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Das soziale Leben der Gegenwart stellt ernste, umfassende Aufgaben. Forderungen nach Neueinrichtungen in diesem Leben treten auf und zeigen, daß zur Lösung dieser Aufgaben Wege gesucht werden müssen, an die bisher nicht gedacht worden ist. Durch die Tatsachen der Gegenwart unterstützt, findet vielleicht heute schon derjenige Gehör, der, aus den Erfahrungen des Lebens heraus, sich zu der Meinung bekennen muß, daß dieses Nichtdenken an notwendig gewordene Wege in die soziale Verwirrung hineingetrieben hat. Auf der Grundlage einer solchen Meinung stehen die Ausführungen dieser Schrift. Sie möchten von dem sprechen, was geschehen sollte, um die Forderungen, die von einem großen Teile der Menschheit gegenwärtig gestellt werden, auf den Weg eines zielbewußten sozialen Wollens zu bringen. – Ob dem einen oder dem andern diese Forderungen gefallen oder nicht gefallen, davon sollte bei der Bildung eines solchen Wollens wenig abhängen. Sie sind da, und man muß mit ihnen als mit Tatsachen des sozialen Lebens rechnen. Das mögen diejenigen bedenken, die, aus ihrer persönlichen Lebenslage heraus, etwa finden, daß der Verfasser dieser Schrift in seiner Darstellung von den proletarischen Forderungen in einer Art spricht, die ihnen nicht gefällt, weil sie, nach ihrer Ansicht, zu einseitig auf diese Forderungen als auf etwas hinweist, mit dem das soziale Wollen rechnen muß. Der Verfasser aber möchte aus der vollen Wirklichkeit des gegenwärtigen Lebens heraus sprechen, soweit ihm dieses nach seiner Erkenntnis dieses Lebens möglich ist. Ihm stehen die verhängnisvollen Folgen vor Augen, die entstehen müssen, wenn man Tatsachen, die nun einmal aus dem Leben der neueren Menschheit sich erhoben haben, nicht sehen will; wenn man von einem sozialen Wollen nichts wissen will, das mit diesen Tatsachen rechnet.
Wenig befriedigt von den Ausführungen des Verfassers werden auch zunächst Persönlichkeiten sein, die sich in der Weise als Lebenspraktiker ansehen, wie man unter dem Einflusse mancher liebgewordener Gewohnheiten die Vorstellung der Lebenspraxis heute nimmt. Sie werden finden, daß in dieser Schrift kein Lebenspraktiker spricht. Von diesen Persönlichkeiten glaubt der Verfasser, daß gerade sie werden gründlich umlernen müssen. Denn ihm erscheint ihre »Lebenspraxis« als dasjenige, was durch die Tatsachen, welche die Menschheit der Gegenwart hat erleben müssen, unbedingt als ein Irrtum erwiesen ist. Als derjenige Irrtum, der in unbegrenztem Umfange zu Verhängnissen geführt hat. Sie werden einsehen müssen, daß es notwendig ist, manches als praktisch anzuerkennen, das ihnen als verbohrter Idealismus erschienen ist. Mögen sie meinen, der Ausgangspunkt dieser Schrift sei deshalb verfehlt, weil in deren ersten Teilen weniger von dem Wirtschafts- und mehr von dem Geistesleben der neueren Menschheit gesprochen ist. Der Verfasser muß aus seiner Lebenserkenntnis heraus meinen, daß zu den begangenen Fehlern ungezählte weitere werden hinzu gemacht werden, wenn man sich nicht entschließt, auf das Geistesleben der neueren Menschheit die sachgemäße Aufmerksamkeit zu wenden. – Auch diejenigen, welche in den verschiedensten Formen nur immer die Phrasen hervorbringen, die Menschheit müsse aus der Hingabe an rein materielle Interessen herauskommen und sich »zum Geiste«, »zum Idealismus« wenden, werden an dem, was der Verfasser in dieser Schrift sagt, kein rechtes Gefallen finden. Denn er hält nicht viel von dem bloßen Hinweis auf »den Geist«, von dem Reden über eine nebelhafte Geisteswelt. Er kann nur die Geistigkeit anerkennen, die der eigene Lebensinhalt des Menschen wird. Dieser erweist sich in der Bewältigung der praktischen Lebensaufgaben ebenso wirksam wie in der Bildung einer Welt- und Lebensanschauung, welche die seelischen Bedürfnisse befriedigt. Es kommt nicht darauf an, daß man von einer Geistigkeit weiß, oder zu wissen glaubt, sondern darauf, daß dies eine Geistigkeit ist, die auch beim Erfassen der praktischen Lebenswirklichkeit zutage tritt. Eine solche begleitet diese Lebenswirklichkeit nicht als eine bloß für das innere Seelenwesen reservierte Nebenströmung. – So werden die Ausführungen dieser Schrift den »Geistigen« wohl zu ungeistig, den »Praktikern« zu lebensfremd erscheinen. Der Verfasser hat die Ansicht, daß er gerade deshalb dem Leben der Gegenwart werde in seiner Art dienen können, weil er der Lebensfremdheit manches Menschen, der sich heute für einen »Praktiker« hält, nicht zuneigt, und weil er auch demjenigen Reden vom »Geiste«, das aus Worten Lebensillusionen schafft, keine Berechtigung zusprechen kann.
Als eine Wirtschafts-, Rechts- und Geistesfrage wird die »soziale Frage« in den Ausführungen dieser Schrift besprochen. Der Verfasser glaubt zu erkennen, wie aus den Forderungen des Wirtschafts-, Rechts- und Geisteslebens die »wahre Gestalt« dieser Frage sich ergibt. Nur aus dieser Erkenntnis heraus können aber die Impulse kommen für eine gesunde Ausgestaltung dieser drei Lebensgebiete innerhalb der sozialen Ordnung. – In ältern Zeiten der Menschheitsentwicklung sorgten die sozialen Instinkte dafür, daß diese drei Gebiete in einer der Menschennatur damals entsprechenden Art sich im sozialen Gesamtleben gliederten. In der Gegenwart dieser Entwicklung steht man vor der Notwendigkeit, diese Gliederung durch zielbewußtes soziales Wollen zu erstreben. Zwischen jenen ältern Zeiten und der Gegenwart liegt für die Länder, die für ein solches Wollen zunächst in Betracht kommen, ein Durcheinanderwirken der alten Instinkte und der neueren Bewußtheit vor, das den Anforderungen der gegenwärtigen Menschheit nicht mehr gewachsen ist. In manchem, das man heute für zielbewußtes soziales Denken hält, leben aber noch die alten Instinkte fort. Das macht dieses Denken schwach gegenüber den fordernden Tatsachen. Gründlicher, als mancher sich vorstellt, muß der Mensch der Gegenwart sich aus dem herausarbeiten, das nicht mehr lebensfähig ist. Wie Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben im Sinne des von der neueren Zeit selbst geforderten gesunden sozialen Lebens sich gestalten sollen, das – so meint der Verfasser – kann sich nur dem ergeben, der den guten Willen entwickelt, das eben Ausgesprochene gelten zu lassen. Was der Verfasser glaubt, über eine solche notwendige Gestaltung sagen zu müssen, das möchte er dem Urteile der Gegenwart mit diesem Buche unterbreiten. Eine Anregung zu einem Wege nach sozialen Zielen, die der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit und Lebensnotwendigkeit entsprechen, möchte der Verfasser geben. Denn er meint, daß nur ein solches Streben über Schwarmgeisterei und Utopismus auf dem Gebiete des sozialen Wollens hinausführen kann.
Wer doch etwas Utopistisches in dieser Schrift findet, den möchte der Verfasser bitten, zu bedenken, wie stark man sich gegenwärtig mit manchen Vorstellungen, die man sich über eine mögliche Entwicklung der sozialen Verhältnisse macht, von dem wirklichen Leben entfernt und in Schwarmgeisterei verfällt. Deshalb sieht man das aus der wahren Wirklichkeit und Lebenserfahrung Geholte von der Art, wie es in dieser Schrift darzustellen versucht ist, als Utopie an. Mancher wird in dieser Darstellung deshalb etwas »Abstraktes« sehen, weil ihm »konkret« nur ist, was er zu denken gewohnt ist und »abstrakt« auch das Konkrete dann, wenn er nicht gewöhnt ist, es zu denken.
Der Verfasser hat bewußt vermieden, sich in seinen Ausführungen unbedingt an die in der volkswirtschaftlichen Literatur gebräuchlichen Ausdrücke zu halten. Er kennt genau die Stellen, von denen ein »fachmännisches« Urteil sagen wird, das sei dilettantisch. Ihn bestimmte zu seiner Ausdrucksweise aber nicht nur, daß er auch für Menschen sprechen möchte, denen die volks- und sozialwissenschaftliche Literatur ungeläufig ist, sondern vor allem die Ansicht, daß eine neue Zeit das meiste von dem einseitig und unzulänglich sogar schon in der Ausdrucksform wird erscheinen lassen, das in dieser Literatur als »fachmännisch« sich findet. Wer etwa meint, der Verfasser hätte auch hinweisen sollen auf die sozialen Ideen Anderer, die in dem Einen oder Andern an das hier Dargestellte anzuklingen scheinen, den bitte ich zu bedenken, daß die Ausgangspunkte und die Wege der hier gekennzeichneten Anschauung, welche der Verfasser einer jahrzehntelangen Lebenserfahrung zu verdanken glaubt, das Wesentliche bei der praktischen Verwirklichung der gegebenen Impulse sind und nicht etwa bloß so oder anders geartete Gedanken. Auch hat der Verfasser, wie man aus dem Abschnitt IV ersehen kann, für die praktische Verwirklichung sich schon einzusetzen versucht, als ähnlich scheinende Gedanken in bezug auf das Eine oder Andere noch nicht bemerkt wurden.
Daß stramm in Parteiprogramme eingespannte Köpfe mit den Aufstellungen des Verfassers zunächst unzufrieden sein werden, weiß er. Doch er glaubt, viele Parteimenschen werden recht bald zu der Überzeugung gelangen, daß die Tatsachen der Entwicklung schon weit über die Parteiprogramme hinausgewachsen sind, und daß ein von solchen Programmen unabhängiges Urteil über die nächsten Ziele des sozialen Wollens vor allem notwendig ist.
Anfang April 1919.
Rudolf Steiner.