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Die Geschichte von dem jungen Geistlichen

Der Ehrwürdige Herr Simon Rolles hatte sich in den Moralischen Wissenschaften ausgezeichnet und hatte es in dem Studium der Gottesgelahrtheit ungewöhnlich weit gebracht. Sein Aufsatz »Über die Christliche Lehre von den sozialen Verpflichtungen« verschaffte ihm bei seinem Erscheinen eine gewisse Berühmtheit an der Universität Oxford, und in geistlichen und gelehrten Kreisen war allgemein bekannt, daß der junge Rolles ein bedeutendes Werk – einen Folioband, sagte man – über die Kirchenväter plante. Diese Bestrebungen und ehrgeizigen Pläne halfen ihm jedoch nichts, um eine Lebensstellung zu gewinnen; und er bewarb sich immer noch um seine erste Pfarrstelle, als ein zufälliger Spaziergang im äußersten Westen von London, der friedliche und behagliche Anblick des Gartens, ein Verlangen nach Einsamkeit und Studium, sowie endlich die Billigkeit der Wohnung ihn veranlaßten, sein Heim bei Herrn Raeburn, dem Gärtner in Stockdove Lane, aufzuschlagen.

Es war seine Gewohnheit, jeden Nachmittag, nachdem er sieben oder acht Stunden über St. Ambrosius oder St. Chrisostomus gearbeitet hatte, sich eine Weile unter den Rosenbüschen des Gartens zu ergehen und über seine Arbeiten nachzudenken. Dabei hatte er gewöhnlich seine glücklichsten Einfälle für neues Schaffen. Aber auch eine aufrichtige Freude am Denken und an ernsten Problemen, die der Lösung harren, sind nicht immer genügend, den Sinn eines Philosophen vor den kleinlichen Einflüssen der äußeren Welt zu bewahren. Und als der junge Rolles den Sekretär des Generals Vandeleur, mit zerrissenen Kleidern und blutend, in der Gesellschaft seines Hauswirts fand; als er sah, wie beide erbleichten und seinen Fragen auszuweichen versuchten, und vor allen Dingen, als der junge Mann sich mit der größten Kaltblütigkeit verleugnete, da vergaß er sofort die Heiligen und Kirchenväter um einer ganz gemeinen, alltäglichen Neugier willen.

»Ich kann mich nicht geirrt haben,« sagte er, »ohne allen Zweifel ist es Herr Hartley. Wie kommt der in eine solche Klemme hinein? Warum verleugnet er seinen Namen? Und was kann er mit diesem gefährlich aussehenden Kerl, meinem Hauswirt, zu tun haben?«

Während er mit solchen Gedanken beschäftigt war, erregte ein neuer sonderbarer Umstand seine Aufmerksamkeit. Das Gesicht des Herrn Raeburn erschien an einem Fenster des Erdgeschosses neben der Tür, und ein Zufall fügte es so, daß seine Augen sich mit denen des jungen Geistlichen begegneten. Der Gärtner schien darüber ärgerlich, ja sogar unruhig zu sein, und unmittelbar darauf wurde der Vorhang am Fenster mit einem scharfen Ruck heruntergezogen.

Es mag ja alles vollkommen in Ordnung sein, dachte Rolles bei sich selber; es mag alles schön und gut sein; aber ich gestehe frei heraus: ich glaube, daß es nicht der Fall ist. Mißtrauisch, unaufrichtig, ängstlich darauf bedacht, nicht beobachtet zu werden – ich glaube wahrhaftig, die beiden haben irgendeine verbrecherische Handlung vor.

Der Geheimpolizist, der in uns allen schlummert, erwachte im Busen des Herrn Rolles, und mit schnellen, rüstigen Schritten, die von seinem gewöhnlichen Gange ganz verschieden waren, machte er eine Runde durch den Garten. Als er an die Stelle kam, wo Harry über die Mauer geklettert war, bemerkte sein Auge sofort, daß ein Rosenbusch abgebrochen und daß das Erdreich zertrampelt war. Er blickte in die Höhe und sah an den Ziegeln der Mauer verschiedene Schrammen, während an einer Flaschenscherbe ein Fetzen hing, der offenbar von einer Hose stammte. Auf diese Weise war also der junge Mann, den Herr Raeburn seinen guten Freund nannte, in den Garten gelangt! Dies war die Art, wie General Vandeleurs Sekretär einen Blumengarten bewunderte! Der junge Geistliche pfiff leise vor sich hin; dann bückte er sich, um den Erdboden zu untersuchen. Er sah deutlich, an welcher Stelle Harrys Füße nach dem gefährlichen Sprunge die Erde berührt hatten; er erkannte den breiten Fuß Raeburns, wo der Stiefel tief in das Erdreich eingesunken war, als der Gärtner den Sekretär am Rockkragen in die Höhe gerissen hatte. Bei näherer Untersuchung glaubte er sogar Spuren zu bemerken, wie wenn tastende Finger irgend etwas, was zerstreut auf der Erde gelegen war, hastig zusammengerafft hätten.

Auf mein Wort, dachte er bei sich selber, die Geschichte wird aber höchst interessant!

Und gerade in diesem Augenblick erblickte er etwas, was beinahe gänzlich in das Erdreich getreten war. Im Nu hatte er ein hübsches Marokkolederkästchen ausgegraben, das mit goldenen Zieraten und Spangen geschmückt war. Es war durch einen schweren Fuß in die weiche Gartenerde gedrückt worden und auf diese Weise Herrn Raeburn bei seinem eiligen Suchen entgangen.

Rolles öffnete das Kästchen, und vor Erstaunen und Entsetzen blieb ihm beinahe der Atem stehen; denn vor ihm lag auf einer Unterlage von grünem Sammet ein Diamant von wunderbarer Größe und vom reinsten Wasser. Er war so groß wie ein Entenei, von schöner Form und ohne jeden Tadel; und als die Sonne darauf fiel, strahlte er wie ein elektrisches Licht und schien in seiner Hand von tausend innerlichen Feuern zu brennen.

Rolles verstand wenig von Edelsteinen; aber der Diamant des Radschahs war ein Wunder, das sich selber erklärte. Hätte ein Dorfkind ihn gefunden, es würde mit Geschrei in die nächste Hütte gelaufen sein, und ein Wilder würde sich anbetend vor einem so machtvollen Fetisch niedergeworfen haben.

Die Schönheit des Steines tat den Augen des jungen Geistlichen wohl; der Gedanke, daß der Wert unschätzbar sein müsse, überwältigte ihn. Er wußte, daß dieses Ding, das er in seiner Hand hielt, mehr wert war als das Einkommen eines englischen Erzbischofes für viele Jahre; daß man für das Geld seines Wertes Dome erbauen könnte, die herrlicher und stattlicher wären als die Dome in Köln und in Ely; daß der Mensch, der ihn besäße, für immer von den Folgen der Erbsünde befreit wäre und ohne jede Sorge oder Übereilung seinen eigenen Neigungen nachgehen könnte. Und als er den Stein plötzlich umdrehte, strahlte er in einem neuen unerhörten Glanze, der ihm in die innerste Seele zu dringen schien.

Entscheidende Handlungen werden oft in einem Augenblick vollzogen, und ohne daß die Vernunft eines Menschen dabei ein Wort mitspricht. So ging es jetzt dem jungen Rolles. Er sah sich hastig um, erblickte, wie Raeburn vor ihm, weiter nichts als den von der Sonne beschienenen Blumengarten, die hohen Baumwipfel und das Haus mit seinen geschlossenen Fensterläden; und in einem Nu hatte er das Kästchen geschlossen und in seine Tasche geschoben und eilte mit den schnellen Schritten eines Schuldbewußten in sein Studierzimmer. Der Ehrwürdige Simon Rolles hatte den Diamanten des Radschahs gestohlen.

*

Schon am frühen Nachmittage erschien die Polizei, von Harry Hartley geführt. Der Baumgärtner, der vor Angst ganz außer sich war, gab bereitwillig seinen Schatz wieder heraus; und die Juwelen wurden in Gegenwart des Sekretärs aufgezeichnet. Rolles zeigte sich dabei von der größten Bereitwilligkeit; er teilte freimütig alles mit, was er wisse, und bedauerte nur, daß er weiter nichts tun könne, um den Beamten bei der Erfüllung ihrer Pflicht zu helfen.

»Ich denke jedoch,« setzte er hinzu, »daß Ihre Aufgabe wohl so ziemlich erfüllt sein wird.«

»Durchaus nicht!« antwortete der Herr von Scotland Yard. Und er erzählte den zweiten Raubanfall, dessen unmittelbares Opfer Harry gewesen war; dabei beschrieb er dem jungen Geistlichen die bedeutenderen Schmuckstücke, die noch nicht aufgefunden worden seien, und unter diesen ganz besonders den Diamanten des Radschahs.

»Der muß ja ein Vermögen wert sein,« bemerkte Rolles.

»Zehn Vermögen! Zwanzig Vermögen!« rief der Polizeibeamte.

»Je mehr der Diamant wert ist,« sagte Simon Rolles mit schlauem Vorbedacht, »desto schwieriger wird es sein, ihn zu verkaufen. Solch ein Stein hat gewissermaßen eine Physiognomie, die man nicht verstellen kann, und ich möchte meinen, man könnte ebenso leicht unsere Pauls-Kathedrale verschachern.«

»Oh, gewiß!« sagte der Beamte; »aber wenn der Dieb bloß ein bißchen Verstand hat, wird er aus dem großen Diamanten drei oder vier kleinere machen und auf diese Weise wird er immer noch ein sehr reicher Mann werden.«

»Besten Dank,« sagte der junge Geistliche; »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mich Ihre Mitteilungen interessieren.«

Worauf der Geheimpolizist zugab, in seinem Beruf wisse man gar manche merkwürdigen Dinge. Gleich darauf empfahl er sich.

Simon Rolles ging wieder in sein Zimmer. Es kam ihm kleiner und öder als für gewöhnlich vor; die Hilfsmittel, die er für sein großes Werk brauchte, waren ihm niemals so gleichgültig gewesen, und mit einem verächtlichen Blick sah er auf seine Bücher. Er nahm verschiedene Kirchenväter herunter und sah einen Band nach dem anderen durch; aber sie enthielten nichts, was seinen Zwecken dienen konnte.

Diese alten Herren, dachte er bei sich, sind ohne Zweifel sehr tüchtige Schriftsteller, aber mir scheint, vom Leben verstehen sie gar nichts. Hier sitze ich, gelehrt genug, um ein Bischof sein zu können, und weiß ganz einfach nicht, wie ich einen gestohlenen Diamanten verwerten kann. Von einem gewöhnlichen Polizisten bekomme ich eine Anleitung, aber alle meine Foliobände nützen mir nichts, um diese praktisch zu verwerten. Ich muß sagen, ich bekomme von unserer Hochschulbildung eine sehr geringe Meinung.

Hierauf stieß er sein Büchergestell um, setzte seinen Hut auf, verließ das Haus und eilte in den Klub, dessen Mitglied er war. An einem solchen Ort, wo so viele Weltleute verkehrten, hoffte er jemanden zu finden, der das Leben kannte und ihm einen guten Ratschlag zu geben wußte.

Im Lesezimmer sah er viele Landgeistliche und einen Archidiakonus; drei Journalisten und ein Philosoph, der über höhere Metaphysik schrieb, spielten eine Partie Kegelbillard; und im Speisesaal erblickte er nur die Alltagsgesichter der gewöhnlichen Verkehrsgäste des Klubs. Keiner von diesen, dachte Rolles, würde von gefährlichen Dingen mehr verstehen als er selber, also könnte auch wohl keiner ihm einen Fingerzeig geben, wie er ihn augenblicklich brauchte. Schließlich fand er im Rauchzimmer einen stattlichen Herrn, der mit studierter Einfachheit angezogen war; dieser rauchte eine Zigarre und las die Fortnightly Review. Sein Gesicht hatte einen eigentümlich behaglichen und frischen Ausdruck, und in seinem ganzen Gehaben lag etwas, was zu Vertrauen aufforderte und gleichzeitig Ehrerbietung heischte. Je länger der junge Geistliche dieses Gesicht beobachtete, desto fester wurde er überzeugt, daß er jemanden gefunden habe, der ihm den richtigen Rat geben könne.

»Mein Herr,« sagte er, »Sie werden entschuldigen, daß ich Sie so ohne weiteres anspreche; aber ich ziehe aus Ihrer Erscheinung den Schluß, daß Sie eine hervorragende Stellung in der Welt einnehmen.«

»Ich habe allerdings beträchtliche Ansprüche auf diesen Vorzug,« antwortete der Fremde, indem er halb überrascht, halb belustigt seine Zeitschrift beiseite legte.

»Ich, mein Herr,« fuhr der Geistliche fort, »bin ein Einsiedler, ein Gelehrter, ein Geschöpf, das sich in einer Umgebung von Tintenflaschen und alten Foliobänden bewegt. Neuerdings hat ein gewisser Vorfall mir klar und deutlich vor Augen gebracht, daß eine solche Lebensweise töricht ist, und ich wünsche nun, etwas vom wirklichen Leben zu lernen. Unter ›Leben‹ verstehe ich nicht Thackerays Romane, sondern die Verbrechen und geheimen Möglichkeiten innerhalb unserer Gesellschaft und die Grundsätze, nach denen man sich gegenüber außergewöhnlichen Ereignissen mit angemessener Klugheit benimmt. Ich bin ein geduldiger Leser; kann man so etwas aus Büchern lernen?«

»Sie stellen mir da eine schwierige Frage,« sagte der Fremde. »Ich gestehe, daß ich von Büchern nicht viel Gebrauch mache, außer etwa auf einer Eisenbahnfahrt mir die Zeit zu vertreiben. Doch glaube ich, es gibt etliche sehr sachverständige Abhandlungen über Astronomie, Landwirtschaft und die Anfertigung künstlicher Blumen. Über die weniger in die Augen fallenden Teilgebiete des menschlichen Lebens werden Sie, fürchte ich, nichts Zuverlässiges finden. Doch warten Sie mal – haben Sie Gaboriau gelesen?«

Rolles gestand, er hätte niemals auch nur den Namen gehört.

»Gaboriau kann Ihnen vielleicht einige Begriffe vermitteln,« sagte der Fremde. »Wenigstens bringt er einen auf manche Gedanken, und da er ein Schriftsteller ist, den Fürst Bismarck gerne liest, so werden Sie im schlimmsten Falle Ihre Zeit in guter Gesellschaft verlieren.«

»Mein Herr, ich bin Ihnen für Ihre liebenswürdige Auskunft unendlich dankbar,« sagte der junge Geistliche.

»Sie haben sie mir bereits mehr als reichlich vergolten.«

»Wieso?«

»Durch die Ungewöhnlichkeit Ihrer Fragen,« antwortete der fremde Herr; dann machte er eine höfliche Handbewegung, wie wenn er um Erlaubnis bäte, und las weiter in seiner Fortnightly Review.

*

Auf seinem Heimwege kaufte Rolles ein Werk über Edelsteine und mehrere Gaboriausche Romane. In diesen letzteren las er eifrig bis spät in die Nacht; aber obgleich sie ihn zu manchem neuen Gedanken anregten, konnte er doch nirgends entdecken, was einer mit einem gestohlenen Diamanten anzufangen hätte.

Außerdem ärgerte es ihn, daß die tatsächlichen Belehrungen in allerlei romantische Erzählungen eingehüllt waren, statt einfach klar und deutlich mitgeteilt zu werden, wie man es in wissenschaftlichen Handbüchern findet. Er zog daraus den Schluß, daß der Schreiber, wenn er auch viel über diese Gegenstände nachgedacht hätte, von erzieherischen Methoden nicht das geringste verstände. Dem Charakter und den Fähigkeiten Lecoqs mußte er allerdings seine volle Bewunderung zollen.

Er war wirklich ein großer Mann, dachte Rolles bei sich. Er kannte die Welt, wie ich Paleys Beweisstellen kenne. Es gab nichts, das er nicht mit eigener Hand und unter den ungünstigsten Voraussetzungen zustande zu bringen wußte. Ja, du lieber Himmel! rief er plötzlich laut: ist dies nicht die richtige Lehre für mich? Muß ich nicht einfach selber lernen, wie man Diamanten schneidet?

Es kam ihm vor, wie wenn auf einmal alle seine Ungewißheiten beseitigt wären; es fiel ihm ein, daß er persönlich einen Juwelier kenne, einen gewissen B. Macculloch in Edinburgh, der gern bereit sein werde, ihn auszubilden. Ein paar Monate, vielleicht sogar ein paar Jahre unangenehmer Arbeit – und er würde die nötige Geschicklichkeit besitzen, den Diamanten des Radschahs zu zerschneiden, und würde die Geschäftskniffe kennen, um die Stücke vorteilhaft zu verkaufen. War dies geschehen, so konnte er wieder zu seinem Studium zurückkehren, ein reicher, von allem Luxus des Lebens umgebener Gelehrter, von allen Menschen beneidet und hochgeachtet. Goldene Traumbilder erfüllten seinen Schlummer, und als die Morgensonne aufging, erwachte er neugestärkt und mit leichtem Herzen.

Raeburns Haus sollte an diesem selben Tage polizeilich geschlossen werden. Dadurch erhielt er einen guten Vorwand, aus London abzureisen. In fröhlicher Stimmung packte er seine Koffer, schaffte sie nach dem Bahnhof Kings Croß, wo er sie auf der Gepäckniederlage abgab, und ging dann wieder in den Klub, um über den Nachmittag hinwegzukommen und dann zu Abend zu essen.

»Wenn Sie heute hier speisen, Rolles,« sagte ein Bekannter zu ihm, »können Sie zwei der bemerkenswertesten Männer Englands sehen: den Prinzen Florizel von Bohemia und den alten John Vandeleur.«

»Von dem Fürsten habe ich gehört,« antwortete Rolles, »und General Vandeleur habe ich sogar in Gesellschaft getroffen.«

»General Vandeleur ist ein Esel. Nein, John Vandeleur, sein Bruder, ist der größte Abenteurer, der beste Kenner von Edelsteinen und einer der schlauesten Diplomaten Europas. Haben Sie niemals von seinem Zweikampf mit dem Herzog de Val d'Orge gehört? Von den Heldentaten und Greueln, die er vollbrachte, als er der Diktator von Paraguay war. Von seiner Geschicklichkeit, mit der er Sir Samuel Levis Schmucksachen wieder zur Stelle schaffte? Nicht von seinen Diensten während der großen indischen Rebellion – Dienste, die die Regierung sich zunutze machte, aber nicht öffentlich anzuerkennen wagte? Was nennen wir eigentlich Ruhm? Und was nennen wir Verruchtheit? John Vandeleur kann die höchsten Ansprüche auf beide erheben! Gehen Sie hinunter, Rolles, setzen Sie sich an einen Tisch in ihrer Nähe und halten Sie Ihre Ohren offen. Ich müßte mich sehr irren, wenn Sie nicht einige merkwürdige Geschichten hören würden.«

»Aber woran soll ich sie denn erkennen?« fragte der junge Geistliche.

»Woran Sie sie erkennen sollen! Na, der Prinz ist der schönste Gentleman in Europa – der einzige lebende Mensch, der wie ein König aussieht; und wenn Sie sich Odysseus im Alter von siebzig Jahren und mit einer Säbelschmarre quer über das Gesicht vorstellen können, so haben Sie John Vandeleur in eigener Person vor sich! Woran Sie sie erkennen? Wahrhaftig, Sie würden sie an einem Derby-Renntag auf den ersten Blick aus der Menge herausfinden.«

Rolles beeilte sich, in den Speisesaal zu gehen. Sein Freund hatte recht gehabt: es war unmöglich, die beiden von ihm genannten Herren nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Der alte John Vandeleur war offenbar von gewaltiger Körperkraft, ein Meister in allen körperlichen Übungen. Man konnte nicht sagen, daß er die Haltung eines Fechters oder eines Seemanns oder eines Reiters hätte; aber er hatte etwas von allen dreien an sich, und man sah auf den ersten Blick, daß er in diesen Künsten geschickt sein müsse. Er hatte scharfe Züge mit einer Adlernase; der Ausdruck seines Gesichts war hochmütig und raubvogelmäßig; in seiner ganzen äußeren Erscheinung war er ein behender, heftiger, von allen Gewissensbedenken freier Mann der Tat; und sein dichtes weißes Haar sowie die tiefe Säbelnarbe, die über seine linke Schläfe und durch seine Nase lief, verliehen seinem schon an und für sich bemerkenswerten und drohenden Kopf eine ganz besondere Note von Wildheit.

In seinem Tischgenossen, dem Prinzen von Bohemia, erkannte Rolles zu seinem Erstaunen den Herrn wieder, der ihm Gaboriaus Romane empfohlen hatte. Ohne Zweifel hatte Prinz Florizel auf John Vandeleur gewartet, als Simon ihn den vorhergehenden Abend anredete; übrigens besuchte der Prinz nur selten den Klub, dem er, wie den meisten anderen großen Klubs als Ehrenmitglied angehörte.

Die anderen Besucher des Speisesaals hatten sich bescheiden in die Ecken zurückgezogen, so daß das berühmte Paar gewissermaßen isoliert saß; der junge Geistliche ließ sich jedoch nicht durch ein Gefühl von Ehrerbietung zurückhalten, sondern ging kühn in die Mitte des Saales und setzte sich an den nächsten Tisch.

Die Unterhaltung der beiden Herren war allerdings etwas Neues für die Ohren des jungen Gelehrten. Der Exdiktator von Paraguay gab manches außerordentliche Erlebnis in allen möglichen Teilen der Welt zum besten, und der Prinz gab dazu Erläuterungen, die für einen nachdenklichen Menschen noch wertvoller waren, als die Ereignisse selbst. So wurden zwei Formen von Lebenserfahrung miteinander zusammengestellt und dem jungen Geistlichen zur Schau geboten: der todesverachtende Mann der Tat und der geschickte Lebenskünstler; der Mann, der rücksichtslos von seinen eigenen Taten und Gefahren sprach, und der Mann, der wie ein Gott alles zu wissen und nichts gelitten zu haben schien.

Das Benehmen jedes der beiden Herren entsprach seinem Charakter. Der Diktator war brutal in Worten und Gebärden; seine Faust öffnete und ballte sich und fiel mit schwerem Schlag auf die Tischplatte; und seine Stimme war laut und polternd. Der Prinz dagegen erschien als das wahre Vorbild weltmännischer Liebenswürdigkeit und Ruhe; die geringste Bewegung, die leiseste Betonung hatte bei ihm eine gewichtigere Bedeutung als alles Schreien und Gestikulieren seines Tischgenossen; und wenn er irgendeine persönliche Erfahrung zu schildern hatte, was natürlich häufig der Fall war, so tat er das so geschickt, daß es nicht im geringsten auffiel.

Schließlich kam das Gespräch auch auf die letzten großen Diebstähle und auf den Diamanten des Radschahs.

»Es wäre besser, wenn dieser Diamant auf dem Meeresgründe läge!« bemerkte Prinz Florizel.

»Da ich ein Vandeleur bin,« versetzte der Diktator, »so können Euer Hoheit sich wohl vorstellen, daß ich in dieser Hinsicht anderer Meinung bin.«

»Ich spreche vom Standpunkt der öffentlichen Wohlfahrt aus,« fuhr der Prinz fort. »So wertvolle Juwelen sollten ausschließlich für die Sammlung eines Fürsten oder für den Staatsschatz einer großen Nation vorbehalten sein. Wenn man sie in den Händen gewöhnlicher Menschen läßt, so setzt man damit einen Preis auf ein Vergehen gegen das Gesetz aus; und wenn der Radschah von Kaschgar – der, wie ich höre, ein sehr aufgeklärter Fürst ist – sich an uns Europäern rächen wollte, so hätte er sich kaum etwas Wirksameres für diesen Zweck aussetzen können, als uns diesen Apfel der Zwietracht zu schicken. Einer solchen Versuchung zu widerstehen, ist keine Ehrenhaftigkeit stark genug. Ich selber, der ich manche besondere Pflichten und dafür auch manche besondere Vorrechte habe – ich selber, Herr Vandeleur, würde mit diesem berauschenden Kristall wohl kaum längere Zeit umgehen können, ohne dabei Schaden zu nehmen. Und von Ihnen, der Sie nach Beruf und Neigung ein Diamantenjäger sind, glaube ich nicht, daß es im Kalender ein Verbrechen gibt, das Sie nicht vollbringen würden – ich glaube nicht, daß Sie einen Freund in der Welt haben, den Sie nicht ohne Bedenken verraten würden. Ich weiß nicht, ob Sie Familie haben, aber wenn Sie eine haben, so behaupte ich: Sie würden Ihre eigenen Kinder opfern! Und dies alles – wozu? Nicht etwa, um reicher zu werden, um mehr Bequemlichkeiten auf der Welt zu haben oder einer größeren Achtung bei den Menschen zu genießen, sondern ganz einfach, damit Sie ein paar Jahre lang, bis Sie sterben, sagen können: ›dieser Diamant ist mein!‹, und damit Sie ab und zu einen Geldschrank aufschließen und den Stein betrachten können, wie man sich ein Gemälde ansieht.«

»Es ist wahr,« antwortete Vandeleur; »ich bin als Jäger hinter dem meisten hergewesen, was es auf Erden gibt: von Männern und Frauen bis herab zu Moskitos; ich habe nach Korallen getaucht; ich habe Walfische und Tiger verfolgt; und ein Diamant ist die größte Beute, die es überhaupt gibt. Solch ein Diamant hat Schönheit und Wert; er allein vermag auch für die hitzigste Verfolgung zu entschädigen. In diesem Augenblick bin ich ihm auf der Spur, wie Eure Hoheit sich wohl vorstellen können. Ich habe ein unfehlbares Auge, eine sehr große Erfahrung; ich kenne jeden wertvollen Stein in meines Bruders Sammlung, wie ein Schäfer seine Schafe kennt; und ich will des Todes sein, wenn ich nicht jeden einzelnen von diesen Edelsteinen wieder zur Stelle schaffe!«

»Sir Thomas Vandeleur wird große Ursache haben, Ihnen dafür dankbar zu sein,« sagte der Prinz.

»Das weiß ich nicht so gewiß,« antwortete der Diktator mit einem lauten Gelächter. »Einer von den Vandeleurs wird jedenfalls dankbar sein. Thomas oder Johannes – Peter oder Paul – Apostel sind wir alle.«

»Ich habe Ihre Bemerkung nicht ganz verstanden,« sagte der Prinz, offenbar etwas peinlich berührt.

In demselben Augenblick meldete der Kellner Herrn Vandeleur, daß seine Droschke vor dem Hause warte.

Rolles warf einen Blick auf seine Uhr und sah, daß es auch für ihn Zeit war aufzubrechen; dieses Zusammentreffen machte auf ihn einen unangenehmen Eindruck, denn er wünschte von dem Diamantenjäger nichts mehr zu sehen.

*

Der junge Geistliche war durch vieles Studieren etwas nervös geworden und hatte sich daher angewöhnt, auf recht luxuriöse Art zu reisen; so hatte er auch diesmal ein Abteil im Schlafwagen belegt.

»Sie werden es sehr bequem haben,« sagte der Aufwärter; »Sie haben Ihr Abteil ganz für sich allein und an dem anderen Ende ist nur ein einziger alter Herr.«

Unmittelbar vor der Abfahrt, als bereits die Fahrkarten gezwickt wurden, bemerkte Simon Rolles seinen Mitreisenden, den mehrere Gepäckträger in sein Abteil begleiteten; gewiß gab es auf der ganzen Welt keinen Menschen, den er nicht lieber gesehen hätte – denn sein Reisegefährte war der alte John Vandeleur, der Exdiktator.

Die Schlafwagen der Great Northern-Linie hatten drei Abteile – eins an jedem Ende für Reisende, und in der Mitte eins, das als Waschraum eingerichtet war.

Eine Schiebetür trennte die beiden Abteile auf jeder Seite des Waschraumes; da aber weder Schloß noch Riegel vorhanden war, so waren tatsächlich die beiden Abteile und der Waschraum ein Ganzes.

Nachdem Rolles dies alles untersucht hatte, war es ihm klar, daß er schutzlos war. Wenn es dem Diktator beliebte, ihm im Laufe der Nacht einen Besuch zu machen, so würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als ihn zu empfangen; er verfügte über keine Verteidigungsmittel und war einem Angriff ausgesetzt, wie wenn er in offenem Felde gelegen hätte. Diese Lage erfüllte ihn mit einiger Sorge. Er erinnerte sich der prahlerischen Erzählungen, die sein Mitreisender am Eßtisch zum besten gegeben hatte, und mit besonderer Unruhe seiner Bemerkungen über Moral, die schon den Prinzen offenbar angewidert hatte. Ferner erinnerte er sich gelesen zu haben, daß gewisse Menschen einen besonderen Wahrnehmungssinn für die Nähe von edlen Metallen oder Juwelen haben; man sagt, daß sie jedenfalls das Vorhandensein von Gold durch dicke Mauern hindurch und auf beträchtliche Entfernungen zu wittern vermögen. Konnte dasselbe nicht auch mit Diamanten der Fall sein? Und wenn dies der Fall war, dann war gewiß von keinem mehr anzunehmen, daß er von diesen übersinnlichen Kräften Gebrauch machen würde, als von einem Mann, der seinen Beinamen »Der Diamantenjäger« als einen besonderen Ruhmestitel ansah. Es war ihm klar, daß er von einem solchen Mann alles zu befürchten hatte, und er wartete daher sehnsüchtig auf den Anbruch des Tages.

Mittlerweile vernachlässigte er seine Vorsichtsmaßregeln: er versteckte seinen Diamanten in der innersten Tasche des Rockes, den er unter mehreren Mänteln trug, und empfahl sich mit frommem Gebet der Vorsehung.

Der Zug sauste mit seiner gewöhnlichen Schnelligkeit dahin, und die halbe Strecke der Fahrt war bereits zurückgelegt, als endlich der Schlaf die Unruhe in der Brust des jungen Geistlichen besiegte. Eine Zeitlang widerstand er noch seiner Müdigkeit; aber diese wurde immer stärker und stärker, und kurz vor dem Bahnhof von York war er doch froh, sich auf einer der Sitzbänke ausstrecken zu können; er schloß seine Augen und fiel fast in demselben Moment in einen tiefen Schlaf. Sein letzter Gedanke galt seinem gefährlichen Nachbarn.

Als er erwachte, war es immer noch stockfinstere Nacht; die verhüllte Lampe an der Decke verbreitete nur ein ganz schwaches Licht; das Rasseln, Donnern und Schwanken des Wagens ließ ihn erkennen, daß der Zug mit unverminderter Geschwindigkeit fuhr. Von einer plötzlichen Angst befallen, fuhr er empor; entsetzliche Träume hatten ihn gepeinigt, und es dauerte mehrere Sekunden, bis er wieder zu wachem Bewußtsein kam. Auch als er sich wieder ausgestreckt hatte, floh der Schlaf ihn. So lag er wach, das Gehirn von einer fieberhaften Aufregung erhitzt und seine Blicke unverwandt auf die Tür des Waschraums geheftet. Er zog seinen breitkrempigen Hut, das Zeichen seines geistlichen Standes, noch tiefer ins Gesicht, um selbst den schwachen Lichtschein der Lampe abzuhalten, und versuchte alle die übrigen Mittel, um schneller einzuschlafen: er zählte bis Tausend, suchte jedes Denken zu verbannen und so weiter. Aber alle diese Mittel erwiesen sich als machtlos: Rolles wurde von einem Dutzend verschiedener Angstgefühle gequält. Der alte Diktator am anderen Ende des Wagens erschien ihm in den furchtbarsten Gestalten, und wie er auch zu liegen versuchte, der Diamant in seiner Tasche verursachte ihm ein fühlbares, körperliches Unbehagen. Der Stein brannte, er war zu groß, er drückte auf seine Brust, daß ihm die Rippen schmerzten, mehrere Male fühlte er eine blitzschnelle Versuchung, den Stein zum Fenster hinauszuwerfen.

Während er so dalag, ereignete sich etwas Seltsames.

Die Schiebetür zum Waschraum bewegte sich ein kleines Stückchen und dann noch ein kleines Stückchen und wurde schließlich so weit zurückgeschoben, daß eine Spalte von ungefähr zwanzig Zoll entstand. Die Lampe im Waschraum hatte keinen Schirm, und in der hellen Öffnung, die infolgedessen entstanden war, konnte Rolles den Kopf des alten Vandeleur bemerken, der mit gespannter Aufmerksamkeit in sein Abteil hineinspähte. Er fühlte, wie der Blick des Diktators auf seinem eigenen Gesicht lag, und das triebmäßige Gefühl der Selbsterhaltung veranlaßte ihn, seinen Atem anzuhalten, ohne jede Bewegung seine Augen geschlossen zu lassen, um unter den Wimpern hervor seinen Besucher zu beobachten. Nach einem kurzen Augenblick wurde der Kopf zurückgezogen und die Schiebetür wieder geschlossen.

Der Diktator war nicht in der Absicht gekommen, einen Angriff zu machen, sondern zu beobachten; es war offenbar nicht seine Absicht, einen anderen Menschen zu bedrohen, sondern er fühlte sich selber bedroht! Wenn Rolles sich vor ihm fürchtete, so hatte er allem Anschein nach ebenfalls einige Besorgnisse in bezug auf Rolles, er schien nur gekommen zu sein, um sich zu überzeugen, daß sein einziger Mitreisender schliefe, und hatte sich sofort wieder zurückgezogen, nachdem er dies festgestellt hatte.

Der junge Geistliche sprang auf. An die Stelle seiner Furcht war ein tollkühner Wagemut getreten. Er überlegte sich, daß das Rasseln des Blitzzuges alle anderen Geräusche übertönte, und beschloß unbekümmert um die Folgen, den soeben erhaltenen Besuch zu erwidern.

Er zog seinen Mantel aus, der ihn in seinen Bewegungen hätte hindern können, ging in den Waschraum und blieb dort stehen, um zu horchen. Wie er erwartet hatte, war nichts anderes zu hören als das Rattern des Zuges. Er erfaßte den Knopf der anderen Schiebetür und zog sie vorsichtig um etwa sechs Zoll zur Seite. Und dann entfuhr ihm unwillkürlich ein Ausruf der Überraschung.

John Vandeleur trug eine Reisepelzmütze mit Ohrenklappen; diese, in Verbindung mit dem Donnergerassel des Zuges, verhinderten ihn vielleicht, von dem Besuch des Herrn Rolles etwas zu bemerken. Jedenfalls blickte er nicht auf, sondern fuhr in einer seltsamen Beschäftigung fort. Vor ihm stand eine offene Hutschachtel; in der einen Hand hielt er den Ärmel seines Pelzmantels, in der anderen ein langes Messer, mit welchem er soeben das Futter dieses Ärmels aufgeschlitzt hatte.

Rolles hatte davon gelesen, daß manche Menschen Gold in einem Leibgürtel trügen; da er aber in seinem Leben nur Kricket-Gürtel gesehen hatte, so hatte er sich niemals eine richtige Vorstellung machen können, wie so eine Geldkatze aussähe. Jetzt aber erblickte er etwas noch viel Sonderbareres: John Vandeleur trug allem Anschein nach Diamanten in dem Futter seines Ärmels, denn der junge Geistliche sah einen blitzenden Brillanten nach dem anderen in die Hutschachtel fallen.

Unfähig, eine Bewegung zu machen, blieb er auf dem Fleck stehen und sah dem Diktator bei seiner eigentümlichen Beschäftigung zu. Die Diamanten waren größtenteils klein und fielen weder durch Größe noch durch Feuer auf. Plötzlich schien dem Diktator ein Hindernis zu begegnen; er mußte beide Hände zu Hilfe nehmen und beugte sich dabei vorneüber; trotzdem dauerte es eine ziemliche Zeit, bis er ein großes Brillanten-Diadem aus dem Ärmelfutter zum Vorschein bringen konnte. Dieses hielt er hoch und betrachtete es einige Sekunden, bevor er es zu den anderen Edelsteinen in die Hutschachtel legte.

Die Tiara war für Rolles eine Erleuchtung: er erkannte in ihr sofort einen Teil des Schatzes, den der Strolch dem unglückseligen Harry Hartley geraubt hatte. Hierüber konnte kein Zweifel obwalten: sie sah genau so aus, wie der Geheimpolizist sie ihm beschrieben hatte! Da waren die Rubinsterne, da der große Smaragd in der Mitte, da die von Brillanten gebildeten Halbmonde und die birnenförmigen herabhängenden Brillanten, die das Diadem der Lady Vandeleur so besonders wertvoll machten.

Rolles fühlte sich ungeheuer erleichtert: der Diktator war in den großen Diebstahl ebenso tief verwickelt, wie er selber – keiner durfte den anderen verraten! In diesem Glücksgefühl stieß der junge Geistliche einen tiefen Seufzer aus; und da ihm in den vorhergehenden Stunden der Angst die Kehle trocken geworden war, so folgte diesem Seufzer ein Husten.

John Vandeleur blickte auf; eine wilde Leidenschaft verzerrte sein Gesicht; seine Augen waren weit aufgerissen, und in einem Erstaunen, das an Wut grenzte, klappte sein Unterkiefer herunter.

Mit einer triebmäßigen Bewegung hatte er den Mantel über die Schachtel gedeckt. Eine halbe Minute lang starrten die beiden Männer schweigend einander an. Dieser Zeitraum war nicht lang, aber er genügte dem jungen Mann. Er war einer von den Menschen, die in gefährlichen Augenblicken schnell denken können, und er beschloß, so kühn wie möglich zu handeln. Und obwohl er fühlte, daß er sein Leben aufs Spiel setzte, war er der erste, der das Schweigen brach.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er.

Der Diktator zuckte zusammen, und seine Stimme war heiser, als er fragte:

»Was wollen Sie hier?«

»Ich interessiere mich ganz besonders für Diamanten,« antwortete Rolles mit vollkommener Ruhe und Selbstbeherrschung. »Zwei Kenner sollten Bekanntschaft miteinander machen. Ich habe selber eine Kleinigkeit hier, die vielleicht dazu dienen mag, die Bekanntschaft zu vermitteln.«

Mit diesen Worten zog er in aller Ruhe das Kästchen aus der Tasche, zeigte dem Diktator einen Augenblick den Diamanten, steckte ihn wieder ein und sagte:

»Er gehörte früher Ihrem Bruder.«

John Vandeleur fuhr fort, ihn mit einem beinahe schmerzlichen Erstaunen anzustarren; aber er sprach kein Wort und machte keine Bewegung.

»Ich bemerke mit Vergnügen,« begann der junge Mann wieder, »daß wir Edelsteine aus derselben Sammlung besitzen.«

Die Überraschung war zu stark für den Diktator und er sagte:

»Bitte um Verzeihung – ich beginne zu bemerken, daß ich alt werde! Ich bin tatsächlich für solche kleine Zwischenfälle nicht mehr gerüstet. Aber beruhigen Sie mich wenigstens über eins: täuschen meine Augen mich, oder sind Sie wirklich ein Pfarrer?«

»Ich bin geistlichen Standes,« antwortete Rolles.

»Nun!« rief der andere, »dann will ich, solange ich lebe, niemals wieder ein Wort gegen den Talar sagen!«

»Sie schmeicheln mir,« sagte Rolles.

»Verzeihen Sie mir,« versetzte Vandeleur, »verzeihen Sie mir, junger Herr! Sie sind kein Feigling, aber wir müssen erst noch sehen, ob Sie nicht vielleicht der allergrößte Dummkopf sind. Vielleicht,« fuhr er fort, indem er sich auf seinen Platz zurücklehnte, »vielleicht würden Sie so freundlich sein, mir noch einiges zu sagen. Ich muß annehmen, daß Sie bei der erstaunlichen Frechheit Ihres Vorgehens einen gewissen Zweck verfolgten, und ich gestehe, daß ich neugierig bin, diesen kennenzulernen.«

»Er ist sehr einfach,« antwortete der Geistliche; »er erklärt sich durch meine große Unerfahrenheit in allen Dingen des Lebens.«

»Es wird mich freuen, wenn Sie mich davon überzeugen,« antwortete Vandeleur.

Hierauf erzählte Rolles ihm die ganze Geschichte, wie er mit dem Diamanten des Radschah in Verbindung gekommen war. Von dem Augenblick an, da er ihn in Raeburns Garten gefunden hatte, bis zu dem Augenblick, da er im »Fliegenden Schotten« London verlassen hatte. Er schilderte in kurzen Worten seine Gefühle und Gedanken während der Reise und sagte zum Schluß:

»Als ich die Tiara erkannte, da wußte ich, daß wir beide uns in der gleichen Lage der Gesellschaft gegenüber befinden, und es erfüllte mich mit Hoffnung, die Sie – davon bin ich überzeugt – nicht für unbegründet erklären werden: daß Sie nämlich gewissermaßen mein Teilhaber an den Schwierigkeiten und natürlich auch an den Vorteilen meiner Lage werden möchten. Für einen Menschen, der Ihre besonderen Kenntnisse und offenbar großen Erfahrungen besitzt, kann die Verwertung des Diamanten nur geringe Schwierigkeiten machen, während dieses für mich vorläufig ein Ding der Unmöglichkeit ist. Andererseits nahm ich an, daß ich durch das Zerschneiden des Diamanten, die ich wahrscheinlich mit ungeschickter Hand vornehmen würde, ungefähr ebensoviel verlieren würde, als ich Ihnen angemessenerweise für Ihre Beihilfe zu bezahlen hätte. Es war ein heikles Ding, dieses Thema anzuschneiden, und vielleicht habe ich dabei etwas gegen das von einem Gentleman zu erwartende Zartgefühl verstoßen. Aber ich muß Sie bitten zu bedenken, daß für mich die Lage völlig neu war, und daß ich mit der Etikette, die in solchen Dingen üblich sein mag, völlig unbekannt war. Ich glaube, ohne mich einer Eitelkeit schuldig zu machen, ich hätte Sie in sehr korrekter Weise trauen oder taufen können; aber jeder Mensch hat seine besonderen Fähigkeiten, und ein solches Handelsgeschäft stand nicht auf der Liste meiner Talente.«

»Ich wünsche Ihnen keine Schmeicheleien zu sagen,« antwortete Vandeleur; »aber auf mein Wort: Sie haben ungewöhnliche Anlagen für ein Verbrecherleben. Sie besitzen mehr Talente, als Sie glauben; obgleich ich in verschiedenen Weltteilen eine Menge Halunken getroffen habe, sah ich noch niemals einen so frechen wie Sie. Freuen Sie sich, Herr Rolles, Sie haben endlich Ihren wahren Beruf gefunden! Über meinen Beistand können Sie nach Ihrem Belieben verfügen. Ich habe in Edinburgh nur einen einzigen Tag in einer kleinen Angelegenheit meines Bruders zu tun; sobald die abgemacht ist, fahre ich nach Paris zurück, wo ich meinen ständigen Wohnsitz habe. Wenn Sie Lust haben, können Sie mich dorthin begleiten. Und ich glaube, ich werde Ihr kleines Geschäft zu einem befriedigenden Abschluß gebracht haben, bevor ein Monat um ist.«

*

Hiermit bricht, entgegen allen Regeln seiner Kunst, unser arabischer Autor die »Geschichte von dem jungen Geistlichen« plötzlich ab. Ich bedaure und verurteile ein solches Verfahren; aber ich muß mich an mein Original halten und verweise in bezug auf den Schluß der Abenteuer des Herrn Rolles den Leser auf die nächste Nummer der Reihe, »Die Geschichte von dem Hause mit den grünen Fensterläden«.


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