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Erster Teil. Wir Gefangene

Mariä Lichtmeß brachte helles Wetter. In dem verdunkelten Gemach war ein blanker Streifen über dem Fenster. Die Blicke des Kranken hafteten an dieser Botschaft von dem wachsenden Licht. Etwas in seinem Innern hatte sich gelöst, er empfand diesen Zustand als langentbehrte Freiheit und war seltsam froh darüber. Seine Gedanken gingen in die Vergangenheit und er lächelte leise vor sich hin.

Jetzt lagen in der Bucht des Jasmunder Boddens, die man vom Fenster seines Schwiegervaters übersehen konnte, die wilden Schwäne. Weiß zwischen weißen Wellenkämmen schwammen sie in ihrem sicheren Versteck. Zuweilen tauchten sie oder zogen sich, eine Gefahr witternd, allmählich vom Lande zurück. Aber immer war ihnen etwas von der stolzen Ruhe derer, denen ein Geschick bestimmt hatte, auszusterben und die den Rest ihrer Lebenszeit noch mit trauervollem Ernst genießen, den nur der erkennt, dem ein gleiches Los zufiel. So ist es heute, so war es damals, da er als ein kühner Freier das erste Mal auf Schloß Brugge Einzug hielt. Ach damals!

Die Tür wurde leise geöffnet, fast unhörbar trat der Diener ein.

»Guten Morgen, Kroll,« sagte der Kranke.

»Guten Morgen, Herr Baron. Haben Herr Baron gut geruht?«

Während sein Herr ihm in knappen Worten berichtete, begann Kroll wie alle Morgen das Zimmer herzurichten, die Vorhänge aufzuziehen und das Fenster zu öffnen. Zwischen den einzelnen Verrichtungen blickte er verstohlen und prüfend den Kranken an. Er war während der Nacht nicht gerufen, aber das war es nicht, was ihn aufhorchen ließ. Es war ein gehobener Ton in seines Herrn Stimme, den er wohl von früher kannte, den er aber so lange nicht vernommen, daß er ihm fremd geworden war. Er wußte sich diese Veränderung nicht zu deuten und beschloß, die Baronin aufmerksam zu machen.

Aus dem Park klang das Lied eines kleinen Vogels.

»Hören Sie, Kroll? Da ist der kleine Kerl wieder. Sie wollten mir nie glauben, daß der Zaunkönig auch im Winter singt, und dort hinten meldet noch ein anderer Vogel. Wir werden ein zeitiges Frühjahr haben.«

Er richtete sich empor, als Kroll ihm die Schüssel herzutrug und fuhr heiter fort: »An die Schwäne muß ich denken, wissen Sie, Kroll? Auf unserem Bodden und im Tromper Wiek sind die einzigen Stellen, auf denen sie sich halten. Ich glaube, Sie sahen sie dort auch, wann waren Sie eigentlich das letzte Mal in Brugge?«

Der Diener fuhr ruhig in seiner Hantierung fort, sein Gesicht verriet keinen Augenblick, daß ihn die Gesprächigkeit seines Herrn verwundere. »Ich war mit Herrn Baron Weihnachten vor einem Jahr das letzte Mal in Brugge. Die Schwäne habe ich wiederholt auf jenem Wasser liegen sehen.«

Der Kranke erwiderte nichts. Sein heiteres Gesicht spannte sich unter einem Gedanken, der ihn bei Krolls Worten angesprungen war. Damals war es gewesen, kurz vor dem Zwangsverkauf des alten Schlosses und seiner Jagdgründe. Er hatte da mit dem treuen Diener eine Stunde verlebt, die ihm den goldenen Grund des Mannes zeigte. Damals hatte er ihm jene Zusage gemacht, deren er sich zuweilen unter peinlichen Gefühlen erinnerte.

»Kommen Sie zu mir, Kroll, Sie wissen, daß ich Ihnen etwas zusagte. Nun, ich habe das nicht vergessen. Aber Sie wissen ja, diese entsetzlichen Zeiten! Sie bekommen das, was ich Ihnen versprach, Kroll, darauf können Sie sich verlassen.«

»Ich weiß, daß Herrn Barons Wort sicher ist, wie ein Dokument. Aber Herr Baron sollen sich darum nicht beunruhigen. Wenn Herr Baron Schwierigkeiten hat, so bitte ich, diese Zusage zu vergessen. Ich bin zufrieden, ein treuer Diener zu sein.«

Er ergriff respektvoll die Hand, die sein Herr ihm bot, und verneigte sich tief. Dann fuhr er in seiner Beschäftigung fort wie alle Tage.

Vor der Tür wurde die Stimme der Baronin Cedergren hörbar, die dem Mädchen eine Weisung gab. Die Augen des Kranken richteten sich erwartungsvoll auf die Tür, die sich sogleich darauf öffnete. Während die Hausfrau über die Schwelle trat, wandelte sich ihr Gesicht. Die Wangen, die unter dem Druck der Sorge erschlafft waren, röteten sich ein wenig und der Mund und die Augen wurden in ein freundliches Lächeln getaucht, das aber wieder verschwand. Sie nickte ihrem Gatten zu und trat dann an das geöffnete Fenster: »O Joachim, das Meer! Seit Monaten hat es seine Bläue wieder. Nun wird es Frühling werden.«

Kroll hatte mit einigen Griffen seine Verrichtungen beendet und verließ jetzt das Zimmer. Die Baronin schloß das Fenster und trat an das Lager: »Du siehst heute gut aus, Joachim. Die Nachtruhe allein kann dir diesen frischen Zug nicht gegeben haben. Es geht dir besser, Joachim?

Er sah seine Frau mit einem eigentümlichen Blick an. Dann machte seine Hand eine einladende Bewegung gegen den nächsten Sessel.

»Ich wollte mit dir etwas besprechen, Marianne. Ich habe zwar keine Kenntnis, wie es jetzt um St. Jürgenshof steht. Nein, du darfst nicht erschrecken. Ich will keine Auskunft. Die Gedanken quälen mich ja zuweilen. Jesko fährt wie ein fahrender Ritter in der Welt umher und kümmert sich um nichts, und Sigrid mit ihren fünf Mädeln ... Nun, ich weiß nicht, ob sie an ihrem Mann die rechte Stütze hat. Aber das beunruhigt mich heute nicht.«

Seine Hand schnitt wieder durch die Luft: »Abgetan!« Marianne Cedergren rückte unruhig hin und her. Was konnte ihr Mann wollen? Hell, merkwürdig hell war sein Blick. Es ängstete sie, daß er Forderungen stellen würde, die unerfüllbar waren. »Entsinnst du dich der Vorgänge bei unserem letzten Weihnachtsaufenthalt auf Brugge? Krolls Benehmen war wirklich das eines Helden, als er das Kind aus dem Wasser zog. Damals versprach ich ihm hundert Mark. Geben konnte ich sie nicht, denn eine solche Summe war damals schon fast ein kleines Vermögen. Seitdem drückt mich meine Schuld, aber wahrhaftig, ich habe nie die Möglichkeit gesehen, mein Wort einzulösen. Nun aber ...«

Die Baronin atmete auf. »Mein Himmel, wie du mich erschreckt hast, Joachim! Natürlich muß Kroll sein Geld bekommen. Aber er weiß, daß es jetzt unmöglich ist, Bargeld aufzutreiben. Er hat so lang gewartet und wird noch einige Zeit warten müssen.«

»Komm näher«, sagte Cedergren. »Diese Antwort habe ich erwartet. Aber das ist es ja eben, diese Schuld muß sofort getilgt werden. Die Nacht war voller Unruhe über diesem Gedanken. Also bitte, Marianne, regele das noch heute. Weißt du, ich habe den kleinen Vogel singen hören, den jeder Cedergren hier hört, wenn der Zapfenstreich erklingt.«

Die Baronin erschrak, aber sie faßte sich schnell und lachte sogar ein wenig: »Der Zaunkönig ist es, ich hörte ihn auch am Morgen.«

Der Kranke richtete sich halb auf. Er war ruhig und die Erregung zitterte in seiner Stimme: »Nein, Marianne, nein, das war etwas völlig anderes.« Er redete hastig und voll Eifer, daß seine Frau die Tränen aufsteigen fühlte. Er griff nach ihrer Hand. »Du mußt nicht klagen, Marianne; sieh einmal, ich lebe wie ein Gefangener, immer hinter Gittern, Frühling, Herbst und Winter auf dem gleichen Fleck. Da ist der Tod nur eine Erlösung, und ich weiß, die gönnst du mir.«

Die Baronin wollte einen Einwand machen, aber er fuhr schon fort: »Und diese Zeit, ... Wer ihr Lebewohl sagt, der zeigt ein freundlich Gesicht und spricht nicht: Auf Wiedersehen! Aber das nebenbei. Aber nicht wahr, für meine Verpflichtung an Kroll sorgst du? Ihr sollt mich ja auch in keinen Sarg legen; mir genügt die Hirschhaut völlig.«

Marianne Cedergren trachtete, dieser unruhigen Rede ein Ende zu machen. Sie entzog ihrem Mann die Hand und tat, als sei auf dem Tisch noch etwas zu ordnen.

»Du solltest dich wirklich beruhigen, Joachim. Dein Wunsch wird ohne Umstände erfüllt werden. Ich wollte diesen Vormittag ohnedies nach Bukow fahren und bei Corswand vorsprechen, dabei läßt sich die Besorgung der hundert Mark wohl erledigen. Tu mir nur die Liebe und beruhige dich, vor allem: weise diese törichten Gedanken an den Tod von dir. Du bist frisch wie seit langem nicht und es ist Zeit genug an ein Unglück zu denken, wenn es da ist.«

Ihr Gesicht hatte den gewollten heiteren Zug verloren. Während sie sich über ihn neigte und ihm Lebewohl sagte, waren ihre Gedanken schon draußen auf dem mühseligen Wege. Sie sah alles voraus, was ihr auf dieser Fahrt begegnen müsse. Aber energisch riß sie sich zusammen. Das Leben stellte ihr täglich neue Aufgaben. Man mußte eben an die Lösung gehen, ob man es gern tat oder nicht.

Auf der Diele nahm Marianne Cedergren einen alten Schal vom Haken und schlang ihn um sich. Dann betrat sie den Weg nach dem Beamtenhaus, das abseits hinter kahlem Gebüsch lag. Vom Park her tönte die Vogelstimme, die Joachim als Wächterruf gedeutet hatte. Zenit, Zenit! rief der Vogel unablässig. Was für eine Art mochte dies sein? Sie hatte diesen Vogelruf noch nicht gehört, von den Büschen hingen die Haselkätzchen, der Frühling kam zeitig in diesem Jahr. Das bedeutete einen Nachwinter und Unglück für die Saaten. Aber es kam wirklich auf ein Unglück mehr oder weniger nicht an. Die Menschen begannen stumpf zu werden.

Ketelböter stand gerade am Fernsprecher. Er schrie in den Trichter, daß man ihn jenseits des Hofs verstand. Als er die Tür gehen hörte, wandte er sich um und begrüßte die Herrin durch eine Verbeugung, während er eine Entschuldigung murmelte. Die Baronin setzte sich und wartete geduldig. Es war von Kartoffeln die Rede, das ging sie nichts an und sie begann das niedrige Zimmer zu mustern, das noch nicht aufgeräumt war. Überhaupt – es war hier immer ein wenig schmuddlig, die Gardinen, die zerrissene Decke auf der Kommode, das richtige Asyl eines alternden Junggesellen.

Und wenn nur nicht dieser beizende Geruch gewesen wäre, dieses Gemisch von Transtiefeln und Pfeifenknaster, das so stark von den Wänden aufgesogen war, daß keine Lüftung ihnen diesen Duft hätte entführen können.

Ketelböter hing den Hörer an und unterdrückte ein gewöhnliches Schimpfwort. Die Baronin musterte ihn flüchtig, als er näher kam. Dieses fahlblonde Gewirr von Kopf- und Barthaar war ebenso ungepflegt wie sein Wohnzimmer. Sie wußte, daß Ketelböter im Kreise seiner Berufsgenossen den Namen »Bräsig« führte. Eigentlich unerklärbar, denn sein Äußeres glich dem des Reuterschen Inspektors ganz und gar nicht.

»Herr Ketelböter,« sagte sie, »ich gebrauche den Wagen für eine Fahrt nach Bukow. Lassen Sie Holz sofort anspannen.«

Der Beamte machte eine Bewegung der Zustimmung und blieb abwartend in seiner Haltung. Es mußte noch etwas kommen; wegen einer so einfachen Bestellung wäre die Baronin nie selbst gekommen.

»Setzen Sie sich doch. Ich muß mit Ihnen sprechen. Sagen Sie mir, Herr Ketelböter, kann ich von Ihnen hundert Mark haben?«

Der Inspektor war ehrlich erschrocken. In seine kleinen Äuglein trat ein feindlicher Zug: »Ich sagte neulich, Frau Baronin, daß es unmöglich ist, aus der Wirtschaft noch etwas herauszupressen.«

»Sie müssen irgend etwas verkaufen. Das Geld muß beschafft werden.«

Ketelböter blickte listig drein: »Wenn Frau Baronin mir sagen wollten, was wir verkaufen könnten ... Frau Baronin, gehen Sie mit mir über den Hof und zeigen Sie mir, was wir abgeben sollten. Ich bin bereit, es sogleich zu versilbern.« Er erblickte die stumme Verzweiflung der Dame und fügte mitleidig hinzu: »Geht es Herrn Baron nicht gut? Den Doktor würden wir allenfalls herbekommen.«

»Es handelt sich nicht um den Arzt; den haben wir uns, wie Sie wohl wissen, längst abgewöhnt. Allerdings wollte der Baron das Geld haben.«

Ketelböter wurde etwas verlegen, da er die Frau in hilfloser Lage sah, die er aufs höchste achtete. Er sagte mit gedämpfter Stimme: »Ich wüßte wirklich nicht, wie ich eine Mark in unsre leere Kasse schaffen sollte. Die Leute haben vor vier Wochen ihren letzten Lohn erhalten, Deputatkorn kann ich ihnen auch nicht mehr geben, denn der Boden ist blank. Hafer für die Pferde ist ein kleines Häufchen da.« Er hielt die Hand ein wenig über den Fußboden und fuhr dann fort: »Mein Gehalt habe ich seit November nicht gefordert, Frau Baronin. Sie hörten das Gespräch, als Frau Baronin eintraten: ich habe keine Saatkartoffeln und weiß nicht, wie ich den Acker bestellen soll. Im Herbst sollte ja alles verkauft werden, so wurde eine zu geringe Menge eingemietet. Und dieser laue Winter, in dem alles fault.«

Der alte Bursche hob die Arme in komischer Verzweiflung, seine Stimme überschlug sich.

Die Baronin sah ihn teilnahmsvoll an; auch sie war ergriffen von dem Blick in den Abgrund der Hoffnungslosigkeit. Da hatte man diesen treuen Menschen benutzt als ein Prellbock gegen das Andringen des Verderbens: Herr Ketelböter helfen Sie hier. Herr Ketelböter springen Sie dort ein. Und niemand hatte bedacht, wie schwer der Mann an der Not seiner Herrschaft mittrug. Sie erhob sich und reichte ihm die Hand, die er vorsichtig ergriff.

»Ja dann muß ich eben sehen, die kleine Summe an andrer Stelle zu bekommen. Ich glaubte nur, Sie könnten mir diesen Bettelgang ersparen. Also dann gleich den Wagen bitte.«

Und während sie schon die Diele des Herrenhauses durchmaß, stand Ketelböter kopfschüttelnd in seiner dunklen Stube und sann nach, wie er helfen könne. Doch sein Suchen blieb erfolglos wie das der Vielen, die diesen Gedanken über ihre Äcker trugen.

Kutscher Holz, der trotz seiner sechzig Jahre noch immer grade auf seinem Bock saß, war der Typ eines herrschaftlichen Kutschers geblieben. Trotz der alten Rappen, die sehr unsicher auf den Beinen waren und gar nichts Herrschaftliches mehr an sich hatten, trotz des alten Jagdwagens, aus dessen verschlissenen Polstern das Seegras oft spannenweit heraushing; trotz des vergrauten Mantels, der die schlimmeren Schäden einer in der Auflösung begriffenen Livree bedeckte. Die Frau Baronin trat schnell aus dem Haus, gefolgt von Kroll. »Nach Bukow?« fragte Holz mit ehrerbietig geneigtem Kopf. Was war das nur heute, daß Kroll ihm nicht wie immer das Ziel der Fahrt angab?« »Jawohl, nach Bukow.« Als sie aber durch die Allee fuhren, hörte er die Baronin hinter sich sagen: »Zuerst nach Rosenau, Holz.« Nun wußte er, die Gnädige wollte nicht, daß man zuhause um ihre Fahrt wisse.

Es war ein Tag, wie er in unseren Küstenstrichen im Vorfrühling häufig ist, ein milchiges Weiß bedeckte den Himmel, in dem die Sonne glanzlos wie ein erlöschendes Auge stand. Marianne Cedergren blickte sich auf der Höhe des Weges um.

St. Jürgenshof lag hinter dem kahlen Baumgeäst, vom Meer erblickte man nur einen schmalen Streifen. Plötzlich war ihr, als höre sie in der Ferne wieder den seltsamen Vogelruf: Zenit, Zenit, Zenit. Sie blickte umher, aber in dem blattlosen Baumwerk der Landstraße war kein Vogel sichtbar. Ihre Einbildung hatte sie getäuscht. Überhaupt diese Erzählung Ketelböters! Sie zog die Gedanken wie der Magnet die Eisenfeilspäne an sich. Immer wieder griff die kalte Hand der Not nach ihrem Herzen, nach dem Herzen der Menschen überhaupt, wohin man blickte, da sah man kummervolle Mienen. Und sie fuhr wahrscheinlich vergeblich über Land, um hundert Mark aufzutreiben, und dabei lag ihr Mann auf dem Siechbett, und in ihr fraß der Schmerz um das kürzlich erst verlorene elterliche Besitztum; und ihr Bruder war irgendwo erwerbslos in der Fremde. Und – und – und –. Ach, das Unglück war nicht auszudenken. Sie schleppte es wie eine Kette mit sich. Wie hatte Joachim gesagt? Gefangene sind wir. Ja, Gefangene des Unglücks.

Sie richtete gewaltsam ihre Sinne auf die Umgebung. Im Rübenschlag wurde Dung gefahren. Es war ein Jammer, wie sparsam sie ihn aufwarfen. Doch es ging wohl nicht anders. Kein Vieh, kein Stroh, woher sollte der Dünger kommen.

Dann fuhr sie über die Grenze und musterte die Ackerbreiten Rosenaus. Hier sah es noch trostloser aus als in Jürgenshof. Zwei, drei Schläge waren noch ungepflügt. Das Wetter war der Winterarbeit nicht ungünstig gewesen, es schien, als habe etwas Feindseliges die Hände der Menschen gelähmt. Ein breites Ackerstück schien völlig verwildert: die breiten Blätter des Huflattich bedeckten aufdringlich den Boden. Man sagte, die Pflanze wuchere dort üppig, wo der Erdgrund in Nässe verdarb. Die veraltete Drainleitung war wohl verfallen, und wer hatte die Mittel, eine neue Entwässerung zu legen?

Eine kurze Strecke des Landwegs, der von der Landstraße nach Gut Rosenau führte, legte Holz im Schritt zurück. Er wollte Pferdekraft sparen, um nachher schneidig auf den Hof und die Rampe hinaufzufahren. Solche kleinen Kniffe hatte Holz noch immer im Vorrat, wenn es galt, die Ehre seiner Herrschaft zu wahren.

Der Gutshof machte den Eindruck, als sei es Sonntag; mehr noch, als sei er vor kurzem ausgeraubt. Einige Wagenteile lagen vor der Stellmacherei, im übrigen war eine erschreckende Leere. Die Türen der Ställe waren geöffnet, aber kein Laut eines Tieres drang heraus. Ein wüster Kopf reckte sich aus einem Türspalt, schaute verdrossen nach dem ankommenden Wagen aus und zog sich dann wieder zurück. Ein großer Hund lief dem Fuhrwerk entgegen, gab aber keinen Laut und blieb mißmutig stehen. Die Auffahrt gelang nach Holzens Wunsch: die Rappen taten ihr Möglichstes und standen wie angewurzelt vor dem Tor, aber dieses blieb geschlossen. Niemand schien die Ankunft des Gespanns bemerkt zu haben. Marianne Cedergren wartete eine Minute und eine zweite. Endlich, da Holz aus seiner Unbeweglichkeit erwachte und fragend den Kopf wandte, erhob sie sich und stieg vom Wagen. Das Tor war verschlossen. Sie drückte den Türgriff nieder und rüttelte. Das Geräusch mußte bis in den fernsten Winkel dringen, aber niemand kam. Enttäuscht wandte sich die Baronin um: »Die Herrschaft ist hier, Frau Baronin, wenigstens Herr von Rosen hat soeben ausgeschaut.« Marianne Cedergren zuckte die Schultern. Vielleicht wollte man sie nicht empfangen. In dieser seltsamen Zeit gab es so viel Seltsamkeiten. Sie schickte sich eben an, ihren Wagen wieder zu besteigen, als drinnen im Haus Schritte hörbar wurden. Hastig wurde der Schlüssel in der zweiten Tür umgedreht und dann öffnete man schnell die Außenpforte. Herr von Rosen stand in der Tür und begrüßte lachend den frühzeitigen Gast. Ein Wortschwall prasselte jetzt auf Marianne nieder. Frau Baronin möchte entschuldigen, das Mädchen habe wohl nicht aufgemerkt. Man wisse gar nicht, wo das Wesen stecke denn das Haus sei zu weitläufig. Wie? Ja, sie hätten natürlich nur noch ein Mädchen. In dieser Zeit spare man ja an allem, man werde einfach dazu gezwungen. Und die verriegelte Tür? Nun, es kämen allerlei ungebetene Gäste. Landstreicher? Nein, die wüßten, daß hier nichts mehr zu holen sei, aber andere Leute, sogenannte Beamte, die ein blaues Siegel hinterließen.

Marianne Cedergren war dies hervorsprudelnde Gerede äußerst peinlich: Holz hörte natürlich jedes Wort; aber darauf schien Rosen gar nicht zu achten. Sie beeilte sich einzutreten und Rosen verschloß die Pforte aufs sorgsamste.

Er führte seinen Gast in ein Zimmer, das einen unwohnlichen Eindruck machte, nicht wegen der Leere, sondern wegen der Fülle von Dingen, die hier aufgehäuft waren. Der Flügel war geöffnet, auf dem Notenhalter lag Peer Gynt. Der Hausherr fuhr sogleich mit seiner Erklärung fort: Ja, man müsse sich einrichten. Hier in dieser Enge hätten sie den Winter zugebracht. Man heize überhaupt nur noch zwei Zimmer, für mehr lange es nicht. Ja, seine Frau spiele zuweilen, das sei so ziemlich auch das einzige Vergnügen, das man sich leiste. Übrigens, seine Frau! Sie ruhe noch. Schlafen sei das billigste Mittel, um dieser Misere zu entrinnen. Wenn die Baronin etwa seine Frau sprechen wolle ...

Marianne wehrte ab, als Rosen sich erhob, um die Frau zu verständigen. Es war ihr gerade recht, den Hausherrn allein zu sprechen. Rosen wurde ruhiger und Marianne blickte erschreckt in das Gesicht, das sich zu entspannen begann. Nun, da ihm die glatte Maske gesellschaftlicher Herzlichkeit entglitt, wurden die Spuren der Sorgen offenbar. Erbarmen, wie sah der Mann aus! Cedergrens, die früher auf Rosenau verkehrten, waren in den letzten Jahren der Not ferngeblieben. Man hatte einander im Vorüberfahren gegrüßt. Um so erschreckender war es, zu sehen, was die Zeit aus ihren Menschen gemacht hatte.

Rosen fiel es plötzlich ein, daß er sich noch gar nicht nach dem Befinden seines Nachbarn erkundigt hatte, und er ergriff den Gedanken mit Lebhaftigkeit. Es schien Marianne, als ahne er den Zweck ihres Kommens und wolle sie durch ein emsiges Geschwätz daran verhindern, ihre Bitte vorzutragen. Was in aller Welt konnte die Herrin von Jürgenshof veranlassen, in solcher Frühe vorzufahren!

Marianne fühlte die Minute näher kommen, in der sie sich erklären mußte, sie fürchtete sie. Sie nahm ihr Herz in beide Hände, noch nie hatte sie sich so feige und hilflos gesehen. Stockend trug sie das Gespräch mit ihrem Mann vor. Ein Glück, daß Rosen es ernst nahm. Er sagte: »Ich begreife vollkommen, wie dieser Gedanke ihren Gatten bedrängt; ich glaube, in ähnlicher Lage würde ich genau so handeln. Aber, liebe Frau Baronin, ich kann Ihnen nicht helfen.«

Und schon nahm er wieder die Maske vor. »Sie ahnen ja gar nicht, wie es uns geht, wie so ganz wir auf das Nichts gestellt sind. Wir leben hier jeden Augenblick in Bereitschaft, hinausgeworfen zu werden und eigentlich wundere ich mich, daß wir es noch nicht sind. Aber sämtliche Taschen könnte ich vor Ihnen umkehren: es fiele kein roter Pfennig heraus.«

Marianne Cedergren fühlte, wie eine Blutwelle bis in ihre Stirn stieg. Das Beschämende ihres Bittganges kam ihr plötzlich in seiner ganzen Niedrigkeit zum Bewußtsein.

Sie erhob sich und nickte nur zu den Worten Rosens, die Cedergrens hätten doch Beziehungen nach Schweden; ob sie dort schon versucht hätten, etwas herauszuschlagen. Sie nickte nur, murmelte eine halbe Wahrheit und verließ das Zimmer, gefolgt von dem Hausherrn, dessen Ermunterungen bitter wie Galgenhumor schmeckten. Gleich darauf saß sie im Wagen und hörte, während sie von dem leeren Hof fuhr, hinter sich die knarrenden Schlösser gehen, mit denen sich Rosen die ungebetenen Gäste vom Halse hielt.

Was nun? Es graute sie, wenn sie an das Büro des Bukower Kornhändlers dachte. Jedenfalls wollte sie es vorher bei Rüdiger auf Plessow versuchen. Der Mann galt als ein tüchtiger Wirt. Sie hatten einmal einander nahe gestanden, doch nach dem Tode der geliebten Frau war Rüdiger menschenscheu geworden. Auch hatte man in der letzten Zeit von Verlusten gesprochen, an denen er nicht ganz schuldlos sein sollte. Aber was galt dies alles in dieser Stunde! Marianne wollte eben dem Kutscher zurufen, daß er nach Plessow fahre, als ihre Aufmerksamkeit durch einen Menschen abgelenkt wurde, der ihr entgegenkam. Die Hände hatte er in die Muffentaschen seiner Joppe gesteckt; an seinem Arm hing der Handstock mit der gebogenen Krücke. Er hatte die Schultern hochgezogen und schritt mir vorgeneigtem Kopf schnell dahin. Es sah aus, als stürme er gegen einen harten Wind.

Plötzlich kam Marianne zum Bewußtsein, daß dieser Anlauf gegen einen Wind, der gar nicht da war, und dieses auf den Weg gerichtete Gesicht gar nicht das eigentlich Schreckhafte an dem einsamen Fußgänger war. Es war etwas über ihm, das ihn wie eine Faust im Nacken gepackt hielt und ihn vorwärts stieß. Als der Wagen dicht bei ihm war, schien er ihn erst zu bemerken. Er blieb stehen und zog, als er die Baronin sah, schnell den Hut.

Dann war alles vorüber; es ging so schnell, daß sie erst nach Augenblicken der Besinnung inne ward: dieser Mann war ja Rüdiger auf Plessow.

Sie fragte den Kutscher: »War das nicht Herr Rüdiger?« Und Holz wandte den Kopf zur Seite und erwiderte: »Jawohl, Frau Baronin. Wenn der arme Herr seine schlimmen Tage hat, dann läuft er bei Regen oder Sonnenschein auf der Chaussee, soweit Plessower Gebiet ist, hin und her, her und hin.«

Holz hätte gern noch mehr gesagt, aber Marianne Cedergren verstummte. Zuviel des Schrecklichen hatte die letzte Stunde ihr gebracht. Der eine versteckte seine gut gespielte Lustigkeit hinter Riegeln und Schlössern, der andere trug sein Leid auf öffentlicher Straße. Ihr fiel ein, daß sie ja auf Plessow hatte vorsprechen wollen, jetzt erschreckte sie der Gedanke allein. Sie hatte doch Holz noch keine Weisung gegeben? Sie war zufrieden, als die Straße Plessower Gebiet verließ und in den Staatsforst mündete.

Die Stille des grauen Tages vertiefte sich zwischen den Buchenstämmen. Hier, wo der bunte Blatteppich des letzten Herbstes jede Bewegung dämpfte, hier schien die Abwesenheit alles Lebenden weniger furchtbar als in der baumlosen Ebene. Die Klafter überjährigen Holzes, die im vorigen Winter geschichtet, aber nicht verkauft waren, erschienen wie schwarze Unheilzeichen zwischen den hellen grauen Stämmen. Die trüben Lachen, zu denen sich das Regenwasser der ersten Januartage gesammelt hatte, waren ohne Glanz.

Gleich hinter dem Wald begann das Dorf Wendisch-Bukow. Nach der Art des Landes lagen die Gehöfte nicht nebeneinander, sondern waren über die ganze Feldmark verstreut, so daß jeder Hof inmitten seiner Äcker lagerte. Nur wenige bevorzugte Höfe waren an der Landstraße gebaut. Die Scheunengiebel, deren Strohdach grünbemoost, waren den Wanderern zugekehrt. Stattlich prunkte die neue Scheune des Dyke und sagte jedem, der die Augen erhob, ihren Spruch: Durch Frevler Hand / entstand der Brand / Gott hat es gewandt / daß eine schönre drauß entstand.

Die Baronin Cedergren ließ den Blick über die Äcker schweifen. Hier war saubere Arbeit mit Pflug und Egge geleistet. Aber der Wintersaat sah man an, daß die Herbstgabe an künstlichem Dünger sparsam, höchst sparsam gegeben oder gar unterlassen war. Die kalte Hand griff wieder nach dem Herzen der Frau. Von einem Jahr zum anderen ließ man den Acker mehr darben und hoffte dabei, daß eine günstige Wetterfolge das wieder gut mache, was man an dem Acker sündigte, gezwungen war zu sündigen. Denn die Steuerausschreibungen und die sozialen Lasten ließen keinen Taler übrig. Wie sollte ein mißhandelter Boden die früheren Leistungen aufbringen? In der Ferne war ein Zug dunkelgekleideter Menschen sichtbar, die dem schwarzen Totenwagen folgten. Ein Leichenzug, der, wie es schien, von Kniephagen kam, um den Verstorbenen in dem Kirchdorf zu bestatten. Holz kniff die Augen zusammen, um deutlich erkennen zu können. Ja, der Wagen trug die hölzerne, silberverzierte Krone, die seit Jahren auf dem Wagendach nur bei erstklassigen Begräbnissen befestigt wurde, die aber so lose aufgesetzt war, daß sie arg schwankte und für die Pferde der Vorüberfahrenden ein beständiges Schrecknis bildete. Auch Kutscher Holz hatte mit seinen Rappen die übelsten Erfahrungen gemacht. Um ein für allemal ein Durchgehen der Gäule zu verhindern, hielt er das Gespann regelmäßig bei einer Begegnung an. So hielt die Baronin vor Dykes Hof. Der Bauer war gelähmt und mußte die Wirtschaftsführung seiner Frau und dem einzigen Sohn überlassen. Er war früher Stellmacher auf St. Jürgenshof gewesen und war erst seinem älteren Bruder in der Wirtschaft gefolgt, als dieser vor Verdun gefallen war. Marianne Cedergren besuchte den Kranken, der mit rührender Treue seiner Herrschaft anhing, oft. Doch heute brannte der leidige Auftrag auf ihrer Seele. Nun zwang sie der Zug des Toten, gerade vor dem Dykehof zu halten.

Die Tiere wurden unruhig, als das schwarze, schwankende Ungetüm nahte, das Handpferd drängte zur Seite und versuchte schnaubend auszubrechen. Aber Holz hatte sie fest im Zügel, so kam der Leichenzug ohne Fährnis vorüber. Marianne blickte nach dem Gefolge. Neben dem Pfarrer gingen drei jüngere Männer, zwei zu seiner Rechten, einer ihm zur Linken. Sie boten einen seltsamen Anblick dar, wie sie auf Armlänge voneinander entfernt schritten, wie sie ihre Angesichter seitwärts gewendet hatten, als ginge sie der Tote vor ihnen gar nichts an. Pfarrer Asmus grüßte, die drei Leidtragenden aber wahrten ihr abgewandtes Wesen. Dies war nicht Verlegenheit, sondern ein Zurschaustellen irgendeines Ärgers.

Da das Gefolge nur gering an Zahl war, war der Zug bald vorüber. Marianne wollte Holz eben ein aufforderndes Wort zurufen, als dieser sagte: »Frau Baronin, Dyke sitzt am Fenster und will sich bemerkbar machen.« Nun half es nichts, sie mußte absteigen und den Besuch, den sie vermeiden wollte, doch ausführen. Sie schritt über den Hof und hatte wie immer ihre Freude an der Ordnung, die hier im Gegensatz zu anderen Höfen herrschte, war der Bauer auch durch sein Leiden ans Haus gefesselt, so wachten seine Augen doch darüber, daß keine Latte, kein Brett aus der Fuge ging und jedes Gerät an seinem Ort stand. Hier herrschte der Ordnungssinn, der den einstigen Stellmacher auf Jürgenshof unentbehrlich gemacht hatte.

Heiter lachend nahm er die Hand seiner einstigen Herrin, rückte einen Stuhl herbei und begann die Unterhaltung, als sei nicht er der vom Leid Geschlagene und als gälte der Trostbesuch nicht ihm.

»Wie es mir geht, gnädige Frau? O, ich danke, nicht besser und nicht schlechter. Ich bin zufrieden. Meine Zeit ist gewesen, nun müssen die Jungen auf den Plan und wir sollen abtreten. Hermann und meine Frau besorgen die Wirtschaft aufs beste und ich bin überflüssig, aber trotzdem halten die andern mir jeden Grund zur Erregung fern. Darf ich fragen, wie es dem Herrn Baron geht?«

Die Baronin gab Bescheid. wie immer, wenn sie zu Dyke kam, fühlte sie ihr Herz erleichtert. Trat dies ein, weil die lächelnde Gelassenheit des Kranken sie über sich selbst erhob? Sie blickte in der Runde: es war nur eine niedere Bauernstube, in der Dyke hauste, aber alles atmete Behagen und Wohlstand. Dies Wohlgefühl ging aber nicht von den Dingen aus, sondern von dem Mann, dessen Augen freundlich auf jedem Besuch ruhten und der nicht den huschenden Blick des versprengten Wendenblutes hatte. Er fuhr fort zu reden:

»Sie hoffen alle, daß ich wieder obenaufkomme, gnädige Frau. So hat mir mein Hermann einen Heiler verschrieben, der Rohde heißt und viel Erfolg hat. Ich dachte, ob Sie erlauben, gnädige Frau, daß ich den Mann nach St. Jürgenshof schicke. Ich verdanke Herrn Baron soviel und würde gern sehen, wenn jemand seine Krankheit lindert.«

»Sie sind einer der wenigen Getreuen,« erwiderte Marianne Cedergren. »Aber unser Kranker will sich niemand mehr anvertrauen.«

Es war einige Augenblicke still in dem Zimmer. Die Baronin dachte: Beinah hätte ich gesagt, daß wir aus Sparsamkeit jede ärztliche Hilfe ablehnen müssen. Und der Bauer erwog, ob es wohl schicklich sei, seinem einstigen Herrn anzubieten, daß ihn der Besuch nichts kosten solle. Er lenkte aber das Gespräch auf ein anderes Ziel. Ob die gnädige Frau auf die Leidtragenden des begegnenden Trauerzugs acht gegeben habe. Die drei Söhne, die ihren Vater begruben und die wie Fremde hinter seinem Sarg schritten, bildeten augenblicklich den Gegenstand aller Gespräche. Man wisse, daß die drei verschiedenen politischen Richtungen angehörten. Das habe schon früher zu heftigen Meinungskämpfen im Vaterhause geführt, das sei das Leid des alten Schindler gewesen. Als er sich zum Sterben niederlegte, habe er den Waldemar und Fritz kommen lassen, um die drei zu versöhnen. Er sei auch beruhigt gestorben; aber kaum habe er die Augen geschlossen, so sei die Wut der Brüder um so heftiger aufgeflammt, und die Stille, die der Tote hinterlassen, sei aufs ärgerlichste zerstört worden. Marianne Cedergren hörte kaum zu. Was gingen sie die Geschicke fremder Leute an; sie war auf einem Bittgang und mußte eilen, ihrem Schwerkranken Beruhigung zu bringen. Sie erhob sich und wollte sich verabschieden. Aber Dyke, der froh war, jemanden zu haben, der ihm zuhörte, fuhr fort: »Wie, nach Bukow wollen Sie, gnädige Frau? Da wird heute nicht viel auszurichten sein. Eine Massenversammlung der notleidenden Bauern tagt im Deutschen Hof und von nah und fern strömen die Landleute herbei. Sogar das Gefolge des toten Schindler ist darum gering gewesen.«

Marianne ließ ihn ausreden, aber der Boden brannte unter ihren Füßen. Sie blickte in den Spiegel, der über der Kommode hing und dessen Rahmen mit Verlobungs- und Todesanzeigen besteckt war. Sie erschrak, denn was ihr entgegenblickte, war das Antlitz einer alten abgelebten Frau.

Auch Dyke mußte plötzlich ihres leidvollen Anblicks inne geworden sein. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und sagte mir gedämpfter Stimme: »Es sind ja jetzt so verworrene Zeiten, gnädige Frau, darum mögen Sie meine Worte verzeihen. Aber wenn gnädige Frau einmal in plötzliche Verlegenheit geraten sollten, ich habe das Gute, das mir einst auf Jürgenshof widerfuhr, nicht vergessen und bin stets bereit zu helfen. Ich bitte nochmals um Vergebung. Aber mir geht's so gut, daß ich nur abtrage, was ich überreich empfangen habe ...«

Die Verlegenheit überwältigte ihn, seine Worte verwirrten sich. Er suchte nach einem Ausdruck für seine Ergebenheit und schwieg dann jäh. Marianne fühlte eine Rührung heiß aufsteigen. Dieser Beweis von Treue in einer Zeit, da die Menschen mit den Resten ihrer Habe und ihres Gutes voreinander flüchteten, war überwältigend. Einen Augenblick lang dachte sie: Soll ich ihm von den hundert Mark sagen? Dann reichte sie ihm entschlossen die Hand, dankte, deckte ihre Verlegenheit mit einem freundlichen Lächeln zu und verließ die Stube.

Sie wunderte sich, als sie die Bäuerin auf der Schwelle stehen sah. Die mußte soeben eingetreten sein. Die Frau sah gut aus, das harte Leben während des Krieges, während der Vermögensverluste und vor allem in diesen Jahren der Verelendung hatte ihr nur wenig genommen; sie war noch immer eine schöne Frau. Besonders wenn sie, wie jetzt, unter dem Einfluß einer Erregung stand und das Flackerfeuer des Bluts über ihr Gesicht zuckte. Sie begrüßte den Gast und schien gar nicht auf das zu hören, was ihr Mann sprach: »Nicht wahr, Mutter, den Herrschaften in St. Jürgenshof helfen wir mit unserm Letzten.«

Sie nickte ihm nur flüchtig zu und ließ die Baronin an sich vorbei in den Flur treten; hier fand ihre Erregung endlich Worte.

»Ich hörte, was er Ihnen sagte, gnädige Frau wissen ja, ich denke wie er, und für die Herrschaft könnte man von mir verlangen, was man wollte. Nur dies, was er Ihnen zusagte, fehlt uns wie allen. Ich kann es beschwören, gnädige Frau, mit dem Geld sind wir genau so schlecht daran wie alle. Nur, daß Hermann und ich vor ihm Komödie spielen. Ach es ist ein trauriges Handwerk, dieses Verdecken und vertuschen, aber der Arzt hat nun einmal verlangt, daß Johannes jede Aufregung ferngehalten werde, weil er sonst für nichts einstehen kann.«

Die Baronin hielt während diesen Worten Qualen aus. Dachte die Bäuerin etwa, sie habe versucht, Geld zu leihen? Eine schmerzende Scham überfiel sie.

»Aber liebe Frau Dyke, es kann gar keine Rede davon sein, daß ich bei Ihnen um Geld vorspreche.« Sie neigte den Kopf zum Gruß, ein wenig hochmütig, und ohne zum Abschied die Hand zu reichen verließ sie das Haus. Sie fühlte sich erst frei von dem Peinlichen, als sie auf ihrem Wagen saß.

Hätte die Frau, die jetzt unter dem graublauen Himmel der Stadt zufuhr, einen Blick in die Stube getan, die sie soeben verlassen – der peinliche Druck wäre von ihrer Seele gewichen. Da saß der Bauer Johannes Dyke. In seinem Gesicht zuckte eine Spannung, seine Blicke waren starr auf die angelehnte Tür gerichtet; er saß wie ein Jäger, der die leisen Geräusche des nahenden Wildes verfolgt. Jetzt schien die Frau sich der Tür zu nähern, jetzt entfernten sich ihre Tritte. Er wollte rufen, aber ihm stand kein Laut zu Gebote. Nun klappte die Tür, die in den Hof führte: die Frau war gegangen.

Dyke atmete tief auf. Was war dies gewesen, dessen unfreiwilliger Zeuge er geworden war? Gähnte dort vor ihm ein Abgrund, an dessen Rand er ahnungslos saß? Oder war es eine Lüge gewesen, eine Lüge, die in dieser Zeit wohlfeil war? Aber seine Frau, die Grete, pflegte es mit der Wahrheit genau zu nehmen. – Dennoch – in diesem Fall ... Dyke machte eine abwehrende Bewegung, als wolle er die Winterfliege verjagen, die an ihm empor kroch. Nein, geirrt hatte er sich nicht, er hatte es ganz deutlich vernommen: Hermann und ich spielen vor ihm Komödie; ein trauriges Handwerk, dies vertuschen, aber der Arzt verlangt es nun einmal! Und dann war etwas gefolgt, das er nicht deutlich verstand, nur etwas von Aufregung war dabei gewesen. Er konnte sich den Zusammenhang schon erklären.

Ja, wenn es so stand um sie, wenn Hermann und die Frau nur redeten und lachten, um ihre wahren Gedanken zu verbergen, dann freilich war das Hochgefühl, er sei von Tausenden begnadet, nur Lug und Trug und verderbliche Selbsttäuschung.

Sein Blick wanderte nach dem Brief, der auf dem Tisch lag und der den amtlichen Stempel trug. Sie hatte ihn dahin gelegt und vergessen; er war für ihn nicht erreichbar. Was weiter von ihm lag, als sein Arm reichte, das ließ man liegen, das galt als gesichert. Aber er wollte heute doch einmal sehen ... Er machte einen krampfhaften Versuch und was ihm tausendfach mißlungen war, das gelang ihm jetzt: er konnte sich aufrichten und sich mühsam an den Tisch schieben. Er öffnete das Schreiben und blickte hinein. Da stand etwas von längst schuldiger Zahlung und von angedrohter Pfändung. Aufstöhnend ließ er den Brief fallen und schob sich mühsam auf seinen Fensterplatz zurück. Kaum saß er, als er Tritte auf der Treppe hörte, die in das Dachgeschoß führte. Hermann trat ein. Er hatte sich eben angekleidet, um zur Bauernversammlung zu gehen und wollte sich vom Vater verabschieden. Er sah den offenen Brief, stutzte, fragte, ob Mutter hier gewesen, und nahm das Schreiben an sich: »Eine Mahnung von der Steuer« sagte er gleichgültig und trat auf den Vater zu. »Es ist nun Zeit, Vater, zu gehen. Gibt's noch etwas zu besorgen?« Der Alte schüttelte den Kopf. Welche Besorgungen hätte er in Bukow gehabt? Sein Sinn stand auf etwas ganz anderes. Den Brief wollte er erklärt haben. Er wollte fragen, wie es um die Wirtschaft stünde. Auge in Auge, Mann gegen Mann wollte er die Wahrheit erpressen. Aber als er den Jungen von unten herauf betrachtete, wie er dastand, ein wenig gebückt schon unter der Last der Verantwortung, ein wenig eckig vom Führen des schweren Einscharpfluges und begierig davonzukommen, weil er noch wahrscheinlich die Lotte aufsuchen wollte, mit der er seit drei Jahren versprochen war; da blieb dem Alten das Wort im Munde stecken. Ein anderes Mal, morgen. Er würde noch früh genug dahinter kommen.

»Nein, mir fehlt nichts, Hermann« erwiderte er. »Geh nur jetzt, mein Junge, und führe unsere Sache so gut du es kannst.«

Sie reichten einander die Hand und Hermann ging. Dyke horchte hinter ihm drein. Er konnte den Schritten abhören, ob jemand unter Last oder unbeladen ging. Aber nun, da er auf die Tritte seines Sohnes hörte, wußte er doch nicht, woran er war. In dieser bitterharten Zeit traten die Jungen alle so merkwürdig schwer und keiner konnte sagen, welche Schulter mehr trug, die, an der die Arbeit hing, oder die, die ihre Sorgenlast trug.

Die Baronin von St. Jürgenshof fuhr jetzt durch Wobeser. Die letzte Wegstrecke zur Stadt lag vor ihr. Bis zu dem Schmachfrieden, der den Krieg beendete, war Wobeser ein großes Gut gewesen, dessen wogende Ährenfelder nahe an die Vorstadthäuser und Ackerbürgerscheunen Bukows reichten. Dann hatte eine Siedlungsgesellschaft den Erben den Landbesitz abgekauft und recht und schlecht besiedelt, mehr schlecht als recht. Denn sie hatten damit ihre Taschen gefüllt und die Direktoren, die bis dahin schon große Gehälter bezogen, hatten eine anständige Aufbesserung ihrer Jahreseinkommen erfahren. Die Häuser der Ansiedler waren nichts weniger denn gut. Schon bröckelte überall der Putz ab und die anfangs schmuck aussehenden Häuschen machten den Eindruck wie Vögel in der Mauser. Novemberregen hatten die dünnen Halbschichten abgewaschen und Winterstürme hatten da und dort die Holzverschalung der Scheunengiebel eingedrückt. Es war kein gutes Machwerk, das die hierhergesetzt hatten, die immer laut riefen, sie wollten ein neues Deutschland aufbauen.

Die Aufmerksamkeit der Baronin wurde bald auf anderes gelenkt. Auf den Wegen, die hier in die Hauptstraße mündeten, war ein reges Leben. Menschen in Gruppen von dreien und noch mehr wanderten auf Wobeser zu; dazwischen fuhren hier und dort auf ihren kleinen Einspännerwägelchen Männer in rauhen Lodenjoppen. Es waren die Bauern, die einem Ziel zustrebten, der Versammlung in Bukow, in der um die Not des Landes und der Landleute verhandelt werden sollte. Sie kamen von Philippstal, von Uekenhof und Unheim, von Wernersbrunn, Kniephagen und Rummer. Sie kamen in großen Scharen, aber sie gingen in geringen Gruppen zusammen, viele trugen ihre hohen Stiefel, in deren Schäfte die Hosen gefaltet waren. Sie gingen mit Handstöcken und in ihren Flausröcken, die der Bauer auch im Sommer nicht ablegt, weil hierzulande auch in Mittsommertagen eisige Winde einfallen können.

Was die Männer an einem Werktage trieb, ihren Hof zu verlassen und in die Stadt zu wandern, das stand in ihrem Gesicht geschrieben. Heute zog sie kein Viehmarkt an, heute trieben sie Angst und Sorge. Die Redseligen sprachen von nichts anderem als von diesem und die Schweiger, deren Mund fest geschlossen war, deren Brauen sich eng zusammenschoben und deren Hände hart und fest um den Griff ihres Stockes lagen, dachten an nichts anderes.

Es war unheimlich, diese Erweckten so still und zielsicher dahinwandern zu sehen. Einige blickten verwundert auf, wenn das Herrschaftsfuhrwerk an ihnen vorüberrollte: Fährt die auch zu unserer Notversammmlung? Da und dort griff jemand an den Mützenschirm. Es war kein Gruß, es war nur das Zeichen eines Einverständnisses.

Je näher Marianne dem alten Stadttor kam, um so mehr Männer überholte sie. Zuletzt in der engen Straßenzeile, die zum Markt führte, marschierten die Zuzügler so dicht, wie ein geordneter Heerhaufen im Angriff. Sie war froh, als sie den Markt erreicht hatte und der Wagen vor dem altgotischen Staffelgiebel des Rathauses hielt. Sie wollte Holz hier warten lassen, denn der Gang zu Corswand sollte verborgen bleiben. Doch nun, da der Wagen hielt, bedauerte sie ihren Entschluß. Vor dem Rathaus stand eine dichte Menge Arbeitsloser, die auf Abfertigung warteten oder sich hier müßig aufhielten. Marianne war gezwungen, grade vor den musternden Augen abzusteigen und dem Kutscher Weisung zu geben.

Sie standen da in ihrem ärmlichen Arbeitsanzug, müde vom Warten und Nichtstun. Erschlafft von der Wechselrede mit den Genossen, die sich immer um dieselben Dinge drehte, mir wunder Seele eine Hoffnung aufnehmend, die sie am Abend schon wieder begruben, bereit, jeden Vorgang auf dem Markt zu kritisieren. Sie, die oft genug die Arbeit verlästert hatten, reckten nun, da sie aus der Reihe der Arbeitenden herausgeworfen waren, voll heimlichen Verlangens die Arme nach ihr aus. Die Baronin erkannte, während ihr Blick die blassen Gesichter streifte, mehr wie einen, der auf St. Jürgenshofs Feldern einst gearbeitet harre.

Ja, so war es gekommen: die schwere Landarbeit war manchen zu schwer geworden, die Einfachheit ländlicher Wohnungen verglichen mit einer städtischen Unterkunft war ihren Frauen zu rückständig erschienen. Da hatten sie die Landarbeit, zu der sie erzogen waren, aufgegeben, hatten ihre Kuh verkauft und waren in die nächste Stadt abgewandert. Die Ziegeleien und die Kornspeicher boten Arbeitsgelegenheiten genug und überhaupt ... ein Kerl, der ein Fuder Korn lud, war zu jeder Arbeit fähig.

Aber nun war der große Arbeitsmangel gekommen und die Zeit fegte alles, was nicht in abgesicherten Stellungen saß, auf die Straße.

Marianne Cedergren sah niemand, der sie grüßte. Die Blicke der Männer zeigten Abwehr oder sie folgten den zuströmenden Bauern, die sich seitwärts gegen den Deutschen Hof zubewegten. Ihr kämpft noch um euren Boden, aber wie lange noch, dann steht ihr auch hier!

Die Baronin überquerte den Markt, ging durch eine Gasse über den Kirchhof, der auch jetzt im Winter von dem schwarzen Geäst verdunkelt war. Die Dohlen flatterten schreiend um die Lucken des Kirchturms und eben begann hie Mittagsglocke ihr Geläut. Das war hier Tag für Tag so gewesen, seit der Zeit, da die Granitblöcke und Rotziegel zum Bau von St. Niklaus aufeinandergetürmt waren. Das Haus in der abseits gelegenen Gasse, das Marianne aufsuchte, war das älteste und unwohnlichste der kleinen Stadt. Es war eines der alten Kalandhäuser, die sich aus mittelalterlicher verschatteter Enge und Begrenztheit in unsere Zeit hinübergerettet hatten. Der reiche Getreidehändler Corswand, der draußen moderne Kornspeicher und ein geräumiges Wohnhaus besaß, hatte in einer Laune dies alte Gebäu, in dessen Hinterräumen während des ganzen Tages die Lichtbirne glühte, zu seiner privaten Geschäftsstelle gemacht.

Menschen sind wie Bücher: Einige führen sich durch fremde Empfehlungen ein, andere klingeln ihren Wert auf dem Markt aus; und einige wenige kommen wie ein feiner stiller Sonntagsbesuch zu uns. Corswand gehörte zu keiner dieser Arten. Er war ein Buch mit sieben Siegeln; gefürchtet und doch geachtet, als hartherzig verschrien und doch zuweilen gelobt.

Der Mann in dem bis oben zugeknöpften Rock, mit dem glatten weißen Gesicht, in dem die Augenbrauen fehlten, empfing die Baronin Cedergren mit gemessener Höflichkeit. Was sie zu ihm trieb, wußte er im Augenblick, da der anmeldende junge Mann ihren Namen nannte. Er kannte die Geschichte aller seiner Kunden bis in ihre Einzelheiten genau, weniger daher, daß ihm viel zugetragen wurde, als wegen seiner vorzüglichen Menschenkenntnis, auf die er sich mit Recht etwas einbildete.

Als die Baronin neben seinem Schreibtisch saß, zog Corswand ein Buch näher, schlug mir einem Griff das Konto von St. Jürgenshof auf und sagte: »Ihr Konto ist stark überlastet, Frau Baronin.« Marianne preßte die gefalteten Hände. Da ging es an, das Peinliche, diese Daumenschrauben, die die Geldmenschen immer ansetzten, wenn jemand sie um etwas bat. »Das ist mir bekannt, Herr Corswand. Aber man lebt doch und also braucht man Geld.«

Der Blick des Kaufmanns glitt schnell über ihr Gesicht: »Sie wissen dann auch, Frau Baronin, daß ich bereits vor drei Monaten Ketelböter mitgeteilt habe, daß ich keine weiteren Vorschüsse leiste.«

»Ich bin nicht gekommen, für die Wirtschaft etwas zu erbitten. Die Leute bekommen seit langem ihren Lohn in Korn. Ich bitte für meinen kranken Mann«, erwiderte sie. »Das wäre für den Geldgeber dasselbe. Ihr Kredit ist wirklich erschöpft. Wäre es nicht möglich, für Ihre persönlichen Bedürfnisse an anderer Stelle Geld zu beschaffen? Zum Beispiel ...«

Corswand zögerte, brach ab und senkte die Augen. Die Baronin hatte genug gemerkt, der Blick des Kaufmanns hatte das Perlenhalsband gestreift, das sie trug. Ihre Hand tastete unwillkürlich nach dem Ausschnitt ihres Kleides. »Ja, Herr Corswand, das habe ich aufgehoben für die Zeit, die dem ... folgt. Keiner weiß, wie lange man noch dieses dürftige Leben tragen muß und wenngleich ich mich schon zurechtfinden werde, unser Kranker soll solange nichts entbehren, als eine Perle aus besseren Zeiten mir bleibt.«

Sie hatte sich erhoben und stand kampfbereit vor dem Mann, dessen Gelassenheit bei ihren Worten erschüttert wurde. Endete denn dieser schmähliche Handel nicht bald? Wenn der Krämer nicht wollte, gut, so würde sie gehen. Aber vorher wollte sie ihm den Stachel in sein Gewissen schlagen und ihm sagen, für was dieses Geld, um das sie betteln ging, eigentlich bestimmt war. Und sie erzählte, was sie auf diese Bittfahrt getrieben hatte.

Corswand rückte unruhig auf seinem Sitz. Seine Hand griff nach einem Buch und legte es wieder zurück; sein Gesicht verdunkelte sich wie bei einem gescholtenen Schulknaben. Kaum hatte die Baronin geendet, als er vor ihr stand. »Ich bitte doch sehr Platz zu behalten, Frau Baronin. Selbstverständlich sollen Sie unter diesen Umständen befriedigt werden. Verzeihen Sie nur mein Zögern, aber Sie werden begreifen, daß ich überlaufen bin.« Er drückte auf den Klingelknopf: »Für Frau Baronin Cedergren auf St. Jürgenshof hundert Mark.« Und als der Kassierer den Schein brachte, tat er ihn eigenhändig in den Umschlag. Die Angestellten sahen verwundert, wie mit seltener Beflissenheit der Chef die Dame zur Tür geleitete und hörten von dort noch das Ende der Verhandlung: »Die Quittung, Herr Corswand, ich habe keine Quittung unterschrieben.« – »Ist nicht vonnöten, Frau Baronin. Die Summe ist mir auch ohne Unterschrift sicher.« Der langmähnige Buchhalter stieß seinen Pultgenossen an: »Magnus, die Welt geht unter: Der Alte gibt Geld ohne Schuldschein.«

Marianne Cedergren ging beschwingt, ihre Seele war wie in Licht getaucht. Es gab doch noch Menschen in dieser Notzeit, deren Herzen nicht festgetreten wie ein Fußsteig war, es gab noch Gute. Dieser Corswand, dem man alle Eigenschaften eines Halsabschneiders und Wucherers nachsagte, hatte seine empfindsamen Stellen. Man mußte nur das rechte Wort finden, man mußte nur den Mut haben, es zu gebrauchen; dann sprangen alle Türen auf und harte Riegel zerbrachen.

Sie preßte die Tasche, in der sie den Geldschein trug, zärtlich an sich. Nun aber schnell nach Haus! Ihr war, als feiere sie einen Geburtstag. Der Kirchhof war gar nicht mehr dunkel und die Gasse zum Markt gar nicht mehr eng.

Sie wunderte sich, als sie Holz im Gespräch mit einem Fußgänger sah, dessen Gesicht für sie verdeckt war. Das war sonst seine Art nicht. Sie trat schnell an den Wagen heran, ohne den Fremden zu beachten: »So, Holz, nun schnell nach Hause!« Sie wandte erschreckt den Kopf, als sie eine vertraute Stimme sagen hörte: »Erlaubst du, daß ich dich vorher begrüße, liebe Mama?«

»Jesko«, rief sie, und die Frau, die sonst ihre Gefühlsäußerungen sorgfältig verbarg, scheute sich heute nicht, den Sohn auf offenem Markte zu umarmen und zu küssen. Jesko, der sich die Freude der Mutter nicht erklären konnte, lächelte verlegen. »Kaufmann Pohl steht in der Tür und sieht zu«, sagte er leise, die Cedergrens waren alle nicht für Zärtlichkeiten.

»Das ist gut, Jesko, daß du wenigstens den Wagen fandest. Der Vater wird sich freuen, wenn ich einen so seltenen Vogel heimbringe.«

Jesko wehrte ab: »Ich komme nicht als Besuch, sondern bin dienstlich hier, Mama, ich habe den Auftrag, der großen Notversammlung der Bauern beizuwohnen.«

Die letzten Worte sprach er leise. Die Ohren Holzens reckten sich immer nach hinten, wenn es Neuigkeiten gab. Marianne war etwas enttäuscht. Wie hübsch wäre es gewesen, mit dem stattlichen Begleiter heimzukehren. Nun war der Sohn, der immer in der Welt abenteuerte und stets in einer Bewegung steckte, von der er sehr geheimnisvoll redete, um ganz anderer Dinge willen hier. »So kommst du am Abend, nach Schluß eurer Versammlung?« fragte sie.

Der Sohn antwortete mir einer Gebärde des Zweifels: »Ich kann nicht über mich verfügen, vielleicht komme ich, vielleicht nicht. Nein, werde nicht ungeduldig, euer vortrefflicher Ketelböter wirtschaftet viel besser ohne mich, wie der Papa es mir oft genug gesagt hat. Und herumsitzen und in dieser Zeit die Hände im Schoß haben, ist nun einmal meine Art nicht.« – »Aber du könntest dich für die Erhaltung von Jürgenshof nützlich machen.« – »Das eben tue ich ja, beste Mama, nur daß ich an einer anderen Front kämpfe. Ihr verübelt mir das, aber glaubt mir: Alle, die auf ihrer Klitsche sitzen und jammernd gegen Gewaltmaßregeln protestieren, die ihnen totsicher einmal den Hals umdrehen werden, alle diese sind nun einmal hoffnungslos verloren. Proteste gegen Gewalttaten haben noch nie geholfen, sondern nur ein Erwachen der Faust. Davon aber will Papa leider nichts wissen, und also ist es besser, ich reize ihn nicht.«

Die Baronin seufzte. »Ich begreife euch nicht und nicht die Verschiedenheit eurer Ansichten. Aber eins will ich dir sagen, Jesko: versäume keine Gelegenheit, deinen Vater noch einmal zu sehen. Die Zeit scheint mir nahe, da du ihn nicht mehr finden wirst, wenn du nach Jürgenshof kommst.«

Sein Gesicht, das immer einen leisen spöttischen Zug trug, wurde plötzlich ernst. Er versprach, das Unmögliche zu ermöglichen, half der Mutter in den Wagen, breitete sorgsam die Decken um sie, gab Holz das Zeichen zur Abfahrt. Die Schar der Arbeitslosen hatte sich verlaufen, aber der Zustrom derer, die ihre Not laut werden lassen wollten, dauerte noch immer an. Auch Tagelöhner der Güter waren darunter. Als die Baronin sich umwandte, ihren Sohn noch einmal zu grüßen, erblickte sie ihn inmitten der Bauern, wie er dem Versammlungsort zuschritt.

Als sie das massige Tor hinter sich ließ, da hatte sich die Trübung ihrer Freude über den Erfolg ihrer Fahrt wieder verflüchtigt. Die Sorge sollte nicht ihrer mächtig werden, nun sie mit vollen Händen heimkehrte. Undankbar sein macht klein. Und sie malte sich immer neu den Eintritt in Joachims Zimmer aus. Ihre Handtasche wollte sie emporheben und nichts sagen, sondern nur froh lachen. Was er dann wohl sagen würde? Ach ja, ein wenig Freude nach all dem Gräßlichen!

Sie fuhr eben an dem letzten Haus der Vorstadt vorüber. Appelmann stand wieder am Zaun und blickte nach seinem Gehöft in Wobeser hinüber. Dieser biedere Appelmann war im ganzen Kreise bekannt. Man konnte nicht an seinem Altersheim vorüberkommen, ohne daß man den Mann am Zaun stehend und ausschauend sah. Er hatte seinem Sohn die Wirtschaft übergeben, als dieser heiratete, war in die Stadt gezogen, wo er das erste Haus erworben hatte. Kaum war er dort mit seiner Frau eingetroffen, als ihn ein namenloses Heimweh nach der Scholle befiel. Er hätte täglich hinausgehen können, das wollte er wegen des Jungen nicht. Er hätte sich ein anderes Anwesen kaufen können, aber da er zögerte, riegelte die Zeit die Möglichkeit ab. Nun stand er, ob es regnete oder die Sonne schien, am Zaun und verzehrte sich in Sehnsucht nach seinem Acker, den er zu früh abgegeben hatte. Ein Witzbold hatte ihn den göttlichen Dulder Odysseus genannt. Wer aber den bitteren Ernst auf des Mannes Gesicht wahrgenommen hatte, der ging erschüttert weiter und sann darüber nach, ob der Zug zum Heimatboden stumm machen oder gar töten könne.

Appelmann sah dem Wagen nach. Die Baronin hatte ihm zugenickt wie eine Mitwisserin. Dann richtete er den Blick wieder auf das Feld, das er verlassen hatte.

Die Straße lag jetzt unter dem grauen Himmel beinahe verödet da. Marianne Cedergren schaute nach dem Fenster, in dem Dykeschen Hofe, wo der Bauer zu sitzen pflegte. Der Platz war leer. Aber vor dem Hof, der einige hundert Meter weiter lag, hatte sich eine Rinderschar um ein Auto gesammelt, die den Wagen, der dem Doktor gehörte, musterte. »Holz, ist hier jemand krank?« fragte die Baronin. Holz gab zur Antwort, daß die Bäuerin an einem Fußschaden niederliege. Es schien Marianne im Vorüberfahren, als liefe eine Frau aus der Haustür, die Holz zuwinkte und etwas rief. Aber das Geräusch der Räder und der schnelle Lauf der zum Stall drängenden Pferde ließen diese Wahrnehmung unwirklich erscheinen. Erst als der Wagen zwischen den Baumreihen des Waldes fuhr, kam es Marianne zum Bewußtsein, daß es sich um etwas hätte handeln können, das sie angehe. Aber nun war sie zu weit entfernt. Die Landstraße war auch hinter dem Wald wie ausgestorben. Aber die Luft trug bis hierher schon die Frische und den herben Duft der See. Und nun währte es nicht mehr lange, bis der blinkende Streifen des östlichen Meeres auftauchte.

Die Frau fühlte einen warmen Strom zum Herzen steigen: Heimat! Wie kam es nur, daß man dieses Land so stark liebte, dieses Land, das von harten Stürmen gepflügt wurde, das zwei Drittel des Jahres unter düsteren, jagenden Regenwolken lag? Da die Winter oft ohne Saft und Kraft waren und wo späte und kalte Lenze herrschten, dessen Ernten meist verregneten und dessen Herbste allein eine kurze fröstelnde Pracht boten. Sie hatte Joachim einst die gleiche Frage gestellt und er hatte geantwortet: Gerade darum lieben wir es, weil wir es unter Schmerzen und Nöten jährlich neu erringen müssen. Im Laufe der Geschlechter sind die Menschen, die täglich Korn von diesem Boden essen, ein Teil dieses Bodens selbst geworden.

Der Wagen bog jetzt in die Allee ein. Ketelböter kam den Weg zwischen den Baumreihen herauf. Er blieb stehen, grüßte tief und ließ den Wagen beinah feierlich an sich vorbeifahren. Dieser alte treue Mann, dessen gutes Herz unter einer rauhen stachligen Schale lag, bekam nun wohl ordentlich feierliche Manieren, was man doch alles erlebte! Kroll trat aus dem Portal, öffnete die beiden Flügeltüren weit und blieb in einer eigentümlich versonnenen Haltung stehen. Nun, der würde sich freuen, wenn ihm Joachim nachher die Summe aushändigte, die längst zur Legende geworden war. Aber was war das? Anna, die Jungfer, trat aus dem Hause, zog sich gleich wieder zurück und erschien wieder, während sie das Taschentuch gegen den Mund preßte. Was fiel der ein? Oder hatte sie eine üble Botschaft erhalten? Als der Wagen hielt, sah die Baronin, daß die Augen des Mädchens von Tränen gerötet waren. Sie hörte Anna kurz aufschluchzen. Irgend etwas lag in der Luft, das beengte und bedrängte. Ein neues Unglück? Ah, nur nicht diese dumpfe Schwüle, nur bald Klarheit. Sie blieb plötzlich stehen, wandte sich nach Kroll um und fragte: »Was habt ihr eigentlich alle, ihr Menschen hier? Was ist eigentlich los?« Der Diener senkte den Kopf noch tiefer: »Oh, Frau Baronin wissen nicht? Ich schickte einen Boten ... und der Herr Doktor ... Unser Herr Baron ist gestorben.«

Marianne stand unbeweglich, sie fühlte die Erstarrung durch ihren Körper wachsen. Und wieder griff die kalte Hand langsam nach ihrem Herzen. Krolls Worte drangen aus weiter Ferne. Was sagte er doch? Er war häufig in Joachims Zimmer gewesen, immer hatte er den Kranken ruhig und ohne Wunsch gefunden. Gesprochen habe er nicht, nur auf des Dieners Fragen mit einer Kopfbewegung oder mit einem Wink der Hand geantwortet. Nein, gefragt habe er nicht. Es war, als sei er der Erde schon entrückt gewesen. Aber solche Tage habe er, wie Frau Baronin ja wisse, häufig gehabt. Nein, an das Ende habe Kroll nie geglaubt. Und doch habe er ihn vor etwa zwei Stunden abgeschieden gefunden. Alles was zu tun war sei geschehen. Der Arzt sei gerufen und Ketelböter habe einen Boten zu Rad nach Bukow abgeschickt, um die Frau Baronin zu benachrichtigen. Marianne hörte alles und hörte es doch nicht. Die Worte prallten von ihr ab wie Hagelkörner vom Fensterglas. Was war das Unheimliche dieser Minute? Es war die Gewißheit: Zwischen dir und dem einzigen Menschen, den du besitzst, hat sich ein Abgrund aufgetan, über den keine Brücke geschlagen werden kann.

Plötzlich unterbrach sie die Rede des Mannes vor ihr, kehrte sich ab und lief wie ein Flüchtling die Treppe empor. Dann den Gang entlang. Sie wollte sich selbst überzeugen. Da war die Tür. Aber als sie die Hand zum Griff hob, stand sie noch einmal lauschend da, wie sie es bei ihren Besuchen getan hatte. Sie merkte auf sein Atmen, ob sie auch nicht seinen Schlaf störe. Dann, da ihr Sinn nur eine seltsame Stille wahrnahm, trat sie gedämpft ein.

Und diese Stille umfing sie und den Toten wie eine Mauer, die sie beide von aller Welt schied. Sie kniete am Lager und während ihr Blick an seinem blicklosen Schläfergesicht hing, sprach sie zu ihm, als ob sein Ohr noch ihre Stimme vernehme: »Wohin du auch gegangen bist, Joachim, du wirst mich hören. Ich habe deinen Wunsch erfüllt, ich habe mich vor Menschen gedemütigt, um deinen letzten Willen auszuführen. Hier ist das Geld, das du deinem Treuen geben wolltest. Konntest du nicht warten? War der Ruf so streng, daß er dich um die Freude bringen mußte? Du bist gegangen, aber du gingst wie ein Edelmann. Edelleute sind eine aussterbende Menschenart. Du warst einer der letzten. Nun ist alles vorbei. Ja, alles ist vorüber, alles, alles, aber unsere Liebe nicht, Joachim. Sie nicht trotz der üblen Zeit, trotz allem. Was war es nur für eine Liebe, die uns aneinanderband! Wenn wir beide durch die abendlichen Zimmer Brügges gingen, dann neigten sich vor uns die alten Dinge, die dort an den Wänden standen. Wenn wir an den Strand traten, so begann das Meer zu singen. – Du weißt noch, wie die alte taube Hofmarschallin zu den anderen sagte: Nimmermehr wird die Sache gut gehen, die Kinder haben sich ja zu viel lieb!? Ja, so waren wir, und doch ... Wir glaubten, daß die Liebe das Glück verbürge. Ach, was wußten wir von Glück! Wir hatten nur wie alle Jungen das unbändige Verlangen danach und wollten es erzwingen. Aber da kamen die Dinge dieser Welt: Erbschaften, heranwachsende Rinder, Erwerbungen. Nein, die Liebe litt nie darunter, aber das Glück sah doch anders aus, als wir es uns gedacht hatten. – Und nun bist du gegangen, Joachim, still, allein, ohne jegliches Aufheben. Und du hast, was du wolltest, die Freiheit. Gefangene sind wir alle, aber deine Gefangenschaft hat ein Ende.«

Es klopfte an der Tür und die verschleierte Stimme Annas fragte etwas, das unverstanden blieb. Die alte Baronin richtete sich empor. Nun kamen diese anderen Dinge, die in solchem Fall ein wundes gedemütigtes Herz überfallen. Nun war die Stunde des Abschieds vergangen. Sie schritt zur Tür und öffnete. Die Anfragen der Leute zogen sie von dem Toten gewaltsam fort. Ketelböter mußte noch einmal nach Bukow senden und den jungen Herrn aufzufinden trachten. Und Sigrid mußte benachrichtigt werden. Und vor allem – und dieser Gedanke schritt durch die Stunden des Schmerzes in seiner nüchternen unerbittlichen Abscheulichkeit! – man mußte wahllos Geld aufzutreiben versuchen. Denn der Tote mußte bestattet werden, nicht in der Hirschhaut, sondern in einem redlichen Holzsarg.

Und während Marianne dies Unleidliche überdachte, dieses Markten und Feilschen und Versprechen, merkte sie erst, wie sich ihr Leid doppelt lastend auf sie legte; wie eine Kettenlast, die wir den Abgeschiedenen nachtragen, bis die mütterliche Erde sie aufnimmt.

*

Als Jesko Cedergren vor der Tür des Deutschen Hofes anlangte, fuhr lärmend ein Kraftwagen vor. Jesko dachte: kommen die Herren vom Lande auch zur Notversammlung, die die Bauern einberiefen? Doch er kannte den Wagen nicht und auch der Herr, der ihm entstieg, war ihm unbekannt. Der blickte auch wie ein Fremder umher und da es sich traf, daß sein Blick sich mit dem Jeskos kreuzte, so trat er auf ihn zu und fragte, ob es ohne weiteres gestattet sei, der Versammlung beizuwohnen. Er dankte, als er erfuhr, daß der junge Herr auch nicht zu den Geladenen zähle, und seinen Eintritt erbitten müsse; darauf trat er zurück und gab dem Fahrer Anweisung.

Vor der Tür des Gasthofes standen einige Gruppen der Landleute, und Jesko hörte im Vorbeigehen das Wort fallen, daß der Saal überfüllt sei. Er versuchte es trotzdem. Die Fülle der Besucher war allerdings für jeden, der das gebrechliche Alter des Deutschen Hofes kannte, beängstigend. Schon auf der engen Treppe hatten sich Männer aufgestellt, die glaubten, keinen Eintritt mehr zu erlangen. Der Vorraum des Saales und dieser selbst waren gedrängt voll. Die Polizei räumte eben die Musikantentribüne, die auf morschem Gebälk wie ein Schwalbennest über den Köpfen schwebte. Dafür wurde die Bühne freigegeben, von der eine eisige Luft in den Saal strich, als sich der Vorhang hob. Auch sie war sofort von den Männern, die in den Gängen standen, besetzt. Jesko war bis zum Tisch des Vorstandes durchgedrungen. Bauer Howe aus Unheim nahm den Schein, der ihm gereicht war, entgegen, tat als ob er lese und blickte Jesko lange durchdringend an. »Hierbleiben können Sie, aber das Recht zu reden können wir ihnen nicht erteilen.« Als Jesko zurücktrat, sah er den Fremden, der ihm gefolgt war, sich auf Howe zuschieben. »Ich komme im Auftrag der Regierung, wollen Sie mir einen Platz anweisen?« Seine fordernde Art zu reden verfehlte völlig ihre Wirkung auf den Mann, dem sie galt. Howe musterte ihn kühl und ohne die geringste Verlegenheit: »Ich will mit meinen Leuten reden,« erwiderte er. Er wandte sich zu denen, die mit ihm als Einberufer gezeichnet hatten und sagte als er zurück kam: »Wir sind der Meinung, Sie können hierbleiben. Es ist sogar lieb, wenn die Regierung erfährt, was hier zu sagen ist. Einen Platz freilich müssen Sie sich allein besorgen.« Und schon wandte er sich einem neuen Fragenden zu. Der Beamte blieb verstimmt eine Minute lang stehen. Als niemand sich seiner annahm, wandte er sich der Bühne zu.

Eins war für die Haltung der Versammlung bezeichnend: Die merkwürdige Ruhe und eine Gehaltenheit, die fast wie Stille wirkte. Keiner sprach laut, jeder dämpfte seine Bewegungen. Man schob sich lautlos hierhin und dorthin, wo eine geringe Lücke noch Raum zu bieten schien, die Sitzenden hielten ihren Handstock, auf dessen Griff die gefalteten Hände lagen, zwischen den Knien und blickten ruhig vor sich hin. Das Ganze machte den Eindruck wie eine Versammlung im Gerichtssaal, wenn die Wartenden die Augen starr auf die Tür richten, hinter der die Richter über das Urteil beraten. Jesko hatte einen Platz gefunden, von dem aus er alles übersah. Neben ihm saß ein Mann, der einen runden Hut auf den Knien hielt, wie man hierzulande keinen trug. Auch die musternden Blicke des Mannes ließen den Fremden vermuten: Sein bartloses Gesicht war von einer großen Ruhe gleichsam erhellt.

Mit dem Uhrschlag vom Rathaus eröffnete der Bauer Howe die Versammlung. Man merkte seiner Sicherheit an, daß er nicht ein erstes Mal vor so vielen Augen stand. Er sprach kurz und hackend wie jemand, der die Axt gegen einen zähen Eichenstubben führte. Er sagte, daß alle Anwesenden ja wüßten, wie es ihnen zuwider gehe, daß man Massenaufzüge, Streiks und andere Schaustellungen veranstalte. Der Bauer wisse auch nichts von Kapitalismus und dergleichen, wenn sich trotzdem die Bauern der umliegenden Dörfer in der Stadt zu einer Versammlung zusammengefunden hätten, so sei dies ein Zeichen dafür, daß die Not am höchsten gestiegen sei, daß sie weder Leben und Freiheit noch Luft zum Aufatmen ließe; daß der Acker, der für die Väter die feste Grundlage gewesen, diesem Geschlecht entgleite. Er hielt inne und sah in die Runde, als suche er jemand, dann rief er mit erhobener Stimme: »Ihr Brüder von der Erdscholle, warum sind wir hier? Wir sind hier, weil uns die grimmige Not dazu zwingt. Und genauer wird euch dies Vater Hennecke aus Ükerhof auseinandersetzen.

Der Alte, der sich jetzt am Quertisch erhob, sah wie ein Patriarch aus. Zwar trug er keinen Bart, aber sein sehniger Körper glich dem der Männer, die ein Leben lang hinter ihren Herden dreingezogen waren, deren Leben köstlich war, weil es Mühe und Arbeit hieß. Unter den starken Brauenbögen lagen die blauen Augen tief, aber sie sprühten Feuer, als er jetzt die Versammlung prüfend überblickte. Und die Hand, deren Finger er zwischen die Knöpfe seiner Joppe steckte, glich einem vielgebrauchten ehrwürdigen Werkzeug. Diese Hand hatte in jedem Frühjahr die Findlingssteine vom Saatacker fort zum Rain getragen, hatte den jungen Stier am Nasenring gebändigt und an ihrer rauhen Innenfläche hatte sich mancher Forkenstiel und mehr wie ein Dutzend Sensengriffe glattgescheuert. Keiner wußte, wieviel Jahre der Alte auf dem Nacken trug. Aber einer erzählte dem andern, daß Hennecke einen Zweizentnersack voll Korn wie ein Nichts die steile Treppe zum Kornboden hinauftrage. Der Alte hatte nichts von dem Gehabe und Getue gewisser Redner an sich. Von ihm gingen die Worte wie kristallklares Quellwasser von dem geborstenen Stein. »Warum sind wir hier? fragte uns Howe. Ich will euch kurz die Antwort geben, wie ich sie fand. Wir sind hier aus Angst. Kann einer von euch leugnen, daß wir hier aus Furcht versammelt sind? Gebt acht: Es ist eine dunkle Macht in der Welt aufgestanden. Sie streckt ihre linke Hand aus und hunderttausend Maschinen stehen mit einem Ruck still. Sie streckt ihre Rechte aus und tausend Bauern, die seit langer Zeit auf ihrem Flag saßen, schälen plötzlich den weißen Stab und ziehen in alle Welt. Wie diese furchtbare Macht heißt, ob sie Geldwirtschaft oder Gewaltwirtschaft heißt, das ist gleich.« –

»Wir sind zusammengekommen, um uns zu beraten, wie wir Widerstand leisten können. Wir haben vorher viel versucht, aber vergebens. Wir haben große führende Männer angerufen – sie waren hilflos wie wir. Wir haben den Staat angerufen – der versprach alles und hielt nichts. Weiß jemand von euch, wen man noch anrufen sollte? Ich nicht.«

Eine Stimme antwortete aus der gedrängten Menge: »Gott, den Herrn!«

Der alte Hennecke blickte in die Richtung, wo der Fremde neben Cedergren saß. Dann hörte man irgendwo ein Kichern. Die Mehrzahl der Männer senkten die Augen zu Boden.

Der Alte hielt eine Weile inne, dann sagte er: »Ja früher ... Aber der antwortet uns nicht. Ich will euch sagen, was wir tun müssen: Wir müssen uns zusammentun und einig handeln. Wenn wir einig sind, dann kann uns auch die größte Not nichts anhaben.« Der Mann mit dem Quäkerhut wandte sich zu Jesko und sagte: »So sind sie nun, diese Bauern! Ihr Herz ist richtig, aber sie schämen sich, ihren Glauben zu bekennen.«

Jesko wollte etwas erwidern, aber Hennecke fuhr fort zu reden.

»Nun wohlan, jetzt zeigt, ob ihr euch helfen könnt. Wir alle haben in diesen Wochen Steuern zu zahlen. Wir, die bedrängten Bauern, haben gebeten, sie uns zu erlassen. Man hat uns ausgelacht oder uns mit kaltem Nein geantwortet. Wir haben aber auch um diese Zeit unseren Kunstdünger zu bezahlen. Geben wir unserm Acker keine Kraft, so haben wir eine Mißernte und die Hungersnot ist im Lande. Beide Zahlungen kann keiner leisten. Was meint ihr nun, das wir tun sollen? Wollen wir dem Acker oder der Obrigkeit dienen?« Die Antwort kam aus vielen Mündern: »Dem Acker!«

Der Alte nickte: »So habe ich es erwartet. Wir tragen die Verantwortung, daß keine Hungersnot auftritt. Nun laßt uns handeln, wie es unsere Meinung ist. Gott helfe uns weiter.« Er zog die Hand unter dem Saum seiner Jacke hervor und beschrieb mit ihr ein Zeichen, das sah aus, als durchschnitte er ein Band. Der Abgesandte der Regierung hatte mit Unruhe die Rede verfolgt. Jetzt, da die Menge Beifall murmelte, bemühte er sich, zu dem Tisch vorzudringen, an dem die Sprecher saßen. Diese Leute redeten sich um Kopf und Kragen. Was sie sagten, war versteckte Aufforderung zur Steuerverweigerung. Sie machten sich strafbar und er durfte das nicht ungerügt anhören. Aber sein Bemühen, den Platz zu wechseln, war vergeblich. Die Männer, die ihn umgaben, rührten sich nicht vom Fleck. Er bat, er wurde dringlich, er berief sich auf sein Amt, aber diese Menschen machten keine Miene, ihm den Weg frei zu geben. Unauffällig hatten sie ihn beobachtet. Jetzt übten sie stummen Widerstand.

Und da stand auch schon am Rednertisch der dritte Einberufer, Christian Wittmüs. Howe hatte ihn, den Feuerkopf, weislich bis zuletzt aufgespart. Das war Christian Wittmüs, der den ganzen Krieg an der Front durchlebte, der zurückkehrte mit dem Bewußtsein, daß eine neue Zeit heraufziehe und die alte unwiderruflich verdränge.

Seine Worte hämmerten auf den harten Sinn seiner Volksgenossen ein. Er sagte ihnen nichts Neues, aber er wußte, daß das, was er sagte, ihnen noch viel fester eingeprägt werden müsse, wenn seine Ideen Tat werden sollten. Die Männer nickten zu seinen Worten und keiner zeigte sich verdrossen oder ungeduldig, als er vernahm, daß kein Staat und kein Gott helfe, wenn sie selbst keine Hand rührten, und daß der Bauer auf Vorposten stehe. Ja sie kannten diese Worte, diese Gründe, aber eins fügte Wittmüs heute hinzu, er sagte am Ende: »Und damit ihr wißt, warum ihr euch durchsetzen müßt gegen alle Vergewaltigung des Ackers, sage ich euch dies: Wir treten für unsern Boden ein, weil ein uraltes Recht es uns gebietet, und das heißt: von Erde bist du genommen, zu Erde wirst du wieder werden. Alle Gewalttat, die dem Boden angetan wird, empfinden wir als uns angetan, die wir von dem Acker genährt sind und ihm unser sterblich Teil wieder überlassen. Der Acker sind wir, das ihm angetane Unrecht tut man uns an und für ihn lehnen wir uns dagegen auf.«

Kein Beifall wurde laut, als er schwieg. Aber die Stille, die jetzt folgte, war beredt genug und Wittmüs wußte: Die haben mich verstanden, und wenn die Zeit da ist, schlägt die Flamme lichterloh auf.

Dem Regierungsbeamten war es jetzt gelungen, bis zu den Rednern vorzudringen. Er war redlich bemüht, den Männern, deren Ernst auch ihn erschütterte, Enttäuschung und Strafe zu ersparen. Vielleicht gelang es ihm auch, den Strom erregten Volkswillens in ein breiteres Bett zu leiten. Er erbot sich daher nochmals, nur vermittelnde Worte zu sprechen. Aber Hennecke lehnte kopfschüttelnd ab und Howe fand sich bereit, die Meinung der Versammlung zu erfragen. Doch die Männer wiesen dies so einmütig und entschlossen ab, daß der Herr Rat die Schultern zuckend, sich zurückzog.

Es dunkelte. Der kurze Wintertag ging in dem grauen Dunst der Dämmerstunde unter. Im Saal schaltete man die Lampen ein. Es war, als verdunkele der Brodem, der über den Köpfen lag, ihren Schein. Jesko Cedergren betrachtete jetzt seinen Nachbar genauer. Der Mann mit dem Quäkerhut gefiel ihm. Es lag etwas Zielsicheres in der gedrungenen Gestalt und eine Ruhe, die man selten sah, in seinem bartlosen ausgeglichenen Gesicht. »Sie sind auf unserem Boden auch nicht gewachsen«, begann er ein Gespräch. Der Gefragte schüttelte den Kopf. »Ich bin das erstemal im Lande.« »Sie haben aber Freundschaft hier?« »Niemand, Herr. Ich bin hier gerufen.« ? »Und gerieten gleich in diese Versammlung?« »Ich hörte auf der Fahrt hierher davon und war begierig, die Not des Landes kennenzulernen. Schließlich sind alle die Männer, die vor siebenhundert Jahren hier einwanderten. Verwandte von uns Niedersachsen.«

Jesko hatte seine Freude an dem Mann, er konnte nicht sagen warum. Er setzte sich, um das Gespräch fortzuführen, aber da verstummte das wirre Reden im Saal vor der lauten Frage des Vorsitzenden: »Ist in unserer Versammlung der Herr Baron Cedergren von St. Jürgenshof zugegen?« Jesko verstand nicht, erst als die Frage ein zweites Mal ausgerufen wurde, schnellte er empor. Schon hatten einige Bauern, die ihn kannten, auf ihn gewiesen, nun bejahte er selbst: »Ja hier bin ich!« Er glaubte, man wolle ihm sein Hiersein, das er doch erbeten hatte, nachträglich verwehren. Aber im gleichen Augenblick sah er Ketelböter, der sich suchend umblickte und sich dann auf ihn zu bewegte. Wie kam Ketelböter hierher, wenn er nicht einen Auftrag hatte? Sollte die Mutter ...? Aber schon war der Alte heran. Irgendeine Stimme hinter ihm murmelte: Bräsig. Er hatte dessen nicht acht. Der Alte sagte mit splitternder Stimme: »Herr Baron, Sie müssen sofort nach Jürgenshof kommen. Der Wagen wartet unten. Nein, nicht die Frau Baronin! Ihr Herr Vater ist selig verschieden.« Was war es nur, das den Jungen anfiel? Er sah sich hilflos um, als sei er wieder Knabe und in eine leblose Öde eingetreten, deren Schrecken ihn plötzlich anfiel. Der Mann mit dem Quäkerhut reichte ihm die Hand: »Leben Sie wohl. Und mögen Sie Trost finden.«

Jesko nickte, aber er schien nicht zu verstehen. Hastig folgte er Ketelböter, der ihm bahnbrechend voranging.

*

Der Abend dunkelte auch auf dem Hof des Johannes Dyke und machte alle Dinge ungewiß. Der Bauer saß wieder am Fenster und schaute aus. Aber sein Gesicht hatte den Glanz einer heimlichen Fröhlichkeit nicht mehr und trug einen grüblerischen Zug. Ja in Dykes Seele war alles Licht verdunkelt, seitdem er Zeuge der Frauenrede auf dem Flur geworden war. Immer wieder drehten sich seine Gedanken wie ein Mahlwerk um das Eine: Hat die Frau die Baronin täuschen wollen oder verbergen sie etwas vor dir? Aber er wußte um Gretes Abscheu gegen jede Lüge. Blieb also nur übrig, daß sie ihn täuschte. Natürlich aus Sorge um ihn. Denn das wußte er: Die Frau liebte ihn wie er sie. Aber dennoch! Er fühlte einen Schmerz in der Brust, wenn er sich vorstellte, wie sie ihn hinterging. Hintergehen war wohl der richtige Ausdruck. Die Dinge im Zimmer hatten auf ihn, den Kranken, immer soviel Licht und Freundlichkeit ausgestrahlt. Das kam, weil sie nur Zeugen eines guten gemeinsamen Lebens waren. Jetzt war das plötzlich verändert: Der Mann erblickte alles verschattet und verzerrt.

Draußen in der Küche klapperten Eimer. Die Frau kam vom Melken. Aufopfernd war ihr Schaffen und Wirken. Nun da die Dirn einen kranken Finger trug, melkte sie sieben Kühe allein, obschon Hermann ihr angeboten, er werde zeitig zurück sein und ihr helfen. Es war am besten, Dyke führte noch heute Klarheit herbei. Sofort wollte er sie fragen.

Die Bäuerin trat in die Stube. Es ging ein warmer Ruch nach Rind und Heu von ihr aus. Sie wollte nur nach ihm sehen, denn sie blieb im Türrahmen stehen und fragte: »Soll ich Licht machen, Vater?« Ihre Stimme klang etwas zitternd, als verhalte sie eine Erregung, aber er konnte auf ihrem Gesicht keine Bestätigung erblicken. »Komm doch näher, Grete,« nötigte er sie. Sie kam zwei Schritte näher. »Ach«, sagte sie. »Was ist dir, Frau?« – »Du weißt es also schon?«, entgegnete sie. »Ich dachte es mir schon, als ich Schultz zu dir hineingehen sah. Ja, der arme Baron! Aber für ihn bedeutet es immer eine Erlösung.« Nun waren Dykes Gedanken plötzlich in eine andere Richtung gestellt. Der Baron tot, sein Baron! Und die Frau erst vor ein paar Stunden nach Bukow gefahren! Die Bäuerin erzählte, was sie erfahren hatte: Ehe die Baronin heimgekehrt, habe man ihn tot gefunden.

Die Erinnerung der Menschen, denen Leben und Schicksal einen engen Tageskreis zuwies, ist treuer und sicherer als das Gedächtnis jener, die im wechselnden Strom schwimmen. Johannes Dyke war durch die Todesnachricht im Innersten berührt und seine Gedanken verweilten in den Erinnerungen jener Tage auf Jürgenshof.

»Weißt du, Grete, ich habe eigentlich keinen Menschen mehr kennengelernt, der so freundlich war, wie unser Baron. Unsere besten Jahre haben wir damals verlebt: Du, hübsch wie keine und immer fröhlich. Es war eine Lust, in deine Nähe zu kommen. Immer gab es für dich einen Grund zur Heiterkeit und das Lachen saß dir hinter jedem Satz, den du sprachst. Und selbst wenn du nichts sagtest, war in deiner Stimme immer ein heller Ton, der ohne weiteres fröhlich machte.« »Ja, Johannes, seitdem hat vieles auf uns herumgetreten!« sagte die Bäuerin. »Und ich, was für Bärenkräfte hatte ich damals. Wenn mir jemand gesagt hätte ...« Sie rührte begütigend an seine Hand.

Dyke dachte: Jetzt ist es Zeit zu sprechen, jetzt ist sie weich und nachgiebig, in dieser Stunde wird sie wahr sagen. Da wurde die Haustür aufgeklinkt, die Schelle tönte und der Sohn trat in das Haus. Er legte draußen ab und näherte sich der Stubentür. Die Bäuerin zog ihre Hand zurück. Für dieses Mal war es also vergeblich gehofft. Hermann erzählte gar nichts vom Gang der Versammlung, der Tod des Herrn von Cedergren beherrschte das Gespräch. »Mutter und ich sprachen soeben von ihm, Hermann. Ihr Jungen werdet ihn bald vergessen haben, aber wir wissen, was für ein Charakter er war: im innersten Kern wahrhaftig und durch und durch gerecht. Und wie er zu seinen Leuten hielt! Und wie er den aufgeblasenen Gecken heimleuchtete. Einmal, – Kroll hat mir die Geschichte selbst erzählt, – war ein Herr von der Kammer auf Jürgenshof und wurde zum Frühstück geladen. Unser Herr kam vom Feld, es war Bestellzeit, und setzte sich wie er ging und stand zu dem Gast mit ellenlangen Titeln. Dieser äußerte später einmal, der Baron empfange seine Gäste im Arbeitskittel. Er meinte es wohl nicht böse, aber seine Rede wurde dem Baron hinterbracht. Als der Herr wieder kam, wurde er wieder geladen. Kroll führte ihn an die Frühstückstafel. Kein Mensch war da, ihn zu begrüßen, aber über einer Stuhllehne hing der Frack des Hausherrn mit sämtlichen Orden. Und Kroll erklärte, da dem Herrn Direktor der Rock lieber ist als der dazugehörige Mensch, so hätte sich der Herr Baron für heute entschuldigt.«

Das war die Gedächtnisrede, die der einstige Stellmacher seinem toten Herrn hielt.

*

Der Bauer Munk aus Kniephagen hatte die Versammlung im Deutschen Hof vor ihrem Schluß verlassen. Jetzt redeten droben Einzelne und riefen vor allem ihre eigne Not aus. Die Gemüter erhitzten sich an der Schmach, die dieses Landes Bauernschaft widerfuhr, aber er hatte eine kranke Frau zu Hause und die Wege waren nicht sicher vor Raubgesindel.

Er hatte seinen Braunen eingespannt, stieg auf und wickelte sich umständlich in die Wolldecke. Da trat ein Mann zu ihm, der auch die Versammlung verlassen hatte. In dem trüben Laternenschein erkannte er den Fremdling, der die Frage nach Gott in den Saal geworfen. Dieser Mann fragte ihn um den Weg nach Kniephagen. Munk beschrieb ihn in kurzen Worten. Der Gedanke kam ihm wohl, dem Fremden einen Platz anzubieten, aber er dachte an die Berichte der Zeitung, die von Überfall und Raub handelten. wer kann dem Menschen ins Herz sehen? Er setzte sich, nahm die Leine in die Hand und wollte eben das Pferd anrufen, als der andre sich ihm noch einmal zuwandte. Ob es einen Krug in Kniephagen gäbe oder einen Ort, wo man nächtigen könne. Da konnte Munk seine Wißbegier doch nicht zähmen und während er das Pferd antrieb fragte er: »Ihr wollt wohl den Schindlerschen Hof kaufen? Aber da werdet ihr vergebens bieten.« Der Fremde ging neben dem Wagen her: »Ich will zu Frau Richter! Sie hat ein krankes Kind. Wißt Ihr, wie es ihm geht?«

Plötzlich war Munk völlig aufgeschlossen: »Sind Sie der Heiler, dessen Anweisung die Frau erwartet?« Der Fremde entgegnete, daß er allerdings von der Mutter des Knaben um einen Bescheid gebeten sei, da ihm aber der Fall so dringend erscheine, habe er sich selbst aufgemacht. Überdies sei da der Schwager der Bäuerin, der in Wendisch-Bukow wohne. Sie waren bis an das Stadttor gelangt, da hielt Munk das Pferd an: »Ich bin aus Kniephagen, wenn Sie mögen, so steigen Sie auf.« Der Fremde ließ sich nicht nötigen. An der Art, wie er den Kastenwagen bestieg, sah Munk, daß jener sich auf das ländliche Fuhrwerk verstehe. Der Wagen polterte in die Nacht.

Solange sie den Damm unter sich hatten, schwieg die Rede. Als sie bei der Ziegelei die Landstraße erreichten, fiel der Wallach in Schritt. Bevor sie die Bahnlinie kreuzten, bei Appelmanns Haus, lenkte der Bauer in einen Seitenweg ein. Das Land lag finster und verschlossen zu beiden Seiten. Ein herber Geruch wehte über ihm.

Der Fremde tat einen tiefen Atemzug: »Riecht man hier schon die See?«, und als Munk den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »So ist es der Geruch des Landes; er ist anders als bei mir zu Hause.« Er war ein anderer. Dort im Hannöverschen roch das Land immer, auch um diese Jahreszeit, wie gedroschenes Korn, aber hier mischte sich ein herber Duft ein, etwas Salziges, wie am Watt, das voller Priele ist. Diese Äcker zur Zeit ihrer Ruhe waren etwas Rätselhaftes. In der Erwartung neuer Trächtigkeit, eingehüllt in das Dunkel nordischer Nächte, war ihr Schweigen doch so beredt. Wie verstummte Dulder lagen sie mit ihrer von Pflugeisen zerrissenen Oberfläche da und warteten, warteten in Ergebenheit auf Sonne und Menschenhand, die ihnen das Brotkorn anvertraute, damit der Acker es in Frucht verwandle. Ja, dies Geheimnis des Brotwandels, dieses Zusammenwirken unerforschter Kräfte, die aus Gottes Hand flossen und von ihm gestaltet wurden!

Der Mann fuhr fast erschreckt empor, als er neben sich die Stimme seines Fahrers hörte: »Sie sind vom Lande?« – »Ja.« – »Weit weg von hier?« – »Ja.« – »Sie haben auch einen Hof?« – »Gehabt. Mit dem weißen Stab davon. Jetzt bin ich heimatlos.«

Eine Weile war es ruhig. Der Fremde hörte, wie Munk seufzte. Er versuchte weiterzugrübeln. Die alten Weidenbäume am Wege mit ihren struppigen Köpfen standen windschief. Ihre Stämme waren geborsten und klafften auseinander, aber sie hielten das ganze Jahr über den peitschenden Winden stand. Sie waren die treuen Abbilder der landbauenden Werker von heute. Plötzlich fiel ihm ein, daß seine Worte wohl in seines Genossen Seele trübe Gedanken aufgestört hätten. »Ihr seid hier auch in Bedrängnis?« – »Und nicht zu knapp. Sie haben's droben gehört.« – »Ja, ihr wollt aber gegenan.« – »Wird nichts helfen.« – »Wenn's in der rechten Art geschieht, warum nicht? Jeder Wille ist imstande, Mauern einzureißen – wenn er mit Gottes Willen eins ist.«

Von nun an stockte das Gespräch wieder, jeder der Männer dachte das gleiche, aber keiner faßte es in Worte. So kamen sie nach Kniephagen.

Vor einem Gehöft hielt Munk an: »Hier ist Richters Hof.« Der Fremde stieg ab und klopfte zärtlich den Braunen: »Was ist meine Schuldigkeit?« Der Bauer rückte auf seinem Sitz hin und her: »Wäre ja eine Schande, wollte ich dafür was fordern. Aber wenn Sie morgen noch ein wenig Zeit haben, so sehen Sie bei mir ein. Meine Frau ist krank. Ich heiße Munk und wohne neben dem Krug.«

Der Fremde nickte und blieb an der Hofpforte stehen, als wolle er dem Wagen nachschauen. Der seltsame Geruch des Landes erregte ihn und nun verfolgten seine Augen den huschenden Lichtschein, der in Abständen über das Land glitt. Das war der Schein des Blinkfeuers; aber dem Manne gestaltete sich heute alles zum Symbol: »Von Erde genommen, zu Erde werden«, das Wort ließ ihn nicht los. Und nun dieser gleitende Schein, als fliege ein Blick aus Gottes Auge über das verwunderte Ackerland.

*

Die junge Bäuerin Richter saß am Tisch und kämpfte gegen die Müdigkeit. Die Arme hingen ihr am Körper, als seien sie zerschlagen. Sie mochte die Hand nicht heben und den Stopfkorb näherziehen. Sie mochte nicht denken. Die Uhr tat acht Schläge. Es wäre wohl Zeit gewesen, die Schlafkammer aufzusuchen, aber die Schwiegermutter war noch hinter der angelehnten Tür beim Kramen an ihrer Lade und bevor sie nicht erschien und damit das Zeichen zum Tagesschluß gab, durfte die junge Frau nicht an Ruhe denken.

Es war ein hartes Los, das ihr zugefallen war. Sie konnte wohl schaffen, während ihrer dreijährigen Ehe hatte sie es sattsam bewiesen. Aber dann, als der Mann starb und das Kind Heinrich nach des Vaters Tod geboren wurde, als in dieser bittern Notzeit nicht nur die doppelte Arbeitslast auf ihre Schultern sank, sondern auch die Verantwortung für die Erhaltung des Kindeserbes, da fühlte sie doch das Leben wie eine zerbrechende Last. In der Dunkelheit des nahenden Tages trieb es sie schon empor und dann keinen Augenblick Ruhe, sondern in einer atemraubenden Hetze durch den Tag, dessen Stunden ihren Händen entglitten. Und bei allen Arbeiten die Angst um das Kind, die sie immer wieder in die Stube trieb. Größing wartete ja den dreijährigen Knaben, aber die jähe Furcht der Mutter war darum nicht zum Schweigen zu bringen.

Das schläfrige Ticken der alten Wanduhr, das Klappern der Teller in der Küche und das leise Bewegen der Greisinnenhände hinter der angelehnten Kammertür wirkten auf die müde Frau einlullend. So hörte sie es kaum, daß draußen der Hofhund rasselnd aus seiner Hütte fuhr und ein lautes Gebell anhub. Als mit starker Hand an die Tür gepocht wurde, fuhr sie taumelnd empor und schwankte zur Hauspforte. »Wer ist da?« Und es kam die Antwort: »Hier ist der Rohde aus Bremsburg. Ich komme wegen Ihres Sohnes.«

Es dauerte eine Zeit, bis die Frau ihre Gedanken sammeln und das Unerwartete fassen konnte; dann drehte sie den Schlüssel im Schloß und öffnete. Der Fremde trat ein und bot den Gruß. Er gab eine Erklärung und die Bäuerin nickte. Gut, gut, ihre Kusine hatte es ihr nicht mitgeteilt. Schließlich war es das beste, daß der Mann selbst gekommen war. Sie stieß die Stubentür weit auf und ließ den Gast eintreten. Sie sah ein wenig befangen an dem breitschultrigen Mann hinauf, dessen Schläfenhaare bereits ergraut waren, in dessen Augen aber ein Leuchten der Freundlichkeit war. Auch seine Art zu sprechen weckte ihr Vertrauen. Sie bot ihm den Stuhl und fragte, ob er noch essen möge. Nein, er wolle nur nach dem Kind sehen und dann in den Krug hinübergehen. Ihm liege viel daran, den Knaben im Schlaf zu betrachten. Einstweilen möge sie ihm den Hergang der Krankheit berichten.

Nun, da es sich um das Kind handelte, war die Bäuerin völlig ermuntert. Der Knabe litte seit einem Jahr an krampfartigen Zufällen. Man hatte zwei Ärzte hier gehabt und einmal sogar das Kind zu einem Professor gebracht, aber alle Mittel seien fehlgeschlagen. »Dann hat ihn unsre Mutter wiederholt besprochen, denn das sei ihre Kunst. Aber während ihre Sprüche bei andern sofort geholfen hätten, sind sie bei dem Kind Heinrich ohne Erfolg gewesen.« Der Gast hatte die Mutter, während sie erzählte, betrachtet. Er entgegnete ernst, als die Frau schwieg: »Es ist gut, daß Ihr die Ärzte fragtet, ich mag nicht den Hochmut derer, die alles allein wissen wollen. Und nun leuchten Sie mir, ich will das Kind sehen.« Die Frau ergriff zögernd die Lampe: »Wenn Sie nur ein wenig mit mir fühlten. Die Angst bringt mich zuweilen fast um.« Er hatte sich erhoben: »Frau, ich habe in drei Tagen zwei Kinder und mein Weib verloren. Ich weiß, wie Ihnen zumute ist.«

In der Kammer stand Rohde über das Bett des Kindes gebeugt und betrachtete es aufmerksam: Ein schmales Gesicht mit feuchter Stirn, die starken blauen Adern früh Vollendender an den Schläfen. Auch wenn er aus der Erzählung der Frau noch nicht herausgehört hätte, daß der Vater des Kindes ein Siecher gewesen war, so hätte ihn der Anblick des Knaben belehrt, daß dieses junge Leben aus einem verrinnenden in die Welt geflossen war. Behutsam legte er seine großen Hände um die schmalen Handgelenke und verharrte lange im Anschauen des Kindes. Dann richtete er sich auf und schritt der Mutter voran aus der Kammer. Als sie einander gegenüber saßen, spürte er die flatternde Angst der Frau, deren Blicke nicht von seinem Gesicht ließen. »Ich weiß genug, Frau, und ich will's versuchen; ich habe eine kleine magnetische Kraft. Wenn Gott will, so kann sie wohl Großes wirken; will er nicht, so ist auch Stärkeres unwirksam. Ich schreibe heute den Namen eines Tees auf, den laßt den Knaben trinken. Nach einigen Wochen komme ich wieder und will die Behandlung beginnen.«

»In einigen Wochen?« fragte die Bäuerin zaghaft. All ihr Vertrauen auf den Mann, der einen starken Eindruck auf sie ausübte, wankte bei diesen Worten. Er sah vor sich hin, als wollten seine Gedanken ein fernes Ziel fassen. Dieser Geruch des Bodens, der huschende Schein über dem nächtlichen Land, die Not der Männer, die er heute vernommen, und jetzt die zagende Frau, die von ihm vieles erwartete, dies alles waren Mittel, die ihn nach diesem Fleck Deutschlands riefen. Kein Zweifel, es war ein göttlicher Ruf und hier wartete seiner etwas.

»Ich reise langsam in meinem Wagen,« sagte er, »aber seid getrost, den Kleinen wird bis zu meiner Ankunft nichts anrühren.« Er erhob sich, dabei sah er nach der zweiten Kammertür. Die war jetzt aufgetan und auf der Schwelle stand eine Greisin. Ihre Augen musterten den späten Gast. Aber es war doch noch etwas anderes in diesen Augen, etwas, das Rohde bannte und das auf ihn eindrang. Er merkte die Macht des Ungewöhnlichen. »Ist das Ihre Schwiegermutter, Frau?« fragte er. Und als sie bejahte trat er auf die Alte zu. »Ich bin der Rohde« sagte er, und Ihr Kind Heinrich steht von heute an unter meinem Einfluß. Sie werden ihm nicht mehr mit Bespruch zusetzen, Großmutter.« »Größing hat ein berühmtes altes Flüsterbuch« sagte die Bäuerin leise. Rohde mußte sich erst mit dem Wort abfinden. Dann schüttelte er den Kopf: »Laßt das! Ihr könnt damit Mächte rufen, die ihr nie wieder los werdet.« Die Alte blickte ihn an, ohne ein Wort zu erwidern. »Nicht wahr, Sie versprechen mir, den Jungen mir ihrem Flüsterbuch in Ruhe zu lassen?« Er streckte ihr die Hand entgegen, doch die alte Frau hob die ihre nicht. Da wandte Rohde sich ab und der Tür zu: »Morgen früh sehe ich noch einmal ein.«

Die Bäuerin vergaß, ihm das Bett in der Giebelkammer zum Nachtlager anzubieten, wie sie es sich vorgenommen hatte. Auch als er sie in der geöffneten Tür fragte: »Hat Ihre Mutter das andere Gesicht, Frau?« gab sie einen Bescheid in Worten, die sehr verwirrt klangen. Aber sie blieb stehen, nachdem der Heiler ihr gute Nacht geboten und sah ihm nach, wie er mit festen Tritten über den Hof in das Dunkel schritt.

*

Rohde hatte der Frau nicht nur einen leichten Trost aussprechen wollen, als er ihr seine Wiederkunft in wenigen Wochen zusagte. Sein Entschluß befestigte sich, als er auf einem schmalen Weg Wendisch-Bukow zuschritt. Der Bauer Munk, dessen kranke Frau er noch besucht hatte, hatte ihm diesen Weg gewiesen. Während er ihn verfolgte, war das Gefühl eines Rufs in dieses Land wieder so stark wie am Abend. Über den Birken, deren hängendes Geäst ein leiser Wind strich, lag es wie naher Frühling. An den kahlen Schlehbüschen ließ die warme Luft schon die Knospen schwellen und die unabsehbaren Ackerflächen des flachen Landes, aus denen nur selten ein Dach mit einem Hag alter Bäume auftauchte, waren in eine blasse Traurigkeit gehüllt, durch deren Stille der melancholische Schrei vorüberziehender Krähen wie eine Mahnung, sich ihr hinzugeben, klang.

Sobald, als er geplant hatte, kam Rohde nicht von Wendisch-Bukow fort. Er mußte sich auf den Nachtzug einrichten. Zwar gab er der Frau Dyke, die ihn an der Tür empfing, auf ihre Fragen nach dem Bruderkind nur kurzen Bescheid. Aber Dyke, der froh war, einen Zuhörer gefunden zu haben, erzählte umständlich seine Leidensgeschichte. Geduldig hörte ihm Rohde zu, er ließ noch eine Zeit Stille eintreten, als jener geendet hatte, dann sagte er: »Sie haben noch etwas auf dem Herzen, das nur im Umweg mit ihrem Leiden zu schaffen hat. Das muß zuerst beseitigt werden; es ist eine Schuld oder ein Unrecht, das Sie drückt.«

Dyke öffnete erstaunt die Augen: »Sind Sie ein Pastor oder ein Doktor?« fragte er.

»Ich bin weder das eine noch das andere, ich will den Mitmenschen nur ein wenig mit meiner Erfahrung nützen.« Dyke erkannte, daß der Mann auch in der Tiefe zu lesen gewohnt war. Übrigens war es ihm ein Bedürfnis, zu jemanden von seinem Mißtrauen zu sprechen. Während er berichtete, blickte Rohde durch das Fenster in den Hof. Er verfolgte die Arbeit Hermanns, der in langen Stiefeln auf dem Dunghof stand und einen Wagen mit der kostbaren Gabe der Ställe belud. Dieser junge Mann, der mit kräftigem Schwung Knechtsarbeit verrichtete, gefiel ihm. Es war möglich, daß Mutter und Sohn eine Abmachung gegen den Vater getroffen hatten. Dyke war entschieden im Irrtum. »Hören Sie mich an,« sagte er, als der Leidende geendet hatte, »Sie sind von einem bösen Argwohn befallen, der Ihre Krankheit verschlimmert und Ihre Heilung erschwert. Alle Leiden des Leibes greifen früh oder spät auf die Seele über, und wird die krank, ist das Leiden ein schwieriges. Schütteln Sie nicht den Kopf, Mann! Ich spreche aus Erfahrung. Oder glauben Sie mir, wenn ich Ihnen erzähle, wie es kam, daß ich zum Helfer wurde? Wohlan, so hören Sie zu. Meine Frau hatte einen anderen lieb, als ich um sie freite, aber Vaterwillen zwang sie zu mir. Sie sagte mir frei und offen, daß sie mich wohl heiraten wolle, aber liebhaben könne sie mich dann erst recht niemals. Ich ließ es darauf ankommen. Die Frau lebte neben mir kalt und lautlos wie ein Schatten und zuweilen überkam mich die Eifersucht. Ich wurde zornig, ich packte sie an, am liebsten hätte ich sie dann geschlagen. Dann heilte der wilde Biß in meiner Seele wieder und alles war bei mir gut. Aber auch meine Freundlichkeit blieb ohne Eindruck auf sie. Es konnte nicht anders sein: sie unterhielt mir ihrem Liebsten noch eine Verbindung. Nie habe ich bemerkt, was diesen Glauben begründete, nur meine rasende Eifersucht stachelte mich auf. Wir hatten zwei Kinder, einen Buben und ein Mädel, aber auch an diesen ließ meine Leidenschaft keine Freude in mir aufkommen. Ich kämpfte wohl dagegen: ich schalt mich einen Narren, ich trat den Brüdern vom christlichen Leben bei; das war eine Gemeinschaft, der die Frau angehörte. Ich beugte mich vor Gott, aber die Leidenschaft blieb.«

»Während so meine Seele vergiftet wurde, vollzog sich der Wandel der Zeit. Drei Söhnen auf alten Höfen war der Besitz versteigert worden. Jetzt griff es nach mir. Eine Geldsumme war mir gekündigt, ich bekam von der Bank Ersatz, aber zu mörderischen Zinsen. Ich sah: so ging es unmöglich weiter, aber ich war in einer Sackgasse. Nun, Sie wissen ja, wie das Erwürgen vor sich geht. Binnen einem Jahr ging mir der Atem aus. Doch damit war es nicht genug. Kurze Zeit bevor der Hof ausgeboten wurde, fiel das Scharlachfieber mir ins Haus. An einem Morgen starb das Mädchen, an dem folgenden Abend der Knabe. Die Frau hatte sich um der Kinder willen aufrechtgehalten. Beim nächsten Abendrot ging auch sie. Die furchtbare Stille in dem Haus, in dem ich selbst nur noch Gast war, warf mich in die Knie, und in diesem Schweigen alles Zeitlichen hörte ich Gottes Stimme. Und nichts sagte sie als: Du verdorbener Knecht! Du verdorbener Knecht! Als ich am Morgen mich vom Boden erhob, stand ein neues Leben vor mir. Was ließ ich hinter mir? Drei Gräber und ein Vatererbe. Vom letzten blieb mir gerade so viel, daß ich mir einen Wohnwagen kaufen und einrichten konnte. An dessen Wand schrieb ich: Evangeliumswagen, und so zog ich durch das Land, aufzurütteln oder zu helfen. Nicht mit allen hat Gott und unser Herr Christus es so gut gemeint wie mit mir.«

»Sie sind doch mehr Pfarrer als Doktor,« sagte Dyke, als Rohde schwieg. »Aber wie es nun mit mir steht, mögen Sie wohl für mich der Rechte sein.«

Der Gast sah den Kranken freundlich an; die Erregung, in die seine Erzählung ihn versetzt hatte, war in der Ruhe seines Wesens aufgegangen. »Wege führen auf uns zu, und Wege führen von uns fort. Aber die, die in die Weite zu laufen scheinen, kehren doch immer wieder zu uns zurück.«

Die Bäuerin wunderte sich, wie wenig ihr Mann sprach, als das Mittagessen aufgetragen war und der Gast neben ihm saß.

Die Männer schieden eine Stunde darauf, als hätte sie alte Freundschaft verbunden. – – – –

*

Joachim Cedergren war nun in der alten Gruftkapelle unter den Eichen beigesetzt. Und zwar war es, wie der alte Vorknecht Bluhm es ausdrückte, ein ganz standesgemäßes Begräbnis gewesen. Er war aufgebahrt worden im großen Saal des Schlosses von St. Jürgenshof unter Blattpflanzen, Myrtenbäumen und Oleanderkübeln, die schon manchem stillen Schläfer in das blasse verschlossene Angesicht gesehen hatten. Das Geleit der Freunde und Nachbarn war ein großes gewesen: in Uniform und Frack, mit blitzenden Orden und Ehrenzeichen angetan, hatten die Herren sich um den Sarg ihres Freundes geschart. Und sie hatten nicht nötig gehabt, ihr Gesicht in Kummerfalten zu pressen, denn die Not der Zeit hatte allen ihren Stempel aufgedrückt. Es waren bleiche, trübsalbeschwerte Gesichter und von Müdigkeit bewölkte Stirnen gewesen, die sich in dem Trauerakt zu Boden geneigt hatten. Diese Menschen waren alle gezeichnete Kinder einer kranken Zeit, und alle litten an derselben Krankheit, an der der Tote gestorben war. Für den war es doch eine feierliche Ehrung, das Bekenntnis einer Gemeinsamkeit im Leben und im Tod, und der Graf Funk hätte nicht nötig gehabt, seinem Nachbar zuzuflüstern: »Der Cedergren hat es klug angefangen, als er sich rechtzeitig davonmachte; wer weiß, ob jemand zu unserem Begräbnis erscheint, auch wenn er noch einen Frack besitzt.«

In der Tat, man ehrte den Toten, aber es war doch eine Schaustellung der Sterbenden. Marianne Cedergren, die doch kürzlich erst auf ihrer tapferen Fahrt die wahren Werte dieser Erde schätzen gelernt hatte, war dankbar für die rege Teilnahme der Standesgenossen. Nur der Gedanke an Sigrid beschwerte sie. Sie wußte, daß die Tochter, die ihren Schmerz hinter dichten Schleiern verbarg, noch einen andern Schmerz trug als die Trauer um den Vater. Sigrid hatte die Todesnachricht in der Stunde empfangen, da ihr Mann ihr eröffnete, daß er keine Hoffnung habe, seinen väterlichen Besitz zu halten. Was mußte die Arme durchlebt haben? Mit welchen Gedanken stand sie am Sarge ihres Vaters?

Jesko trug seinen Plan fertig bei sich.

Kaum hatten am Morgen nach dem Begräbnistage die letzten Verwandten den Hof verlassen, als Jesko erschien. Ketelböter, der schon ausspähend hinter den Gardinen gestanden, trat heraus, schnupperte nach seiner Gewohnheit in der Luft, als könne er das kommende Wetter riechen, und gesellte sich zu seinem jungen Herrn. »So, Ketelböter, nun wollen wir mal die Freuden der Landwirtschaft gemeinsam genießen.« Der Inspektor verzog sein Gesicht und nickte bedächtig.

Die Besichtigung begann im Kuhstall. An der Hälfte der Viehstände hingen die Ketten leer. Die Tiere, die da waren, sahen krank aus. Ketelböter erklärte, daß ein Teil der Milchkühe verpfändet oder zwangsmäßig verkauft war. Unter den Tieren herrschte überdies der gefürchtete Galt. »Ja, aber Milchvieh gehört doch zur Substanz und ist von der Pfändung ausgenommen, und wenn hier Seuche herrscht, so gehört doch der Arzt hierher.« Aber der Inspektor erklärte, daß Steuerbehörden sich nie nach geltenden Notwendigkeiten der Wirtschaft sich richteten, daß aber der Tierarzt nicht mehr komme, weil seine letzten Rechnungen unbezahlt geblieben seien.

Jesko, der im Anfang ein wenig den Herrenton angeschlagen hatte, wurde allmählich stiller: die Gründe des Alten überzeugten ihn, sie waren überall die gleichen, bei den Besitzern sowohl als bei den Domänepächtern. Er fand übrigens in der Wirtschaft nichts anderes, als was er erwartet hatte: die Maschinen seit Jahren geflickt und dem Zusammenbruch nahe, der Viehbestand unglaublich herabgemindert, die Futtervorräte reichten nur noch kurze Zeit, weil man jeden entbehrlichen Halm, jedes entbehrliche Korn verkauft hatte. Nach einem Rundgang, der kaum eine Stunde gedauert, brach er die Besichtigung ab. Ketelböter wunderte sich, daß der junge Herr ihm freundlich die Hand schüttelte. Nun, der würde auch nur zu bald den Ernst der Lage kennenlernen!

Jesko betrat beinah heiter den Garten. Seine beiden Nichten, die er am Teich traf, fragte er nach der Mutter. Seine Schwester war mir der Mutter zur Grabkapelle gegangen, sie würden bald zurück sein. Er verließ die Mädchen und betrat das Schloß, wo er Kroll auftrug, ihm die Rückkehr der Damen zu melden.

Nach einer Stunde erfuhr er, daß die Damen ihn in dem grünen Zimmer erwarteten. »Warum gerade dort?« fragte er Kroll. Er war nicht abergläubig, aber dieses Gemach, auf dessen Schwelle der unaustilgliche Blutfleck lag, der zweihundert Jahre alt von einem schlimmen Ereignis herstammte, dieses Gemach war bei ihm nie sehr beliebt. Kroll konnte keinen genügenden Bescheid geben, so begab sich denn Jesko dorthin.

Als er eintrat endete Sigrid gerade ihren Bericht an die Mutter. Sie fuhr fort, ihre Augen zu trocknen. Der Schmerz hatte ihr hübsches Gesicht entstellt. Sie sah ein wenig verlegen drein, denn sie wollte grade der Mutter den Vorschlag machen, ob man die Kinder nicht in Jürgenshof aufnehmen wolle. Sie wußte, daß dies Jesko nicht angenehm war, darum brach sie ihre Rede beim Eintritt ihres Bruders ab.

Dieser begann sofort zu sprechen: »Erlaubt, daß ich euch das Resultat der Durchsicht unsrer Wirtschaft mitteile. Die Hauptsache nehme ich vorweg: St. Jürgenshof muß sobald als möglich verkauft werden.« Er hielt einen Augenblick inne, denn er fühlte, daß er seine Stimme nicht völlig in der Gewalt hatte. Dann fuhr er fort: »Noch ist es Zeit. Ich habe ein Angebot von sicherer Hand, aber wir müssen entschlossen und schnell zugreifen. Dann bleibt für Dich, Mama, eine sehr kleine Rente übrig und für mich ein Siedlungshof in Wobeser; dessen Acker kann ich verpachten, wollt ihr das nicht, auch gut! Aber ich weigere mich dann entschieden, die Erbschaft, wie sie ist, anzutreten.« Niemand antwortete ihm. Die Stille in dem Raum war unheimlich. Die Baronin griff fröstelnd nach dem Tuch, das ihr entglitten war und Sigrid schien erstarrt. war es denn möglich, daß ein Cedergren glatt den Verzicht auf seinen Besitz aussprach, den Generationen seiner Väter geschaffen hatten? Jesko wurde diese Stille unbequem. »Ja, ihr seid erschreckt, weil eure Ideen in einer verflossenen Epoche wurzeln. Aber darum muß es euch doch gesagt werden: Wir Jungen sehen nun einmal anders und leben anders und schaffen andere Zustände. Ich könnte es mit meiner inneren Wahrhaftigkeit nicht vereinen, wollte ich mich hier an die Kette legen, nur weil das im Sinne von ein paar weltunkundigen Standesherren wäre.«

»Aber ich begreife nicht, wie du kampflos alles preisgeben kannst, aus dem du erwuchsest«, sagte die Baronin. Ihre Stimme klang wie splitterndes Glas.

Der Sohn erhob sich und schritt ein paarmal im Zimmer auf und nieder. Merkwürdig, das Muster des verschlissenen Teppichs erinnerte ihn plötzlich an einen Geburtstag in seiner Kinderzeit. Die Erinnerung an etwas Helles, Sorgloses ward in ihm mächtig und drohte, ihn zu übermannen.

Aber er riß sich zusammen: »Liebe Mama, der Kampf ist entschieden und hat mir unserer Niederlage geendet. Niederlage? Was sage ich da? Mit einer Wandlung endet er. Es ist nötig, daß wir uns dessen endlich bewußt werden und das ganz sind, wozu uns das Schicksal bestimmt hat.«

«Wieder diese Stille, die sich wie ein Alpdruck auf die beiden Frauen legte. Durch die Ruhe des Hauses drang der Ton der Kinderfüße, die von ihrem Spaziergang heimkehrten. Jesko stand still und lauschte den silbernen Stimmen, die wie ein fremder Ton zwischen den bildergeschmückten Wänden klangen, plötzlich stand Sigrid auf, stieß mit trotziger Bewegung den Sessel zurück und verließ das Zimmer. Die Mutter wollte ihr folgen, aber Jesko trat ihr entgegen und nahm ihre Hand, während er sie bittend anblickte. Es war lange her, daß sie ihn nicht gesprochen hatte. Da schmolz, was von Härte und Stolz noch in ihr war, und sie erkannte, daß ihr mütterliches Herz nur um die Zukunft des Sohnes gesorgt hatte, des Jungen, der sich zu einem neuen Raubrittertum am Leben rüstete.

»Ich gehe nach Schweden, Jesko, und Sigrid wird auch ihr Unterkommen finden. Aber du – – – Nein, ich verstehe dich so wenig, wie ich diese Zeit verstehe.«

Jesko erwiderte kein Wort. Was gab es in dieser Stunde auch zu erklären? Sollte er die alten Sätze vorbringen, mit denen man ihn geweckt hatte? Diese großen Worte, daß er und seine Artgenossen diese neue Zeit tatenlos über sich ergehen ließen; diese Fragen nach der Schuld, die vorhanden war und die man doch nicht aus der Welt schaffen konnte, oder diese Entschuldigung, daß nun einmal eine Zeit erfüllet war und von einer neuen abgelöst werden mußte. Worte! Worte! Und all dies bedeutete nichts gegen den Schmerz, der immer da ist, wenn ein Mensch die Wurzel seines Wesens aus dem heimatlichen Erdreich reißt.


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