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Mit den letzten gedruckten Worten »eine willkürliche Erschütterung der brutalen Natur« endet der Roman »Die Herren von Hermiston«. Jene Worte wurden, soviel ich weiß, noch am nämlichen Morgen diktiert, da der letzte, jähe Anfall den Autor dahinraffte. »Die Herren von Hermiston« nimmt somit in den Werken Stevensons den Platz ein, den Edwin Drood in der Lebensarbeit Dickens' oder Denis Duvals in der Thakerays innehaben: oder vielmehr, unser Roman bedeutet relativ mehr, denn während jenen anderen beiden Fragmenten ein ehrenvoller Platz in ihrer Verfasser Werken gebührt, nimmt »Hermiston« in Stevensons Schaffen zweifellos den Ehrenplatz ein.
Die Leser werden in der Frage, ob sie Weiteres über den geplanten Verlauf der Geschichte und das Schicksal ihrer Charaktere zu erfahren wünschen, geteilter Meinung sein. Einigen wird Schweigen und die Möglichkeit, selbst mit Hilfe solcher Fingerzeige, wie der vorliegende Text sie bietet, sich die Fortsetzung auszuspinnen, als das Beste erscheinen. Ich gestehe, daß dies auch die Auffassung ist, zu der ich persönlich neige. Da andere jedoch – und zweifellos die Mehrzahl der Leser – durchaus alles wissen möchten, was es darüber zu sagen gibt, und da Herausgeber und Verleger ihre Stimmen mit ihnen vereinen, kann ich wohl nicht umhin, ihren Wünschen entgegenzukommen. Der geplante Entwurf verläuft, soweit er bei des Autors Tode seiner Stieftochter und treuen Gehilfin, Mrs. Strong, bekannt war, etwa wie folgt:
Archie hält an seinem guten Vorsatz fest, weitere Schritte zu vermeiden, die die jüngere Kirstie kompromittieren könnten. Frank Innes macht den Vorteil, der ihm aus des Mädchens Unglück und verletzter Eitelkeit erwächst, seiner Absicht, sie zu verführen, dienstbar, und Kirstie, obwohl im Herzen immer noch Archie treu, fällt Frank zum Opfer. Die ältere Kirstie bemerkt als erste, daß etwas nicht im Lot ist; sie hält Archie für den Schuldigen und klagt ihn an, wodurch er erst von seiner Liebsten Unglück erfährt. Er leugnet nicht sofort, der Schuldige zu sein, sondern sucht die junge Kirstie auf, die ihm die Wahrheit gesteht, und er, der sie immer noch liebt, verspricht in ihrer Not, sie zu schützen und ihr beizustehen. Anschließend daran hat er mit Frank Innes eine Unterredung, die damit endet, daß Archie Frank im Streit neben des Betenden Webers Stein tötet. Inzwischen haben die Vier Schwarzen Brüder von dem Verrat an ihrer Schwester erfahren und beschließen, an Archie, als dem vermeintlichen Verführer, Rache zu nehmen. Sie sind im Begriff, ihn zu stellen, als die Polizei ihn wegen des Mordes an Frank verhaftet. Er wird vor seinen Vater, den Lord Oberrichter, geführt, schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Inzwischen jedoch hat die ältere Kirstie von ihrer Nichte die Wahrheit erfahren und ihre Neffen benachrichtigt, und diese greifen in einem ungeheuren Rückschlag der Gefühle zu Archies Gunsten nach der uralten Tradition ihres Hauses zur Selbsthilfe. Sie sammeln eine Schar von Anhängern, brechen nach einem harten Kampf in das Gefängnis ein, darin Archie gefangen liegt, und setzen ihn frei. Er und die junge Kirstie fliehen zusammen nach Amerika. Allein die Qual der Gerichtsverhandlung gegen den eigenen Sohn ist für den Lord Oberrichter zu stark gewesen; er stirbt am Schlagfluß. »Ich weiß nicht«, fügt Stevensons Amanuensis hinzu, »was aus der älteren Kirstie wird, jedoch diese Gestalt wuchs und erstarkte derart unter seiner Feder, daß ich überzeugt bin, er hatte ihr irgendein dramatisches Geschick zugedacht.«
Der Plan jedes schöpferischen Werks ist selbstverständlich während seiner Ausführung Veränderungen von des Künstlers Hand ausgesetzt; und nicht nur der Charakter der älteren Kirstie, nein auch noch andere Elemente der Erzählung mögen sehr wohl eine Abweichung von dem ursprünglichen Entwurf erfahren haben. Es scheint indes gewiß, daß die nächste Entwicklung der Beziehungen zwischen Archie und der jüngeren Kirstie dem oben Skizzierten entsprochen haben würde; diese unkonventionelle Auffassung von des Liebhabers Ritterlichkeit und unerschütterlicher Treue gegenüber der Geliebten auch nach deren Fehltritt ist für den Autor ungemein charakteristisch. Die Rache, die den Verführer neben des Betenden Webers Stein ereilen sollte, ist bereits in den ersten Worten der Einleitung angedeutet worden, während die Lage und das Schicksal des Richters, der sich, einem Brutus ähnlich, der Pflicht gegenübersieht, den eigenen Sohn an den Galgen zu schicken, offenbar den Höhepunkt und das tragische Moment des Romans bilden sollten.
Wie dieser letzte Umstand sich innerhalb des Rahmens juristischer Möglichkeiten hätte verwirklichen lassen, ist nur schwer zu erraten; er bildet jedoch einen der Punkte, denen der Autor die sorgfältigste Aufmerksamkeit widmete. Mrs. Strong sagt ganz einfach, der Lord Oberrichter verurteile, einem alten Römer gleich, seinen Sohn zum Tode; allein die erste juristische Autorität Schottlands versichert mir, daß keinem Richter, wenn auch noch so mächtig von Charakter und Amt, gestattet worden wäre, bei der Verhandlung gegen einen so nahen Verwandten den Vorsitz zu führen. Der Lord Oberrichter war das Haupt der Kriminaljustiz des Landes; er hätte vielleicht darauf bestehen können, während der Verhandlung gegen seinen Sohn auf dem Richterstuhl anwesend zu sein, aber niemals hätte man ihm erlaubt, den Vorsitz zu führen oder das Urteil zu sprechen. In einem Briefe Stevensons an Mr. Baxter vom Oktober 1892 findet sich auch eine Stelle, an der er in Ausdrücken, die darauf schließen lassen, daß er dies genau wußte, um Material bittet: »Ich brauche Pitcairns ›Kriminalprozesse‹ quam primum. Gleichfalls einen absolut einwandfreien Text des schottischen Richtereids. Ferner, falls Pitcairn nicht bis in die gewünschte Zeit reicht, einen möglichst vollständigen Bericht eines schottischen Mordprozesses zwischen 1790 und 1820. Verstehe mich recht: so vollständig wie nur möglich. Gibt es ein Buch, das mir den folgenden Tatsachen gegenüber als Anleitung dienen könnte? Der Lord Oberrichter muß auf seiner Rundreise bei den Assisen gewisse Personen eines Kapitalverbrechens wegen aburteilen. Auf bestimmte Beweise hin wird die Anklage auf des Lord Oberrichters eigenen Sohn gewälzt. Natürlich wird bei der nächsten Verhandlung der Lord Oberrichter ausgeschaltet und der Fall dem Vorsitzenden des schottischen Gerichtswesens überwiesen. Wo müßte alsdann die Verhandlung stattfinden? Ich fürchte, in Edinburg, und das würde mir nicht passen. Könnte es abermals in einer Kreisstadt sein?« Die aufgeworfene Frage wurde einem ehemaligen Gefährten Stevensons von der Edinburger Speculative Society, Mr. Graham Murray, jetzigem Generalanwalt für Schottland, vorgelegt, dessen Antwort dahin lautet, daß es keine Schwierigkeit bieten würde, die neue Verhandlung in eine Kreisstadt zu verlegen; sie müßte dort im Frühling oder im Herbst unter zwei Mitgliedern des obersten Kriminalgerichtshofes stattfinden; der Vorsitzende des schottischen Justizwesens würde nichts damit zu tun haben, da sein Amt zu der damaligen Zeit nur nominal gewesen und von einem Laien ausgefüllt worden sei (was heute nicht mehr der Fall ist). Daraufhin schrieb Stevenson: »Graham Murrays Notiz über das formelle Verfahren war äußerst befriedigend und hat mir über die Maßen gutgetan.« Die Formulierung seiner Nachfrage scheint darauf hinzuweisen, daß er beabsichtigte, den Verdacht, bevor er auf Archie fiel, erst auf andere Personen zu lenken; ferner, daß ihm daran gelegen war – zweifellos, um die Befreiung durch die Schwarzen Brüder möglich zu machen –, Archie nicht in Edinburg, sondern in einer Kreisstadt gefangen zu wissen. Allein die Bemerkung deutet nicht an, wie er die Hauptschwierigkeit, die er trotzdem vollauf erkannte, zu lösen gedachte. Beabsichtigte er vielleicht, Lord Hermistons Rolle auf den Vorsitz bei der ersten Verhandlung zu beschränken, wo die inkriminierenden Beweise gegen Archie unerwartet auftauchen sollten, und den Richtern lediglich die Anweisung geben zu lassen, daß die Justiz ihren Lauf nehmen solle?
Ob die endgültige Flucht und Vereinigung Archies und Christinas für den Gang der Handlung gleich unerläßlich gewesen wären, wird manchen Lesern vielleicht zweifelhaft erscheinen. Sie werden vermutlich empfinden, daß ein tragisches Geschick allen Beteiligten von Anfang an bestimmt war, ja daß es in den Bedingungen dieser Erzählung selbst verankert ist. Über diesen Punkt sowie über andere Fragen der allgemeinen Kritik finde ich eine interessante Diskussion seitens des Autors selbst in dessen Korrespondenz. In einem Brief vom 1. November 1892 an Mr. J. M. Barrie anläßlich einer Kritik seines berühmten Romans »The Little Minister« schreibt Stevenson:
»Ihre Schilderung der Beziehungen zu Lord Rintoul ist entsetzlich gewissenlos – ›The Little Minister‹ hätte ein schlechtes Ende nehmen müssen; wir alle wissen, daß er es in Wahrheit tat, und sind Ihnen unendlich dankbar für die Anmut und den Takt, mit dem Sie darüber lügen. Hätten Sie die Wahrheit gesagt, ich persönlich würde Ihnen verziehen haben. So wie Sie die Anfänge des Buches konzipiert und geschrieben haben, wäre die Wahrheit über das Ende, obwohl den Tatsachen absolut entsprechend, dennoch eine Lüge oder, was schlimmer ist, ein künstlerischer Mißklang gewesen. Will man, daß ein Buch unglücklich endet, so muß es von Anfang an unglücklich enden. Ihr Buch jedoch hat gleich zu Anfang schon ein glückliches Ende. Sie duldeten es, daß Sie sich selbst in Ihre Figuren verliebten, sie liebkosten und anlächelten. Sobald Sie das taten, war Ihre Ehre verpfändet –. Sie waren verpflichtet, sie auf Kosten der Lebenstreue zu retten. Das gerade ist der Flecken an ›Richard Feverel‹, zum Beispiel; das Buch ist auf ein glückliches Ende hin angelegt und hält dann den Leser durch ein unglückliches Ende zum Narren. In diesem Falle steckt sogar noch Schlimmeres dahinter, denn das unglückliche Ende folgt nicht logisch aus der ganzen Handlung – die Erzählung hatte in Wahrheit nach der großen Unterredung zwischen Richard und Lucy bereits ein glückliches Ende erreicht –, die blinde, unlogische Kugel, die alles zertrümmert, hat auf dem Schauplatz der Handlung nicht mehr zu suchen als eine Fliege, die summend durch ein offenes Fenster ins Zimmer fliegt. Es hätte so kommen können; es hätte aber auch nicht so kommen können; und wo keine Notwendigkeit vorliegt, haben wir auch kein Recht, unseren Lesern wehe zu tun. Ich erlebe gerade einen schweren Gewissenskonflikt anläßlich meines Braxfield-Romans. Braxfield – nur lautet sein Name Hermiston – besitzt einen Sohn, der zum Tode verurteilt ist; offenbar liegt in den gegebenen Tatsachen eine große Versuchung – und ich beabsichtigte auch, ihn henken zu lassen. Bei Betrachtung meiner Nebenfiguren jedoch erkannte ich, daß es fünf Personen gab, die dazu neigen – ja gewissermaßen sogar sich gezwungen fühlen würden –, in das Gefängnis einzubrechen und ihn zu retten. Es sind tüchtige, energische Leute obendrein, die sehr gut Erfolg haben könnten. Weshalb sollten sie's also nicht? Weshalb sollte der junge Hermiston nicht außer Landes fliehen? Und, wenn möglich, glücklich werden mit seiner – jetzt aber halt! Ich will weder mein Geheimnis noch meine Heldin verraten ...«
Gehen wir jedoch von der Frage, wie der Roman geendet haben würde, zu der Frage über, wie der Gedanke dazu in dem Autor Wurzel schlug und reifte. Der Charakter des Helden, Weir von Hermiston, fußt eingestandenermaßen auf der historischen Persönlichkeit Robert Macqueens, Lord Braxfields. Dieser berühmte Richter ist Generationen hindurch Gegenstand von hundert Edinburger Geschichten und Anekdoten gewesen. Wer Stevensons Essay über die Raeburn-Ausstellung in »Virginibus Puerisque« gelesen hat, wird sich erinnern, wie sehr ihn Raeburns Porträt Braxfields fesselte, so wie Lockhart sechzig Jahre zuvor durch ein anderes Portrait des nämlichen Ehrenmannes (s. Peter's Letters to his Kinsfolk) fasziniert wurde; und das Interesse, das er an jener Persönlichkeit nahm, ließ auch in späteren Jahren nicht nach. Wiederum hatte der Fall des Richters, der durch die Gebote seines Amts in einen starken Konflikt zwischen seiner Pflicht gegenüber der Öffentlichkeit und seinen privaten Interessen und Neigungen gerissen wird, von jeher Stevensons Phantasie gefesselt und angeregt. In den Tagen, als er und Mr. Henley noch zusammen Bühnenstücke verfaßten, schlug Mr. Henley einmal ein Stück vor, das sich auf die Geschichte des Richters Harbottle in Sheridan Le Fanus' »In a Glass Darkly« aufbaute, darin der böse Richter blindlings per fas et nefas das Ziel verfolgt, den Gatten seiner Mätresse an den Galgen zu bringen. Etwas später schrieb Stevenson zusammen mit seiner Frau ein Stück, genannt »Der Henker-Richter«. Hierin fühlt sich der Titelheld zum erstenmal in seinem Leben versucht, in den Gang der Justiz einzugreifen, um seine Frau vor den Verfolgungen eines früheren Gatten, der, totgeglaubt, unerwartet wiederauftaucht, zu schützen. Bulwers Roman »Paul Clifford«, mit der entscheidenden Situation, in welcher der weltlich gesinnte Richter, Sir William Brandon, über der Nachricht stirbt, daß der Straßenräuber, den er zu Tode verurteilt, sein eigener Sohn ist, war Stevenson ebenfalls bekannt und hat zweifellos dazu beigetragen, das vorliegende Buch zu beeinflussen.
Wiederum hatten die Schwierigkeiten, die häufig auch im wirklichen Leben aus den Beziehungen zwischen Vater und Sohn erwachsen, in seiner Jugend Stevensons Gewissen und Gemüt schwer bedrückt, als er, dem Gesetz seiner eigenen Natur folgend, seinem eigenen Vater, den er mit Recht aus tiefstem Herzen liebte und bewunderte, Enttäuschung und Kummer bereiten mußte und von ihm selbst eine Zeitlang mißverstanden wurde. Schwierigkeiten dieser Art hatte er bereits ein- oder zweimal in humoristischerem Tone behandelt – wie z. B. in der »Geschichte einer Lüge« und in »The Wrecker«, bevor er sich mit ihnen in dem akuten und tragischen Stadium wie in der vorliegenden Erzählung auseinandersetzte.
Diese drei Elemente: das Interesse an der historischen Persönlichkeit Lord Braxfields, die Probleme und Gefühle, die einem Richter aus einem heftigen Konflikt zwischen Pflicht und Natur erwachsen, und die Differenzen, die der Verschiedenheit der Veranlagung sowie Mißverständnissen zwischen Vater und Sohn entspringen, liegen unserem Roman zugrunde. Um geringe Faktoren nicht außer acht zu lassen, lohnt es sich, vielleicht noch auf eine Tatsache hinzuweisen, an die Mr. Henley mich erinnert hat, nämlich daß der Name Weir für Stevensons Phantasie einen ganz besonderen Klang besaß dank der berüchtigten historischen Edinburger Persönlichkeit von Major Weir, der samt seiner Schwester unter besonders grausigen Umständen als Zauberer verbrannt wurde. Ein anderer Name – der einer episodisch auftretenden Figur, des Geistlichen Mr. Torrance – ist, wie die ganze Gestalt überhaupt, samt ihrer Umgebung: Kirchhof, Kirche und Pfarrhaus, bis hinab zu den schwarzen Zwirnhandschuhen – direkt dem Leben entlehnt. Als Beweis diene folgende Stelle eines Briefes aus dem Anfang der siebziger Jahre: »Ich war in der Kirche und nicht einmal deprimiert – ein großer Schritt vorwärts. Es war jene wunderschöne Kirche zu Glencorse in den Pentlands« (drei Meilen abseits von seines Vaters Landhaus in Swanston). »Sie ist ein winziger, in Kreuzform ausgeführter Bau mit einem steilen Schieferdach. Der kleine Friedhof ist voll alter Grabsteine; darunter befindet sich einer eines Franzosen aus Dünkirchen, der wahrscheinlich als Gefangener des in der Nähe befindlichen Militärgefängnisses gestorben ist. Ein anderer ist wohl das rührendste Grabmonument, das ich je gesehen: eine alte Schulschiefertafel in einem hölzernen Rahmen mit einer Inschrift, offenbar von des Vaters eigener Hand. In der Kirche predigte der alte Mr. Torrance, ein Greis über achtzig, eine Reliquie vergangener Zeiten, mit schwarzen Zwirnhandschuhen und einem milden, alten Gesicht.« Ein Seitenlicht auf einen besonderen Charakterzug Mrs. Weirs werfen gewisse Familientraditionen des Autors, laut denen seine eigene Großmutter bei ihren Dienstboten mehr Wert auf Frömmigkeit als auf Tüchtigkeit gelegt haben soll. Die anderen weiblichen Charaktere sind meines Wissens nach rein aus der schöpferischen Phantasie geboren, insbesondere die neue und vorzüglich gelungene Verkörperung des ewig Weiblichen in der älteren Kirstie. Das wenige, das er selbst über sie sagt, steht in einem Brief, den er einige Tage vor seinem Tode an Mr. Gosse richtete. Er spricht bei dieser Gelegenheit von den Stimmungen und Standpunkten verschiedener Menschen gegenüber dem nahenden Alter, eine Anregung, die er durch Mr. Gosses Gedichtband »In Russet and Silver« erhielt. »Es ist doch recht komisch«, schreibt er, »daß jene Angelegenheit gerade in diesem Augenblick zur Sprache kommt, da ich selbst im Begriff bin, in einer meiner Erzählungen, ›Der Lord Oberrichter‹, einen ziemlich harten Fall von herannahendem Alter zu behandeln. Es ist der einer Frau, und ich glaube, ich werde ihr gerecht. Es wird Sie vermutlich interessieren, den Unterschied in der Art unserer Behandlung zu sehen. ›Secreta Vitae‹ (der Titel eines Gedichtes von Mr. Gosse) kommt dem Fall meiner armen Kirstie schon näher.« Aus der wunderbaren mitternächtlichen Szene zwischen ihr und Archie vermögen wir zu schließen, was uns in jenen späteren Szenen verlorengegangen ist, in denen sie ihm seine vermeintliche Schuld vorwerfen sollte – nur um seine Unschuld von den Lippen seines angeblichen Opfers zu erfahren – ihn ihrer Sippe gegenüber rechtfertigt und diese zu seiner Rettung anfeuert und begeistert. Die von Stevenson geplante Szene der Gefängniserstürmung hätte (wie die Leser ohne Zweifel selbst schon erkannt haben werden) durch den Vergleich mit zwei berühmten Präzedenzfällen: dem Porteous-Mob und der Erstürmung des Potanferry-Gefängnisses bei Scott, noch an Interesse gewonnen. Die beste Schilderung von Stevensons Schaffensmethoden findet sich in den folgenden Sätzen eines Briefes von ihm an Mr. W. Craibe Angus aus Glasgow: »Ich bin immer noch ein langsamer Arbeiter und brüte stets längere Zeit schweigend über meinen Eiern. Unbewußtes Denken, das ist die einzige Methode: erst zerfasere man gründlich seinen Stoff, dann lasse man ihn langsam kochen, und zuletzt nehme man den Deckel ab und werfe einen Blick hinein – da hat man sein Zeugs – gut oder schlecht.« Nachdem die einzelnen, oben geschilderten Elemente ihn lange Jahre hindurch beschäftigt hatten, trieb es ihn im Herbst 1892 dazu, »den Deckel abzunehmen« – dies geschah, soviel ich weiß, unter dem Zwange einer besonders mächtigen Gefühlswallung zu Gunsten der Romantik schottischer Szenerie und schottischer Charaktere, ein Gefühl, das stets in ihm lebendig war und das sein Aufenthalt in der Fremde noch verstärkte. Ich zitiere abermals aus seinem Brief an Mr. Barrie vom 1. November jenes Jahres: »Es ist doch eine seltsame Sache, daß ich hier in der Südsee unter so neuen und ungewöhnlichen Verhältnissen lebe und daß meine Phantasie trotzdem fortwährend in der kalten, alten Gruppe grauer, gedrängter Hügel weilt, aus der wir beide stammen. Ich habe ›David Balfour‹ beendet und bereits ein neues Buch auf dem Repertoire: ›Der junge Chevaliers das teils in Frankreich, teils in Schottland spielt und von Prinz Charlie um das Jahr 1749 handelt; und jetzt habe ich tatsächlich noch ein drittes angefangen, das von Anfang bis zu Ende nur Heide sein soll und dessen Mittelpunkt eine Gestalt bilden wird, die Sie, glaube ich, richtig würdigen werden: die des unsterblichen Braxfield. Braxfield selbst ist bei mir der führende Politikus oder – da Sie so stark an dem britischen Drama interessiert sind – mein Hauptcharakterdarsteller.«
In einem Brief an mich vom gleichen Tage übermittelt er die nämliche Nachricht in knapperer Form zusammen mit einer Liste der Charaktere und einem Hinweis auf Ort und Zeit der Handlung. An Mr. Baxter schreibt er einen Monat später: »Ich habe einen Roman auf dem Repertoire, welcher ›Der Lord Oberrichter‹ heißen soll. Er ist ziemlich schottisch; der Haupthandelnde hat Braxfield zum Vorbild (à propos, schick mir doch Cockburns ›Memorials‹), und einiges an der Geschichte ist – nun, sagen wir, sonderbar. Die Heldin wird von dem einen Manne verführt und verschwindet schließlich mit dem anderen, der jenen erschossen hat – Merk dir's, ich will, daß ›Der Lord Oberrichter‹ mein Meisterwerk wird. Mein Braxfield ist bereits ›a thing of beauty and a joy for ever‹. Soweit er gediehen, ist er bei weitem meine beste Gestalt.« Aus diesem Auszug geht hervor, daß er zu jener Zeit bereits die ersten Kapitel des Buches entworfen hatte. Etwa um die gleiche Zeit verfaßte er auch die Widmung an seine Frau; sie fand den Zettel eines Morgens beim Erwachen an ihre Bettgardinen befestigt. Es war von jeher seine Gewohnheit, gleichzeitig an verschiedenen Büchern zu arbeiten, wobei er, ganz wie die Stimmung ihn trieb, sich bald dem einen, bald dem anderen zuwandte und so in der Abwechslung Erholung fand; und viele Monate lang nach diesem Brief behinderten erst Krankheit, dann eine Reise nach Auckland, dann die Arbeiten an »Ebb-tide« und an einem neuen Roman »St. Ives«, den er während eines Anfalls von Influenza begann, sowie die Vorbereitungen für ein Buch Familiengeschichte – den Fortschritt des »Hermiston«. Im August 1893 läßt er durchblicken, daß er den Anfang umgearbeitet hätte. Ein Jahr später sind immer noch lediglich die ersten vier oder fünf Kapitel in ihren Umrissen vorhanden. Dann, während der letzten Wochen seines Lebens, macht er sich in einem starken Anfall von poetischer Begeisterung noch einmal an jene Aufgabe, an der er mit voller Hingabe ohne Unterbrechung bis zu seinem Tode weiterarbeitet. Kein Wunder, daß er sich während dieser Wochen mitunter einer nur schwer zu ertragenden Anspannung all seiner Kräfte bewußt wurde. »Wie soll ich nur dieses Tempo aufrechterhalten?« soll er sich nach Beendigung eines der Kapitel geäußert haben, und alle Welt weiß ja, wie ihn sein zarter Organismus inmitten dieser Versuche im Stich ließ. Die Größe des Verlustes für die Literatur seines Landes läßt sich vollauf erst an den vorangegangenen Seiten ermessen.
Bleibt nur noch ein Hinweis auf die Reden und Manieren des »Henker-Richters« selbst. Daß diese in keiner Hinsicht übertrieben sind im Vergleich zu dem, was wir von seinem historischen Prototyp, Lord Braxfield, wissen, ist ganz gewiß. Der Locus classicus betreffs dieser Persönlichkeit findet sich in Lord Cockburns »Memorials of his Time«. »Kräftig von Statur und dunkel, mit struppigen Augenbrauen, gewaltig fesselnden Augen und drohenden Lippen, besaß er die tiefe, knurrende Stimme eines mächtigen Schmieds. Sein Akzent und seine Ausdrücke waren übertrieben schottisch; seine Sprache war wie sein Denken kurz, stark und entschieden. Ungebildet und ohne jeden Geschmack an verfeinerten Genüssen, schöpfte er aus seinem durchdringenden Verstand, der ihn in seiner Verachtung aller weniger groben Naturen noch bestärkte. Macht ohne jede Kultur. Es ist zu bezweifeln, ob er sich je so sehr in seinem Elemente fühlte, wie wenn er hohnvoll die letzten verzweifelten Verteidigungsversuche eines armen, elenden Verbrechers zu Boden schmetterte und den Betreffenden mit irgendeinem beleidigenden Witz nach Botany Bay oder an den Galgen schickte. Und doch geschah dies nicht aus Grausamkeit, für die er zu stark und zu jovial war, sondern aus seiner ausgesprochenen Vorliebe für alles Grobe.« Trotzdem werden diejenigen Leser, die mit schottischer Kulturgeschichte vertraut sind, ohne Zweifel erkannt haben, daß Braxfield in seinem Auftreten einen extremen Fall des achtzehnten Jahrhunderts darstellt, ebenso wie er durchaus dem achtzehnten Jahrhundert angehört (er starb 1799 im achtundsiebzigsten Lebensjahr); für die Zeit, in die der Roman verlegt ist (1814), streift ein derartiges Auftreten an einen Anachronismus. Während des Zeitalters der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege oder – um es anders auszudrücken – während der Generation, die in den Tagen lebte, da Walter Scott als Schüler der High-School und Student der Edinburger Universität in jener Gegend umherstreifte, bis zu der Zeit, da er auf dem Gipfelpunkt seines Ruhmes und seines Wohlstands sich in Abbotsford niederließ, war eine erhebliche Milderung der Sitten ganz Schottlands, insbesondere aber des Advokaten- und Richterstandes eingetreten. »Seit dem Tode des Lord Oberrichters Macqueen von Braxfield«, schreibt Lockhart etwa um 1817, »hat sich das ganze Auftreten der Richter von Grund auf geändert.« Eine ähnliche Kritik dürfte auf das Gemälde von dem Leben in den Grenzlanden zutreffen, wie es in dem Kapitel über die Vier Schwarzen Brüder von Cauldstaneslap entworfen ist: auch das erinnert eher an die Sitten und Gebräuche einer früheren Generation; ich wüßte auch keinen Grund anzuführen, weshalb Stevenson diesen besonderen Zeitpunkt, nämlich das Jahr vor Waterloo, für eine Geschichte wählte, von denen einige Züge zum mindesten besser in eine fünfundzwanzig bis dreißig Jahre frühere Epoche hineingepaßt hätten. Sollte der Leser außerdem noch zu erfahren wünschen, ob die Szenerie von Hermiston mit irgendeinem anderen, dem Verfasser aus seiner Jugendzeit bekannten Ort identisch sei, so muß ich ihm, glaube ich, verneinend antworten. Vielmehr ist sie zusammengetragen aus den verschiedensten Plätzen und Eindrücken der großen Moore Süd-Schottlands. In der Widmung sowie in einem Brief an mich bezeichnet Stevenson die Lammermuirs als den Schauplatz der Tragödie. Jedoch Mrs. Stevenson (seine Mutter) sagte mir, daß er ihrer Meinung nach von Erinnerungen an einen Besuch angeregt wurde, den er in seiner Kindheit einem Onkel auf dessen sehr entlegenem Gehöft in dem Distrikt Overshiels in der Gemeinde Stow abstattete. Allein wenn ihm ursprünglich auch die Lammermuirs vorgeschwebt haben mögen, sahen wir doch bereits, daß er seine Schilderung der Kirche und des Pfarrhauses einem anderen Ort seiner Knabenzeit, nämlich Glencorse in den Pentland-Hügeln, entlehnte, während Stellen im fünften und siebenten Kapitel ganz deutlich auf eine dritte Gegend, das Obere Tweed-Tal samt der von dort bis an den Ursprung des Clyde sich erstreckenden Landschaft, hinweisen. Diese Gegend hatte er außerdem als Knabe schon zur Ferienzeit auf Ritten und Ausflügen von Peebles aus kennengelernt: sie ist zweifellos auch der natürliche Schauplatz unserer Geschichte schon aus dem Grunde, daß dort, im Herzen der Grenzlande, vor allem im Teviot-Tale und in Ettrick, die wahre Heimat der Elliotts liegt. Einige der geographischen Namen sind ganz offenbar nicht als Fingerzeige gedacht. Der Spango, zum Beispiel, ist ein Flüßchen, das, soviel ich weiß, nicht in den Tweed, sondern in den Nith mündet, und Crossmichael ist der Name eines Städtchens in Galloway. Allein den Künstler geht immer nur das Wesentliche und Allgemeine an, und Fragen streng historischer Perspektive und lokaler Umgrenzung haben nichts mit der Wertung seiner Arbeit zu tun. Ebensowenig werden die Leser einen Kommentar zu wichtigeren Dingen von mir verlangen oder mir dessentwegen Dank wissen, einen Kommentar zu der ergreifenden und packenden reifen Kunst des Verfassers, die sich uns in den vorhergehenden Seiten enthüllt, zu den vielfältigen Charakteren und Gefühlen, die er mit sicherer Hand schildert, und zu seinem lebendigen, poetischen Scharfblick und Zauber der Darstellung. Wahrlich, kein Sohn Schottlands zollte je dem Land, das er liebte, vor seinem Tode, ja noch mit seinem letzten Atemzuge einen würdigeren Tribut.