Hermann Stegemann
Der gefesselte Strom
Hermann Stegemann

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Im grünen Garten von St. Joseph perlte der Morgentau. Über dem Tannenwald stand die Sonne mit hellem Schein.

»Darf ich aufstehen, Fräulein Ruth?«

»Der Liegestuhl wartet schon auf Sie,« erwiderte Ruth lächelnd.

»Muß ich wirklich den ganzen Tag auf dem dummen Stuhl liegen? Das hält ja kein Mensch aus! Da bleib' ich lieber im Bett.«

Aber Lo tat nur so, sie freute sich ja unendlich, aus der Krankenzelle ins Freie zu kommen.

Ruth überließ sie den geschickten Händen der Pflegerin. Eine Stunde darauf lag Lo auf der Terrasse, die Engelhardt auf der Rheinseite hatte erbauen lassen. Eine schmale Treppe führte von der Terrasse auf den alten Friedhof des Klosters hinab, der jetzt ein wilder Rosengarten war, in dem kein Grabscheit mehr klang. Rosen und Feuerlilien wuchsen darin in überschwenglicher Fülle.

Engelhardt hatte alle Gräber ebnen und nur eine schöne Platte bewahren und an der Mauer aufstellen lassen, das Reliefbild einer Gräfin Schreck von Rheinau, die gewünscht hatte, im Kloster begraben zu werden. Der kleine Winkel war nur von der Terrasse und durch eine offene Mauerlücke zugänglich, die auf eine Wiese blickte, aber drei Schuh hoch über dem Boden lag. Früher war hier der Rhein dicht an das Gehöft herangetreten, und die Klosterfrauen hatten ihn hart an ihren Grabstätten rauschen hören. Als der Strom sich sein Bett unter dem Lauffen tiefer gegraben und den Lauf in heftigem Drang mehr nach Süden gelenkt hatte, verlor die Wasserpforte jede Bedeutung. Der Kies grünte, das Kloster verödete, und der Friedhof wurde zum Rosenanger.

70 Engelhardt hatte ihn selbst bei dem Bau der Terrasse unberührt gelassen und nur die Treppe angelegt, um auf ihr und durch die Pforte rasch an den Strom zu gelangen, ohne das weitläufige Gebäude und den Wirtschaftshof durchschreiten zu müssen.

Lo Manderfeld langweilte sich. Die Sonne schien ihr auf das leichte Kleid und funkelte auf den entblößten Armen. Eigentlich ein Unsinn, die Kranke spielen zu müssen! Sie war doch gar nicht krank. Die Pflegerin hatte ihr erzählt, daß jetzt vierzehn Kurgäste da wären, aber kein einziger mußte zu Bett oder auf dem Stuhl liegen. Übertrainiert und unterernährt, so ein Mumpitz! Strümpfe stricken und Fett ansetzen, das war wirklich alles, was ihr noch fehlte! Sie betrachtete ihre Arme. Bis an die Ellbogen waren sie braun getönt und elastisch wie Stacheldraht. Wenn sie die Hand bog, schnellten unter der Haut Sehnen und Muskeln empor, die am rechten Arm stärker waren als am linken. Das kam vom Tennis. Der linke Arm war erst kräftiger geworden, seit sie auch Golf spielte. Der Hausarzt hatte von Linealen gesprochen. Damals war Lo wütend gewesen, aber heute mußte sie lachen, indem sie über die dünnen Arme wegschielte, auf denen die Sonne rosig glühte. Dann streifte sie die halblangen Ärmel zurück. Schneeweiß glänzten die Oberarme.

»Ach Gott, wie mager,« entfuhr es ihr. Früher hatte sie nie darauf geachtet, jetzt in der Sonne, auf der Terrasse, von der der Blick in die geräumige Landschaft mit Bergen und Auen und dem schön geschwungenen Stromlauf ging, erschienen sie ihr wie zwei weiße perlmutterfarbene Spargelstengel.

Mißmutig verschränkte sie sie unter dem Kopf und blinzelte durch die halbgeschlossenen Lider in den silberblauen Himmel.

Auf einmal hörte sie den Rhein rauschen. Als hätte er sich erst in diesem Augenblick durch die Felsenenge in die Tiefe Bahn gebrochen, so plötzlich klang er in die 71 Stille. Sie öffnete die Augen, richtete sich auf und schaute hinüber. Eine Weile nur gefesselt von dem Anblick des schäumenden Wassers, aus dem silberne Dünste stiegen, dann von dem grünfunkelnden Strom gelockt, der sich wirbelnd durch die stille Aue schwang. Nun war schon der Wunsch wach, ihn in der Nähe zu sehen, und jetzt das Verlangen, es zu tun.

Lo kämpfte, legte sich ergeben wieder auf den langen Stuhl, blinzelte in den Himmel, reckte die dünnen Arme, warf den Zopf erst rechts, dann links, saß plötzlich aufrecht, zögerte noch einmal und stand nach kurzem Zaudern mit einem Ruck auf den Füßen.

Sie kam sich wie ein Dieb vor, als sie leise zur Treppe ging. Sie wollte – ja, was wollte sie – eine Rose wollte sie sich holen. Ihre gelben Schuhe liefen schon die Stufen hinab. Unter den Rosen war es kühl, denn der Friedhof lag im Schatten.

Lo hielt die Gräfin Schreck von Rheinau für ein Muttergottesbild und blieb eine kleine Weile respektvoll vor ihr stehen. Dann schielte sie durch die Mauerlücke. Gelb und blau leuchtete die Wiese, aus dem silbergrauen Weidengebüsch glänzte der Rhein. Ein Spaziergang von fünf Minuten. Und der konnte ihr nur gut tun. Doktor Engelhardt hatte ihr ausdrücklich gesagt, sie müsse im Laufe des Vormittags zweimal je eine Viertelstunde auf der Terrasse langsam auf und ab gehen. Das hatte sie bis jetzt versäumt.

Sie blieb einen Augenblick in der Türöffnung stehen, und dann sprang sie hinab, über die bröckelnde Stufe hinweg, die in den blühenden Taubnesseln fast verschwand.

Hurtig lief sie über die Wiese dem Rhein zu. Weiden und Erlen nahmen sie in ihre Schatten, dicht vor ihren Füßen gurgelte der Strom. Vom Lauffen her donnerte die Regenflut, bernsteinfarbener Schaum schillerte im funkelnden Grün.

Plötzlich stieß Lo einen Schrei aus. Dann sagte sie ärgerlich:

72 »Junge, wie hast du mich erschreckt! Was machst du denn da?«

Hermann Ingold blickte trotzig auf, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Er lag im Ufergrün, und Lo hatte ihn nicht eher gesehen, bis ihr Fuß an ihn stieß.

»Fischen!«

»Fischen? Wo hast du denn deine Angel?«

Er zeigte stumm auf ein Stückchen Holz, das sich dicht am Ufer über einer glatten Stelle drehte, wo das Wasser sich sanft im Kreise schwang.

Jetzt entdeckte Lo die Schnur, die er in der Hand hielt.

Er drehte sich wieder auf die Seite und verbarg dadurch das Buch, in dem er so eifrig gelesen hatte, daß ihm Los leise Schritte entgangen waren. Der Schwimmer tanzte langsam in regelmäßigen Bewegungen über der Grundangel. Hermann zog vorsichtig die Schnur straffer, um den Anbiß deutlicher zu spüren.

»Du, laß mich auch mal halten,« flüsterte Lo und kauerte sich neben ihn.

»Nein. Wenn einer reißt, dann schreist du wieder.«

Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu, aber ihr Gesicht war so klar und weiß, wie er noch keins gesehen hatte, ihre Nasenflügel ganz durchsichtig und ihre Lippen blaßrot wie mit zarter Farbe gemalt. Er staunte.

Da streckte Lo die Hand aus und nahm ihm die Grundschnur weg.

»Ich geb' dir auch zwanzig Pfennig dafür,« sagte sie hochmütig.

»Ich brauch' dein Geld nicht,« antwortete der Knabe trotzig, doch ließ er ihr die Schnur.

Schweigend saßen sie, dicht aneinandergeschmiegt, am überhängenden Ufer und starrten auf das schwimmende Holz. Grüngoldene Lichter gaukelten um sie her.

Nach fünf Minuten fragte Lo ungeduldig:

»Dauert das immer so lang?«

Die Frage erschien Hermann Ingold so töricht, daß er gar keine Antwort gab.

73 »Soll ich mal ziehen?« fragte sie gleich darauf und begann sofort die Schnur aufzuwinden.

Da ergriff er ihre Hände, brach ihr mit einem harten Ruck die Finger auf, zog die Schnur hervor und sagte zornig:

»Nein, Mädle, bist du dumm auf die Welt gekommen!«

»Was unterstehen Sie sich! Ich verbitte mir das! Sehen Sie nicht, daß Sie mit einer Dame –«

Sie konnte den Satz nicht vollenden, denn jetzt verschwand plötzlich der Schwimmer wie an einer Gummischnur, die aus der Streckung zurückschnellt, unter dem Wasserspiegel, und Hermann Ingold warf sich vornüber und hielt die Grundschnur steil nach unten. Dann zog er weit vorgeneigt, daß sein Bild im Wasser schwamm und er mit gespreizten Beinen das Gleichgewicht erkämpfen mußte, den Fisch aus der Tiefe. Die Schnur schoß wie ein Pendel in kurzen Schlägen hin und her, auf einmal riß er sie in die Höhe und schleuderte den blitzenden Flosser in kurzem Bogen ans Land. Dicht neben Lo klatschte er ins Gras.

Und ehe Lo sich retten konnte, sprang ihr der glänzende Barsch mit gewaltigem Schlag in den Schoß.

Sie stieß einen hellen Schrei aus und warf sich zurück, strampelte mit den Beinen und schrie noch, als Hermann den Fisch längst gepackt und abgefangen hatte.

Er ergriff ihre Hände und half ihr aufstehen.

»Hast du wirklich Angst gehabt?« fragte er mitleidig.

Ihre Unterlippe zuckte noch, wie dicht vor dem Weinen, das Blut stieg in klaren Güssen in ihr entfärbtes Gesicht. Das kurze weiße Kleid klebte an den feinen Gliedern.

»Angst, i wo,« log sie, »es war nur so eklig.«

Hermann Ingold bemühte sich, ihre kleinen Schuhe mit seinem großen bunten Taschentuch abzutrocknen. Sie ließ es geschehen und stützte sich dabei auf seine Schulter.

»Du, was ist das für ein Fisch, ein Lachs?«

74 »Nein, ein Barsch. Der Lachs steht drüben vor dem Lauffen.«

»Wie heißt du eigentlich?«

»Hermann Ingold. Der Hanns Ingold ist mein Bruder.«

»Den kenne ich nicht,« antwortete sie wegwerfend.

Er richtete sich auf.

»Dann bist du wohl erst seit gestern hier!«

»Ja,« versetzte sie gelassen.

Er wickelte die Schnur auf und schob dem Fisch eine Weidenrute durch die Kiemen.

Die Purpurflossen, der schwarzgrüne Rücken und der silbergraue Bauch glänzten in der Sonne.

»Drei Pfund,« schätzte Hermann, indem er ihn prüfend wog. »Ich bring' ihn in die ›Post‹.«

Aber er wußte nicht, wie er sich verabschieden sollte, und fand kein Ende mit Knoten und Binden.

»Laß mich mal heben,« bat Lo.

Sie zog das Kleid straff, bückte sich weit vor und hielt den Fisch mit gestrecktem Arm.

»Du, eigentlich hab' ich ihn aber gefangen. Bei mir hat er angebissen,« sagte sie eifrig.

Und dann gingen sie auf dem schmalen, von Weiden und Erlen überschatteten Uferpfad flußaufwärts. Lo voraus, den Fisch tragend, Hermann hinter ihr. Beiden erschien das das Selbstverständlichste von der Welt.

Sie kamen in eifriges Gespräch und verabredeten, sich wieder zu treffen, denn Lo wollte das Fischen lernen.

Zuletzt sagte Hermann:

»Jetzt zeig' ich dir noch unsere Netzwage, und wenn du willst, hol' ich dich einmal mit dem Nachen, dann kannst du bis an den Lauffen heranfahren.«

Ein letzter Schlag streckte den Silberleib des Rotflossers, und Lo schrie schon wieder und ließ ihn fallen.

Diesmal bückte Hermann sich schweigend ohne ein Wort des Vorwurfs, und sie selbst schämte sich und tat desgleichen.

75 Da berührten sich ihre Haare und ihre Wangen, und sie waren beide rot, als sie sich wieder aufrichteten.

Noch ein paar Schritte, und sie traten auf die Blöße von St. Josephs Acker. Schneeweiße Rheinkiesel knirschten, silberne Strudel brausten, und aus den roten Felsen hervor kam mit Donner und Gischt, bunte Dünste in die Sonne schleudernd, der Strom gefahren und wühlte jauchzend in der kochenden Tiefe.

»Leb' wohl, du! Dort kommt mein Bruder!«

Hermann hatte Hanns vom Lauffen herkommen sehen und lief ihm entgegen. Rasch stob auch Lo davon und suchte schnell und listig, mit pochendem Gewissen den Heimweg.

Hanns Ingold blickte erst von seinen Briefen auf, als Hermann dicht vor ihm stand. In seinem Gesicht liefen die Linien noch schärfer und härter, seine Augen hatten den zerstreuten, nach innen gehenden Ausdruck von Menschen, für die es nur noch einen einzigen Gedanken und ein einziges Ziel gibt. Die Lippen zuckten in gelassenem Spott, und ruhig glättete er das Briefpapier, auf dem ihm die Handelskammer mitteilte, daß sie nicht in der Lage sei, seiner Broschüre und den darin enthaltenen Vorschlägen Beachtung zu schenken.

»Ein Barsch? Du, das ist ja ein breitmäuliger Kerl!« sagte er, während er die Papiere in die Tasche steckte. »Seit zehn Jahren hab' ich nicht mehr mit dem Haken im Busch gelegen. Zeig her, ich wette, er wiegt seine drei Pfund.«

Hermann fragte ihn, wohin er gehe, und sperrte ihm dabei den Uferweg, damit er das schöne Mädchen nicht sehe, dessen weißes Kleid eben noch hell aus den Weiden geleuchtet hatte.

»Ich besichtige meine Besitzungen, old fellow. Wer weiß, ob es dem Karl Gilgen oder dem Peter Hohwald nicht einfällt, sich wieder als Herren zu betrachten, weil mich die Rheinauer mit meiner Weisheit heimgeschickt haben!«

Eifrig fiel Hermann ein:

76 »Hanns, ich hab' auch gelesen, was du geschrieben hast. Und ich und Fräulein Ruth –« Er brach ab.

Als er am Abend von Ruth weg zu Hanns geeilt war, hatte er seinem Bruder nichts von ihrer Anwesenheit gesagt. Auch jetzt bedrückte ihn das Gefühl, beinahe ihr Vertrauen mißbraucht zu haben. Eine rote Flamme schoß in sein Gesicht. Er sprach nicht weiter.

Hanns zuckte zusammen, als Ruths Name genannt wurde. Der Sinn des abgebrochenen Satzes war ihm entgangen. Nur der Name haftete in seinem Ohr. Eine ungeheure Sehnsucht brach sich plötzlich in ihm Bahn und schwemmte alle Pläne und Enttäuschungen, alle Sorgen und Kämpfe fort.

Er richtete sich auf, fuhr sich über das zuckende Gesicht, umfaßte noch einmal die Heimat mit einem langen, inbrünstig heischenden Blick, als könnte er sie an sich ziehen und in sich saugen, und legte dann beide Hände auf Hermanns Schultern.

»Bub, ich hab' hier keinen Menschen außer dir –«

»Und ich glaube an dich!« rief der Knabe mit rauher Stimme, warf die silberne Beute ins Gras und packte den Bruder an den Hüften. Im sommersprossigen Gesicht leuchteten die Augen seltsam grün und blau wie der Rhein, wenn die Sonne schräg in die Flut stach. Die hohe weiße Stirn tauchte glänzend aus dem wilden roten Haar, das er im Aufblicken stürmisch zurückwarf. Seine Finger gruben sich in die Hüften des Bruders und preßten ihn an sich.

Festumklammert standen sie auf dem grünen Uferstreifen, vom Rauschen des Rheins umtost, und den feuchten Luftstrom atmend, der von den Schnellen herüberstrich.

»Hermann, Bub, ich muß dir Adieu sagen. Ja, Adieu. Ich reise morgen. Hier ist nichts mehr zu tun. Aber ich komme wieder. Und wenn ich wiederkomme, bringe ich die Konzession und die Millionen mit, die nötig sind, und baue das Werk und sprenge den Lauffen.«

77 »Und wann kommst du wieder, Hanns?«

»In sieben Tagen, in sieben Monaten oder in abermals sieben Jahren! Ich weiß nur eins, ich komme!«

»Und ich, Hanns, und ich?« stammelte Hermann.

»Du bleibst bei dem Vater, bis ich dich rufe! Nimm die Stunden bei Rektor Schnell, wie wir ausgemacht haben, sie sind im voraus bezahlt, und hab' Geduld. Jetzt geh', trag' den stachligen Herrn in die ›Post‹, sie sollen ihn schuppen und braten, ich will in ihm Abschied feiern, und künd' dem Vater, ich käm' ihm heute abend Lebewohl sagen.«

»Hanns!«

Wild warf sich der Knabe an seine Brust und umschlang ihn, als müßte er ihm alle Rippen brechen. Dann bückte er sich nach dem Fisch und rannte davon.

Hanns Ingold stieg vom festen Ufer auf die Kieszunge hinab, die spitz in den Strom lief, und ging bis zu ihrem äußersten Ende. Vor ihm strudelten die Wellen, der Lauffen netzte ihm das Gesicht mit Sprühschauern. Der rote Pflock, den er bei den Meßarbeiten als Merkzeichen eingeschlagen hatte, steckte noch im weißen Kies.

»Ich zwing' dich doch,« murmelte er und sah die Wasser schäumen und brausen und die Klippen trotzen und ragen. Ein Eisvogel schwang sein buntes Gefieder an ihm vorbei und leuchtete wie ein farbiger Edelstein, als er am anderen Ufer auf einer Baumwurzel Fuß faßte.

Langsam ging Hanns am Rhein entlang, St. Joseph zu. Das Korn, das ihm gehörte, stand blaßgrün und steckte die ersten Fahnen aus. Die Kartoffelstauden hockten als kleine Häuflein dicht an die gelbe Erde gedrückt. Vom Kloster her kam Blumenduft gezogen. Das Haus verschwand in den Obstbäumen. Die Gartenmauer war von Efeu und Myrten wild überwachsen. Auf der Terrasse ging ein schlankes Kind im weißen Kleid langsam auf und ab.

Hanns Ingold dachte an Ruth.

78 Seit sie ihn über die Grenze verwiesen hatte, waren sie nicht mehr zusammengekommen. Er würde ihr nicht Lebewohl sagen. Engelhardt hatte ihm in der Versammlung Gemeinschaft und Nachbarschaft gekündigt, ihn als einen Menschen brandmarken wollen, dem nichts heilig ist, der den Frieden der Natur mordet und die Heimat verschachert.

Er nahm den Hut ab und ging den Feldweg entlang zum Wald hinauf. Als er die Schienen überschritt, klirrte ein Signal in den Drähten, und gleich darauf schlug auf der Station das Glockenwerk.

Im Wald setzte sich Hanns auf einen Moosfelsen und zog noch einmal seine Briefschaften hervor. Die Morgenpost hatte ihm die letzten Absagen gebracht. Der Abgeordnete des Kreises hatte sich ebenso ablehnend verhalten wie die Regierung. Die Fischereigenossenschaft hatte ihr ewiges Recht auf den Lauffen proklamiert, und die Zeitungen hatten seinen Vorschlag als phantastisch oder sträflich verworfen. Der Ingenieurverein zweifelte seine Berechnungen an und verweigerte ihm die Aufnahme eines Aufsatzes in das Verbandsorgan. Er war auf der ganzen Linie geschlagen.

Aus einem Briefumschlag zog er die Bilanz. Tannennadeln, die der Tritt eines Eichhorns gelöst hatte, rieselten auf und nieder. Wenn er die Techniker ablohnte und das Bureau auflöste, blieben ihm noch siebentausend Mark an barem Geld, siebenundzwanzigtausend Mark waren in Landerwerb und Propaganda aufgegangen.

Eine Ansichtskarte aus Neapel fiel ihm in die Hand. Sie war von Gheude, der sich auf der Ausreise nach Kanton befand. »Kommen Sie nach, die Kondition ist ausgezeichnet«, hatte der Freund geschrieben.

Und auf einmal packte ihn das große Fernweh wieder, der Zug in die Weite, die Lust, als Kulturpionier hinauszuziehen, auf dem Pony an den Arbeitskolonnen vorbeizugaloppieren, in Wellblechbaracken über Karten und Plänen zu hocken, Ströme zu sperren und Berge zu 79 sprengen und, einen fremden Himmel über sich, an die Heimat zu denken, die still und unberührt im Dämmern der Erinnerung eingesponnen lag.

Er sprang auf und warf die Arme in die Höhe, als müßte er die Weite erfassen und an sich drücken.

Ein Eisenbahnzug kam gefahren und hielt in Rheinau.

Ingold sah vom Wald aus die Chaise der »Alten Post« nach St. Joseph hinausrollen.

»Ruth!« Er hatte den Namen plötzlich laut in den Wald gerufen. Ein ungeheurer Schmerz zerriß ihm die Brust. Die Hände vor das Gesicht geschlagen, stand er lange Zeit, keines klaren Gedankens fähig.

Als er seiner wieder Herr geworden war, ging er nach Hause. Er kündigte seinen Leuten, zahlte sie aus und gab ihnen die Freiheit zurück.

Im Herrenstübchen der »Post« waren der Postsekretär, der Provisor und der Oberlehrer, die als Junggesellen hier ihren Mittagstisch hatten, schon lange von ihm abgerückt. Heute fühlte er sich plötzlich ganz als Amerikaner, ging ohne Gruß an ihnen vorbei und setzte sich breitbeinig an seinen Tisch.

Der Wirt kam, blieb einen Augenblick bei seinen Stammgästen stehen, sprach laut und behaglich und stand plötzlich vor Ingolds Tisch, um zu sagen:

»Ein Mordskerl, drei Pfund geschuppt und geputzt. Ja, der Lauffen, eine Fischfalle, wie es keine zweite gibt. Ein solennes Abschiedsessen, Herr Ingenieur, und wir lassen ihn doch rund herumgehen, nicht wahr?«

»Nein, den Fisch, den eß ich allein,« antwortete Hanns mit wildem Humor und nahm dem Mareile die Platte mit dem goldgelb gedünsteten Barsch aus den Händen.

Gegen Abend kam Hermann und fragte nach dem Bruder.

Hanns packte seinen Koffer und tat, als sähe er Hermanns gerötete Augen nicht.

»Hast du dem Vater gesagt, daß ich ihm Lebewohl sagen will?«

80 »Ja, aber er läßt dir antworten, es mache keinen Unterschied, ob dir dein Plan gelinge oder nicht. Du hättest ihn gedacht, und das sei genug.«

Hanns richtete sich auf und streckte den Rücken gerade.

»Das heißt, er will mich nicht mehr sehen, ich soll ihm –«

»Ja,« unterbrach ihn Hermann rasch.

»Ja, zum Donner, bin ich denn ein Verbrecher, ein Ehrloser oder was sonst! Er will mir die Hand und den Abschied verweigern, wenn ich gehe! Er kehrt den Fischmeister hervor, wo ich den Vater suche! Ich steh' auf eigenen Füßen und brauche keinen Vater, aber ich habe einen, und solang' ich ihn habe und ein Recht an ihn habe, laß ich mir auch den Abschied nicht verbieten. Ich will doch sehen, ob er den Riegel vorstößt, wenn ich an seine Tür klopfe!«

Der Knabe stand stumm, mit zuckenden Mienen, und verbiß die ungebärdigen Tränen, die ihm noch von der Aussprache mit dem Vater locker saßen.

Als Hanns seine düsteren Augen und den gequälten Ausdruck in seinen Zügen sah, mäßigte er seinen heißen Zorn. Leise strich er ihm über das lockige Haar.

»Geh' heim, Bub, ich komme,« sagte er sanft.

Stockend antwortete Hermann:

»Der Vater ist nach Waldshut aufs Amtsgericht und kehrt erst um zehn Uhr zurück. – Stör' ihm die Nachtruh' nicht, Hanns!«

Hanns Ingold blickte den Bruder lange an. Der Knabe war im Unterricht gewesen und hatte seinen schwarzen Anzug an. Schlank und schmächtig, mit einem vergeistigten Gesicht, das den Fischersohn verleugnete, stand er vor ihm und drehte erregt die Bücher in den rauhen Fäusten.

»Hermann, ich geh' nicht, ohne meinem Vater Adieu zu sagen. Und wenn ich ihm nicht Lebewohl sagen darf, so will ich's von ihm selbst hören. Aber ich will ihn auch nicht um den Schlaf bringen. Er steht um vier 81 Uhr auf. Sag' mir, wo er das Netz wirft, dann such' ich ihn in der Frühe am Rhein.«

»Hanns, er hat gesagt, er kennt dich nicht mehr!« stieß der Knabe leise hervor, und plötzlich überwältigte ihn die Not, er schluchzte rauh auf und wischte sich hastig die Tränen mit der Faust.

Farbige Dämmerung schwamm in der Stube.

Hanns zog seinen Bruder ans Fenster.

»Sieh mich an, Bub, er hat noch mehr gesagt. Ich les' es in deinem Gesicht. Du hast keinen Bruder mehr, hat er zu dir gesagt. Ist es so, Hermann?«

Da ließ Hermann Bücher und Hefte fallen, schlang die Arme um den Bruder und wühlte sein Gesicht an Hannsens Brust; in heftigen Schlägen bäumte sich sein von wildem Weh geschüttelter Leib.

Eine Weile ließ Hanns ihn gewähren, dann fuhr er fort:

»Er hat dir verboten, mit mir zu verkehren.«

»Ich hab' ihm gesagt, daß ich zu dir gehe!« entgegnete leidenschaftlich der Knabe und hob sein blasses Gesicht.

»Ja, zum letztenmal,« erwiderte Hanns ruhig.

»Soll ich ganz bei dir bleiben?« fragte Hermann opfermutig, und obwohl ihm ein Schauer über den Nacken rann bei dieser Frage, blickte er Hanns mit leuchtenden, trotzigen Augen an und wartete auf Bescheid.

Zärtlich bog ihm Ingold den Kopf zurück, und ihm tief in die Augen schauend, sagte er:

»Unsinn, Hermann, ich kann dich ja gar nicht brauchen.«

»Ja, und der Vater ist allein,« stieß Hermann hastig hervor.

»Also!« versetzte Hanns kurz.

Und in diesem einen Augenblick erfaßten beide, daß die Mutter tot und daß sie dem Vater gestorben war.

Leise traten sie voneinander weg.

Hermann Ingold sammelte seine Hefte und stand scheu im Zimmer, wollte gehen und fand den Weg nicht zur Tür.

82 Da sagte Hanns vom Koffer her, in den er, tief gebückt, seine Kleider legte:

»Ich fahre um acht Uhr, erst nach Karlsruhe und dann nach Mannheim. In Karlsruhe gehe ich zum Ministerium. Wenn du Zeit findest, kannst du noch einmal an die Bahn kommen. Abschied haben wir ja schon genommen.«

»Ja, Abschied haben wir genommen,« antwortete Hermann und holte tief Atem.

Als Hanns sich aufrichtete, war er schon an der Tür. Hanns wollte rufen, besann sich und ließ ihn gehen.

Es war noch ein Schein von roter Sonne im Westen. Die Giebel am Markt glänzten noch feuergolden, in den Gassen aber schlich schon farbloses Dunkel.

Das Mareile kam und brachte die letzte Post. Es war ein anonymes Schreiben, das Hanns Ingold mit dem Richter Lynch drohte. Er warf es weg.

In weichen Wellen strömte die Abendluft durchs Fenster. Am klaren Himmel flogen noch die letzten Schwalben.

Hanns Ingold setzte den Hut auf und stieg hinunter. Die Tür des Tanzsaales stand offen, frisch aufgewaschen trockneten die Dielen im Durchzug, als wäre auch die letzte Erinnerung an den Lauffenspuk weggespült worden.

Auf den Gassen saßen und standen die Handwerker, Landleute kamen vom Feld heim. Es roch nach dem frisch eingefahrenen Heu.

Wo Hanns vorüberging, verstummte das Gespräch.

Der Apotheker Hengisch, der breit auf der Schwelle »Zum Eichhorn« gestanden hatte, verschwand hastig hinter der Tür, um der Begrüßung auszuweichen.

Ingold drückte die Fäuste tief in die Rocktaschen, in seinen Ohren war ein Glockenläuten vom erregten Blut. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er weiter.

Da rief ihn jemand an. Der Hohwald war's, dem er acht Morgen Wiesland und Feld abgekauft hatte.

»Grüß Gott, Herr Inschenör. Sie verreisen, sagt man. Ja, wer den Rücken kehren kann, wenn's blendet, der hat's gut. Unsereiner muß stillhalten.«

83 So sprach er treuherzig und kratzte sich im kurzgeschorenen Bart.

Hanns Ingold lächelte. »Ich danke für den guten Spruch.«

»Ja, der Spruch ist gut, Herr Inschenör, aber mein Land bin ich los, neun Morgen guter Boden, den besten in der Au.«

»Das weiß ich, denn ich hab' ihn bar bezahlt.«

»O du mein – bar bezahlt! Guter Boden bezahlt sich nicht. Ich nähm' ihn um die Hälfte zurück.«

Die Bartstoppeln knisterten unter seinen harten Fingern, als er dreist und fromm dieses Angebot machte.

Hanns Ingold zuckte die Achseln und wandte sich zum Gehen.

»Geld auf die Hand, Herr Inschenör. Und die anderen, die halten es grad so.«

»Sprechen Sie in Ihrem Namen und in dem der anderen?«

»Jawohl,« beteuerte Hohwald und nahm die Hand aus dem Bart, streckte sie Ingold hin und fuhr fort: »Es gilt. Wir kaufen ihn um die Hälfte zurück. Morgen gibt Ihnen niemand mehr den dritten Teil und in einem Jahr ist er eine Wüste. Der Doktor hat kein Geld, der kann St. Joseph kaum halten, auf den warten Sie am nächsten Schalttag noch!«

Langsam zog Ingold die Hände aus den Taschen. Sie standen mitten auf dem Obermarkt. Letzte Helle hob ihre Gestalten ins Licht.

Keine Miene zuckte in Hohwalds Gesicht. Breit bot er die Hand zum Einschlag.

Als fressende Demütigung empfand Ingold dieses Anerbieten.

Rheinau hatte ihn zu den Toten geworfen. Man wollte nur noch rasch seine Habseligkeiten teilen, dann lachten sie noch eine Zeitlang über ihn an den Wirtshaustischen, reimten noch ein paar Verse auf ihn an der nächsten Fastnacht, und Hanns Ingolds Gedächtnis 84 war vergessen. Aber so tief es ihn wurmte, so zerrissen alles in seinem Innern lag, wo auf einmal der Konflikt mit dem Vater, die Entfremdung Ruths zur wilden selbstmörderischen Verzweiflung wurde, äußerlich blieb er kalt und klar.

»Ziehen Sie die Hand zurück. Das Land ist mir nicht feil.«

»Nicht feil? Zehntausenddreihundert Mark bar und nicht feil? Wenn ich in Ihren Schuhen steckte, Herr Inschenör, ich schlüg' zweimal ein.«

»Ich verkaufe nicht. Aber wenn Ihr den Ertrag pachten wollt – gegen drei und ein halb vom Hundert des Kaufpreises, den ich Euch bar auf die Hand bezahlt habe, geb' ich Euch die Pacht.«

»Zwei vom Hundert und auf fünf Jahre,« bot Hohwald schnell gefaßt.

»Drei und ein halb und auf ein Jahr.«

»Auf ein Jahr! Kein Landwirt macht auf eine Ernte Vertrag. Wir haben auch mit dem Himmel keinen und müssen nehmen, was kommt!«

Ungeduldig erwiderte Ingold:

»Ich muß über den Boden verfügen können. Wenn das Werk im nächsten Jahr gebaut werden soll, kann ich –«

Eine laute, höhnische Lache schnitt Hanns Ingold die Rede vom Mund.

Und ohne ein Wort, immer noch lachend, kehrte ihm Hohwald den Rücken und schritt ins Dunkel hinein, aus dem sein höhnendes Gelächter schallend zurückschlug. Es lief im Widerhall an den Häusern hin, Stimmen fragten, erhielten Antwort und nahmen das Lachen auf, wie ein Ballspiel war's. Hin und her geworfen flog es von Tür zu Tür und in die Gassen.

Eine Weile stand Hanns Ingold, von diesem höhnischen Gelächter verfolgt und umklungen, regungslos, brennende Scham im Gesicht, auf dem engen Platz, der im Zwielicht verblaßte.

85 Dann ging er, erst langsam, zuletzt mit raschen Schritten weiter, und das Lachen lief hinter ihm her, umhüpfte, umtollte ihn wie blaffende Hunde den schweißenden Hirsch und hetzte ihn durch die Gassen.

Er sah seine Schwägerin Genovefa vom Fenster zurückweichen, hörte die Stimme seines Bruders rufen, sie solle die Läden schließen, und ging weiter, mit verbissenen Zähnen, in die Dunkelheit hinein, die an den Mauern des Städtchens silbergraue Dünste spann.

Nun war es still um ihn her. Nur der Rhein sang sein altes eintöniges Lied, und die Grillen zirpten im Gras. Herber Tannenduft stieg von den Bergen.

Und weiter lief Hanns Ingold, von einem heißen Einsamkeitsgefühl gepackt, mit trotzig gestacheltem Willen, aber todwundem Herzen, und lachte plötzlich, lachte, von Zorn und Weh verraten, um die klebrige Feuchte Lügen zu strafen, die ihm die Augen verbrannte.

Vor vier Monaten war er heimgekommen, zurückgekehrt als ein Mann, der das Leben gemeistert hat und der Zukunft ins Gesicht sieht, lieber ins unbekannte Dunkel hineingreift, als in der Helle geht; die Heimat hatte er gesucht, ihr verklärtes Bild war vor ihm aufgestiegen, und er hatte am ersten Tag die gute alte Frau sterben sehen, die in ihm schon lange eher einen fremden vornehmen Herrn, als ihren ältesten Sohn erblickt hatte. Er war zur Jugendgeliebten geeilt und hatte sie nicht mehr gefunden. Sieben Jahre waren vergangen und hatten sie zu anderen Menschen gemacht, die sich nicht mehr kannten, nicht mehr fanden.

Und fremd hatte er selbst vor seinem Vater gestanden, und als ihm wie ein Blitz vom Himmel die Eingebung gekommen war, hier ein Werk aus den Felsen zu sprengen, das sein Bestes, vielleicht alles, vielleicht sein ganzes Leben, ja mehr als das Leben von ihm forderte, da war ihm von allen Seiten Hohn, Unglaube, Fluch und Verachtung entgegengetragen worden und nichts geblieben als die trotzige Bewunderung des scheuen 86 Knaben, der, von den Schauern und Geheimnissen des Entwicklungsalters geschüttelt, ihm die erste Inbrunst seines jungen Herzens dargebracht hatte. Armer, lieber Junge – der allein hatte den Glauben, und nur wer den Glauben hat, besitzt die Zukunft!

Warme, wolkige Nacht – verschleiert blickte der weiße Mond, wie mattes Silber glänzten, von oben beschienen, die Weidenblätter, lauter rauschte der Strom.

Gelbe Lichter fleckten die schwarze Masse vor ihm, eine Mauer, flüsternde Baumkronen, der schattenhafte Umriß eines Glockenturms – Hanns Ingold war blind den Weg nach St. Joseph gegangen und fand sich plötzlich vor Ruth Engelhardts Tür.

Er wollte umkehren. Aber auf einmal erwachte in ihm der Wunsch, sie zu sehen, der Wille, ihr zu begegnen. Er hatte sie nicht wiedergesehen, seit sie ihm die Grenze verboten hatte. Und mit dieser Farce durfte ihr Erlebnis nicht zu Ende sein, dazu war es zu tief, zu süß, zu schön gewesen, dazu waren sie einander zu nahe gekommen, auch wenn jetzt sieben Jahre darüber hingegangen waren.

Er zog die Uhr hervor und ließ den Schein seiner Taschenlampe darauf fallen. Halb Zehn, er zögerte. Dann fiel ihm ein, daß der Doktor erst spät zur Ruhe ging, und er setzte sich über die Bedenken hinweg.

Als er in den Garten trat, hörte er, wie die Kurgäste sich voneinander verabschiedeten. Sie hatten vor dem Hause auf den breiten Steinen gesessen, wo die uralten Granatbäume in den mächtigen Kübeln standen.

Hanns wartete, bis die Stimmen sich zu verlieren begannen, und kam gerade recht, um Doktor Engelhardt von der Rückkehr in sein Arbeitszimmer abzuhalten.

Ruth stand mit zwei Damen im Gespräch auf der Diele. Zwei große Lampen brannten und erleuchteten den hellgetäfelten Raum. Sie war im Abendkleid und erschien schlanker und fremder als je. Doch das bestärkte und befestigte ihn nur in seinem Verlangen, ihr noch 87 einmal Auge in Auge gegenüberzustehen und ihr alles das zu sagen, was noch nicht gesagt worden war und doch gesagt werden mußte, ehe sie auseinandergingen.

Engelhardt schützte die Brille vor dem blendenden Licht, das aus der offenen Tür in den Garten fiel, und blickte Hanns forschend an.

»Sie, Herr Ingold! Ich weiß nicht –«

»Verzeihen Sie die unerlaubte Stunde, Herr Doktor, ich reise morgen in der Frühe ab und möchte Ihnen noch Lebewohl sagen. Ihnen und Ihrem Fräulein Tochter.«

Unwillkürlich trat Engelhardt einen Schritt in den Schatten. Er fuhr sich durch das wirre Haar. Also war seine Prognose richtig gewesen. Das unsinnige Unternehmen Ingolds war schon im Plan zusammengebrochen.

Er wußte, daß da einer mit eingedrückten Rippen vor ihm stand. Beim Stapellauf gescheitert.

»Wir haben uns seit der Versammlung in der »Post« nicht mehr gesehen, Herr Ingold. Aber wenn Sie das Bedürfnis fühlen, dem Mann Adieu zu sagen, der geholfen hat, Ihnen die Rippen zu brechen – also gut – na ja – das mußte ich doch – denn so eine tempelschänderische – also gut – ich weiß ja, daß der Fall erledigt ist – der Tag war Ihnen zu hell, deshalb kommen Sie jetzt – reden Sie nicht, Hanns Ingold – hier ist meine Hand – die Welt ist groß, sprengen und bauen Sie in allen fünf Erdteilen, nur hier nicht, stellen Sie sie auf den Kopf, machen Sie Geld wie Heu – apropos Geld und Heu – Sie haben ja Ihr Geld hier buchstäblich ins Heu gesteckt – wie wird denn das nun?«

Hanns hatte Engelhardt ein paarmal unterbrechen wollen, aber er kam nicht zu Wort und ließ sich das auch gern gefallen, denn er war nicht gekommen, um den Vater Ruths herauszufordern. Beinahe tat ihm der alte Herr leid, der ihm so gut zuredete und mit festem Druck die Hand schüttelte.

Er war jetzt wieder ganz Herr seiner selbst.

88 »Ich bleibe Ihr Nachbar, Herr Doktor,« versetzte er ruhig.

Da kam Ruth und suchte im Dunkel zu erkennen, mit wem der Vater sprach.

»Fräulein Ruth,« sagte Hanns rasch und leise, um sie vorzubereiten.

»Hanns – Herr Ingold!«

»Er reist morgen ab und kommt uns Adieu sagen,« fiel Engelhardt ein.

Und dann Schweigen. Niemand sprach, regungslos standen sie im dichter fallenden Dunkel.

Ruth war zu ihrem Vater getreten, und er hörte ihren heftigen Atem, heiße Pulse zitterten zu ihm herüber, ein ahnungsvolles Verstehen zog bei ihm ein.

Mit einem Schlag erkannte er, daß Ruth an seiner Seite einen langen schweren Kampf ausgefochten hatte, und er erinnerte sich an Hanns Ingold, den Knaben, an die Zeit, da zwei blutjunge Menschen im erwachenden Lebensdrang sich lieb gewonnen hatten und hatten lieb gewinnen müssen, denn es gab ja keinen anderen Jungen in Rheinau, wie Ruth einmal in ihrer impulsiven Wahrhaftigkeit gesagt hatte. Dieser Traum war schon vor sieben Jahren ausgeträumt worden. Und heute kam Hanns Ingold nach seiner großen Niederlage, um für immer Abschied zu nehmen.

Engelhardt wollte es ihnen leicht machen.

Er räusperte sich.

»Also ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Ingenieur. Sie brauchen die weite Welt und ein Feld für Ihre Taten. Die Heimat ist zu eng für Sie. Geben Sie mir noch einmal die Hand. Behalten Sie die Heimat trotz allem lieb! Leben Sie wohl! Ruth wird Sie bis ans Tor begleiten.«

Und bevor Hanns antworten und Ruth Einspruch erheben konnte, ging er hastig ins Haus.

Wieder fiel Schweigen ein. Nur das Rauschen des Rheins . . . Dann schritt Ruth langsam in den Garten 89 hinein, und Hanns Ingold ging stumm neben ihr her. Die schwarzen Bäume wichen beiseite, die Büsche duckten sich, unendlich dehnten sich die duftenden Wege ins Weite.

Keins sprach. Und zweimal kamen sie am Tor vorüber, schlugen einen Seitenweg ein und gingen wieder tiefer in den Garten.

Ruth konnte nicht sprechen. Sie hatte in den letzten Tagen zu viel ausgekämpft. Als ob sie hinter einem Sarg ginge, so war ihr, als ob sie nun ihre Jugend, ihren Anteil am Glück, ihre große Lebenserwartung begraben müßte.

Er ging neben ihr, aber es war nicht mehr Hanns Ingold. Sie hatte ihn geliebt, war von ihm geliebt worden und hatte dann die Hoffnungen wieder verkümmern sehen, die vor sieben Jahren ihr Leben reich und blühend gemacht hatten. Und als er wiedergekommen war, da waren sie fremd, neu geworden in ihren Gedanken und Empfindungen voreinander hingetreten und hatten die Gegenwart nicht mehr an die Vergangenheit knüpfen können . . . da war er ein Mann mit tausend Gedanken und Plänen, die nicht mehr um sie kreisten, und sie, sie war zu eigenem Leben gekommen und nicht mehr das hinschmelzende, tagträumende Geschöpf . . .

»Ruth, ich muß gehen. Ich danke Ihnen für diese Stunde. Es ist wieder klar zwischen uns. Ich habe Sie sehr lieb gehabt, Ruth.«

Langsam, mit verhaltener Stimme hatte er gesprochen, während sie still nebeneinander herschritten.

Ruth antwortete nicht. Ihre Lippen versagten den Dienst. Und eine Weile war nur der gleichmäßige Schritt zu hören, in dem sie weitergingen, als wäre noch kein Wort von Abschiednehmen gesprochen worden.

»Ruth, Sie wissen, daß ich hier überall auf Widerstand und Unverständnis gestoßen bin. Ich soll ein Frevler an der Natur sein, sagt Ihr Vater, und ich ginge darauf aus, Rheinau zu verderben, sagen andere. Mein Vater 90 hat mir die Vaterschaft gekündigt und will den Sohn nicht mehr kennen. Nun ja, ihm habe ich ja nichts zu verzeihen. Er steht auf seinem Platz und versieht sein Recht, er kann mich in den Lauffen stoßen und sagen: ›Trink den Rhein, Fischersohn, eh' du mir die Wasserweide zuschanden machst,‹ und ich müßte ihm im Untergehen noch recht geben. Aber ich hab' auch ein Recht an mein Leben und an meine Zukunft. Und meine Zukunft hängt jetzt mit allen Angeln an diesem Werk, das mir fertig aus dem Kopf gesprungen ist und nur noch in Stein und Eisen wachsen will. Niedergeschrien haben sie mich, zu Boden geschlagen hätten sie mich, wenn nicht der Bub wie eine Flamme dazwischen gefahren wäre. Ausgelacht, von ihrem dummen, blöden Witz verlacht, bin ich heute durch die Gassen gegangen. Spießruten gelaufen, Ruth! Weil ich meine besten Gedanken, vielleicht den besten, den einen großen, den ein Mensch hat in seinem Leben, über sie ausgeschüttet habe! Und außer dem Buben, außer dem Bruder, den ich zu seinem Vater zurückschicken mußte, hat keiner ein Wort des Vertrauens für mich gehabt! Was ich in sieben Jahren erschuftet habe und geworden bin, das haben sie niedergetrampelt. Ich meine nicht die paar Kröten, die ich draußen gefunden habe, ich meine den Respekt, heilige Scheu vor dem eigenen Hirn, wenn es plötzlich eine Idee gebiert, die zum Leben kommen will, und wenn man darüber zugrunde gehen müßte.«

Der Rhein sprang nicht stürmischer durch den Lauffen, als diese leidenschaftliche Anklage über Hanns Ingolds Lippen. Mit unterdrückter Stimme schrie er seinen Kampf, seine Not, die Empörung seiner innersten Natur in die ruhevolle Nacht, die kein Ohr für ihn hatte.

Zweimal setzte Ruth zu einer Antwort an, und zweimal versagte ihr der Ton.

»Ja, ich bin's vielleicht noch nicht gewohnt, das mit mir allein auszumachen, ich brauch' noch jemand, vor dem ich das ausschütten kann! Ich weiß nicht, ob es 91 männlich ist, aber ich tu's, und ich tu's vor niemand sonst als vor dir!«

Es war wie ein Schluchzen in seiner Kehle, eiskalte Finger krampften sich um Ruths leblose Hand.

Da blieb sie stehen, hob die Augen zu seinem Gesicht, von dem nur ein heller Schein zu sehen war in der umwölkten Nacht, und sagte voll trotzig verhaltener Liebe:

»Hanns, ich hab' immer an dich gedacht, ich hab' am Brunnen gestanden, als sie dich niederschrien, und gebangt und gewartet, bis es zu Ende war. Hanns, warum gehst du fort?«

»Ruth, du? Du hast um mich gesorgt! Ja, Ruth, dann bin ich ja nicht allein, dann hab' ich ja dich, und dich, dich hab' ich ja lieb. Anders als früher, bewußter, lebendiger!«

Er wollte sie an sich ziehen, ein Glücksrausch war über ihn gekommen.

»Ruth,« bat, befahl er noch einmal, und als sie seiner Umarmung widerstand, schmolz sein Begehren, wurde er sanft, löste sich die leidenschaftliche Spannung seines Wesens, die ihn seit Monaten gefesselt hielt, und langsam glitt er an ihr nieder, drückte das Gesicht in ihren Schoß und hielt ihre Knie umfaßt, von einem lautlosen Krampf durchbebt und geschüttelt.

Regungslos stand Ruth Engelhardt, beide Hände in sein Haar gegraben, und verheimlichte das Zittern ihrer Knie und die glücklichen Tränen, die langsam über ihre Wangen zogen.

Als er wieder aufstand, waren beide zur Ruhe gekommen.

»Ich reise morgen, ich will draußen für meine Idee wirken. Ich geb' sie nicht preis.«

Mit leisem Jubel in der Stimme rief sie:

»Gibst sie nicht preis! Hanns, dann brauchst du mich. Dann geh', Hanns Ingold, und ich will auf dich warten und an dich glauben, wie ich immer an dich geglaubt habe!«

92 Und nun hob Ruth die Arme und legte sie freiwillig um seinen Nacken, und ein leiser, glückatmender Seufzer befreite ihre Brust.

Als sie sich küßten, ging jahrelange Sehnsucht zur Ruh'.

Arm in Arm schritten sie langsam zum Tor.

Vom Rhein her klang der heisere Schrei eines Reihers, der schon vor Mitternacht dem Morgen rief. 93

 


 


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