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Als man sich im Irrenhaus am Sonntag vor Aschermittwoch vom vorzüglichen Mittagstisch erhob, mit der Zigarre zu Karten- und Brettspiel zurückziehen wollte, wurde des Speisesaales Tür geöffnet, der Assistenzarzt ließ einen Herrn, der ängstlich blickte, eintreten.
Doch ging Heidenstam auf den Kömmling zu, stellte sich vor und sagte: »Hier sind Sie unter Gentlemen, werden sich auf Ehre Wohlbefinden. Darf ich um Ihren Namen bitten?«
Der andere verbeugte sich, rief laut genug, daß alle Anwesenden hörten: »Posinsky!« Womit man bekannt war, er zu einer Skatpartie geladen wurde, bei der er siebenhundertfünfundachtzig Punkte verlor.
Erst als man sich ermüdet zum Kaffee setzte, fragte Heidenstam Posinsky, ob er als Polizeigefangener zur Beobachtung seines Geisteszustandes eingeliefert sei, und als der errötend bejahte, sagte der Fragende: »Sie haben sich, scheint es, plastisch zu einer Überzeugung, die man unter den Vielzuvielen nicht dulden konnte, bekannt. Es war folgerichtig, Sie hierher in den Frieden zu bringen. Sehen Sie zu, daß Sie nicht wieder fortmüssen!«
Dann ließ man dem neuen Hausinsassen Zeit, sich an die Umgebung zu gewöhnen, achtete Scheu Einsamkeitswillen, Tränen, die sich nicht verbergen ließen, Zeichen tiefer Verwirrung, in der der Mensch, der zur hergebrachten Welt Fäden zerrissen, die zur neuen nicht geknüpft sieht, sich findet. Darüber hinaus war man peinlich korrekt. In des einzelnen Haltung lag das Bestreben, Posinsky zu zeigen, er sei an erstklassigem Aufenthaltsort, sollte Zutrauen fassen. Dabei fuhr man, sich mit Ausdruck als sich selbst zu geben, fort, daß der Neuling, anders als er selbst sei man mit der eigenen Narrheit von Herzen einverstanden, sähe.
Denn das sah man Posinsky an: er konnte sich zur Überzeugung nicht entschließen, verrückt im Sinn menschlicher Gesellschaft zu sein, mimte Geisteskrankheit, gesetzlicher Strafe zu entgehen; mimte sie, wie die Hausinsassen feststellten, schlecht. Über seine Schauspielerei hinaus aber hatte jedermann Vertrauen zu ihm. Er müßte sich nur seiner Natur überlassen, ein ebenbürtiger Irrer zu sein, mit ihnen allen des Behagens teilhaftig zu werden, das die Anstalt jedem zu sich selbst Entschlossenen vermittelte. Posinskys Ehrgeiz, vor den Ärzten immer noch zu tun, als sei er imstand, sich auf draußen geltende Ideen einzulassen, gefährde nicht nur seine Lage als Strafgefangener, insofern man ihn dem Richter als zurechnungsfähig zurückgeben werde, raube ihm vor allem die glücklich erlangte Aussicht, hier ein freies Leben auszutoben.
Als der Ankömmling nach Heidenstams Meinung schon schwere Fehler in diesem Sinn begangen hatte, hielt er es für seine Pflicht, sich mit ihm einzulassen, ihm seine fatale Lage gründlich vorzustellen.
Posinsky schien jede Annäherung abzulehnen. Doch erriet Heidenstam, der Furchtsame sei seiner als echten Kranken nicht sicher, halte ihn für einen Spion der Behörde, der ihn ausfragen verraten sollte. Er löffelte daher in Posinskys Beisein den Oberwärter, der höflich um etwas gebeten hatte, um die Ohren, schlug eines Fensters sämtliche Scheiben ein, daß Landschaft im Zimmer stand, und sah, nunmehr erkannte der Neue seines Zustandes Wahrhaftigkeit an.
Also wandte er sich an ihn:
Heidenstam:
Sie wissen, hier haben Sie von niemand Vernunft und üble Folgen aus ihr zu fürchten.
Posinsky:
Es scheint so.
Heidenstam:
Gestatten Sie, daß ich Ihnen als erste Überzeugung ausdrücke: Trotzdem halte ich Sie für vollendet irr. Während Sie vor Beobachtern noch den üblichen Geisteszustand simulieren, dissimulieren Sie sich und uns Ihre gerundete Narrheit.
Posinsky:
Herr!
Heidenstam:
Leugnen Sie, Sie haben über ein Ding ein persönliches Urteil, das Sie um keinen Preis aufgeben wollen?
Posinsky:
Das wirklich.
Heidenstam:
Glauben Sie, ich und die übrigen hier unterscheiden uns auf andere Weise vom Normalmenschen? Wir alle verteidigen mit dem Leben den einzigen Begriff, dessen Geltung aus unserer besonderen Notwendigkeit feststeht.
Posinsky:
Das wäre Vernunft.
Heidenstam:
Vernunft ist der Schluß, den alle Welt auf der Basis von Erfahrungen, die, von anderen gemacht, als richtig vorausgesetzt werden, tut. Mit größerem Selbstbewußtsein lassen wir toter und lebendiger Menschen Erfahrung einfach nicht gelten, haben zu hohen Freiheitsbegriff, Entschlüsse von überhaupt welchen Voraussetzungen abhängig zu machen.
Posinsky:
Konsequent zu sein, dürften dann auch Ihre eigenen früher gemachten Feststellungen in keinem Fall für neues Unternehmen gelten, da auch die Sie festlegen. Sie sagten aber, Sie alle verteidigen einen für Sie gültigen, also feststehenden Begriff.
Heidenstam:
Einen einzigen. Nämlich: im Handeln frei sein zu dürfen.
Posinsky:
Auch das ist nur fixe, Zwangsidee.
Heidenstam:
Ich behauptete nie, ich sei zu Unrecht hier. Nur sage ich: Bis auf die Zwangsidee, frei zu sein, bin ich von Ideenzwängen vollkommen frei. Menschen in der Freiheit aber haben ihre gesamte Unabhängigkeit durch Vorurteile gebunden. Freiheit ist bei ihnen die Handlung, die sie von aller Vergangenheit abhängig beginnen.
Posinsky:
Sie halten sich mit nur einem statt abertausend Zwängen für freier als den Durchschnitt?
Heidenstam:
Unbedingt. Sie aber scheinen mit anderthalb Füßen noch bei dem Glauben zu stehen, wie draußen müsse auch hier Ihr Tun sich in dem Sinn entwickeln, daß es die Ärzte nach Erfahrungsmerkmalen begreifen, Sie als einen logisch »verrückt« Handelnden der rächenden Nemesis entziehen können.
Posinsky:
Sie meinen also –?
Heidenstam:
Hier können Sie nach Belieben unlogisch irr sein. Begreifen Sie, das ist ja des Aufenthaltes blödsinnige Wonne, Mensch!
Posinsky:
Mensch!
Heidenstam:
Nur müssen Sie sich über anfängliche Gefahr mit Ausschweifung hinwegsetzen. Sobald die Behandelnden Ihre Verrücktheit außerhalb aller Erfahrung und Vernunft merken, werden sie Sie, weil Sie einen wissenschaftlich ausgemachten Irrsinn vermissen lassen, als ungebildeten Simulanten für gesund halten.
Posinsky:
Also sehen Sie selbst die Gefahr!
Heidenstam:
Doch stecken wir alle mehr oder minder in dem Dilemma. Denn natürlich sind wir durch die hilflosen Blicke unserer Helfer mitverwirrt, wollen wir nicht in ihr Klischee hinein, und sie versuchen, uns durch Zureden mit Zwangsmaßregeln zu den aus Lehrbüchern und Experimenten zu erwartenden Rasereien zu bringen.
Posinsky:
Aber?
Heidenstam:
Da müssen Sie trotz nicht zu leugnenden Risikos Ihrem wirklich gesunden Wahnsinn vertrauen, der im entscheidenden Moment von sich aus den grandiosen nicht vorauszuahnenden weil voraussetzungslosen Akt, der die Ärzte entwaffnet, begeht, haben sie ihn hinterher als neue Erfahrung erst eingesehen.
Posinsky:
Geschieht er aber nicht aus mir? Das Wagnis ist gewaltig.
Heidenstam:
Da sitzt der Haken! Sie erinnern sich, ich begann das Gespräch mit dem Ausdruck, ich hätte in der Hinsicht Vertrauen zu Ihnen. Doch nicht ich, Sie müssen es besitzen. Fragt sich, wie sehr Sie derartiges aus sich zu erwarten geneigt sind?
Posinsky:
Dabei kann ich mich nur auf Erfahrung stützen.
Heidenstam:
Nein. Weil Erfahrung, sogar die eigene, Ihnen größtes Zutrauen gäbe. Denn zweifellos sind Sie wie die meisten von uns hier, weil eine aus Ihrem bisherigen Leben nicht zu fürchtende Gewalttat Sie bloßstellte. Darf ich fragen, welche?
Posinsky:
Einen Menschen schoß ich nieder.
Heidenstam:
Also haben Sie sich hübschen Beweis Ihrer Tatfähigkeit erbracht. Und wollen sich für die Zukunft nicht auf sie stützen?
Posinsky:
Heidenstam:
Auf Ihre elementare Natur. Fühlen Sie sich im letzten mit ihr übereinstimmend?
Posinsky:
Glatt!
Heidenstam:
Ließ sie – aber auch nur sie – Sie je im Stich?
Posinsky:
Nie.
Heidenstam:
Sind Sie – alles im allem – froh, Posinsky zu sein?
Posinsky:
Und wie!
Heidenstam:
Dann sehe ich keine Bedenken. Die Ärzte haben System, Sie Natur. Da sie auch ferner ihr gemäß leben wollen – –
Posinsky:
Was heißt ihr gemäß? Abhängig von ihr.
Heidenstam:
Die doch Sie selbst ist! So lassen Sie sie machen. Handeln Sie ihr nur nicht zuwider, heben Sie sie durch eine Absicht aus dem Gelenk. Ich warne Sie!
Posinsky ließ ihn stehen. So weit war es noch nicht, daß jeder Philosophieprofessor wie ein Herr Heidenstam das Recht, ihm mit Scherzen über »Freiheit aus natürlicher Unfreiheit« Fallen zu stellen, hatte. Nachdem aber der Ärger über die Tatsache, ein Fremder habe sich denkend mit seiner privaten Welt gemessen, verraucht war, sagte sich Posinsky, man müßte ohne Voreingenommenheit, ob Heidenstams Bekenntnis dem seinen wirklich entfernt sei, zusehen. Der hatte nichts geäußert, was Ansichten zuwiderlief, deren strikter Durchsetzung er selbst den Aufenthalt in diesem Haus verdankte. Heidenstam, hatte er ihn recht verstanden, wollte, rückwärtiger Abhängigkeit von eigener Natur unbeschadet, frei nach vorwärts sein. Aber war er Posinsky, einen Menschen tötend, das nicht bis zum Exzeß gewesen, und verlangte seine Natur auch jetzt nicht die äußere freimütige Anerkenntnis von ihm, dieser Akt sei durchaus innerhalb des Rechtes auf sich selbst gewesen? War er, da er weder vor noch nach ihrer Ausführung gegen die Tat das geringste eingewandt hatte, ihr nicht innerlich zustimmend, trieb er keinen Keil in seine Person, heuchelte er, im Innern ohne Reue, das geringste Verständnis für sein »Verbrechen«. Es war Posinsky bis jetzt nicht wichtig gewesen, über den spontanen Akt vor sich selbst Klarheit zu haben, als den unfehlbar richtigen Weg, sich der Verantwortung zu entziehen, die ihm die Gesellschaft auferlegen wollte, zu gehen.
Nach Heidenstams Aufklärung begann ihm zu dämmern, mit halben Maßregeln, pfiffigen Ausflüchten sei nichts getan. Hier mußte zwingende Einheit sein, daß nicht plötzlich ein Abgrund klaffte. Der betretene kühne Weg war weiterzugehen: seiner Natur brutal Platz zu machen. Und das tat man nicht, sie verleugnend, doch sie schmetternd und fanfarend. Blut übergoß Posinsky, aus dem er seiner Wahrnehmung Richtigkeit vollends erkannte. Nun stellte er Heidenstam mit folgender Frage:
Posinsky:
Wie verdichten Sie mir Ihre neuliche Meinung, Professor?
Heidenstam:
Ich bin nicht Professor. Fiel Ihnen meiner Sätze Geradheit auf, sage ich Ihnen: Aus dem Ideenkram draußen gehoben, von vorgeschriebenen Denkzwängen befreit, blieb mir nichts übrig, als Wahrheit zu wissen. Doch freut mich, daß Sie »verdichten« sagen. Weil Sie erwarten, nicht mit Ursachen werde ich Sie überreden, doch mit Sensationen zwingen. Ich muß, freibleibend und Sie freilassend, keine Gründe anführen, doch während meiner Worte wird aus mir etwas, das Sie packt, geschehen.
Posinsky:
Es geschieht. Denn trotz der Worte wetterleuchten Sie mich an.
Heidenstam:
Wollen Sie, schweige ich, lasse nur sinnliche Atmosphäre wirken?
Posinsky:
Am besten.
Sie sahen sich an, wurden warm. Nach einer Weile folgerte Posinsky:
Posinsky:
Recht haben Sie! Auf nichts Gewesenes laß ich mich ein. Auf Zukünftiges, das ich erleben will.
Heidenstam:
»Denken« ist stets Vergangenheit.
Posinsky:
Sein halbes Dasein verbrachte man damit, war mit geistiger Feststellung des durch andere Genossenen zu Lebzeiten verwest.
Heidenstam:
Empfinden Sie sich! Ohne Vorurteil und Kritik mit Leidenschaft, was der erlebt, der »Mörder« ist. Führen Sie die Sache, die glatt aus Ihnen geschah, auch selbst zu Ende und erlauben Sie keinem Fremden, den Schluß nach obligatem Kodex zu gestalten, Ihnen den Mord zu verkorksen.
Posinsky:
Dem Chefarzt, mischt er sich in meine Angelegenheit, trete ich mit dem Stiefel ins Antlitz.
Heidenstam:
Sie sind auf dem Weg! Können ihn nicht mehr verlieren, sagen Sie sich: Sie stecken in einem Handel, der mit Sensationen geladen ist, auf Menschheitsvorposten. Kühner als einer, den ich zu sehen bekam, und ich schließe mich selbst ein, haben Sie auf sich zu den Schritt gewagt. Nun lassen Sie sich die einzige Gelegenheit, eigene Jungfräulichkeit zu schmecken, nicht nehmen!
Posinsky:
Darf ich fragen, aus welchem Anlaß Sie hierher zurückgezogen wurden?
Heidenstam:
Licht in verschiedene Dämmerecken zu bringen, hatte ich eine Million Dosen Streichhölzer gekauft. Die Sache ging gut, bis ich meiner Frau mit der Aufhellungslust zu nahkam, sie durchs offene Fenster ins Freie ging.
Posinsky:
Tot?
Heidenstam:
Sie erinnern mich, daß ich danach zu fragen vergaß. Übrigens tut es nichts zur Sache, denn abgesehen davon, daß sie Israelitin mit einem lutherischen Gatten war, gab es an ihr nichts Interessantes.
Posinsky:
Erlauben Sie! Was Sie sagen, ist zynisch. In einem Atem verraten Sie, das Malheur mit der Dame war mehr unglücklicher Zufall als Notwendigkeit, und hielten es, Erkundigung nach ihrem Befinden einzuziehen, nicht für angebracht!
Heidenstam:
Es unterblieb aus Zerstreutheit, nicht aus böser Absicht.
Posinsky:
Das geht zu weit! Als ich einen Menschen vom Erdboden tilgte, handelte es sich um: er oder ich. Für uns gemeinsam war kein Atem auf dieser Welt. Er schloß mich, ich ihn aus. Ich schoß aus Notwehr.
Heidenstam:
Immer noch stellen Sie, wenn auch von erhöhter Warte, Verbindung von Ihrer Tat zum Strafgesetzbuch her. Aus Notwehr in seinem Sinn wollen Sie gehandelt haben, aus Motiven, die logisch zu begründen sind, leuchten Sie auch vorläufig nur Ihnen ein.
Posinsky:
Heidenstam:
Freiheit! Notwendigkeit ist nicht unter allen Umständen Freiheit. Ist meist das Gegenteil. Und plötzlich brüllte er:
Herr, wählen Sie endlich! Wollen Sie aus logischer Notwendigkeit, das heißt so, daß Sie die Menschheit versteht, tätig gewesen sein, finde ich den Streich vorbedacht raffiniert. Oder haben Sie sich in der Instinkte Affekt, in Ihres Geschickes souveräner Selbstgestaltung ohne des Gehirnes Kontrolle entladen?
Posinsky sah ihn verblüfft an, faßte nicht, was jener meinte.
Heidenstam:
Verstehen Sie nicht, es gibt zwei Arten Notwendigkeit, und daß die eine Freiheit, die andere Sklaverei ist? Die eine stellt nicht Ihr natürliches Muß, doch eins aus Ideenrezepten der Menschen, mit denen Sie durch »Vernunft« als die Nabelschnur verknüpft sind, dar. Nur die andere, für die Sie kein Recht als das des »Zufalls« wollen, die Sie als Protest gegen Gemeinschaftsvernunft genießen müssen, ist wahre Freiheit.
Posinsky:
Doch meine eigene Vernunft, die sich den Teufel um die der anderen schiert?
Heidenstam:
Vernunft ist denkerischer Zusammenhang. Bindung zu aller Welt. Trotzdem Vergleich, Erfahrung. Die Ihre können Sie nicht ausnehmen, müssen sich, nehmen Sie an ihr teil, Entscheidungen, die sie aufstellt, unterwerfen. Dann sitzen Sie mit Ihrem Mord schön in der Tinte.
Posinsky:
Ich weiß nur, mir war der Mensch gegen Natur.
Heidenstam:
Posinsky:
Jeder Zellkern entsetzte sich.
Heidenstam:
Vor seiner Leiblichkeit?
Posinsky:
Vor dem, was er vorstellte, dachte. Heidenstam hatte die düsterste Miene angenommen. Jetzt faßte er Posinsky am Arm, führte ihn abseits in eine Ecke.
Heidenstam:
Sprechen Sie so, gestehen Sie immer deutlicher ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Ich hielt Ihren Fall für zu schlicht, Sie zu früh aus Gesellschaftsformen »verrückt«.
Wer, bitte, stellte, was Ihr Gegner dachte, in Ihnen fest? Was entsetzte sich? Vernunft! Denn durch nichts sonst hatten Sie über ihn ein Urteil. Wir machten aber klar, Vernunft ist im Menschen das uneigene Teil, das Band, mit dem ihn Gesellschaft an sich fesselt. Das soziale Organ ist sie, Reaktion, der durch Dressur in ihm festgemachte Kanon. Was aber kann Kommunismus in Ihnen am andern verabscheuen?
Ohne Antwort auf die Frage zu geben, setzte er bekümmert hinzu:
Armer Freund. Jetzt weiß ich, Sie räumten einen Menschen fort, weil Ihnen das Eigene in ihm, sein Allerursprünglichstes mißfiel. Sie taten nichts, als was von den Ärzten klipp und klar zu fassen, aus Ihrer freien Willensbestimmung zu folgern ist. In Ihrem Gutachten werden die Brüder den Fall mit Begeisterung ausweiden, Gescheitheit bis zu messerscharfer Lösung in dem Sinn leuchten lassen: Sie sind schuldig, dreimal schuldig. Das scheint mir nicht mehr anders möglich.
Posinsky:
Ich bleibe kalt unter Ihrer Worte Wasserfall. Beweis, Sie greifen in der Geschichte nicht durch.
Heidenstam:
Man wird Ihrer Moritat armselig denkerische Mechanik als Garnknäuel aufrollen. Nicht der feinste Knoten eines Ego wird darinsein.
Posinsky:
Eisig lassen Sie mich.
Heidenstam:
Aus Kritik mordeten Sie, aus Komment im Kommersbuch: vive la companeia! Nicht Posinsky, Herr Posinsky schlug im Hinblick auf allgemeine Wohlfahrt tot. Und das höchste, was Sie von der Gesellschaft hoffen dürfen, sind mildernde Umstände, weil Sie sich nicht auf eigenem, auf Verbandsvorposten geschlagen haben.
Hier brauste Posinsky auf. Denn aufrecht hielt ihn in der Gefühle Kataklisma die Voraussetzung, im Streit gegen die Phalanx aufgedonnerter Ideal-Ichs sei er seiner höchsteigenen Leiblichkeit Anwalt gewesen. Da er aber im Augenblick zu Heidenstams Aufklärung nichts hervorbringen konnte, nahm er einen Stuhl, machte einen Ausfall gegen den Gegner, dem der durch Satz über den Tisch entkam. Dann wies er dem Fliehenden die Zunge bis an die Wurzel, fuchtelte mit Fäusten, turnte in sein Zimmer, wo sich er die Bettdecke ums Gesicht wickelte.
Doch blieb er in heftigem innerem Aufruhr. Es hedderten die Seile, die der Empfindungen Eimer aus der Brust holten. Von neuem suchte er die Tat nicht aus dem Gedächtnis, das er als voreingenommene Erfahrung entlarvt wußte, durch frisches Gefühl in sich wieder lebendig zu machen, auf daß er Heidenstams Behauptung entgegen Ursprünglichkeit im Akt begriffe. Und siehe: wieder empfand er in allen Nerven des Totschlages Rausch, wie er aus der Moleküle herrischer Eigenbehauptung zu scharfem Knall wuchs, der erneut so süße Lust in ihm entspannte, daß Orgasmus kam.
Nein – blank und unbefleckt blieb die Tat. Vielmehr stand in Heidenstams Betrachtungsweise die Weiche falsch gestellt. Ihm mußten nicht Worte, doch das Gefühl vom Vorgang eingebläut werden. Wie er es den Ärzten gegenüber von Posinsky verlangt hatte.
Das also erfüllte den nicht mehr als mühsamer Wille doch organischer Genuß: er war dem Nachdenken über seine Lage entzogen. Hörte er vor der Tür die Ärzte oder Wächter, klopfte sein Herz nicht mehr. Keine Erinnerung Tatbestände Absichten riß er ins Gehirn, doch blieb gelassen bei sich selbst, kostete aus der anderen Witterung kräftiger die eigene Person, gewiß, sie rettete ihn durch ihre naive Durchschlagskraft in jedem Augenblick aus Gefahr.
Ihre Fragen an ihn waren Luft, die er nicht schmeckte. Kamen sie mit Hypothesen Deduktionen Beweisen, analysierten sie, machten Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik, induzierten katalogisierten, bauten über disjunktivem Schluß Synthese, sah er Prärie durch sie hindurch, einen Glühofen und hatte von Weite und Wärme den Reiz.
Flatterten des Chefarztes Hände vor seinen Pupillen, gab er leichtem Brechverlangen nach und rülpste vernehmlich; bis man ihn kopfschüttelnd stehen ließ, er seiner Eingeweide Trommelfeuer herausknallte, unbändig aus wonniger Frische lachte.
Wegen des zu erwartenden Gutachtens machte er sich keine Sorge. Wichtig war nur noch, vom Mord durch innere tiefere Suggestion Erregung wie von einem Narkotikum, dessen Dosen er sinngemäß stufte, zu haben.
Doch störte ihn in der neuen kräftigen Behauptung seiner selbst Heidenstams Gestelz. Er verhehlte sich nicht, der Mann war der mächtigste Typ, der ihm begegnet war, empfand den Rentner noch immer an Glücksmöglichkeit überlegen. Als Staatsanwalt und Arzt schon Schatten waren, sah er neben dem eigenen Leib Heidenstams Körper plastisch ins All gewölbt. Dabei war der im Essen und Trinken mäßig, wie Posinsky, schlang er selbst die besten Bissen, feststellte.
Des eigenen Ichs bessere Ausbalancierung neidete er Heidenstam, größere Regungslosigkeit, in der der lebte. Gab er ihm in bezug auf die wegen seiner Tat geäußerten Bedenken unrecht, spürte er, in diesem Mann sei Weisheit, die höchste ihm auf Erden offenbarte, und er brauche ihn wie Speise und Trank. Darum kreuzte er ihn, bis Heidenstam fragte:
Nun?
Posinsky:
Falsch!
Heidenstam:
Kopf ab!
Posinsky:
Nie.
Heidenstam:
Kommunard!
Posinsky:
Egotist vielmehr.
Heidenstam:
Daß ich nicht lache!
Posinsky:
Ernstlich bin ich Vollblüter, kann Sie davon überzeugen. Sie haben noch nicht rechten Anschluß an mich. Hinzuzusetzen ist dem Mitgeteilten: Was der Erschossene zum Ausdruck brachte, war eben die famose Verzichtsidee, das Gesellschaffsressentiment, der Ich-Bankerott. Allerdings stellte ich dies sein Verbrechen hinterher mit dem Urteil fest, nachdem mir sein Abscheiden aber längst leibliches Bedürfnis gewesen war.
Heidenstam:
War er Mönch Pfarrer? Hatte ein Lehramt?
Posinsky:
Schauspieler.
Heidenstam:
Töteten Sie ihn im Beruf?
Posinsky:
Außerhalb desselben. Als er an der Vielgeliebten Totenbett mit bengalischer Beleuchtung seelisches Harakiri machte.
Heidenstam:
Als Prediger im Beruf hätte die Litanei eine Walze sein können, die er aus Korruption und Familienrücksichten für Bezahlung lallte. Es scheint aber, er hatte aus ureigener Notdurft das verzichtende Teil erwählt. Nehme ich Ihr persönliches Bedürfnis nach des Mannes Tod auch als primär, Ihre Gesellschaftskritik an ihm als hinzugekommen, bleibt die Rechnung: Sie vernichteten eine wie Sie zu sich selbst entschlossene Natur. Oder erklären Sie ihn noch schnell für das Gegenteil einer solchen?
Posinsky:
Ich leugne nicht, er schien von sich besessen.
Die Auflösung heißt aber: Im Konflikt zweier leidenschaftlich auf sich beharrender Naturen muß die schwächere weichen. Die war durch schlechtere Ernährung glücklicherweise er.
Heidenstam:
Im Konflikt, sagen Sie? Wo soll der bei Wesen, die das Gleiche, sich selbst anstreben, herkommen? Ich zweifle mehr. Sondern nachdem die animalische Abneigung gegen jenen feststand, haben Sie sie durch Urteil über ihn vergrößert, logisch überspitzt. Eines mit den anderen mischen Sie; denn Sie behaupten nicht, im Tatmoment war in Ihnen kein Atom intellektueller Verdruß über des Mannes geistige Haltung?
Posinsky:
– – – – – –
Heidenstam:
Merken Sie, wir haben den Punkt.
Bleibt die Möglichkeit, auch Ihr erster spontaner Abscheu hätte sich zu Mordes Muß verstärkt. Obwohl das unwahrscheinlich ist, da körperliches Mißhagen meist durch Wind Sonne ein Nichts verscheucht wird.
Jedenfalls ist die Tat auf physischunbezähmbaren Widerwillen und daraus folgende leibliche Notwehr, die Ihr geistiges Mittun ausschloß, nicht mehr zu stützen, aber wie jeder Durchschnittstäter ließen Sie sich aus sozialem Anlaß hinreißen. Wie der Normale handelten auch Sie aus geistigem Akt, aus Kritik – mit des Ideal-Ichs »besserem Wissen«.
Darauf antworten Sie nicht, und ich begreife den Zusammenbruch. Mörder sind Sie an der Kraft, die Sie, in außergewöhnlichem Maß selbst zu besitzen, behaupten.
Ich will für Ihr Wohlbefinden annehmen, physische Reaktion gegen den Betroffenen sei in Ihnen so stark gewesen, daß sie auch ohne das Hinzukommen nachgewiesener Gesellschaftszwänge zur Katastrophe hätte führen müssen – mehr kann ich für Sie nicht tun. Ein Erdenrest zu lösen, bleibt peinlich. Auch Sie sind, freier Mensch, von Ruten sozialer Instinkte gelähmt worden.
Posinsky:
Und Ihre Frau, die sich totsprang?
Heidenstam:
Die ist aufs Exempel Probe. Durchs Zimmer kam ich für mich hin, führte nichts gegen die Arme im Schild. Wie das All war sie mir plausibel. Ohne Absicht elementete ich: Hochspannung Heidenstam! In ihr aber, sie stand in Hemd und Hose, löste sich eine Ekstase Eigenmut, auch sie wollte sich in höchster Potenz bekennen, ging gestreckten Weg durchs Fenster. Steigerung von sich selbst, an der sie zerschellte, nahm sie aus mir, selbstisch selige Himmelfahrt. Während Sie Ihren Mann ins Jenseits hineinstießen.
Posinsky, mit der Wahrnehmung, in seiner für ihn schon glatten Tat klaffte noch etwas, stand so verwirrt, daß er zu fragen vergaß, ob der Forteilende ihm nur fahrlässigen Irrtum oder im Charakter verwurzeltes Unrecht vorwarf, Intoleranz, die als ein Moralisches Rücksicht auf den Nächsten nimmt, persönliche Freiheit ausschließt.
Er wollte ihm nach, ihn mit Gewalt zu letzter Aufklärung zwingen. Da aber trieb es ihn, sich stärker am eigenen Leib die Bestürzung, die ihn nach völliger Klarheit wegen der Tat wieder besaß, zu begreifen, besser als aus Heidenstams klügsten Worten sich aus sich selbst erst neu zu finden.
Furchtlos ging er den nächsten Weg. Nahm logische Inkonsequenz an, die er durch Aufhellung vor Abgang aus dieser Welt zurechtbiegen müßte, stellte sich vor, wie er den Ärzten die ihm wirksamen Motive bis zu jenem plötzlichen Fehlschluß, der das Unglück angerichtet hatte, erklärte. Hörte in der Einbildung der Zuhörenden kluge Einwürfe, wie sie das Fehlende hinzubesserten, fühlte, wie in ihrem Kreis jene Wollust zündete, die, wo unter denkenden Männern sich Geistiges rundet, anhebt und, knackt der letzte Zapfen ins Gelenk. Überrascht sah er, wie sie Tränen im Auge hatten, ihm Hände drückten, exakte Wissenschaft ihn für einen Denkfehler, der auch dem Gescheitesten unterlaufen konnte, gütig entschuldigte. Jedenfalls sei seines Mordes geistige Aufmachung außerordentlich gewesen, bedeutend, was er durchgemacht habe, psychologisch die Angelegenheit erstklassig und werde als schmückendes Paradigma in Lehrbüchern stehen.
So genoß er statt gefürchteter Qualen, Wonnen, die aus dem höheren, wenn auch verpatzten Plan der Täter fortnimmt, fand sich, tappend fortdenkend, sogar mit seiner Hinrichtung ab, dachte er Staatsanwalt Pastor Henker unter dem schmelzenden Eindruck seiner, des Delinquenten, Bedeutung.
Als er Mut gefaßt hatte, stieß er ins Moralische vor. Bildete sich ein, er habe in Verblendung schlecht gehandelt, besitze ein Gewissen und müßte, wie es dem Durchschnittlichen geht, der um Unrecht Reue spürt, sie durchempfinden.
Die nahm in eingebildeten Gesprächen mit den Ärzten dem Seelsorger phantastische Formen an. Er sah sich in einer historisch beispiellosen Zerknirschung, Blut in Tränen, Tränen in Blut gewandelt. In einem Taumel des Bedauerns schlug er auf des Sitzungssaales Steinboden die Stirn wund, bellte so ekstatisch Besserung, daß der oberste Richter seinen Stuhl verließ, zu ihm kniete, bei ihm weinte, ihm Tränen trocknete. Bei seiner Enthauptung aber brach vieltausendköpfige Menge in solches Jammern, gemeinsamen nervenpeitschenden Schrei aus, wozu am Himmel abgestimmt der Donner rollte, daß diese Sensation jede andere verdrängte, er vom Fall seines Kopfes wenig merkte.
Hatte er so nach der logischen und ethischen Seite für den Fall, er sei bei der Tat im Irrtum oder Unrecht gewesen, das Gleichgewicht in sich wiederhergestellt, reizte es ihn, zu seines Wohlbehagens Vervollständigung auch das artistische Entzücken, das sich für »einen Schuldigen« aus dem Handel gewinnen ließ, zu genießen.
Mit des Verbrechens Ursachen konnte er da freier walten. Ob aus Vernunftsfehlern oder Bosheit schuldig, mußte auf der Leinwand der bedeutende Mann vor einem Hintergrund bürgerlicher Verwirrung beim ersten und letzten Blick durch malerischen Einfall plastisch zwingend, farbig unvergeßlich wirken.
Hier war Posinsky in seinem Element. Alle bildliche Darstellung großer menschlicher Scheusäligkeiten fiel ihm ein. Kolorierte Kerker mit des Lichtes kalkigen Reizen auf der Gefangenen Antlitzen, Schafotte Scheiterhaufen sah er wundervoll arrangiert, all jene Palettenräusche in öl und Tempera, in die das Böse in der Malerei immer gemündet hatte.
Er empfand, sah er sein eigenes Blut als Mennig und Zinnober unter des Scharfrichters Beil in eine Pfütze von Ultramarin und Kobaltblau spritzen, so spezifisch rote Wonnen, daß er entschied, sei eine Schuld nicht abzuwälzen, er die Sache vorzugsweise ästhetisch nehmen mußte, letzter Atemzug, mit Emphase so empfunden, Wonnen in ihm aufzucken lassen müßte, für die es, entzöge er sich der Gerechtigkeit, nie und nirgends Ersatz gäbe.
Was zur Gewißheit wurde, sagte er sich, Glück aus ästhetischen Quellen würde ohne solches aus ethischen und logischen nicht auftreten können; aber alle drei würden getrennt und im Chor in ihm ihr versöhnendes Orchester spielen.
In fieberheißen Nächten kam Posinsky zu dem, was erst nur Einfall schien, Erleuchtung. Er begriff, wohin die Menschheit in Jahrtausenden aus dreifach psychologischer Wahrnehmung ihren Bewußtseinsinhalt gesteigert hatte: zu dreimaliger Apotheose. Zu einem Tusch, den Vernunft Gewissen Schönheitsempfinden zu allem Gelebten bläst. Das System war Rückversicherung gegen die dem Menschen innewohnende Ahnungslosigkeit, um was es sich bei seiner Schöpfung eigentlich handelte.
Aus einer causa efficiens war über alles Nurzumenschliche die himmlische causa finalis gemacht, wodurch man, da jede Katastrophe zu vergolden war, an einem Geländer ging. Während der Weg, den, von eigenen Instinkten geführt, Heidenstam machte, halsbrecherische kahle unbeblumte Promenade war.
Recht hatte Heidenstam, und unbestritten blieb sein Scharfblick: So kategorisch hatte Posinsky Treue zu sich selbst, Abkehr von andern nie gemeint. Gewiß hätte seine Natur das Allgemeinmenschliche als tägliches Hauptgericht abgelehnt, es als Zukost aber gelten lassen, sei er erst richtig satt, seiner Blutarmut ledig gewesen.
Zu radikale Deutung hatte Heidenstam von Anfang an seinem Selbstbehauptungswillen gegeben, Fügung war es, die ihm erhöhten Rundblick über sich zur rechten Zeit noch gewährt hatte.
Je mehr er sich in seines Leidensweges Wonnen vertiefte, je festere Form die zu erwartende Passion annahm, um so mehr faßte ihn Furcht, er möchte von Heidenstam noch vor seines Geschickes Entscheidung zu dessen Ideen zurückverführt werden; statt eines mit Hilfe wissenschaftlicher und geistlicher Behörden ihm garantierten gloriosen Todes ihn ein elendes, wenn auch individuelles Abscheiden im Irrenhaus erwarten.
Als er mit Rührungstränen über seine Einkehr eines Morgens erwachte, sprang er aus dem Bett in des wachthabendes Arztes Zimmer hinüber, rief mit Stentorstimme, augenblicklich sollte man ihn aus der Anstalt zur Verfügung der Staatsanwaltschaft entlassen. Er habe bei vollem Verstand, mit Überlegung gehandelt, erinnere sich freien Bewußtseins jeder Einzelheit, empfinde, wie es sich gehöre, Reue. Man möge ihm das Recht auf gebührende, durch Gesetze verbürgte Strafe nicht länger vorenthalten. Sofort verlange er den Kerker. In dem spielten sich ohnehin seine inneren Sensationen ab, und er hatte es, ihn sich durch unnötig verausgabte Energien erst immer einbilden zu müssen, satt. Als man seinen Wunsch nicht erfüllte, des Chefarzts Abwesenheit, ohne den man nicht handeln dürfte, vorschützte, bekam Posinsky seinen ersten vorschriftsmäßigen Wutanfall mit Krämpfen und Schaum am Mund, der durch mehrstündiges Bad beruhigt wurde. Im Badesaal war es, daß Heidenstam in die benachbarte Wanne stieg, und nackter, parallel ausgestreckter Körper verharrten sie lautlos beieinander, während auf Wannenrändern plaudernd die Wärter saßen. Plötzlich begann Heidenstam zu singen:
»Du kennst mein Herz noch lange nicht, noch lange nicht, noch lange nicht!«
und fuhr ein Weilchen fort, ohne daß der das Haupt auf den Wasserspiegel senkende Posinsky von Lied und Sänger Notiz genommen hätte. Endlich aber grölte der Wannennachbar so sonorer Stimme, daß Posinsky sich »die Albernheit« verbat.
Heidenstam:
Das Lied ist keine Anspielung auf Sie.
Posinsky:
Soll heißen: Ist Anspielung auf mich. Aber ich kenne mein Herz und bitte dringend, von Ihnen in Ruhe gelassen zu werden. Sie werden mich nicht mehr lange belästigen.
Heidenstam:
Wann treten Sie zum Galafackeltanz mit dem Chopinschen Trauermarsch: »Ach, gibt's denn keinen Rotspon mehr« an?
Statt aller Antwort kippte Posinsky eine mächtige Welle Wasser in des Gegners Wanne, wonach die Wärter zur Ruhe mahnten.
Heidenstam:
Damit Sie im Bild sind: Meine Frau, deren kürzlichen Tod ich gestern erfuhr, ließ mich grüßen. Sie habe – natürlich – keinen Groll gegen mich.
Posinsky:
Kellner zahlen!
Heidenstam:
Ihre Zeche wird teuer. Außer, Sie drücken sich wie ein rechter Zechpreller um die Bezahlung. Es scheint, Sie sind endgültig dazu entschlossen.
Posinsky:
Sie vergessen, wir sind nicht allein.
Heidenstam:
Die Wärter? Sie sehen doch, wie die armen Teufel, die der Ärzte Kauderwelsch für Weisheit halten, unseren Wahnsinn begrinsen.
Posinsky:
Drei Wannen von uns sitzt Herr Konrad.
Heidenstam:
Herr Konrad, der die Haare auf seinem Bauch immer von neuem zählt, ist ein Geisteskranker, mit dem wir beiden so wenig wie mit den »zurechnungsfähigen« Wärtern zu tun haben.
Posinsky:
Ich bitte Sie ein für allemal, mich nicht der Kategorie, der Sie angehören, beizuzählen.
Heidenstam:
Das mache ich, wie es mir paßt.
Posinsky:
Und ich bestreite Ihnen das Recht.
Heidenstam:
Das tun Sie, weil Sie in augenblicklicher Panik Anschluß an sich verloren haben.
Posinsky:
Kein Anschluß. Schluß!
Heidenstam:
Leben ist Anschluß zur eigenen Natur. Dann heiße ich's Freiheit. Sonst Auflösung Sklaverei.
Posinsky:
Schluß! Schluß!
Heidenstam:
Schluß!
Die Wärter:
Schluß meine Herren!
Und man sprach nicht mehr, plätscherte und machte Wasserblasen.
Als Posinsky abends im Bett lag, trat mit dem Assistenten der Chefarzt zu ihm, fragte, ob er alle Ansichten vergangener Wochen wirklich geändert habe, entschlossen zur Sache stehe. Posinsky ließ seine erste, tagelang vorbereitete Rede vom Stapel, in der jeder Absatz jede Atempause gefeilt war. Zu leichtem Schweiß, der ihn von faulen Säften freibrühte, erhitzte er sich. Schon spürte er Geschmack von Honig auf den Lippen und hatte doch erst logisch die Sache behandelt, von Gewissen und Reue war noch kein Wort gesprochen. Doch schon standen die Hörer bis in Knochen erschüttert, frohlockten, wie unter Männern das Verschmitzteste sich stets zum Ganzen rundet. Im Grund war man, das donnernde Hoch auf ein Beliebiges auszubringen, bereit.
Als alles gesagt, Tat wie Billardkugel glatt gewichst war, verließ man ihn. Er aber blieb und hatte so delikaten Atem, wie er stärker als aus Natur aus Constables Landschaften bläst.
So war doch die Stimmung gewesen, daß man, hätten die Gepackten nicht an sich gehalten, ihn umarmt und beglückwünscht hätte. Hatte nicht Doktor Spindler gesagt, für seine Posinskys, Geisteshaltung ergäbe sich, was allem großen Denkakt zugrunde läge: ein liebesbestimmter Aktus der Teilnahme des Kerns einer endlichen Menschenperson am Wesenhaften aller möglichen Dinge. Was ausdrücken sollte: aus Menschenliebe war er zu seiner Tat gedrängt worden? Das war die gleiche Sache anständiger als Heidenstams zynisches: von Ruten der Gesellschaftsmoral geleimt, ausgedrückt.
Überhaupt Heidenstam!
Statt allen Gebetes formte er gegen den mit vier einsilbigen Worten beim Einschlafen glatte Abwehr.
Er wußte nicht, war es Traum, war es Wirklichkeit, das Wort »Anschluß« hatte er gehört. Schärfer paßte er auf, und nun klang es mit Heidenstams Stimme:
Rückwärts zu sich hin ist des Anschlusses Bewegungsrichtung!
Hoch fuhr Posinsky im Dunkel, sah Heidenstam an seines Bettes Kante im Hemd auf Knien. In Blicken hatte er freundlichen Glanz, der Posinskys Erbitterung dämpfte.
Heidenstam:
Über die Stille der Nacht gibt mir etwas Gewißheit: wie ich sind Sie höchste Vereinzelung, und ich darf Sie in augenblicklicher Verblödung nicht allein lassen.
Als Posinsky ihm zuleib wollte, nahm Heidenstam seine Hände, streichelte sie, sah ihn zärtlich an. Dann sprach er flüsternder Stimme, und solche Liebkosung war in ihr, daß Posinsky in berauschte Schwachheit sank, wehrlos Worten, die folgten, lauschte:
Heidenstam:
Wie die anderen bist du Schauspieler, Bruder, kommst nicht mehr von der Szene und aus den Kulissen, kannst dich ohne zuschauende Menge nicht denken. Doch hast du in erhabenem Moment dich ein einziges Mal vom Publikum, der Rolle fort zu dir selbst bekannt, und dieser Aufschrei der Person zerreißt mit seinen Klangwellen noch jetzt das Weltall laut genug, mich nächtens an dein Bett zu locken. Wo Anschluß in der Welt geschah, mußte ich folgen. Wo ich ein Gesetz sah, das keines sein wollte, gehorchte ich.
Warum folgst du dir nicht weiter, Bruder? Sei, wie ich sagte, eine Reihe von Verwirrungen deine Tat. Einmal aber vorher war dein Selbst stärker in dir als in Abermillionen, und unter Asche schwelt auch jetzt noch deines Lämpchens Öl.
Nicht dich liebe ich. Sehr liebe ich mich selbst. Doch liebe ich, daß du dich liebst und begreife, deine Eigenliebe will der Zuschauer Beifall im letzten Akt. Und gebe zu, keinen besseren Abgang kannst du vom Publikum als den, den du vorbereitest, haben.
Doch reizt dich nicht Selteneres, wo du, höheren Genuß zu bewältigen, begabt bist: aus allen Kulissen, von Orchester Souffleur, vom Händeklatschen fort in dich hinein – zu dir zurückzutreten, daß, fällt sterbend dein Fleisch auf dein Bein, das Ganze auf dein eigenes Atom, du unverloren bei dir selbst bist.
Daß, bleibst du nach des Vorhanges Fall dein einziger Zuschauer, du immer noch Lebendigem, keinem Entseelten zusiehst. Faßt du dieses letzten entscheidenden Applauses Brüllwonne nicht?
Posinsky:
Mit den Worten: »nach Vorhanges Fall« weisen Sie auf Metaphysisches, das ich ablehne.
Heidenstam:
Ganz im Diesseits liegt der Augenblick. Jener wäre es, wenn sich der Menge Staunen an Ihrer Haltung genugtat, von Ihnen fort auf des Henkers Beil und dessen forschen Zuschwung sieht. Wo Sie mit sich selbst allein sind.
Posinsky:
Er dauerte verhältnismäßig nicht.
Heidenstam:
Er steht am Ende, bleibt frischeste Wahrnehmung.
Posinsky:
Abschluß also.
Heidenstam:
Und an den ersten Atem Anschluß.
Hier flog das Blut in Posinsky hoch, purpurte sein Haupt.
Posinsky:
Wie bei der Geburt wäre ich wieder –?
Heidenstam:
Unerschöpft frisch.
Posinsky:
Saftiger, fetter –
Heidenstam:
Auf dich selbst gepfropft; bliebest, von Vaters und Mutters Schlacke gereinigt, für neue Schöpfung brauchbar.
Rein künstlerischen Grund hatte die Abirrung von diesem Weg in dir. So lange narrte dich Ästhetik –
Posinsky:
So lange hatte mir der Kerl Theater vorgemacht, daß ich nach der Technik des Dramas Peripetie und Knalleffekt für den letzten Aktschluß haben mußte.
So ist es, Bruder! Also trägt der andere dreiviertel Schuld; mir wäre nur kurze Benommenheit meiner selbst anzukreiden.
Heidenstam:
Die dich nach dem Gesetz entlastet. Du lehnst also Strafe ab?
Posinsky:
Mit Entschiedenheit! Sehen sollst du, wie ich jetzt die Welt zu meiner Überzeugung zwinge.
Heidenstam:
Ungern wird man dich freigeben. Bürgerlicher Rührung Stürme sind durch dich so hoch in ihnen gestaut, daß sie Entladung wollen. Mit Toast und Prost auf dich ist ein Gremium schwanger, und eines Falles »Erledigung« schmeckt als süßen Punsch schon jeder Gaumen.
Statt aller Antwort hub mit Schrei und Jauchzen solchen Freudentanz Posinsky durchs Zimmer über alle Möbel, in den Flur, die Beiräume an, daß sich ins Bett fluchtähnlich Heidenstam zurückzog, ehe das alarmierte Personal auf den nächtlichen Unruhestifter zuflog. Doch zeigten die Ärzte keine besondere Enttäuschung, als man ihnen Posinskys Streich berichtete, sie ihn aufsuchten. Auf seine Umkehr hatten sie nicht fest gebaut, begriffen seinen geänderten feindlichen Sinn. Deuteten an, es würde sie nicht verblüffen, ihn morgen wieder schuldig voller Reue zu finden. Im übrigen sollte er sich über sich selbst »keine Sorge machen«, »alles werde gut werden«, er müßte das Essen sich schmecken lassen. So daß Heidenstam, als ihm Posinsky die Auseinandersetzung erzählte, Gefahr sei vorbei, sein Kamerad endgültig auch von der Wissenschaft als Narr entlarvt, schloß.
Der Chefarzt, im Gefühl, der außerordentlichen Kreatur müßte man Besonderes bieten, las am zweiundvierzigsten Tag des Anstaltsaufenthaltes Posinsky das an die Staatsanwaltschaft beförderte Gutachten über ihn vor:
Der Zustand des zur Beobachtung seines Geistesvermögens seit dem 25. Februar hier untergebrachten Bruno Posinsky entzieht sich nach zweimonatlicher Pflege unserer exakten Entscheidung. Ob der Mann geistesgesund oder geisteskrank im gebräuchlichen Sinn ist, können wir mit wissenschaftlich bekannten Methoden nicht feststellen. Doch besteht Gewißheit, er ist der im allgemeinen unter Menschen geübten Geisteshaltung so weit entfernt, daß sein Verweilen in deren Gemeinschaft ohne Gefahr für diese ausgeschlossen scheint. Im Tataugenblick war er wie in allen hier beobachteten Affektzuständen seiner freien, das heißt von einem Gemeinschaftsgewissen kontrollierten Willensbestimmung beraubt, was zur Anwendung des § 51 des Reichsstrafgesetzbuches auf ihn in vollem Umfang Anlaß giebt.