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›Wenn ich mich vor Helena nicht rechtfertige‹, sagte sich Giulio, als er nachts den Standort seiner Kompagnie im Walde wiedergewann, ›wird sie mich am Ende für einen Mörder halten. Gott weiß, was man ihr alles über diesen unheilvollen Kampf erzählt hat.‹
Er ging zum Fürsten in das befestigte Schloß La Petrella, um seine Befehle entgegenzunehmen und bat um die Erlaubnis, nach Castro zu gehen. Fabrizio Colonna verzog die Stirn:
»Die Angelegenheit des kleinen Gefechts ist bei Seiner Heiligkeit noch nicht erledigt. Ihr müßt wissen, daß ich die Wahrheit erklärt habe; versteht: daß ich ganz unbeteiligt an diesem Zusammenstoß war, von dem ich sogar erst am folgenden Tage hier auf meinem Schloß La Petrella gehört habe. Ich habe allen Grund, anzunehmen, daß Seine Heiligkeit schließlich dieser aufrichtigen Vorstellung Glauben schenken wird. Aber die Orsini sind mächtig und alle Welt sagt, daß Ihr Euch in diesem Scharmützel hervorgetan habt. Die Orsini gehen so weit, zu behaupten, daß zahlreiche Gefangene an den Baumästen aufgehängt worden sind. Ihr wißt, wie falsch diese Darstellung ist; aber man kann Repressalien voraussehen.«
Das tiefe Erstaunen, das in den kindlichen Blicken des jungen Hauptmanns glänzte, belustigte den Fürsten; jedoch empfand er, daß es angesichts solcher Unschuld geboten sei, deutlicher zu sprechen.
»Ich sehe in Euch«, fuhr er fort, »jene vollendete Tapferkeit, die den Namen Branciforte in ganz Italien bekannt gemacht hat. Ich hoffe, daß Ihr für mein Haus die gleiche Treue haben werdet, die mir Euren Vater so teuer gemacht hat; ich habe sie Euch vergelten wollen. Die Losung meiner Mannschaft ist: Niemals die Wahrheit über irgend etwas zu sagen, das sich auf mich oder meine Soldaten bezieht. Wenn Ihr im Augenblick, wo Ihr zu sprechen genötigt seid, irgendeine Unwahrheit als nützlich erkennt, lügt, wie's der Zufall zusammenfügt und hütet Euch, wie vor einer Todsünde, auch nur im kleinsten die Wahrheit zu sagen. Ihr versteht, daß sie im Verein mit andren Auskünften auf die Spur meiner Pläne bringen könnte. Ich weiß übrigens, daß Ihr eine Liebelei im Kloster von Castro habt. Ihr könnt vierzehn Tage in dem Nest totschlagen, wo es den Orsini weder an Freunden, noch selbst an Agenten fehlt. Geht zu meinem Majordomus, der Euch zweihundert Zechinen geben wird. Die Freundschaft, die ich für Euren Vater hegte,« fügte der Fürst lachend hinzu, »macht mir Lust, Euch Anleitung über die Art zu geben, wie Ihr dieses Kriegs- und Liebesabenteuer zu gutem Ende führt. Ihr und drei Eurer Soldaten werdet Euch als Kaufleute verkleiden. Ihr dürft dabei nicht verfehlen, immer auf einen Eurer Gefährten erzürnt zu sein, dessen Beruf es ist, immer betrunken zu scheinen und sich viele Freunde zu machen, indem er allen Nichtstuern von Castro den Wein zahlt. Übrigens«, fügte der Fürst in verändertem Ton hinzu, »solltet Ihr von den Orsini gefangen und zum Tode verurteilt werden, so gesteht nie Euren wahren Namen ein und noch weniger, daß Ihr zu mir gehört. Ich habe nicht nötig, Euch anzuempfehlen, daß Ihr alle kleinen Städte erst umgeht und stets durch das Tor eintretet, das der Richtung, aus der Ihr kommt, entgegengesetzt liegt.«
Giulio war über diese väterlichen Ratschläge gerührt, die von einem sonst so ernsten Mann kamen. Zuerst lächelte der Fürst über die Tränen, die er in den Augen des jungen Mannes erblickte, dann wurde aber auch seine Stimme bewegt. Er zog einen der zahlreichen Ringe ab, die er an den Fingern trug, und Giulio küßte, als er ihn empfing, die durch so edle Taten berühmte Hand.
»Niemals hätte mein Vater so vorsorglich mit mir gesprochen«, rief der junge Mann begeistert aus.
Am übernächsten Morgen, ein wenig vor Anbruch des Tages, zog er in die Mauern des kleinen Städtchens Castro ein, fünf Soldaten folgten ihm, wie er verkleidet; zwei davon gingen für sich und schienen weder ihn noch die drei andren zu kennen. Noch bevor sie in die Stadt eintraten, hatte Giulio das Kloster der Heimsuchung bemerkt, ein großes, von schwarzen Mauern umgebenes Gebäude, das einer Festung glich. Er lief zur Kirche; sie war prächtig. Die Nonnen, die alle adlig und meist aus reichen Häusern waren, wetteiferten untereinander aus Eitelkeit, um diese Kirche reich zu schmücken, die der einzige Teil des Klosters war, welchen die Blicke der Öffentlichkeit erreichten. Es war Gebrauch geworden, daß jene der Damen, die aus einer vom Kardinal-Protektor des Ordens der Heimsuchung dem Papste vorgelegten Liste von drei Nonnen zur Äbtissin erwählt wurde, eine ansehnliche Gabe darbrachte, die dazu diente, ihren Namen zu verewigen. Diejenige, deren Gabe geringer war als das Geschenk der letzten Äbtissin, verfiel samt ihrer Familie der Verachtung.
Giulio trat zitternd in dieses prächtige Gebäude, das von Marmor und Vergoldung strahlte. In Wahrheit dachte er kaum an den Marmor und die Goldverzierungen; es schien ihm, daß er unter Helenas Augen sei. Der Hochaltar hatte, wie man ihm sagte, mehr als achthunderttausend Francs gekostet; aber seine Blicke übersahen die Schätze des Hochaltars und hefteten sich auf ein vergoldetes Gitter, das fast vierzig Fuß hoch und durch zwei Marmorpfeiler in drei Abteilungen geteilt war. Dieses Gitter, dem seine mächtige Größe etwas Schreckliches verlieh, erhob sich hinter dem Hochaltar und trennte den Chor der Nonnen von der allen Gläubigen zugänglichen Kirche.
Giulio sagte sich, daß Nonnen und Pensionärinnen sich während des Gottesdienstes hinter diesem goldenen Gitter befanden. In diesen inneren Teil der Kirche konnte sich eine Nonne oder eine Pensionärin zu jeder Tageszeit begeben, wenn sie Bedürfnis hatte, zu beten: Auf diesen aller Welt bekannten Umstand gründeten sich die Hoffnungen des armen Liebhabers. Allerdings deckte ein mächtiger schwarzer Schleier das Gitter auf der Innenseite. ›Aber dieser Schleier‹, überlegte Giulio, ›kann kaum den Blick der Pensionärinnen hindern, wenn sie in die öffentliche Kirche schauen, denn ich – stellte er fest – der ich mich nur auf einige Entfernung nähern kann, bemerke doch durch den Schleier die Fenster, die dem Chor Licht geben, sehr gut; ja, ich kann sogar die geringsten Einzelheiten ihrer Architektur unterscheiden,‹ Jeder Stab dieses prächtig vergoldeten Gitters trug eine scharfe, gegen die sich ihm Nähernden gerichtete Spitze.
Giulio wählte einen sehr sichtbaren Platz an der hellsten Stelle, dem linken Teil des Gitters gegenüber. Dort verbrachte er seine Tage damit, die Messen zu hören. Da er sich hier nur von Bauern umgeben sah, konnte er hoffen, selbst durch den schwarzen Schleier hindurch bemerkt zu werden. Zum ersten Mal in seinem Leben trachtete der schlichte junge Mann aufzufallen: sein Auftreten war gesucht; er gab zahlreiche Almosen beim Eintritt und beim Verlassen der Kirche. Seine Leute und er behandelten die kleinen Lieferanten und Arbeiter, die Verbindung mit dem Kloster hatten, mit den größten Aufmerksamkeiten. Doch erst am dritten Tage hatte er endlich Aussicht, einen Brief an Helena gelangen lassen zu können. Auf seinen Befehl folgte man beständig den beiden Laienschwestern, die Vorräte für das Kloster einzukaufen hatten; eine von ihnen hatte Beziehungen zu einem Krämer. Einer der Soldaten Giulios, der Mönch gewesen war, gewann die Freundschaft des Kaufmanns und versprach ihm eine Zechine für jeden Brief, welcher der Pensionärin Helena Campireali zugestellt würde.
»Was!« sagte der Kaufmann bei der ersten Andeutung, die man ihm über diese Sache machte, »einen Brief an die Frau des Briganten?«
Dieser Name war schon in Castro eingebürgert und doch war Helena erst vor vierzehn Tagen dort angekommen; so schnell läuft alles, was der Einbildungskraft Stoff gibt bei diesem Volk, das leidenschaftlich alle genauen Einzelheiten liebt.
Der kleine Kaufmann fügte hinzu:
»Diese wenigstens ist verheiratet, aber wie viele unsrer Damen haben solche Entschuldigung nicht und empfangen von draußen ganz andres als Briefe.«
In diesem ersten Brief erzählte Giulio mit unzähligen Einzelheiten alles, was an jenem unheilvollen Todestag Fabios vor sich gegangen war. »Hassest Du mich?« fragte er am Ende.
Helena antwortete nur eine Zeile, worin sie sagte, daß sie niemanden hasse und den Rest ihres Lebens dazu verwenden wolle, den zu vergessen, der ihren Bruder getötet hatte.
Giulio beeilte sich, zu antworten; nach Anklagen gegen das Schicksal, die Platon nachahmten und damals in Mode waren, fuhr er fort:
»Du willst also das Wort Gottes, das er in der Heiligen Schrift für uns niedergelegt hat, vergessen? Gott sagt: die Frau soll ihre Familie und ihre Eltern verlassen, um ihrem Gatten zu folgen. Wagst du zu behaupten, daß du nicht meine Frau bist? Erinnere dich an die Nacht von San Pietro. Als die Morgenröte schon hinter dem Monte Cave aufstieg, warfst du dich mir zu Füßen; ich wollte dich schonen; du gehörtest mir, wenn ich es gewollt hätte; du konntest der Liebe, die du damals für mich fühltest, nicht widerstehen. Ich hatte dir schon oft gesagt, daß ich dir mein Leben und alles, was mir auf der Welt teuer ist, darbringe; aber plötzlich schien mir, daß du mir auch antworten könntest – wenn du es selbst niemals tätest – daß alle diese durch keine äußere Tat erhärteten Opfer vielleicht nur Einbildung sind. Ein gegen mich grausamer, aber im Grunde richtiger Gedanke erleuchtete mich. Ich dachte, daß nicht ohne Grund der Zufall mir jetzt die Gelegenheit gebe, in deinem Interesse auf das höchste Glück zu verzichten, das ich mir je hatte träumen lassen. Du warst in meinen Armen und schon ohne Widerstand, erinnere dich, selbst dein Mund wagte nicht zu verweigern. In diesem Augenblick ertönte das morgendliche Ave Maria im Kloster von Monte Cave und durch einen wundersamen Zufall drang dieser Ton bis zu uns. Du riefst mir zu: Bring dieses Opfer der heiligen Madonna, der Mutter aller Reinheit. Ich hatte schon seit einem Augenblick die Idee dieses Opfers, des einzigen, das ich dir je zu bringen Gelegenheit haben würde. Ich fand es unerhört, daß auch dir der gleiche Gedanke gekommen war. Der ferne Klang dieses Ave Maria rührte mich, ich gestehe es; ich erfüllte deine Bitte. Das Opfer war jedoch nicht ganz allein für dich gebracht; ich glaubte, unsre zukünftige Vereinigung unter den Schutz der Mutter Gottes zu stellen. Damals dachte ich nicht daran, daß von dir, Treulose, wohl aber, daß von deiner reichen und vornehmen Familie Hindernisse kommen könnten. Wie hätte dieses Angelus von so weit her, durch den halben Wald über die Gipfel der im Morgenwind bewegten Bäume ohne übernatürliche Einwirkung bis zu uns dringen können? Da fielst du vor mir auf die Knie, erinnerst du dich? Ich stand auf, zog aus meiner Brust das Kreuz, das ich dort trage, und du schwurst auf dieses Kreuz, das hier vor mir liegt, und bei deiner ewigen Verdammnis, wo du je sein würdest und was immer auch geschehen möge, würdest du, sobald ich dir den Befehl zukommen lasse, wieder ganz mein Eigen sein, wie du es in dem Augenblick warst, als das Ave Maria von Monte Cave von so weit her an dein Ohr rührte. Dann sagten wir fromm zwei Ave und zwei Paternoster. Nun wohl, bei der Liebe, die du damals für mich fühltest oder wenn du sie – wie ich fürchte – vergessen hast, bei deiner ewigen Verdammnis befehle ich dir, mich heute Nacht in deinem Zimmer oder im Garten zu empfangen.«
Der italienische Autor bringt seltsamerweise noch viele lange Briefe Giulio Brancifortes, welche nach diesem geschrieben sind; aber er gibt nur Auszüge aus den Antworten Helena Campirealis. Jetzt, einige hundert Jahre später, stehen wir den Gefühlen der Liebe und der Religion, welche diese Briefe erfüllen, so fremd gegenüber, daß ich fürchte, sie könnten zu lang sein.
Aus diesen Briefen geht hervor, daß Helena endlich dem Befehl gehorchte, der in dem von uns gekürzt wiedergegebenen Schreiben enthalten war. Giulio fand ein Mittel, ins Kloster einzudringen; man vermöchte aus einem Wort anzunehmen, daß er sich als Frau verkleidete. Helena empfing ihn, aber nur hinter dem Gitter eines Erdgeschoßfensters, das auf den Garten ging. Zu seinem unbeschreiblichen Schmerz erkannte Giulio, daß dieses einst so zärtliche und sogar leidenschaftliche Mädchen zu einer Fremden geworden war; sie behandelte ihn fast mit ausgesuchter Höflichkeit. Als sie ihn in den Garten einließ, hatte sie fast ausschließlich der heiligen Pflicht des Eides gehorcht. Die Begegnung war kurz: schon nach einigen Minuten gewann der Stolz Giulios, der vielleicht durch die Ereignisse der letzten vierzehn Tage ein wenig gereizt war, die Oberhand.
›Ich sehe nichts vor mir‹, sagte er zu sich, ›als den Schatten jener Helena, die sich mir in Albano für das ganze Leben hingab,‹ Nun war es die Hauptsache für Giulio, die Tränen zu verbergen, die bei den höflichen Wendungen, mit denen Helena das Wort an ihn richtete, sein Gesicht überströmten. Als sie aufgehört hatte, zu sprechen und die – wie sie sagte – nach dem Tode eines Bruders so natürliche Veränderung zu rechtfertigen, antwortete ihr Giulio, indem er sehr langsam sprach:
»Ihr erfüllt nicht Euer Gelöbnis; Ihr empfangt mich nicht im Garten; Ihr liegt nicht vor mir auf den Knien, wie damals, eine halbe Minute, nachdem wir jenes Ave Maria von Monte Cave hörten. Vergeßt Euren Schwur, wenn Ihr könnt, ich vergesse nichts, Gott stehe Euch bei!«
Mit diesen Worten verließ er das vergitterte Fenster, an dem er gut noch eine Stunde hätte bleiben können. Wer hätte ihm einige Augenblicke zuvor sagen dürfen, daß er diese so herbeigesehnte Zusammenkunft freiwillig abkürzen werde! Dieses Opfer zerriß seine Seele, aber er glaubte, daß er Helenas Verachtung verdienen würde, wenn er auf ihre Förmlichkeit anders als damit antwortete, daß er sie ihrer Reue überließ.
Vor Sonnenaufgang verließ er das Kloster. Er stieg zu Pferde und gab seinen Soldaten Befehl, ihn eine Woche lang in Castro zu erwarten und dann in den Wald zurückzukehren; er war außer sich vor Verzweiflung. Zuerst wandte er sich nach Rom.
›Was?! Ich entferne mich von ihr!‹ sagte er sich bei jedem Schritt. ›Wie! Wir sind einander fremd geworden! O Fabio! Wie bist du gerächt!‹
Der Anblick der Menschen, die er auf der Straße antraf, steigerte noch seinen Zorn; er lenkte sein Pferd quer über die Felder und ritt auf den öden verlassenen Uferstreif zu, der das Meer begleitet. Als er nicht mehr durch die Begegnungen mit diesen ruhigen Bauern gestört wurde, deren Los er beneidete, atmete er auf; der Anblick dieser wilden Gegend war in Einklang mit seiner Verzweiflung und mäßigte seinen Zorn; jetzt konnte er sich der Betrachtung seines traurigen Schicksals hingeben.
›In meinem Alter‹, sagte er sich, ›habe ich eine Hilfe: eine andre Frau zu lieben!‹
Bei diesem traurigen Gedanken fühlte er seine Verzweiflung sich verdoppeln; er sah nur zu gut, daß es für ihn nur eine Frau auf der Welt gab. Er stellte sich die Qual vor, die er leiden würde, wenn er das Wort Liebe vor einer andern als Helena ausspräche. Dieser Gedanke zerriß ihn.
Er wurde von einem Anfall bittren Lachens geschüttelt.
›Ich gleiche hier genau diesen Helden Ariosts,‹ dachte er, ›die einsam durch öde Länder ziehen, um zu vergessen, daß sie ihre treulose Geliebte in den Armen eines andren Ritters gefunden haben ... Aber sie ist nicht so schuldig,‹ sagte er sich, indem er nach diesem tollen Lachen wieder in Tränen ausbrach; ›ihre Untreue geht nicht so weit, einen andren zu lieben. Diese bewegsame und reine Seele hat sich durch die schrecklichen Dinge irreleiten lassen, die man ihr von mir erzählt hat; ohne Zweifel hat man es ihr so dargestellt, als hätte ich mich an diesem verhängnisvollen Überfall nur in der geheimen Absicht beteiligt, ihren Bruder zu töten. Man wird noch weiter gegangen sein, man wird mir die schmutzige Berechnung unterschoben haben, daß sie die alleinige Erbin eines ungeheuren Vermögens werde, wenn ihr Bruder tot sei ... Und ich, ich habe die Dummheit begangen, sie ganze vierzehn Tage allein der Überredung meiner Feinde als Beute zu überlassen! Man muß zugeben, daß mir, zu allem meinem Unglück, der Himmel auch noch den Verstand versagt hat, mein Leben zu lenken! Ich bin ein verächtliches, bei Gott ein verächtliches Wesen! Mein Leben war niemand nützlich und mir noch weniger als jedem andren.‹
In diesem Augenblick hatte der junge Branciforte eine für jene Zeit sehr seltsame Eingebung: sein Pferd schritt am äußersten Uferrand und zuweilen benetzten die Wellen seine Hufe; er hatte den Einfall, es ins Meer zu treiben und so das schreckliche Schicksal zu beenden, dessen Beute er war. Was sollte er fernerhin machen, da das einzige Wesen auf der Welt, das ihn jemals die Möglichkeit eines Glücks hatte fühlen lassen, ihn verließ? Dann hielt ihn plötzlich ein andrer Gedanke zurück.
›Was sind die Qualen, die ich erdulde‹, sagte er sich, ›im Vergleich mit jenen, die ich leiden würde, nachdem dieses elende Leben beendet ist? Helena wird sich nicht mehr bloß gleichgültig gegen mich verhalten, wie sie es jetzt tut, sondern ich würde sie in den Armen eines Nebenbuhlers sehen, und dieser Rivale wird ein junger römischer Edelmann sein, reich und angesehen; denn die Dämonen werden, wie es ihre Pflicht ist, die grausamsten Bilder suchen, um meine Seele zu zerreißen. So werde ich selbst im Tode Helena nicht vergessen können; ja, weit mehr: meine Leidenschaft für sie wird sich verdoppeln; denn dies ist der sicherste Weg, welchen die ewigen Mächte gehen können, um mich für meine schreckliche Sünde zu bestrafen.‹
Um die Versuchung gänzlich zu vertreiben, schickte sich Giulio an, das Ave Maria zu beten. Einst, als er das morgendliche Ave Maria gehört hatte, das der Mutter Gottes geweihte Gebet, war jene Versuchung über ihn gekommen, edelmütig zu handeln, die ihm heute als die größte Torheit seines Lebens erschien. Aber aus Ehrfurcht wagte er es nicht, weiterzugehen und den Gedanken ganz auszudrücken, der sich seines Geistes bemächtigt hatte.
›Wenn ich durch Eingebung der Madonna in einen verhängnisvollen Irrtum verfallen bin, muß sie da nicht in ihrer unendlichen Gerechtigkeit irgendeinen Umstand schaffen, der mir das Glück wiedergibt?‹
Dieser Gedanke an die Gerechtigkeit der Madonna verjagte nach und nach seine Verzweiflung. Er hob den Kopf und sah hinter Albano und dem Wald den von düsterem Grün bedeckten Monte Cave vor sich und das heilige Kloster, dessen Morgenläuten ihn zu dem gebracht hatte, was er jetzt eine schändliche Täuschung nannte, die an ihm verübt worden war. Der unerwartete Anblick dieses heiligen Orts tröstete ihn.
›Nein,‹ rief er aus, ›es ist unmöglich, daß die Madonna mich im Stich läßt. Wäre Helena meine Frau gewesen, wie ihre Liebe es zuließ und meine Würde als Mann es forderte, so hätte die Erzählung von ihres Bruders Tod in ihrer Seele die Erinnerung an das Band vorgefunden, das sie mit mir verknüpft. Sie hätte sich gesagt, daß sie mir lange angehörte, bevor der unglückliche Zufall mich auf dem Kampfplatz Fabio gegenüberstellte. Er war zwei Jahre älter als ich, er war erfahrener in den Waffen, in jeder Hinsicht gewandter und stärker. Tausend Gründe wären meiner Frau eingefallen, daß nicht ich diesen Kampf gesucht haben könne. Sie würde sich erinnert haben, daß ich nie den mindesten Haß gegen ihren Bruder gehegt habe, selbst damals nicht, als er mit der Büchse nach uns schoß. Ich erinnere mich an unsre erste Zusammenkunft nach meiner Rückkehr aus Rom; ich sagte ihr: ›Was willst du? die Ehre verlangt es; ich kann einen Bruder nicht tadeln!‹
Durch sein Gebet zur Madonna der Hoffnung wiedergegeben, spornte Giulio sein Pferd an und gelangte in einigen Stunden zum Standquartier seiner Kompagnie. Er fand sie im Begriff abzumarschieren: man wollte auf die von Neapel über Monte Cassino nach Rom führende Straße gelangen. Der junge Hauptmann wechselte das Pferd und ging mit seinen Leuten. An diesem Tag schlug man sich nicht. Giulio fragte nicht, warum man fortmarschiert sei; es lag ihm wenig daran, es zu wissen. Im Augenblick, als er sich an der Spitze seiner Soldaten sah, erschien ihm sein Schicksal in neuem Licht.
›Ich bin ganz einfach ein Tor,‹ sagte er sich, ›ich habe Unrecht getan, Castro zu verlassen; Helena ist wahrscheinlich weniger schuldig, als mein Zorn es mir einbildete. Nein, diese kindlich reine Seele, deren erste Liebesregungen ich entstehen sah, kann nicht aufgehört haben, mir zu gehören! Sie war von Leidenschaft für mich durchdrungen! Hat sie mir nicht mehr als zehnmal angeboten, mit mir, der ich so arm bin, zu fliehen, und uns durch einen Mönch von Monte Cave trauen zu lassen? In Castro hätte ich vor allem eine zweite Zusammenkunft erlangen und ihr Vernunft zusprechen müssen; wahrhaftig, die Leidenschaft macht mich zerfahren wie ein Kind! O Gott, daß ich nicht einen Freund habe, einen Rat zu erflehen! Der gleiche Schritt erscheint mir im Zeitraum von zwei Minuten verwerflich und vortrefflich.‹
Am Abend dieses Tags, als man die Landstraße verließ, um sich wieder in den Wald zu schlagen, näherte sich Giulio dem Fürsten und fragte ihn, ob er noch einige Tage dort, wo er wüßte, bleiben könnte.
»Geh zu allen Teufeln!« rief Fabrizio, »glaubst du, daß jetzt der Augenblick sei, mich mit Kindereien zu unterhalten?«
Eine Stunde später ritt Giulio wieder nach Castro zurück. Er fand dort seine Leute vor; aber er wußte nicht, wie er Helena schreiben solle, nachdem er sie so hochfahrend verlassen hatte. Sein erster Brief enthielt nichts als die Worte: »Wird man mich in der nächsten Nacht empfangen wollen?«
»Man kann kommen«, war auch die ganze Antwort.
Nach Giulios Abreise hatte sich Helena für immer verlassen geglaubt. Nun erst hatte sie die ganze Tragweite der Überlegungen des armen unglücklichen jungen Mannes verstanden: sie war seine Frau gewesen, bevor er das Unglück gehabt hatte, ihren Bruder im Kampf zu treffen.
Diesmal wurde Giulio nicht mit den höflichen Wendungen empfangen, die ihm bei der ersten Zusammenkunft so grausam erschienen waren. Helena erschien allerdings wieder nur hinter ihrem vergitterten Fenster, aber sie zitterte, und da der Ton Giulios sehr kühl war und seine Redewendungen fast als ob er mit einer Fremden spräche, war es jetzt an Helena, zu fühlen, wie grausam solch förmlicher Ton, nach der früheren süßen Vertrautheit wirkte. Giulio, der fürchtete, daß seine Seele wieder durch ein kaltherziges Wort Helenas zerrissen werden könnte, hatte den Ton eines Advokaten angenommen, um ihr zu beweisen, daß sie lange vor dem verhängnisvollen Kampf von Ciampi seine Frau gewesen sei. Helena ließ ihn reden, weil sie fürchtete, von Tränen überwältigt zu werden, wenn sie ihm anders als mit kurzen Worten antworte. Am Ende, als sie kaum mehr an sich halten konnte, bat sie ihren Freund, am nächsten Tag wiederzukommen. Es war am Vorabend eines hohen Festes, die Morgenandacht wurde sehr früh gesungen und ihre Zusammenkunft konnte leicht entdeckt werden. Giulio, der wie ein Verliebter dachte, verließ den Garten in tiefstem Nachsinnen: er vermochte nicht zu unterscheiden, ob er gut oder schlecht aufgenommen worden sei, und weil durch den Umgang mit seinen Kameraden ihm soldatische Sitten vertraut geworden waren, sagte er sich:
»Es wird vielleicht dazu kommen, daß ich Helena entführen muß.«
Und er überlegte die verschiedenen Möglichkeiten, mit Gewalt in den Garten einzudringen. Da das Kloster sehr reich und lohnend zu brandschatzen war, hatte es eine große Anzahl Bediensteter in seinem Sold, die ehemals meist Soldaten gewesen waren; man hatte sie in einer Art Kaserne untergebracht, deren vergitterte Fenster auf einen schmalen Durchlaß sahen, der von dem äußeren Tor, das in der Mitte einer schwarzen, mehr als achtzig Fuß hohen Mauer lag, zu dem inneren führte, welches von der Schwester Pförtnerin bewacht wurde. Zur Linken dieses schmalen Gangs erhob sich die Kaserne, zur Rechten die mehr als dreißig Fuß hohe Mauer des Gartens. Die Fassade des Klosters ward von einer dicken, vom Alter geschwärzten Mauer gebildet, die außer dem äußeren Tor und einem einzigen kleinen Fenster, durch das die Soldaten hinaussehen konnten, keine Öffnungen aufwies. Man kann sich den düstern Eindruck dieser hohen schwarzen Mauer vorstellen, die einzig von einer mit breiten Eisenbändern und ungeheuren Nägeln verstärkten Tür und einem kleinen Fenster von vier Fuß Höhe und achtzehn Zoll Breite unterbrochen war.
Wir begleiten den Chronisten nicht weiter in der langen Schilderung aller folgenden Zusammenkünfte, die Giulio von Helena gewährt wurden. Der Ton der beiden Liebenden war ganz so vertraut geworden wie damals im Garten zu Albano, nur hatte Helena niemals einwilligen gewollt, in den Garten hinabzusteigen. Eines Nachts fand sie Giulio sehr nachdenklich: ihre Mutter war aus Rom gekommen, um sie zu sehen und wollte einige Tage im Kloster bleiben. Diese Mutter war so zärtlich und hatte stets so zartfühlende Rücksicht auf die Neigung, die sie bei ihrer Tochter vermutete, genommen, daß es dieser schwere Gewissenspein bereitete, sie täuschen zu müssen. Könnte sie es aber wagen, ihr zu gestehen, daß sie den Mann empfing, der sie ihres Sohnes beraubt hatte? Helena bekannte schließlich Giulio offen ein, daß sie nicht die Kraft haben würde, dieser Mutter, die so gut war, mit Lügen zu antworten, wenn sie nach der Wahrheit gefragt würde. Giulio fühlte ganz die Gefahr seiner Lage, sein Schicksal hing vom Zufall ab, welcher der Signora di Campireali nur ein Wort einzugeben brauchte. In der folgenden Nacht sagte er deshalb mit entschlossener Miene: »Morgen werde ich früher kommen, ich werde eine der Stangen dieses Gitters ausbrechen, du wirst in den Garten heraussteigen, und ich führe dich in eine Kirche der Stadt, wo ein mir ergebener Priester uns trauen wird. Noch bevor es Tag ist, bist du wieder im Garten. Wenn du erst meine Frau bist, habe ich keine Furcht mehr und werde allem zustimmen, was deine Mutter als Sühne für das schreckliche Unglück verlangen kann, das wir alle beklagen, – wäre es selbst, einige Monate vergehen zu lassen, ohne dich zu sehen.«
Da Helena von diesem Vorschlage bestürzt zu sein schien, fügte Giulio hinzu:
»Der Fürst ruft mich zu sich zurück; die Ehre und alle möglichen Gründe verpflichten mich, zu folgen. Mein Vorschlag ist das einzige, was unsre Zukunft sichern kann. Wenn Du mir nicht zustimmst, trennen wir uns für immer, hier, in diesem Augenblick. Ich werde mit Reue wegen meiner Torheit abreisen. Ich habe an Dein Ehrenwort geglaubt, Du bist dem heiligsten Schwur untreu, und ich hoffe, daß die gerechte Verachtung, die mir Deine Leichtfertigkeit einflößen wird, mit der Zeit mich von dieser Liebe heilt, die schon zu lange das Unglück meines Lebens ist.«
Helena brach in Tränen aus.
»Großer Gott!« rief sie weinend, »wie entsetzlich für meine Mutter!«
Schließlich willigte sie in den Vorschlag.
»Aber«, fügte sie noch hinzu, »man kann uns beim Fortgehen oder beim Wiederkommen entdecken; bedenkt den Skandal, denkt an die schreckliche Lage, in der sich meine Mutter befinden würde; warten wir ihre Abreise ab, die in einigen Tagen stattfinden wird.«
»Es ist Euch gelungen, mich an dem zweifeln zu lassen, was für mich das Höchste und Heiligste war: mein Vertrauen in Euer Wort. Morgen Abend werden wir verheiratet sein, oder wir sehen uns in diesem Augenblick, auf dieser Seite des Grabes zum letztenmal.«
Die arme Helena konnte nur mit Tränen antworten, besonders schmerzte sie der grausam entschiedene Ton, den Giulio anschlug. Hatte sie denn wirklich seine Verachtung verdient? Das war also der einst so fügsame und zärtliche Geliebte! Endlich stimmte sie seinen Anordnungen zu. Giulio entfernte sich. Von diesem Augenblick an erwartete Helena die kommende Nacht in allen Zuständen der verzweifeltsten Angst. Wenn sie sich auf ihren Tod hätte vorbereiten müssen, wäre ihr Schmerz weniger qualvoll gewesen, sie hätte Mut in dem Gedanken an die Liebe Giulios und an die zärtliche Neigung ihrer Mutter gefunden. Der Rest der Nacht verging in grausamster Unschlüssigkeit. Es gab Augenblicke, wo sie ihrer Mutter alles gestehen wollte. Am nächsten Morgen war sie derart bleich, als sie vor ihr erschien, daß diese, all ihre weisen Vorsätze vergessend, sich in die Arme ihrer Tochter warf und ausrief:
»Was geht vor? Großer Gott! Sage mir, was du getan hast oder auf dem Sprung stehst, zu tun? Wenn du einen Dolch nähmest und mir ins Herz stießest, würdest du mich weniger leiden lassen, als durch das grausame Schweigen, das du gegen mich beobachtest.«
Die grenzenlose Zärtlichkeit ihrer Mutter ward Helena so deutlich, sie sah so klar, daß diese den Ausdruck ihrer Gefühle zu dämpfen suchte, statt ihn zu übertreiben, daß endlich die Rührung sie überwältigte; sie fiel ihr zu Füßen. Als ihre Mutter, um das Geheimnis zu ergründen, ausrief, daß Helena ihre Nähe fliehe, antwortete sie: daß sie morgen und alle folgenden Tage ihr Leben bei ihr verbringen würde, aber sie flehentlich bitte, nicht weiter zu fragen.
Dieser verräterischen Äußerung folgte bald ein volles Geständnis. Signora von Campireali hatte es mit Abscheu erfüllt, den Mörder ihres Sohnes so nah zu wissen. Aber diesem Schmerz folgte ein Strom reinster und lebhaftester Freude. Wer könnte sich ihr Entzücken vorstellen, als sie erfuhr, daß ihre Tochter sich nie gegen ihre Pflicht vergangen hatte?
Sofort änderten sich die Pläne dieser klugen Mutter ganz und gar; es schien ihr erlaubt, gegen einen Menschen, der ihr nichts war, zur List zu greifen. Helenas Herz war von den heftigsten Leidenschaften zerrissen: die Aufrichtigkeit ihrer Geständnisse war vollständig; diese gemarterte Seele hatte das Bedürfnis, sich auszuschütten. Signora Campireali, welche jetzt alles für erlaubt hielt, erfand eine Reihe von Vernunftgründen, die zu weit führen würden, wollten wir sie hier wiedergeben. Sie bewies ihrer unglücklichen Tochter ohne Mühe, daß sie statt einer heimlichen Ehe, die immer ein Makel für eine Frau sei, eine öffentliche Trauung in allen Ehren erlangen könne, wenn sie den Akt des Gehorsams, den sie einem so edelmütigen Geliebten schulde, nur um acht Tage hinausschöbe. Sie, die Signora Campireali, würde nach Rom reisen, sie würde ihrem Mann darlegen, daß Helena lange vor dem verhängnisvollen Gefecht von Ciampi mit Giulio verheiratet gewesen sei. Die Trauung sollte in der gleichen Nacht stattgefunden haben, wo sie, als Mönche verkleidet, ihrem Vater und Bruder am Ufer des Sees, auf dem in den Felsen gehauenen Weg begegnet waren, der längs der Mauer des Kapuzinerklosters führt. Die Mutter hütete sich, ihre Tochter während des Tags allein zu lassen, und schließlich schrieb Helena abends ihrem Geliebten einen kindlichen und wie uns scheint sehr rührenden Brief, in welchem sie ihm die Kämpfe, die ihr Herz zerrissen hatten, schilderte. Zum Schluß bat sie ihn kniefällig um einen Aufschub von acht Tagen: »Indem ich diesen Brief schreibe,« fügte sie hinzu, »auf den ein Bote meiner Mutter wartet, scheint mir, daß ich das größte Unrecht begangen habe, ihr alles zu sagen. Ich glaube, dich erzürnt zu sehen; deine Augen blicken mich mit Haß an; mein Herz ist von den grausamsten Selbstvorwürfen zerrissen. Du wirst sagen, daß ich einen sehr schwachen, sehr verzagten, sehr verächtlichen Charakter habe, ich gebe es zu, mein teurer Engel. Aber stelle dir dies Schauspiel vor: Meine Mutter, in Tränen aufgelöst, lag fast zu meinen Knien. Da war es mir ganz unmöglich, ihr nicht zu gestehen, daß ein bestimmter Grund mir verbiete, ihrer Bitte nachzugeben; und wie ich erst einmal so schwach gewesen war, dieses unvorsichtige Wort auszusprechen, weiß ich nicht, was in mir vorging, aber es ist mir unmöglich vorgekommen, ihr nicht alles zu erzählen, was zwischen uns geschehen ist. Soweit ich mich erinnern kann, scheint mir, daß meine Seele, aller Kraft entblößt, Rat brauchte. Ich hoffte, ihn in den Worten meiner Mutter zu finden ... Ich hatte völlig vergessen, mein Freund, daß das Interesse dieser geliebten Mutter dem deinen entgegengesetzt ist. Ich habe meine oberste Pflicht vergessen, welche ist, dir zu gehorchen; und scheinbar bin ich der wahren Liebe nicht fähig, welche über jede Prüfung erhaben sein soll. Verachte mich, mein Giulio, aber im Namen Gottes, höre nicht auf, mich zu lieben. Entführe mich, wenn du willst, aber billige mir zu, daß die schrecklichsten Gefahren, sogar die Schande, daß nichts auf der Welt mich hätte verhindern können, deinem Befehl zu gehorchen, wenn meine Mutter nicht im Kloster gewesen wäre. Doch diese Mutter ist so gut! Sie hat so viel Überredungsgabe! Sie ist so edelmütig! Erinnere dich, als damals mein Vater das Zimmer durchforschte, rettete sie die Briefe, welche ich niemals hätte verbergen können. Dann, als die Gefahr vorüber war, gab sie mir sie zurück, ohne sie gelesen zu haben und ohne ein Wort des Vorwurfs! Sie ist mein ganzes Leben hindurch so zu mir gewesen, wie sie es in diesem höchsten Augenblick war. Du siehst, wie ich sie lieben müßte. Und doch scheint es mir, während ich dir schreibe (wie furchtbar zu sagen), daß ich sie hasse. Sie hat erklärt, daß sie diese Nacht der Hitze wegen im Garten unter einem Zelt verbringen wolle; ich höre die Hammerschläge, man errichtet jetzt das Zelt; es ist unmöglich, daß wir uns heute Nacht sehen. Ich fürchte sogar, daß der Schlafsaal der Pensionärinnen verschlossen wurde, ebenso die beiden Türen der Wendeltreppe, was sonst nie geschah. Diese Vorsichtsmaßregeln würden es mir unmöglich machen, in den Garten hinunterzugehen, wenn ich selbst einen solchen Schritt nötig fände, um deinen Zorn zu beschwören. Ach, wie ich mich dir jetzt ausliefern würde, wenn sich mir ein Mittel böte! Wie ich zu dieser Kirche eilen würde, wo man uns trauen soll!«
Dieser Brief schloß mit zwei Seiten toller Sätze, in welchen ich leidenschaftliche Redewendungen fand, die auf die Ideen Platons zurückzugehen scheinen. Ich habe in dem eben übersetzten Brief mehrere Sätze dieser Art unterdrückt.
Giulio Branciforte war sehr erstaunt, als er abends etwa eine Stunde vor dem Ave Maria dieses Schreiben erhielt; er hatte grade die Abmachung mit dem Priester beendet. Er war außer sich vor Zorn.
›Sie hat nicht notwendig, mir zu raten, daß ich sie entführe. Dieses schwache, zaghafte Geschöpf!‹
Und er brach sogleich nach dem Walde von La Faggiola auf.
Für Signora Campireali stand die Sache folgendermaßen: Ihr Gatte lag auf dem Sterbebett; die Unmöglichkeit, sich an Branciforte zu rächen, brachte ihn langsam zum Grabe. Vergebens hatte er mehrmals den römischen Bravi beträchtliche Summen anbieten lassen; keiner hatte sich an einem der »Korporale«, wie sie sagten, des Fürsten Colonna vergreifen wollen; sie waren zu gewiß, samt ihren Familien ausgetilgt zu werden. Es war noch kein Jahr her, daß ein ganzes Dorf zur Strafe für den Tod eines Soldaten des Colonna niedergebrannt wurde, und alle Einwohner, Männer und Frauen, welche in die Campagna zu fliehen suchten, wurden an Händen und Füßen gefesselt in die brennenden Häuser geworfen.
Signora Campireali besaß große Güter im Königreich Neapel; ihr Gatte hatte ihr aufgetragen, von dort Mörder kommen zu lassen; aber sie hatte nur zum Schein zugestimmt, denn sie glaubte ihre Tochter unlöslich an Giulio Branciforte gebunden. In dieser Voraussetzung meinte sie, daß Giulio einen oder zwei Feldzüge in den spanischen Heeren mitmachen solle, welche damals Krieg gegen die Aufständischen in Flandern führten. Fiele er nicht, so sollte dies ein Zeichen sein, daß Gott eine Heirat nicht mißbillige, die sich nicht vermeiden ließ; in diesem Fall würde sie ihrer Tochter die Güter geben, welche sie im Königreich Neapel besaß, Giulio Branciforte würde den Namen einer dieser Besitzungen annehmen und einige Jahre mit seiner Frau in Spanien verbringen. Nach allen diesen Prüfungen würde sie vielleicht den Mut finden, ihn zu sehen. Doch alles war seit dem Geständnis ihrer Tochter anders geworden; die Heirat war keine Notwendigkeit mehr – weit entfernt davon – und während Helena ihrem Geliebten den Brief schrieb, den wir wiedergegeben haben, schrieb Signora Campireali nach Pescara und nach Chieti und gab ihren Pächtern den Auftrag, ihr sichere Männer nach Castro zu senden, die zu einem Handstreich zu gebrauchen wären. Sie verhehlte ihnen nicht, daß es sich darum handelte, den Tod Fabios, ihres jungen Herrn, zu rächen. Der Kurier machte sich mit diesen Briefen noch vor Ende des Tags auf den Weg.