt; er sah die Gestalt eines Mannes, mit unheimlicher Hast dahinschreitend, er sah das Kind, das ihm entgegenlief; jetzt stießen sie aneinander – das Kind fiel, und das Scheusal schritt grausam über den schwachen Körper hinweg. Dann sah er ein großes, reich möbliertes Zimmer, dort lag sein alter Freund, Henry Jekyll, ruhig schlafend – und lächelnd in seinen Träumen – jetzt öffnete sich die Tür, die Gardinen des Bettes wurden zurückgeschlagen, der Schläfer erwachte, und vor ihm stand eine finstere Gestalt, die ihm befahl, aufzustehen und ihm zu folgen. – Diese Gestalt, erst in der Straße, dann in Jekylls Schlafzimmer, wich keinen Augenblick aus Uttersons Vorstellung. Er sah sie, wie ein wüstes Phantom, wie sie leise und unheimlich nachts durch die Häuser schlich; er sah sie, wie sie mit wilder Hast durch die nächtlichen Straßen eilte; an jeder Ecke kam ein kleines Mädchen gelaufen, das das Ungeheuer zu Boden warf und zertrampelte. Doch konnte er das Gesicht des Unholds nicht erkennen – die Züge verschwammen wie ein Nebelbild ...
Utterson konnte es nicht länger ertragen. Er sprang aus dem Bett, mit dem festen Vorsatz, nicht eher zu rasten noch zu ruhen, bis er Hyde gefunden habe. – Wenn er ihn nur einmal sehen könnte, sagte er sich, so würde sich das ganze Geheimnis aufklären, vielleicht ganz und gar verschwinden, wie dies so oft geschieht, wenn man sich nur Mühe gibt, einer Sache auf den Grund zu gehen. Er würde vielleicht etwas entdecken, was ihm Jekylls seltsame Zuneigung zu Hyde, oder das geheimnisvolle Band, das die beiden vereinigte, erklärte, das ein Licht auf Jekylls merkwürdiges Testament werfen könnte. Auf alle Fälle wollte er das Gesicht dieses Menschen ohne menschliches Gefühl sehen, das Gesicht, das selbst in dem ruhigen, phlegmatischen Enfield eine Empfindung unauslöschlichen Abscheus hervorgerufen hatte. –
Von diesem Augenblick an verging kein Tag, an dem Utterson nicht zu irgend einer Zeit in der Nähe der unheimlichen Tür zu sehen war. Er war dort morgens in aller Frühe, ehe er auf sein Bureau ging; er war dort in der Mittagsstunde im Gedränge der lebhaften Straße, und wieder des Nachts, wenn das blasse Mondlicht die nebelbedeckte Stadt gespenstisch erleuchtete. – Zu jeder Stunde, bei jedem Wetter sah man den Advokaten auf seinem Posten.
»Ich will ihn kennen lernen, und sollt' ich Jahre warten,« sagte er sich.
Endlich wurde seine Ausdauer belohnt.
Es war in einer schönen, kalten Winternacht; die Straßen waren rein gefegt, wie ein Ballsaal; die Laternen brannten hell, ihre Flammen, von keinem Winde bewegt, warfen die Schatten scharf und deutlich auf das Pflaster. Nach zehn Uhr, als die Läden geschlossen waren, wurde die kleine Straße recht still und öde – nur von fern hörte man das dumpfe Brausen der mächtigen Stadt. Selbst das kleinste Geräusch war in der nächtlichen Stille deutlich vernehmbar. Utterson war erst wenige Minuten auf seinem Posten, als er nicht weit von sich leise, eilige Schritte hörte. Er hatte sich während seines nächtlichen Wachehaltens an das eigentümliche Geräusch gewöhnt, das der regelmäßige Schritt eines Fußgängers in der Mitte der Nacht hervorruft; ganz deutlich und entschieden ist dieses Geräusch aus dem verwirrten, fernen Lärmen der Stadt herauszuhören. Doch noch nie zuvor war Uttersons Aufmerksamkeit so schnell und lebhaft erregt gewesen, wie in diesem Augenblick. Er fühlte, daß der Erfolg nahe war, und zog sich vorsichtig in das Dunkel der Sackgasse zurück.
Die Schritte kamen näher und näher, wurden lauter und lauter. Jetzt hörte Utterson, wie sie um die Straßenecke kamen, – jetzt sah er den nächtlichen Wanderer vor sich. Es war ein kleiner, gewöhnlich angezogener Mann. – Unbegreiflicherweise empfand der Advokat mit einem Male dasselbe Gefühl des Widerwillens, des Abscheus, das sich Enfields bemächtigt hatte. – Der Mann schritt quer über die Straße, gerade auf die bewußte Tür zu. Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche – er war augenscheinlich zu Hause.
Jetzt trat Utterson aus dem Dunkel hervor und legte seine Hand aus des Mannes Schulter. »Herr Hyde, wenn ich nicht irre?«
Mit einem schlangenartigen Zischen wich Hyde einen Schritt zurück. Er faßte sich jedoch sofort, und ohne dem Advokaten ins Gesicht zu sehen, sagte er vollständig ruhig: »Das ist mein Name. Was wünschen Sie?«
»Ich sehe, Sie gehen in dieses Haus,« erwiderte der Advokat. »Ich bin ein alter Freund von Doktor Jekyll. Ich heiße Utterson, Rechtsanwalt Utterson in Gaunt Street; mein Name ist Ihnen gewiß nicht unbekannt, und da ich Sie gerade hier treffe, wollte ich Sie bitten, mich auch hineinzulassen.«
»Sie würden Doktor Jekyll nicht zu Hause finden, er ist verreist,« erwiderte Hyde. Er wollte jetzt die Tür aufschließen, schien sich aber plötzlich zu besinnen, und ohne den Advokaten anzusehen, fragte er: »Woher kennen Sie mich?«
Utterson ließ die Frage unberücksichtigt. »Herr Hyde,« sagte er, »wollen Sie mir einen Gefallen tun?«
»Was wünschen Sie?«
»Wollen Sie mich Ihr Gesicht sehen lassen?«
Hyde schien einige Augenblicke zu zögern; dann drehte er sich mit einem plötzlichen Entschluß um und sah Utterson trotzig und herausfordernd an. Es währte nur einen Augenblick.
»So,« sagte Utterson, »jetzt werde ich Sie wiedererkennen. Es könnte von Nutzen sein.«
»Ja,« sagte Hyde, »und da wir uns einmal getroffen haben, will ich Ihnen auch gleich meine Adresse geben.« Er nannte eine obskure Straße in Soho.
»Allmächtiger Gott!« dachte Utterson, »hat der am Ende dabei an das Testament gedacht?« Er verlor jedoch kein Wort darüber.
»Und nun,« sagte Hyde, »darf ich noch einmal fragen, woher Sie mich kennen?«
»Nach der Beschreibung.«
»Nach wessen Beschreibung?«
»Wir haben gegenseitige Freunde,« sagte Utterson.
»Gegenseitige Freunde? Und wer wären die?«
»Doktor Jekyll zum Beispiel.«
»Der? Der hat es Ihnen nicht gesagt,« brach Hyde mit großer Heftigkeit aus. »Sie lügen!«
»Herr,« sagte Utterson, »das ist eine Sprache, die Ihnen sehr wenig zusteht.«
Der andere antwortete mit einem höhnischen Gelächter, und mit unglaublicher Schnelligkeit hatte er plötzlich die Tür aufgeschlossen und war hinter derselben verschwunden.
Der Advokat blieb einige Minuten vor der Tür stehen, ein Bild der Angst und Unruhe. Dann ging er langsam und gedankenvoll die Straße entlang. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, strich sich mit der Hand über die Stirn, wie einer, der große innerliche Qualen leidet. Das Rätsel, dessen Lösung ihn peinigte, war kein leichtes. Hyde war ein kleiner, zwerghafter Mann. Er machte den Eindruck eines Verwachsenen, doch konnte man nicht sehen, wo das Gebrechen saß. Er hatte ein widerwärtiges Lächeln; sein Benehmen gegen Utterson war eine Mischung von verbrecherartiger Furcht und Frechheit; er sprach mit einer heisern, flüsternden Stimme; alles dies mußte jedermann gegen ihn einnehmen; aber es war dennoch nicht genug, um diesen namenlosen Abscheu, diesen Widerwillen, diese Furcht zu erklären, die Utterson in seiner Gegenwart empfand.
»Nein,« sagte er sich, »es steckt noch etwas dahinter – aber was ist es? Ich kann keinen Namen dafür finden. Der Mann hat nichts Menschliches an sich, er ist wie ein Gnom, ein böser Alp. Habe ich ein Vorurteil gegen ihn gefaßt durch Enfields Geschichte – oder ist es wirklich der Abglanz einer niederträchtigen, durch und durch gemeinen Seele, der sich in seiner Erscheinung widerspiegelt? Ja, das muß es sein! O, mein armer, alter Henry Jekyll, wenn je ein Mensch mit dem Siegel Satans gebrandmarkt war, so ist es dein neuer Freund, Herr Edward Hyde!«
Utterson hatte jetzt das Ende der kleinen Straße erreicht. Er bog um die Ecke und kam auf einen Square, der von schönen, alten Häusern umgeben war. Die meisten derselben hatten etwas von ihrem ehemaligen Glanze eingebüßt. Sie waren in verschiedene Wohnungen eingeteilt; einzelne Zimmer wurden möbliert vermietet, manche wurden als Ateliers, als Bureaus von Winkeladvokaten oder von Agenten zweifelhafter Unternehmungen und Geschäfte benutzt. Nur eins, das zweite von der Ecke – hatte sein reiches, vornehmes Aeußere bewahrt; es war augenscheinlich nur von einer Familie bewohnt. Trotz der späten Abendstunde ging Herr Utterson schnell und entschlossen an die schwere Tür und klopfte. Ein ältlicher Diener öffnete.
»Ist Doktor Jekyll zu Hause, Poole?« fragte der Advokat.
»Ich will gleich sehen, Herr Utterson,« sagte Poole, »bitte, treten Sie näher.« Er führte den Advokaten in die große, schöne Eintrittshalle des Hauses, die mit kostbaren Teppichen belegt und mit antiken, eichenen Möbeln ausgestattet, bei dem hellen Kohlenfeuer im offenen Kamin einen außerordentlich behaglichen und freundlichen Eindruck machte.
»Wollen Sie hier warten,« fragte Poole, »oder wollen Sie in das Speisezimmer gehen?«
»Ich warte lieber hier,« sagte der Advokat. Er ging an das Feuer und lehnte sich an den hohen Kamin. Diese Vorhalle war Jekylls Lieblingsaufenthalt. Auch Utterson pflegte zu sagen, daß es der gemütlichste Ort in ganz London sei. Aber heute abend, als er beim Feuer stand, fühlte er ein unheimliches, nervöses Zittern durch alle Glieder seines Körpers, das dämonische Gesicht Hydes kam ihm nicht aus den Augen; er hörte noch das teuflische Lachen, mit dem der unheimliche Geselle eben hinter der Tür verschwunden war – zum ersten Male fühlte er etwas wie Lebensüberdruß; drohend und verzerrt grinste ihm Hydes Antlitz aus den flackernden Flammen des Feuers entgegen. Er schämte sich fast, ein Gefühl der Erleichterung zu empfinden, als Poole zurückkam und ihm meldete, daß sein Herr nicht zu Hause sei.
»Ich sah soeben Herrn Hyde in das Hinterhaus gehen,« sagte er. »Er hat einen Schlüssel zu der Tür, die in den alten Seziersaal führt. Ist das in Ordnung, Poole, wenn der Doktor nicht zu Hause ist?«
»Ganz in Ordnung, Herr Utterson,« sagte der alte Diener, »ich weiß, daß Herr Hyde einen Schlüssel hat.«
»Ihr Herr scheint großes Vertrauen in diesen Mann zu setzen,« sagte Utterson nachdenklich.
»Großes Vertrauen,« sagte Poole, »wir haben alle Befehl, ihm unbedingt zu gehorchen.«
»Ich glaube nicht, daß ich Herrn Hyde je hier im Hause getroffen habe,« fuhr Utterson fort.
»O nein,« erwiderte Poole. »Er erscheint nie, wenn Besuch im Hause ist. Wir sehen übrigens auch wenig von ihm; er kommt und geht stets durch die Hintertür.«
»Gute Nacht, Poole!«
»Gute Nacht, Herr Utterson!«
Mit schwerem Herzen trat der Advokat seinen Heimweg an.
»Armer Henry Jekyll,« sagte er sich. »Er muß in arger Bedrängnis sein! Er war wild und ausschweifend, als er jung war. Aber der allgütige Gott hat das doch längst vergeben. Was kann es nur sein, das ihn an diesen Hyde kettet? Ist es das Gespenst einer alten Sünde? Ist es eine verborgene Schandtat, die ihm wie ein Krebs am Leben frißt? Ist es eine Strafe, die langsam, aber unabwendbar naht, nach Jahren, nachdem die Untat vielleicht schon aus dem Gedächtnis entschwunden?«
Dieser Gedanke machte den Advokaten ganz stutzig. Er warf einen Ueberblick über seine eigene Vergangenheit. Er quälte sich mit der Vorstellung, daß auch in seinem Leben irgendwo noch ein Vergehen, eine unwürdige Handlung verborgen sein könne, deren er sich nicht mehr erinnere. Wenigen möchte es vergönnt sein, mit solcher Ruhe, mit solchem Selbstbewußtsein das Vergangene zu betrachten, wie dem Rechtsanwalt Utterson. Doch in seinem strengen Selbsturteil dachte er an manches, was er lieber nicht getan haben möchte. – Er hatte alle Ursache, dem Allmächtigen zu danken, der ihm geholfen hatte, Versuchungen zu widerstehen, die ihn zu verschlingen drohten. Dann kam er wieder auf Jekyll und Hyde.
»Dieser Hyde,« sagte er sich, »muß auch Geheimnisse haben. Dunkle böse Taten, neben denen das Schlimmste, was Jekyll getan, wie das Sonnenlicht glänzt. Nein, es darf so nicht länger bleiben! Der bloße Gedanke an diesen Hyde, der sich wie ein Dieb an Henrys Bett schleicht, macht mich schaudern. Und das schlimmste ist, daß, wenn Hyde nur eine Ahnung von dem Inhalt des Testaments hat, er vielleicht ungeduldig wird. Ich muß und will der Sache aus den Grund kommen: es koste, was es wolle – wenn Jekyll mich nur läßt – ja,« sagte er gedankenvoll – »wenn Jekyll mich nur läßt.«
Und die seltsamen Verfügungen des Testaments traten ihm wieder deutlich und bestimmt vor die Seele.
*