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»Ich sage dir, daß ich fest entschlossen bin, das arme Mädchen nicht unnötig zu quälen,« entgegnete Professor Heiding. »Ich habe alles erwogen und bin gewiß, das Rechte zu tun – es ist einer von den schweren Fällen, die zum Glück nur selten vorkommen, wo wir so gut wie machtlos sind. Vielleicht wäre es das beste, du erspartest dir den traurigen Anblick und Eindruck – da ich deiner Hilfe nicht bedarf, möchte ich dir keinen Teil an meiner Trauer aufladen. Denn das Geschick der schönen und guten jungen Dame erfüllt mich wirklich mit Schmerz, Erwin!«
»Sie haben mir ehedem selbst gesagt, mein teurer Lehrer, daß der Arzt noch immer etwas versuchen darf, versuchen muß, die geheime Heilkraft der Natur zu wecken, deren Grenzen wir nicht kennen,« wendete der junge Arzt ruhig ein. Es gelang ihm offenbar nicht völlig, die Befremdung zu verbergen, die ihn mit jedem Augenblick stärker überkommen hatte. Im Wesen des Professors empfand Erwin eine Mischung von Reizbarkeit und Niedergeschlagenheit, von Weichheit und Eigensinn, die er niemals an ihm wahrgenommen hatte und die ihn selbst jetzt beinahe bedauern ließ, hierhergekommen zu sein. Doch schuldete er dem väterlichen Freunde zu viel und hielt ihn zu hoch, um irgendwelchen Unmut zu verraten, und fuhr ruhiger fort: »Ich glaube nicht, daß ein Arzt schmerzlichen Eindrücken ausweichen darf, wenn er die geringste Hoffnung hat, anderer Schmerzen zu lindern. Lassen Sie mich immerhin meinen Teil tragen, liebster Professor, ich bin nun einmal hier, und wenn ich nach allem, was Sie sagen, schon fürchten muß, daß ich Ihnen nicht viel nützen kann, so möchte ich nicht ganz umsonst gekommen sein. Sie wissen, der bloße Hinzutritt eines neuen Arztes wirkt auf die Kranken belebend, hoffnungerweckend, und warum wollen Sie im schlimmsten Falle der Todkranken diese lichteren Minuten nicht gönnen?«
In Erwin Buchhoffs Stimme war der herzliche Klang, dem Professor Heiding schon vor einem Jahrzehnt und noch früher nur schwer widerstanden hatte, selbst wenn der knabenhafte Pate etwas Törichtes oder Überflüssiges erbat. Auch jetzt nickte er und erwiderte lächelnd und sogar mit einer Art Haft:
»Du kannst recht haben, mein Junge; es tut dem armen Prinzeßchen vielleicht gut, ein frisches und kluges Gesicht wie das deinige zu sehen. An der Sache wirst du nichts ändern können und mir recht geben müssen – aber da sie hier einmal wissen, daß du eintreffen solltest, wirkt es wahrscheinlich günstig, wenn sie dich sieht. Komm, laß uns nach deinem Zimmer gehen, du wirst dich ein wenig zurechtmachen müssen, wir sind hier so ungefähr bei Hofe.«
»Aber lieber Professor, mehr als ein frisches Oberhemd und ein Paar Bürstenstriche habe ich nicht an meine Person zu wenden, ich bin auf einer Fußreise,« wandte Erwin ein. »Und wo ich hier hausen soll, müssen wir auch erst erforschen; ich habe, wie ich vom Wagen stieg, nur nach Ihnen gefragt, weil ich Gefahr im Verzug glaubte.«
»Das ist nun – ich muß sagen leider! – nicht der Fall. Dein Zimmer kann ich dir finden helfen, ich habe verlangt, daß du gleich neben mir einquartiert werdest, und das wird wohl geschehen sein. Wir müssen den Gang nach rechts ein Stück zurück. Dort hinüber liegt eine Flucht Zimmer, deren Fenster in den Garten gehen – ein echtes Stück altfranzösischer Gartenkunst, wie man's selten mehr sieht!«
Professor Heiding leitete während dieser Unterhaltung seinen Paten an einer endlosen Folge breiter Türen vorüber; Schloß Bergfeld mußte größer sein, als es Erwin bei der Anfahrt im nächtigen Dunkel erschienen war. Schon schossen auch von zwei Seiten Diener herzu, der eine von ihnen meldete sich als zur persönlichen Bedienung des Herrn Doktors bestimmt. Heiding überzeugte sich mit einem flüchtigen Blick durch die geöffnete Tür, daß man seinem jungen Freunde zwei schöne Zimmer eingeräumt habe, deutete dann auf eine andere Tür und sagte: »Also mach rasch, Erwin, ich will dich erwarten und dann sogleich zu unserer Kranken führen.«
»Ich bin in weniger als zehn Minuten bei Ihnen,« erwiderte der junge Arzt schon aus dem Schlafzimmer heraus, wo ihm der Diener den reich ausgestatteten Waschtisch anwies. Er lehnte weitere Dienste ab und eilte, nachdem er die Schuhe gewechselt, seine einfache Toilette zu beendigen, wozu er nach seiner Gewohnheit kaum fünf Minuten brauchte. Als er mit dem Armleuchter wieder in das vordere Zimmer trat, fand er trotz seines Widerspruchs den Diener mit der Bürste in der Hand und ließ nach kurzem Wortwechsel die Hilfe des Mannes über sich ergehen. Nie im Leben hatte er einem Krankenbesuch mit so wunderlich unklarem Gefühl entgegengesehen, aus den Mitteilungen Heidings hatte er wenig Licht gewonnen – wie eine Furcht beschlich es ihn, daß zum erstenmal sein Erkennen, sein Urteil von dem seines Lehrers abweichen könne, und gleichwohl regte sich ein dunkler, traumhafter Wunsch, daß es so sein möchte. Ungeduldig erklärte er sich für fertig, während der Diener noch eifrig an seinem Sommeranzug herumbürstete, rasch war er an der Tür, die ihm der Professor vorhin bezeichnet hatte. Er nahm sich kaum Zeit, darauf zu achten, daß auch Heiding in einigen Gemächern von etwas verschossener Pracht einquartiert sei, sondern rief dem Wartenden, der inzwischen ein Buch ergriffen hatte, aber sichtlich nicht las, von der Schwelle aus zu: »Ich bin zu Ihrer Verfügung, lieber Professor – Sie werden mich doch bei Ihrer Kranken einführen? Und wer ist bei ihr oder um sie?«
»Eine Wärterin aus dem Vincentiusstift in Fulda und in der Regel Frau Horn, ihre Kammerfrau,« antwortete Professor Heiding, indem er den jungen Mann über Gänge und breitere Vorsäle nach dem Teile des Schloßflügels führte, den die Prinzessin bewohnte. Wieder fiel es Erwin auf, daß der ältere Freund auch auf diesem kurzen Gange von Willovius und Erwins zu erwartendem Buche sprach – ganz als ob er dem Gespräche über die Kranke und ihr schweres Leiden ausweichen wollte. So fühlte er selbst eine gewisse Befangenheit, die er mit dem Vorsatz besiegte, sein Auge sorglicherweise offen zu halten und alles, was er erlernt habe, für den Mann einzusetzen, dem er ja alles dankte, was er wußte und war.
In einem Vorzimmer fanden die beiden Ärzte einen älteren Mann in dunkler, schlichter Kleidung, den Heiding mit der Frage begrüßte, ob die Prinzessin schlafe. Als dies verneint ward, sagte der Professor: »Dann bitte, Herr Franke, lassen Sie durch Frau Horn Ihre Durchlaucht wissen, daß der Doktor Buchhoff aus Berlin, mein junger Freund, angekommen sei!«
Der Alte verschwand mit der Meldung in das anstoßende Zimmer, das nur durch einen Türvorhang von dem Vorgemach getrennt war; Heiding unterrichtete mit leiser Stimme seinen Gefährten, daß der Alte der ehemalige Kammerdiener des Landgrafen Philipp sei, der im Ruhestand in einem der kleinen Häuser zwischen Park und Dorf lebe. Seit die Prinzessin von Grumbach schwer krank darniederliege, habe sich Jakob Franke nicht abhalten lassen, bei ihr und für sie Dienst zu tun.
Erwin Buchhoff konnte nichts antworten, denn der Alte kam bereits zurück. Er hielt, wie er heraustrat, den dunklen Türvorhang offen und meldete, daß Prinzessin Hildegard bereit sei, den Herrn Professor und den Herrn Doktor zu sehen. Indem Heiding und sein Schüler an ihm vorüber und in das nächste Zimmer eintraten, sah Jakob Franke dem jungen Berliner Doktor mit zweifelndem Ausdruck ins Gesicht. Er mochte sich den Freund des berühmten Würzburger Mediziners etwas älter gedacht haben. Der alte und der junge Doktor Erwin durchschritten ein größeres, mäßig erleuchtetes Zimmer, aus dem nächsten strahlte ihnen volle Lichthelle entgegen; Frau Horn, die Kammerfrau der Prinzessin, knixte ihnen entgegen, auch sie heftete ein Paar erstaunte Augen auf den Ankömmling. Weder Professor Heiding noch sein Begleiter achteten darauf, die Augen des letzteren richteten sich fest und mit dem zugleich forschenden und tröstlichen Ausdruck, den nur der ärztliche Beruf gibt, auf ein leidendes aber schönes Gesicht, das ihn von den Kissen des Bettes und unter dem Betthimmel von blauem Atlas hervor ein wenig bänglich ansah. Der Professor trat rasch auf die Kranke zu und sagte freundlich: »Hier, Durchlaucht, erlaube ich mir Doktor Erwin Buchhoff, meinen Schüler und jungen Freund, vorzustellen, den wir auf dem Inselsberge glücklich ergriffen haben und der gern zu Ihrem Beistand gekommen ist.« Damit führte er den Zögernden näher an das Krankenbett heran – das Köpfchen der jungen Dame, das durch einen Berg von Kissen gestützt ward, versuchte eine leichte Neigung gegen den Vorgestellten, und eine Altstimme, die trotz des befangenen Lispelns klangvoll blieb, schlug an sein Ohr: »Es ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Doktor, daß Sie um meinetwillen Ihre Reise unterbrochen haben. Ich danke Ihnen herzlich für den guten Willen, den Sie mir erweisen; ich kann leider kaum hoffen, daß Sie mehr Freude an mir erleben werden als der Herr Professor, und fürchte, daß ich sehr krank bin.«