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Der blinde Knabe

Wilhelm war ein lieber, gemütlicher Knabe. Er mochte jetzt sieben Jahre alt sein und machte seinen guten Eltern, vorzüglich der Mutter, die er den ganzen Tag nicht verließ, ebenso viele Freude als heimlichen Kummer. Freude machte ihnen seine Folgsamkeit und sanfte Manier, den Kummer aber verursachte ihnen des Knaben von Geburt mitgebrachtes Unglück – denkt euch Kinder, der sonst so wohlgestaltete, liebenswürdige Wilhelm war blind geboren.

Wenn seine Geschwister und die anderen Kinder im Frühlinge auf dem weichen Grase herumsprangen, bunte Blümchen pflückten oder den schönen Schmetterlingen nachjagten, mußte Wilhelm allein im Grase sitzen bleiben und froh sein, wenn Bruder August oder des Nachbars flinkes Lenchen in der Eile ihm einige Blumen zuwarfen, die er dann mit seinen kleinen Händchen so leise und verständig betastete und abgriff, daß ihm von der Wurzel bis an das Ende der Krone kein Blättchen noch so fein, kein Staubfaden, wie zart er auch war, entgehen konnte.

Wenn er dann alles um ihn herum so fleißig befühlt und abgetastet hatte, war er oft so freudig im Herzen bewegt, daß er vom Boden aufspringen, im kleinen Kreise auf dem Grase herumtrippeln und mit den Händen wedeln mußte, als wenn er laufen und hurtig herumfliegen wollte vor Frühlingsluft und innigem Entzücken.

»August!« rief er dann, »Lenchen! kommt her zu mir, ich muß euch etwas sagen, etwas zeigen!« – Aber du mein Himmel, wo waren indessen August und Lenchen hingesprungen?

Da eilte dann die Mutter zu ihm und fragte wehmütig-mild: »Was denn Wilhelm, was ist denn?« Und, nach ihr langend, der allzeit Guten und Getreuen, und ihren Hals umschlingend, jubelte er: »o Mutter, die Blumen sind so weich, weicher noch als dein Samtkissen und so zart und fein wie deine Wangen!« Dann küßte er sie und streichelte die Blumen.

Dann aber, wenn sein Freudentaumel vorüber war, ging es an ein Fragen, was dies, das und jenes sei. Gleich darauf kamen »Wie?« und »Warum?« so häufig und mannigfach, daß die gute Mutter ein Gelehrter mit etlichen Zungen hätte sein müssen, um dem wißbegierigen Knaben alles vollständig zu beantworten.

Am allerschwersten, wie leicht zu denken, ging es ihr, wenn die andern Kinder plötzlich ausriefen: »Ach, das ist so schön rot, blau, gelb u. dgl.!« Und sie hätte dann dem kleinen Wilhelm begreiflich machen sollen, was – rot, blauweiß usw. sei. Oder, wie Sonne, Mond und Sterne aussehen; wie groß sie seien und wie das Weltmeer, wovon neulich der Lehrer etwas erwähnte, eigentlich beschaffen. – Was denn der Bach für Füße habe, daß er so schnell läuft, und warum er – der Bach – nicht deutlicher spreche usw. Das waren fürwahr Aufgaben für die Mutter!

Wenn sie auch sagte, Sonne, Mond und Sterne seien runde Körper wie sein Spielball, nur viele Millionen Mal größer; und das Weltmeer läge eben so wie sein Milchwasser in der Badewanne, nur sei das Becken des Meeres auch wieder viel tausend und tausendmal größer; das Wasser aber habe gar keine Füße, sondern werde nur durch seine eigene Schwere, wie er selbst, wenn er oft unversehens auf den Boden hinfiele, durch die abdachenden, d. i. tiefer und tiefer liegenden Erdstriche fortgezogen und weiter gedrängt, bis es endlich in den Erdabgrund, nämlich in das Becken des Meeres hinein- und hinabfiele; und zum Sprechen gehören ja Organe, wie die des Menschen, oder doch mindestens solche, wie der Star, der Rußhäher und Papagei haben – das Rieseln, Murmeln, Plätschern des Wassers aber verursache nur die zwischen den Wellen und Wogen gedrängte Luft, wenn sie entweicht, so wie nicht anders, als eben auch die Luft in den Bäumen das Lispeln, Säuseln und Rauschen hervorbringe, wenn sie in ihrem stärkeren oder gemäßigteren Zuge durch Blätter, Gezweige und Aeste aufgehalten werde; wenn, sag' ich, auch die Mutter Wilhelminen auf diese Weise – und für eine gute Mutter verständig genug – belehrte und zu befriedigen suchte, so verfiel der rege Sinn des Jungen doch nebenher und oft wieder auf Dinge, die unserer Ansicht nach, die wir vom gütigen Schöpfer das unschätzbare Geschenk der Augen erhalten haben, so gering und bedeutungslos sind, daß uns nicht einfallen könnte, darüber zu sprechen, die aber dem armen Blinden überaus wichtig vorkamen, und am Ende stand dann immer und jedesmal der drohende, unüberwindliche Riese – die Farbe.

Wenn sich Mutter und Söhnlein oft lange mit dem Riesen vergebens durch Erklären und Begreiflichmachen abgerungen hatten und mit dem niederdrückenden Gefühle des fruchtlosen Kampfes schweigend dahinsaßen; wenn der Mutter die Augen, von denen sie gern dem geliebten Kinde eins gegeben hätte, in Tränen übergingen; wenn Wilhelm mit gesenktem Häuptlein sein Spielzeug aus den Händen fallen ließ, über sein Unglück in Träume und kindische Wehmut versunken: dann legte die Mutter leise die Arbeit beiseite, faltete zum inbrünstigen Gebet die Hände und bat Gott, er möchte doch in seiner Milde und Barmherzigkeit Rat und Mittel schaffen in der allbetrübenden Not ihres Kindes.

Wilhelm vernahm öfters die Seufzer der Mutter und fragte: »Liebe Mutter, was seufzest du denn?« Da hob ihn dann die betrübte Mutter auf ihren Schoß, legte ihm auch seine Händchen zusammen und ermahnte ihn, in der Unschuld seines Herzens zugleich mit ihr den gütigen Himmelvater zu bitten um Trost und Abhilfe. Half aber dieses Gebet auch nicht immer unmittelbar, so hatte ihnen doch Gott ein Mittel an die Hand gegeben, welches die heilsame Wirkung ihrer Gemütserheiterung nie versagte. Dieses wohltätige Mittel war – das Klavier, welches die Mutter in ihrer Jugend spielen erlernt hatte. Spielte sie auf diesem und akkompagnierte sie sich mit lieblichen Akkorden zu heiteren Frühlingsweisen oder zu beschreibenden Morgen- und Abendliedern, zu Hymnen oder geistlichen Liebesergießungen, so verging der kleine Horcher in den seligsten Empfindungen, schwärmte mit den Tönen durch die blumigen Frühlingsauen, zerfloß in den Morgen- und Abendgluten und schwang sich empor zu den glorreichen Hallen des Himmels. Einmal war es auch, daß die Mutter nach empfundener Betrübnis und Herzensangst, nach heißem Flehen nach oben sich wieder zum Klavier gesetzt hatte. Es war so ruhig und einsam im Zimmer; die andern Kinder waren unter Aufsicht des treuen Dieners Konrad in den Heidelbeerenwald gegangen; nur der arme Blinde war zu Hause und horchte wie immer mit seligem Entzücken auf Spiel und Gesang.

Die Mutter hatte schon lange und in ihrer wehmütigen Bewegung überaus schön und rührend die dem Kinde so lieben Lieder gesungen. Sie selbst war heute von den Klängen wunderbar umwoben worden.

»Ei, Wilhelm!« fiel ihr daher plötzlich ein, »ei, Wilhelm, daß du heute gar nichts sagst, ob dir ‘s gefällt?« Dabei drehte sie sich nach dem Knaben, und sieh da! – das gute Kind war entschlummert. Lieblich hingegossen lag es auf den weißen Polstern des Ruhbettes – sein Mund lächelte, von den röteren Wangen schimmerte Freude und die lichtlosen Augen bewegten sich zitternd, wie die Hände der Kinder zittern, wenn ihnen bunte Sachen vorgehalten werden.

Lange stand die Mutter voll Rührung vor dem glücklichen Schläfer; denn wahrlich, nichts anders als glücklich konnte er sein mit diesem himmlisch milden Gesichte. Die Mutter konnte es aber nicht erwarten, daß er erwachte und ging wieder an ihre Arbeit. Erst als schon gegen Abend Konrad mit seinen ihm anvertrauten Waldläufern zurückkehrte und diese mit lautem Jubel sich zur Türe hereindrängten, daß nur jedes der Mutter sein vollgesammeltes Beerenkörbehen zuerst zeigen möchte, wurde Wilhelm von dem Getöse erweckt und trippelte fester und sicherer als sonst durch die jauchzende Gruppe auch jauchzend der Mutter zu.

»o Mutter, Mutter!« jauchzte Wilhelm so laut, daß er alle übertönte, »o Mutter, ich bin kein blinder Knabe mehr von dieser Stunde an. Ich habe gesehen!

Alles hab' ich gesehen, wie August und Lenchen sieht, wie du, Mutter, selbst nicht anders sehen kannst, so habe ich gesehen; denn ich sah euch alle und dich auch, Mutter, wie du mich vorher ansahest – o Mutter, weil ich nur dich gesehen habe! unser Zimmer, unsere Bäume und noch viele, viele Bäume, Gräser und Blumen habe ich gesehen, und wie die Sonne auf- und untergeht, wie der Mond leuchtet und die unzähligen Sterne rundum! und den Vater auch, wie er mit der Flinte im Walde streift, und den Hasen, den er heimbringen wird; auch die Erd- und Heidelbeeren hab' ich gesehen und habe selbst mitgepflückt in Lenchens Körbchen hinein, welches aussieht, wie die reifen Ähren auf dem Felde; und die Bäume, die Gräser und Vaters Rock und die Umzäunung unsers Gartens haben fast dieselbe Farbe und – diese Farbe – sagte mir der schöne Knabe, der mich sehen gelehrt hat und aussieht wie die frischen Rosen im Garten, und sein fliegendes Kleid und seine Augen sahen aus wie der Himmel – blau; die Farbe von Vaters Rock aber und alles, was ihm gleich sieht, sagte der freundliche Knabe mit seinen schimmernden Haaren, die goldgelb waren wie die untergehende Sonne – Vaters Rock, sagte er, und alles Aehnliche heißt grün; dann zeigte er mit seinem Finger auf eine Lilie, auf den Schwan im Teiche und auf die schneeigen Gipfel der Berge – seine Hand aber glich ganz der Lilie und dem sanften Schwane und er sagte: das sei weiß. Mutters Hand, rief ich, und meine Hemdchen sind auch so!«

»Da lächelte der schöne Knabe freundlich, drückte mir flink mit seinen weichen Fingern die kaum geöffneten Augen zu und lispelte: das ist schwarz! Aber als ich gleich darauf die Augen wieder aufschlagen durfte, brauste ein wildtobender Reiter, der samt seinem Rosse aussah wie die eben verschwundene Finsternis, wenn nicht seine Augen geleuchtet hätten wie das Feuerbüschel aus des Vaters abgedrückter Flinte – der brauste gegen uns heran und schleuderte zornig eine eiserne Schlange, die bläuliche Funken nach allen Seiten spritzte, nach mir; aber der Knabe fing sie auf mit seinem Arme und der Arm blutete. Vom rauchenden Dufte des Blutes, der wie ein Pfeil gegen den Reiter schoß, zerfielen Roß und Unhold in Staub und Asche und aus den Blutstropfen waren, während ich zaghaft dastand und bebte, üppige Betonien, Liebstöckel und Mohnrosen geworden.

»Lächelnd klopfte mich der Knabe mit einem Zweige vom Liebstöckel auf die Lippen, daß ich wieder zu mir kommen möchte, weil mich der Reiter so sehr erschreckt hatte, und sagte: >Sieh, Wilhelm, diese Blumen, und wo ich dich damit hinschlug, die Lippen und deine Sonntagsmütze sind rot!<

»Käfer und Falter von allen Farben und Formen summten und flatterten um mich, bunte Vögel zwitscherten überall aus dem wogenden Gebüsche; ich sah auch das Wasser rollen und bemerkte sogar den allerfeinsten Strom der Lüfte. – o Mutter, o Lenchen, das war so schön!«

»Jählings fühlte ich einen leisen Druck an der Hand und der schöne Knabe war verschwunden, aber die Worte hörte ich noch: Ich komme bald wieder, wenn – – Da erschallt Konrads Stimme, das Geräusch der Türen, Fritzens und Augusts Jubel und ich mußte erwachen.«

»Mutter, wer war denn der schöne Knabe?« fragten die Kinder fast aus einem Munde, als Wilhelm ein wenig schwieg; »und der garstige Reiter?« sagte Lenchen mit schauderlicher Gebärde dazu.

»Ihr könn euch ‘s wohl selbst denken,« antwortete die staunende Mutter, »und ich will es euch nur bestätigen, daß es der Schutzengel war und der Böse, der die Menschen um ihre Frömmigkeit beneidet und ihnen auf alle mögliche Weise zu schaden sucht; doch, wie ihr aus Wilhelms Traum gehört habt, vergebens.«

»Ich komme bald wieder,« wiederholte träumerisch der kleine Wilhelm, »Mutter, bald wieder, wenn –«. »Wenn du fromm und gut bleibst!« ergänzte die Mutter, drückte den lieblichen Schwätzer an ihr Herz und dankte Gott für seine wunderbare Offenbarung an dem Liebling ihrer Seele.


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