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Achtes Kapitel

Die Nacht, die folgte, war seines Lebens schlimmste. Von einem Gipfel, den er erstiegen hatte, war er durch eigene Schuld hinabgestürzt, weil er, statt widersprochen, geschwiegen, seine Notwendigkeit in sich gebändigt hatte, bis sie sich befreite.

Doch da ihn die Vorstellung, Gauguin möchte, ehe er sich erklärt hatte, abreisen, wahnsinnig machte, nahm er sich vor, beim Aufstehen, komme was wollte, sich mit ihm auszusprechen, zu offenbaren, er, Vincent kämpfte nicht weniger verzweifelt als Gauguin um ein erkanntes Ziel, das nicht beeinflußt oder verschoben werden konnte; daß er ihn liebte, maßlos sein Werk verehrte, ihm aber nicht und nie mehr folgen wollte. Gauguin lehnte morgens kühl van Goghs stotternde Besessenheit ab. Für ihn hätten persönliche Empfindlichkeiten das Gewicht nicht mehr, das Vincent solchen Bagatellen zumesse. Er ginge aufs Ganze, leide nicht an Mikrophobie, keiner Hemmung, und habe den Sinn umfassend ins Weite gestellt.

Als sie gegen Abend ohne Wort wieder nicht aneinander vorbeikonnten, beschwor Vincent im Glanz einer blutenden Sonne Gauguin, endlich zu begreifen, darum sei nie das winzigste Wirkliche in Europa erkannt worden, weil jeder Auserwählte Pläne und Ideen statt Erkenntnisse gehabt und durchgesetzt hätte. Leuchte ihm nicht ein, niemand begreife von dem Augenblick, in dem er lebte, das Geringste, nichts von seiner Politik, dem in ihm wirkenden Prinzip nichts, weil keine Voraussetzung gewußt oder zu wissen versucht sei. Fasse er nicht, mit seinem ekstatischen Wegsehen von Wirklichkeiten mache er erst das Chaos, das sie in diesen Momenten umdonnere, möglich.

Tränen hatte er im Blick, war drauf und dran, vor dem Freund ins Knie zu brechen, als der kühl bis ans Herz erwiderte: »Ich sehe das besser umgekehrt.«

Zyniker sei er, brach Vincent los, ein Überkultivierter, rüder Ausbeuter der Welt, Zuhälter aller Wollüste, Ausschweifungen, Verklärungen, entbehre der Redlichkeit, menschlicher Verantwortung. Der größte Blender, Pfuscher, der ihm im Leben begegnete, ja Pfuscher sei er, Irrlicht, verstiegene Rakete, doch kein Stern; Mephisto im Leben, Verführer auch in seinem Werk. Und unter Pauls eisigem Lachen verzerrte Vincent sich vollends. Der Teufel sei er in Person, blutdürstigste Bestie, die unter menschlichen Raubtieren herumlaufe: Gehöre erlegt, auf der Stelle hingemacht!

Diesmal warf Gauguin die Tür von außen zu, atmete, als er im strengen Duft der Lorbeerbäume des Aufgeregten Schweißgeruch vergessen durfte. Schon hatte er auf dem Weg zum Café den Victor-Hugo-Platz fast überquert, als er einen wohlbekannten, leichten, hastigen Schritt hinter sich hörte.

Er wandte sich im Augenblick um, als Vincent mit Sprung wie ein Affe, die offene Rasierklinge in der Faust, auf ihn zusauste. Doch wieder war seines Blicks Wucht so groß, daß der Angreifer in Gelenken knickte, wackelnden Kopfs mechanisch in Richtung nach Haus ablief.

Einen Augenblick stutzte Gauguin, ob er Vincent folgen, entwaffnen, beruhigen sollte. Doch halb brutaler Hochmut, mit dem Bauer nichts zu tun haben zu wollen, halb leiblicher Abscheu hielt ihn ab. Entschlossen ging er in das beste Arler Gasthaus, nahm ein Bett, sank hin, schlief trotz innerer Tumulte.

Van Gogh war stracks nach Haus gejagt und, um Gauguin, dem ewigen Arrangeur und Verklärer des Daseins ein einziges Mal ein saftiges Stück Schicksal, klotzige Wirklichkeit in die Arabesken seiner Träume, die er vermutlich wieder mit seiner Dulcinea im Freudenhaus träumte, zu schmettern, schnitt er sich glatt das Ohr am Kopf herunter, putzte es, bohrte den blutenden Schädel in eine baskische Mütze und marschierte schlapp doch aufrecht geradewegs ins Bordell, dessen Pförtner er die in ein Kuvert gefaltete Ohrmuschel mit dem Bemerken für Gauguin gab, er sollte von ihm grüßen, ihm das als Andenken an ihn geben.

Dann wankte er heim, brach, die Treppe hinauf, aufs Lager.

Zehn Minuten später war die ganze, den Freudenmädchen eingeräumte Straße auf den Beinen, besah das Ding, begestikulierte die Schauertat.

Als andern Morgens Gauguin um acht auf den Lamartineplatz vors Haus kam, war da Aufruhr und Gebrüll. Gendarmen hielten die Eingangstür zum Haus besetzt, während ein dicker, schwitzender Polizeikommissar in steifem Hut auf sie einsprach, fuchtelte und fluchte. Als Gauguin ins Haus wollte, stellte ihn der Kommissar in der Tür, schnauzte, daß der Schnurrbart flog: »Herr, was haben Sie aus Ihrem Freund gemacht?« Und als drohendes Murren durch die Menge schwoll, Gauguin banger Ahnung flüsterte: »Ich weiß nicht«, tobte der Beamte: »Das wissen Sie wohl!« Und mit Gebärde: »Er ist tot!«

Paul wankte. Rasender Schmerz, doch auch Wut über gehässige Blicke, die ihn von überallher zerrissen, packten ihn und mühsam stammelte er: »Gehen wir bitte hinein mein Herr und sprechen weiter.«

Der Kommissar nickte zum Zeichen des Einverständnisses, man stieg die Treppe zu Vincents Schlafraum, die von unten bis oben blutbesudelt war, hinauf. Da lag im Bett zusammengerollt, in Decken verknüllt scheinbar leblos van Gogh; Gauguin aber beugte sich tief zu ihm, griff mit hastigen Händen den Liegenden ab, dessen Wärme zuverlässig Leben bewies.

Da stand Pauls Vernunft aus Erstarrung auf, er flüsterte dem Kommissar zu: »Wollen Sie bitte diesen Menschen vorsichtig wecken – er schläft infolge des Blutverlusts in Erschöpfung fest – und ihm, fragt er nach mir, sagen, ich sei nach Paris abgereist. Einzig mein Anblick könnte ihm noch verhängnisvoll werden.«

Er grüßte, kehrte und floh unbeirrt erhobenen Haupts durch die murrende Menge vom Ort. Der Kommissar ließ schnell einen Wagen, Arzt holen, der Vincent ins Leben zurückrief. Mit ersten Worten verlangte er nach dem Freund, der Pfeife, bat, man sollte, wieviel Geld unten in der Kasse sei, nachsehen. Aus dem Fehlen einer größeren Summe wollte er Pauls gefürchtete Abreise feststellen. Doch da hatte ihm der Kommissar Gauguins Botschaft schon mitgeteilt.

Bei welcher Nachricht Vincent hochfuhr, gellen Schrei schrie, der die versammelte Menge verstörte, und in so tiefe Bewußtlosigkeit zurückbrach, daß man ihn unschwer ins Krankenhaus überführen konnte.

 


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