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Professor BatschBotaniker in Jena. brachte mich als Gast in den Klub der Professoren, und hier näherte sich mir ein kleiner freundlicher Mann, der mich gastfrei in sein Haus einlud; es war der Buchhändler Frommann. Er hatte, irre ich nicht, kurz vor meiner Ankunft sein Etablissement in Züllichau aufgehoben, um in dem Mittelpunkt einer bedeutenden literarischen Tätigkeit in Jena zu leben. Es war offenbar mehr ein geistiges Bedürfnis, genährt durch einen früheren Umgang mit Berliner Gelehrten, als eine eigentliche Finanzspekulation, die ihn herzog. Dieses höhere geistige Interesse ging ebensosehr von seiner Frau, einer gebornen Bohn aus. Die große Freundlichkeit dieser Familie, das lebhafte Interesse für die geistigen Angelegenheiten des Tages zog mich unwiderstehlich an, und ich trat schnell in ein vertrautes Verhältnis mit Mann und Frau. Die nordische Lebensweise, die durch die Frau in diesem Hause herrschte, war mir auch sehr angenehm. Gries war ein Hausfreund der Familie, und ich erfuhr bald, daß Goethe, wenn er von Weimar kam, nicht selten die Abende bei Frommann zuzubringen pflegte.
Indessen war A. W. Schlegel mit seiner geistreichen Frau angekommen, ebenso Schelling, der in dem großen öffentlichen Hörsaal sich durch eine Probevorlesung habilitieren sollte. Schelling war von Leipzig gekommen und eben, wie ich hörte, von einer bedeutenden Krankheit genesen. Professoren und Studenten waren in dem großen Hörsaal versammelt. Schelling betrat das Katheder, er hatte ein jugendliches Ansehen, er war zwei Jahr jünger als ich und nun der erste von den bedenkenden Männern, deren Bekanntschaft ich sehnsuchtsvoll zu machen suchte; er hatte in der Art, wie er erschien, etwas sehr Bestimmtes, ja Trotziges, breite Backenknochen, die Schläfen traten stark auseinander, die Stirn war hoch, das Gesicht energisch zusammengefaßt, die Nase etwas aufwärts geworfen, in den großen klaren Augen lag eine geistig gebietende Macht. Als er zu sprechen anfing, schien er nur wenige Augenblicke befangen. Der Gegenstand seiner Rede war derjenige, der damals seine ganze Seele erfüllte. Er sprach von der Idee einer Naturphilosophie, von der Notwendigkeit, die Natur aus ihrer Einheit zu fassen, von dem Licht, welches sich über alle Gegenstände werfen würde, wenn man sie aus dem Standpunkt der Einheit der Vernunft zu betrachten wagte. Er riß mich ganz hin, und ich eilte den Tag darauf, ihn zu besuchen. Der GalvanismusLuigi Galvani, 1737-1798, Professor der Anatomie an der Universität Bologna, hatte im Jahre 1789 beobachtet, daß Froschschenkel, welche mittels kupferner Häkchen an einem eisernen Geländer aufgehängt waren, zuckten, sobald sie das Geländer berührten, Galvani erklärte die Erscheinung durch die von ihm angenommene tierische Elektrizität. Die Versuche Galvanis erregten allgemeines Aufsehen und wurden überall wiederholt, bis Alexander Volta nachwies, daß die beobachtete Elektrizität in dem Kontakt der beiden Metalle ihren Ursprung habe. – Unter »Galvanismus« versteht man die zwischen je zwei metallischen Leitern, auch durch Berührung von Metallen und leitenden Flüssigkeiten wirkende elektromotorische Kraft. beschäftigte damals alle Naturforscher; der große Moment, in welchem Elektrizität und chemischer Prozeß, in einer höhern Einheit verbunden, sich wechselseitig zu erklären schienen, trat eben mächtig hervor. Auch mich hatte dieser Moment mit großer Gewalt ergriffen. Schelling nahm mich nicht bloß freundlich, sondern mit Freude auf. Ich war der erste Naturforscher von Fach, der sich unbedingt und mit Begeisterung an ihn anschloß. Unter diesen hatte er bis jetzt fast nur Gegner gefunden, und zwar solche, die ihn gar nicht zu verstehen schienen.
Das mündliche Gespräch ist unbeschreiblich reich. Ich kannte seine Schriften,Schelling hatte damals bereits veröffentlicht: »Ideen zu einer Philosophie der Natur«, 1797, und »Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik«, 1798; die Lektüre dieser beiden Werke »war der entscheidende Wendepunkt in meinem Leben und hat mein ganzes Dasein elastisch gehoben«, bekannte Steffens. ich teilte, wenn auch nicht in allem, seine Ansichten, ich erwartete, wie er selber, von seiner Unternehmung einen großartigen Umschwung, nicht der Naturwissenschaft allein. Ich konnte den Besuch nicht verlängern, der junge Dozent war mit seinen Vorträgen beschäftigt. Aber die wenigen Augenblicke waren so reich gewesen, daß sie sich für mich in der Erinnerung zu Stunden ausdehnten. Es war durch die Übereinstimmung mit Schelling eine Zuversicht entstanden, die, ich will es bekennen, fast an Übermut grenzte. Zwar war er jünger als ich, aber unterstützt durch eine mächtige Natur, erzogen unter den günstigsten Verhältnissen, hatte er frühzeitig einen großen Ruf erworben und stand mutig und drohend dem ganzen Heer einer ohnmächtig werdenden Zeit gegenüber, deren Heerführer selbst, zwar polternd und schimpfend, aber dennoch furchtsam und scheu sich zurückzuziehen anfingen. Ich erinnere mich nicht genau, ob damals schon RöschlaubAndreas Röschlaub, Arzt und Vertreter der Heilmethode des Engländers John Brown, die er Schelling weitergab. und EschenmayerKarl August von Eschenmayer, Arzt und Schüler Schellings, der dessen Transzendentallehre mit einer religiös verfärbten Medizin verband. sich ihm genähert hatten. Der letztere hatte eben einen Versuch, die Gesetze des Magnetismus a priori zu entwickeln, herausgegeben; aber diese Schrift war fast ganz im Kantschen Sinne geschrieben und hatte mit der Schellingschen Ansicht wenig gemein.
Von ahnungsvoller Tiefe hingegen erschien uns beiden Franz Baader,Franz Baader, 1765-1814, romantischer Philosoph und Theosoph, Professor in München. dessen Beiträge zur Elementarphilosophie schon früher als Schellings naturphilosophische Schriften gedruckt, und besonders das pythagoräische Weltquadrat, welches, irre ich nicht, soeben erschienen war. Aber Baader war aus den dunklen Gegenden des Mystizismus hervorgetreten; Schelling hingegen aus der hellen Region der wissenschaftlichen Reflexion der Zeit. Die Nacht des Mystizismus erhielt ihr Licht aus den entfernten Sternen, deren Bewegung uns unbekannt war, die nur im Dunkeln leuchten, nicht erhellen konnten. Aber die Sonne einer frühern Spekulation, seit der alten griechischen Zeit untergegangen, ging durch Schelling wieder auf und versprach einen schönen geistigen Tag. Ich erwachte an diesem hellen Morgen rüstig und mutig und wußte, daß ich mich dem Jüngern hingeben, meine Hingebung offen und unbefangen bekennen dürfte, ohne Furcht, mich selber zu verlieren.
Ich ging von Schelling zu Fichte, der eben seine Vorlesungen über die Bestimmung des Menschen eröffnete. Dieser kurze, stämmige Mann mit seinen schneidenden, gebietenden Zügen imponierte mir, ich kann es nicht leugnen, als ich ihn das erstemal sah. Seine Sprache selbst hatte eine schneidende Schärfe; schon bekannt mit den Schwächen seiner Zuhörer, suchte er auf jede Weise sich ihnen verständlich zu machen. Er gab sich alle mögliche Mühe, das, was er sagte, zu beweisen; aber dennoch schien seine Rede gebietend zu sein, als wollte er durch einen Befehl, dem man unbedingten Gehorsam leisten müsse, einen jeden Zweifel entfernen. – »Meine Herren«, sprach er, »fassen Sie sich zusammen, gehen Sie in sich ein, es ist hier von keinem Äußern die Rede, sondern lediglich von uns selbst.« – Die Zuhörer schienen so aufgefordert, wirklich in sich zu gehen. Einige veränderten die Stellung und richteten sich auf, andere sanken in sich zusammen und schlugen die Augen nieder; offenbar aber erwarteten alle mit großer Spannung, was nun auf diese Aufforderung folgen solle. – »Meine Herren«, fuhr darauf Fichte fort, »denken Sie die Wand«, – ich sah es, die Zuhörer dachten wirklich die Wand und es schien ihnen allen zu gelingen. – »Haben Sie die Wand gedacht?« fragte Fichte. »Nun, meine Herren, so denken Sie denjenigen, der die Wand gedacht hat.« – Es war seltsam, wie jetzt offenbar eine Verwirrung und Verlegenheit zu entstehen schien. Viele der Zuhörer schienen in der Tat denjenigen, der die Wand gedacht hatte, nirgends entdecken zu können, und ich begriff nun, wie es wohl geschehen könnte, daß junge Männer, die über den ersten Versuch zur Spekulation auf eine so bedenkliche Weise stolperten, bei ihren ferneren Bemühungen in eine sehr gefährliche Gemütsstimmung geraten konnten, Fichtes Vortrag war vortrefflich, bestimmt, klar, und ich wurde ganz von dem Gegenstande hingerissen und mußte gestehen, daß ich nie eine ähnliche Vorlesung gehört hatte.
Ein Aufsatz, den ich in der naturforschenden Gesellschaft über den Oxydations- und DesoxydationsprozeßDer chemische Prozeß der Vereinigung des Sauerstoffs mit einem anderen Körper ist eine Oxydation. der Erde vortrug, ist in Schellings Zeitschrift für spekulative Physik und später in einer Sammlung meiner frühern Schriften unter dem Titel: »Alt und Neu, Breslau 1821« abgedruckt worden. Der Hauptgedanke hat in der Tat einigen spekulativen Wert. Es liegt ihm die Ansicht zugrunde, daß der vegetative Desoxydationsprozeß, durch welchen die rohen Elemente der Erde für das Leben gewonnen werden, nicht bloß in Beziehung auf die Vegetation selbst, sondern auch für die ganze Erde als ein belebender betrachtet werden muß; und was die Darstellung betrifft, darf man nicht vergessen, daß ich noch nicht Freiberg besucht hatte und mit der Wernerschen GeognosieAbraham Gottlob Werner, 1750–1817, Lehrer an der Bergakademie in Freiberg; ein Mann, der als Begründer der wissenschaftlich geordneten Mineralogie gilt und auf viele Naturforscher seiner Zeit starken Einfluß hatte – darunter auch auf Novalis. Siehe Seite 144ff. so gut wie unbekannt war, Schelling war für diesen Aufsatz sehr eingenommen. Einige Fragmente, die ich niedergeschrieben hatte, wurden zufällig A. W. Schlegel bekannt, und er lud mich zur Teilnahme an dem Athenäum ein. Ich habe nichts für diese Zeitschrift geliefert, wie ich denn selten in meinem Leben Aufträgen der Art Genüge leistete. Fast alles, was ich habe drucken lassen, war das Produkt eines inneren Vorganges, der nur zufällig und höchst selten mit äußeren Aufforderungen zusammenfiel.
Ich war nun allmählich mit mehreren Familien bekanntgeworden. A. W. Schlegel und seine bedeutende und höchst geistreiche Frau, sowie die liebliche Tochter gehörten zu meinem angenehmsten Umgange.August Wilhelm Schlegel, geboren 1767 in Hannover, der Mitbegründer der romantischen Schule und ausgezeichnete Shakespeare-Übersetzer, hatte im Juli 1796 Caroline Böhmer geheiratet, die aus ihrer ersten Ehe eine Tochter Auguste hatte. Im gleichen Jahre bereits war das Paar nach Jena gezogen.. Durch sie lernte ich auch den Justizrat Hufeland, den Mitredakteur der Allgemeinen LiteraturzeitungDie damals bekannteste Literaturzeitung Deutschlands. kennen, der mich gastfrei und freundlich aufnahm. Er, Schlegel und Frommann bildeten den Kreis, in welchem ich fast täglich lebte. GriesJohann Diederich Gries, 1775-1842, Freund der Brüder Schlegel, Übersetzer Tassos, Ariosts und Calderons. erschien nur bei Frommann; auch ihn besuchte ich häufig und war nun ein lebhaft teilnehmendes Mitglied des engern Kreises, von welchem eine große, die ganze Literatur umgestaltende Tätigkeit ausging. In diesem Kreise unterhielt man sich fast ausschließlich von literarischen Gegenständen, von Streitigkeiten der Schriftsteller, von den Verhältnissen zu den Gegnern, und ich fand mich plötzlich, obgleich ich mich noch nicht als Schriftsteller hervorwagte, auf den Kampfplatz versetzt und sah wohl ein, daß ich früher oder später in den öffentlichen StreitEr ging in dieser Zeit hauptsächlich um die Gewinnung eines Einflusses von Schelling und August Wilhelm Schlegel auf die Jenaische Literaturzeitung, deren Herausgeber die Schule der Romantiker nicht aufkommen lassen wollten. verwickelt werden müßte. Ich war in beständiger Produktivität, ja fortdauernd in einer Art wissenschaftlicher Begeisterung. Ideen drängten sich, aber mir fehlte noch die besonnene Ruhe, die zur Ausarbeitung nötig ist. Ich studierte, experimentierte, und ward in den Zauberkreis neuer Gedanken immer gewaltiger hineingezogen. Schelling trug die Naturphilosophie nach einem Entwurfe vor, der gedruckt und bogenweise den Zuhörern mitgeteilt wurde. Ich besuchte diese Vorlesungen, und eine jede Stunde gab mir neue Aufgaben, und mit jedem Tage ward mir der Aufenthalt in Jena wichtiger.
Zuweilen fiel es mir ein, daß ich nun plötzlich und fast ohne Übergang in die Mitte der gärenden Elemente einer neuen Zeit versetzt war und daß die Häupter derselbenFichte, Schelling, die Brüder Schlegel, Novalis und Tieck. mit Sicherheit auf meine Teilnahme rechneten. Bis jetzt hatte ich doch fortdauernd in einer tiefen wissenschaftlichen Einsamkeit gelebt. Über dasjenige, was mir innerlich das Bedeutendste war, konnte ich mich nicht mitteilen; selbst der geistreiche MackensenVgl. Seite 64, Anmerkung 2. war, durch willkürliche Beschränkung auf Kants Kritik, mir fremd. Ich erinnere mich, wie er einst von Kant sagte: »Er erscheine ihm als ein höherer Geist, der mit einer übermenschlichen Klarheit in die Schranken des menschlichen Bewußtseins hineinschaute.« Daß er von einem so hohen Standpunkte aus sich selbst auf eine so dürftige Weise innerhalb der Grenzen der Sinnlichkeit fesseln ließ, war mir unbegreiflich. »Er kommt mir«, antwortete ich, »eher wie ein gefallener Geist vor, den die ursprünglichen Erinnerungen, die er unklar erhalten hat und nicht abzuweisen vermag, fortdauernd quälen, ohne ihn zu befriedigen.« Ich erinnere mich genau, wie Mackensen auf eine Weise in Zorn geriet, die mich fast erschreckte, um so mehr, da solche leidenschaftliche Äußerungen, wie ich sie jetzt hörte, dem besonnenen und ruhigen Manne fremd waren und nie zu entfahren pflegten. Von jetzt an wußte ich, daß er mich nie verstehen würde, wenn ich versuchen wollte, ihm mitzuteilen, was mich unablässig beschäftigte, und nie mehr abzuweisen, das Problem meines Lebens geworden war. Ich verschloß nun dieses tief in mein Innerstes, doch erschrak ich heftig, als sein Tod mir bekannt ward. Ich fühlte es, daß ein bedeutendes geistiges Bündnis auf immer zerrissen war; sein Verlust war mir schmerzlich.
Wie ganz anders trat mir meine jetzige Umgebung entgegen; was mich einsam beschäftigte, war Aufgabe bedeutender Männer geworden, war laut geworden in der Literatur und rang nach einer geschichtlichen Bedeutung. In diesen mächtigen Strom einer gewaltigen Entwicklung war auch ich hineingerissen und stand nicht mehr allein. Diejenigen Männer, die mich in meiner Einsamkeit beschäftigt hatten, nach deren, wenn auch nur entfernten Bekanntschaft ich mich so lange gesehnt hatte, waren nun in meine Nähe getreten. Der stille Monolog hatte sich in ein lebhaftes Gespräch verwandelt; fremde und eigene Aufgaben wurden von mir und den Freunden aufgestellt und gemeinschaftlich gelöst; oft erschien mir alles als ein Mitgeteiltes, als eine Gabe, die ich mit dankbarer Freude empfing, und dann doch wieder, als wäre alles mein innerstes Eigentum, rein aus der eigensten Betrachtung entsprungen. Schelling stand mir unter allen am nächsten, und eben die entgegengesetzte Richtung unserer Bildung mußte die wechselseitige Anziehung verstärken. Er war von der Philosophie zur Natur fortgeschritten; ich lernte jetzt seine früheren philosophischen Schriften kennen und erstaunte über die Sicherheit und klare Energie, mit welcher er schon in früher Jugend die tiefsten Probleme der Spekulation, die seit so langer Zeit der Geschichte fremd geworden waren, ergriff und behandelte. Er war kaum 20 Jahre alt, als er seine Schrift: »Das Ich als Prinzip der Philosophie« ausarbeitete; der geistige Schatz, der Jahrhunderte verborgen war, der von einer sich beschränkenden Zeit verworfen und verkannt wurde, gehört ihm zu; er war berufen, ihn zu heben. Es gab Augenblicke, in welchen ich über die Macht seiner Gegenwart erschrak; denn ich war durch Neigung und äußere Verhältnisse früh nach der Natur hingezogen; ich war durch Gegenstände genährt, und der geistige Assimilationsprozeß verbarg sich in der stillen Entwicklung und äußerte sich lange mir in Träumen und Ahnungen, von dem Bewußtsein abgewandt. Durch Spinoza ward ich aus dem Schlafe gerüttelt, aber durch Schelling zuerst in Tätigkeit gesetzt.
Natur und Geschichte hatten eine andere Bedeutung erhalten, Klänge aus der Vergangenheit, Ereignisse und Lehren, Poesie und Kunst verrieten mir Geheimnisse, die ich früher nicht ahnte; selbst die geselligen Verhältnisse, die Personen der nächsten Umgebung, erhielten einen fremden Glanz und schienen mir aus der bis dahin verborgenen Welt hervorzutreten, die sich wunderbar für mich aufzuschließen versprach. – Ja es war eine Zeit warmer, reicher Begeisterung, und ich war gewiß nicht der einzige Enthusiast dieser Tage, aber den Fremden, aus fernen Gegenden mit Gewalt Herbeigezogenen mußten diese Tage mit ihrem plötzlichen Licht mächtiger aufregen, heftiger bewegen.
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Ich muß noch von einem in der Tat bedeutenden und seltsamen Menschen reden, dessen wunderbar verworrener Geist, in welchem Dunkelheit und scharfsinnige Klarheit dicht nebeneinander lagen, mich viel beschäftigte und anzog. Es war Ritter,Der Physiker Johann Wilhelm Ritter, 1776-1810, Gelehrter von genialer Intuition, von den Zeitgenossen halb verkannt, sein bedeutendstes Werk: »Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers«, 1810. ein junger Naturforscher und völliger Autodidakt. Er war ein Schlesier, ursprünglich Pharmazeut und zuletzt Provisor in Liegnitz. Ein unruhiger wissenschaftlicher Trieb zog ihn nach Jena hin, wo er in großer Armut lebte. Professor Scherer fing damals an, sein allgemeines Journal der Chemie herauszugeben, und Ritter war ihm ein wichtiger und tätiger Mitarbeiter und ernährte sich dadurch kümmerlich. Auch ihn hatte die geistige Aufregung der Zeit ergriffen; er war ein junger Mann von großem Talent, in der Chemie, auch in der Geschichte derselben wohl bewandert, und Kenntnisse, die ihm etwa noch fehlten, erwarb er sich mit Leichtigkeit. Als ich in Jena ankam, hatte er eben eine Schrift: »Der Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensprozeß begleite«, vollendet. Diese Schrift war mit großem Scharfsinn ausgearbeitet. Der Mangel an früherer wissenschaftlicher Bildung zeigte sich besonders durch einen harten unbehilflichen Stil, aber die Schrift machte mit Recht Aufsehen, und dennoch, obgleich die Versuche scharfsinnig gewählt waren und sich wechselseitig unterstützten, schwebte über der scheinbaren Bestimmtheit der Abfassung eine Dunkelheit, die auf keine Weise zu verkennen war. Schon der Ausdruck auf dem Titel bezeichnet die Unklarheit, mit welcher er sein Thema aufgefaßt hatte. Denn wie ein Prozeß, der nicht selbst ein lebendiger ist, neben dem Lebensprozeß einhergehen könne, läßt sich doch auf keine Weise begreiflich machen. Mit dem Galvanismus beschäftigte er sich ganz besonders und ausschließlich. Eine Schrift von einer englischen Dame, Mrs. Fulharne, über die Fällung der Metallauflösung durcheinander zog in Jena besonders die Aufmerksamkeit auf sich. Ihre wirklich genauen und scharfsinnigen Versuche ließen die Tätigkeit des Galvanismus in diesem chemischen Prozeß ahnen. Lichtenbergs Vermutung, daß die Trennung des Wassers in Wasserstoff und Sauerstoff eine Trennung der Elektrizitäten sei, schlug selbst wie ein elektrischer Funke in die Entwicklung der Naturphilosophie hinein. Und überhaupt schienen Ritters Entdeckungen und Versuche für die Entwicklung der spekulativen Naturwissenschaft von Wichtigkeit. In der Tat gelang es ihm, noch ehe Voltas große Entdeckungen in Deutschland bekannt waren, vor diesem großen Naturforscher oder wenigstens gleichzeitig mit ihm, die chemische Tätigkeit der einfachen galvanischen Kette zu beweisen. Auf eine solche Weise war die emsige Beschäftigung dieses grübelnden seltsamen Menschen denjenigen, die sich für die Naturphilosophie interessierten, keineswegs gleichgültig. In Jena hatten schon junge Männer von Einsicht und Talent, besonders junge Ärzte, die ihre Studien vollendet, sich an den Schelling angeschlossen. Für diesen war nun Ritter wichtig, auch ich schloß mich an ihn an, und dennoch war etwas in ihm, was mich fortdauernd abstieß. Er selbst mochte es fühlen, daß er der bessern Gesellschaft nicht zugehöre; er ward nicht ausgeschlossen, er schloß sich selbst aus. Es lag etwas Feindseliges in seinem ganzen Gemüt. Schelling, der ihm anfänglich freundlich entgegenkam, mußte sich doch zuletzt von ihm trennen. Wer Schellings ganze Art, die Natur zu betrachten, und wie sie lebendig aus seinen umfassenden Spekulationen entsprungen war, kannte, dem konnte die Ursprünglichkeit seiner Ideen nie zweifelhaft sein. Selbst wo sie durch Rittersche Experimente angeregt wurden, gehörten sie doch ihm zu. Das wollte Ritter nicht gelten lassen. Es war ihm gelungen, eine Menge junger Leute um sich zu versammeln, und er versuchte schon damals, eine Partei gegen Schelling zu bilden. Er sprach gern, ausführlich und mit großer Leichtigkeit. Angeregt durch die geistige Entwicklung in Jena, konnte er ganz bestimmte chemische Prozesse, Kristallisationen und Niederschläge aller Art, galvanische und elektrische Erscheinungen auf eine solche Weise mit dunklen Träumen, die einen Anklang von abgelauschten spekulativen Ideen enthielten, zusammenrühren, daß daraus eine Mixtur seltsamer Art entstand. – Junge Männer, welche die strenge Zucht einer philosophischen Schule und der anstrengende Zusammenhang der Reflexionen nicht ansprach, fanden sich durch solche Anspielungen, die ihnen mühelos eine große Menge von Ideen zu geben schienen, wie erleichtert, und hörten ihm gern zu. Überhaupt war es damals schwer, die übermütig erwachte Produktionskraft zu zähmen.
Es war seltsam, welchen Eindruck die Naturphilosophie bei ihrer ersten Verkündigung machte. Denn so heftig auch die empirischen Physiker gegen sie auftraten, so vermochten sie doch nicht, sie in den Prinzipien zu widerlegen, noch weniger den Einfluß zu schwächen, den die neue Lehre besonders auf die Medizin ausübte. Wir werden Gelegenheit haben, später davon zu reden; hier bemerke ich nur, daß die geistige Wahrheit, einmal mit Sicherheit und Klarheit ausgesprochen, eine Gewalt ausübt, die sich nicht leicht abweisen läßt. Über die Gegner war eine wahre Angst gekommen. Geistreiche junge Männer ergriff die scheinbare Befreiung von der strengen Gewalt der geordneten Erscheinung mit einer übermütigen Begeisterung. Die beschränkteren Empiriker, die, was ihnen jetzt mitgeteilt wurde, auf keine Weise auch nicht als leichtes Phantasiespiel zu handhaben wußten, schlossen sich an fragmentarische Äußerungen an, die wie eine Art geistiger Hauch über den widerstrebenden Gegenständen schwebten, ohne sie zu durchdringen. Diese waren es vorzüglich, welche Ritter liebten, wie später Novalis.
Ritters Hauptverdienst für die damalige Stufe der Entwicklung der Physik bestand besonders darin, die Froschschenkel als ElektroskopEin Apparat, mittels dessen man das Vorhandensein von Elektrizität erkennen kann. zu benutzen, und obgleich er diese Richtung mit einer Breite verfolgte, die zuletzt fast unausstehlich ward, so möchte es doch wohl von Wichtigkeit sein, seine Untersuchungen mit den neueren zu vergleichen. Zwar ist der Froschschenkel als Elektroskop durch den Elektromagnetismus und die Galvanometer neuerer Zeit überflüssig geworden, aber dennoch möchten seine Untersuchungen manches enthalten, was auch jetzt nicht ohne Bedeutung wäre.
Ritter lebte mit sich selbst in einem innern Zwiespalt, in einer geistigen Verwirrung, die immer mehr überhand nahm und für seine bürgerliche wie für seine wissenschaftliche Stellung die unglücklichsten Folgen hatte. Diese verbitterte sein Dasein, isolierte ihn immer mehr; er verlor sich in Träume, die seine Untersuchungen unsicher machten, daher er sich selbst nie aus der Dunkelheit herauszuarbeiten vermochte. Von den jungen Männern, die sich damals an ihn anschlossen, haben viele einen bedeutenden Ruf erworben. Es ist ihnen gelungen, indem sie von der Macht der immer reicher werdenden Entwicklung der empirischen Wissenschaften ergriffen wurden, sich aus der früheren Dunkelheit herauszuarbeiten, und viele werden sich der Gewalt, die er ausübte, kaum erinnern.
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Eines Abends wurde ich zu Frommann eingeladen; Goethe wurde erwartet. Mit welcher Spannung ich dem Abend entgegensah, begreift ein jeder, der es weiß, was mir Goethe von meiner Kindheit an geworden war.
Meine genaue Bekanntschaft mit Goethes Schriften hatte in der Schlegelschen Familie einiges Aufsehen gemacht. Man wünschte einst zu hören, wie Goethe sich in dem Munde eines Nordländers ausnehmen würde. Ich wurde aufgefordert, einen Teil von Faust, wie er damals in dem ersten Fragment erschienen war, vorzulesen. Das Buch war nicht gleich zu finden, und ich rezitierte den ersten Monolog aus dem Kopfe. Ich fragte, ob ich noch weitergehen sollte, und hätte in der Tat den größten Teil des Fragments ohne Hilfe des Buchs hersagen können. Die Frau war entzückt, und es ward beschlossen, mich baldmöglichst dem großen Dichter vorzustellen. Nun war aber Frommann dem guten Willen meiner Freundin zuvorgekommen.
Es ist eine eigene Empfindung, wenn man zum ersten Male einem Mann vorgestellt wird, der einen großen und entschiedenen Einfluß auf unser Leben gehabt hat. Ein solcher Moment bildet eine wahre Epoche, und mir war es, als ich zu Frommann hinging, als stünde mir ein verhängnisvolles Ereignis bevor. Goethe erschien. Es ist einem jeden bekannt, der ihn jemals gesehen hat, wie seine edle Gestalt, seine Art sich darzustellen, sein mächtiges Auge und das wahrhaft Vornehme seiner ganzen Gestaltung, die Ruhe, mit welcher er erschien, während eine reiche Welt sich sichtbar in ihm bewegte, auch demjenigen imponierte und überraschte, der die Größe seiner Schriften durch die Gestalt ausgedrückt zu sehen erwartete. Ich mußte, als ich ihn zuerst erblickte, mich schnell abwenden, denn mir traten unwillkürlich Tränen in die Augen. Es war mir, als sähe ich Egmont, der sich als Oranien, Tasso, der sich als Antonio darstellte. In der Gesellschaft war ein Herr von Stackelberg aus Livland, dessen schöne und anmutige Frau mir sehr gefiel; er ward zugleich mit mir Goethen vorgestellt.
Die Selbsttäuschung, als müßte Goethe eine Ahnung haben von alle dem, was er mir geworden war, ist zu natürlich; er aber unterhielt sich den ganzen Abend mit dem Herrn von Stackelberg. Es gelang mir nicht einen Augenblick, die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Goethe war noch in seinen besten Jahren. Die vornehme Ruhe, mit welcher er sich bewegte, fing an, mir beschwerlich zu fallen, ja mich zu erbittern; ich war stumm, verlegen und fühlte mich verletzt. Ich erinnerte mich der vielen Geschichten, die man von seinem Stolz und seiner kalten Herablassung erzählt hatte, und ging in einer Stimmung nach Hause, die unerträglich war. Es schien mir, als wäre nun jede Annäherung unmöglich geworden. Der Nordländer ist von Natur bei solchen Gelegenheiten leicht verletzbar, und ich habe bis in den späteren Jahren mit einer widerwärtigen Empfindlichkeit zu kämpfen gehabt, die mich nicht selten unglücklich machte. Bekanntlich hat mein Freund OehlenschlägerAdam Oehlenschläger, 1799-1850, der dänische Gesinnungsgenosse der Romantiker, Schauspieler, Dichter, dänischer Etatsrat und spätere Gönner Hebbels, bereiste Deutschland und besuchte auch Goethe. Väterlich von diesem aufgenommen, sagte er Goethe auf ewig Lebewohl, als er ihm sein rührseliges Künstlerdrama »Coreggio« nicht selbst vorlesen durfte. einen Auftritt mit Goethe erlebt, der diesen in große Verlegenheit setzen mußte. Ich verbarg glücklicherweise meine Empfindlichkeit und wiederholte, nach Hause gehend, fortdauernd Philinens Worte: »Wenn ich dich liebhabe, was geht es dich an«, aber was mich durchdrang, war ein vernichtendes Gefühl, ein schwarzer Schatten, der sich breit und finster über meine Vergangenheit warf.
Ich mußte mich mitteilen und eilte den Tag darauf zu Schlegel. Die Frau erschrak, als sie mich sah, so lebhaft drückte sich die Erbitterung aus. Es verdroß sie, daß Frommann ihr zuvorgekommen war, und sie versicherte, daß eine zweite Zusammenkunft mit Goethe, die sie zu veranlassen versprach, diese Stimmung schnell vernichten würde. Hiergegen trat nun aber meine nordische Halsstarrigkeit auf. Eben je höher ich ihn achtete, je entschiedener ich mein Leben ihm hingegeben hatte, desto unmöglicher fand ich es, mich ihm zum zweitenmal vorstellen zu lassen. Fest erklärte ich, daß ich von Goethe erwarte, daß er mich aufsuche; keine Überredung half. Freundlich wurde ich eines Abends von Schlegels eingeladen; gütig, wie sie gegen mich gesinnt waren, wollten sie mich überraschen. Goethe war da, ohne daß sie mich es wissen ließen. Ich erfuhr es aber, kehrte um, und erschien nicht in der Gesellschaft. Es vergingen einige Wochen, und ich gab mir alle Mühe, mich durch Studien zu zerstreuen. Oft gelang es mir, aber auch dann verfolgte mich ein quälendes Gefühl, als hätte mich ein großes Unglück getroffen. Die Familie des berühmten Anatomen Loder gehörte auch zu denen, die mich freundlich aufgenommen hatten. Sein Geburtstag nahte, und man wünschte diesen Tag durch ein Schauspiel zu feiern; man wählte den »Schauspieler wider Willen«,Louis François Archambault, 1742-1812, Schauspieler und Theaterdichter zu Paris, schrieb 1775 » La tête de campagne« ou »L'intendant comédien malgré lui«, wonach Kotzebue 1803 seinen »Schauspieler wider Willen« verfaßte. und meine große Beweglichkeit erweckte die Vermutung, daß ich wohl fähig wäre, die Hauptrolle zu übernehmen. Sonderbar genug, vier Jahre früher in Kopenhagen, als ich mit Leidenschaft für das Schauspiel lebte, traute man mir in BorupsWährend seiner Kopenhagener Studentenzeit hatte Steffens einer dramatischen Vereinigung mit Namen »Borups Selskab« angehört und einige Male bei Aufführungen mitgespielt. Gesellschaft keine große Fähigkeit zu, und dennoch fand ich das Vertrauen, welches man mir hier zeigte, sehr natürlich. Das Theater war errichtet; wiederholte Proben fanden statt; ich war nicht bloß der Hauptschauspieler, sondern auch Regisseur. Seltsam traten nun die alten Bühnenerinnerungen hervor. Gebildete Frauen hatten Rollen übernommen. Die Hauptrolle enthält bekanntlich eine Menge deklamatorische Stellen aus verschiedenen Dramen; die in dem Stück vorkommenden waren meist veraltet und unbedeutend. Ich vertauschte sie mit übertrieben deklamatorischen Stellen aus Ifflandschen und Schillerschen Stücken. Von Schiller hatte ich, soviel ich mich erinnere, einen Monolog aus Fiesko gewählt, in welchem der verzweifelte Held ausruft: »Hätte ich das Weltall zwischen diesen meinen Zähnen, ich wollte es zerkauen, bis es aussähe, scheußlich wie mein Schmerz!« Eine andere Stelle war aus Kabale und Liebe genommen, wo der verzweifelnde Held sich in der Hölle findet, mit dem tyrannischen Fürsten Rad an Rad geflochten, grinsend, Zähne fletschend.–
Die Tage der Proben gingen vorüber; wir waren zur Generalprobe versammelt: da trat auf einmal Goethe herein. Er hatte freundlich, wie er bei solchen Gelegenheiten immer war, versprochen, die Generalprobe zu leiten; mir hatte man es verborgen gehalten. Nachdem er die Frauen begrüßt hatte, ging er auf mich zu, sprach mich freundlich und gütig als einen Bekannten an. »Ich habe«, sagte er, »lange erwartet, Sie einmal in Weimar bei mir zu sehen; ich habe vieles mit Ihnen zu sprechen, Ihnen vieles mitzuteilen. Wenn diese Tage verflossen sind, werden Sie mich, wie ich hoffe, begleiten.« Wer war glücklicher wie ich. Es war mir, als wäre ich jetzt erst heimisch geworden in Jena. Ich jubelte, und der frohe Jubel einer übermütigen Stimmung ergoß sich in mein Spiel. Hier und da gab Goethe einen guten Rat, und mir schwebten auf eine wunderbar heitere Weise die dramatischen Auftritte in Wilhelm Meister vor der Seele, die sich nun hier durch den großen Verfasser zu verwirklichen schienen. Als ich die Stellen aus den Schillerschen Stücken deklamiert hatte, trat Goethe freundlich auf mich zu. »Wählen Sie doch«, sagte er, »andere Stücke; unsern guten Freund Schiller wollen wir doch lieber aus dem Spiele lassen.« – Es war seltsam, daß weder ich, noch die Mitspieler etwas Anstößiges bei dieser Wahl gefunden hatten. Einfluß auf sie hatten wohl zum Teil die Urteile der Gebrüder Schlegel über Schiller, die nicht selten hart waren. Dennoch konnte ich mit Wahrheit die erste Veranlassung zu dieser Wahl als Entschuldigung anführen. Ich hatte nämlich diese doch offenbar extravaganten Stellen auf dem Hamburger Theater von einem Schauspieler Herzberg oder Herzfeld auf die übertriebenste Weise darstellen sehen und ahmte ihm nach. Indessen erbot ich mich auf der Stelle, Kotzebue zu wählen statt Schiller; man brauchte da nicht lange zu suchen. Die Geburtstagsfeierlichkeit ging vorüber, das Stück ward wenigstens ohne Anstoß gespielt, und ich hatte mir, was mir in Kopenhagen nicht gelingen wollte, sogar einen Ruf als Schauspieler erworben.
Den Tag darauf hielt, der Verabredung gemäß, Goethe vor meiner Wohnung; ich eilte mit meinem Mantelsack hinunter und fuhr nun an Goethes Seite nach Weimar. Ich war dort einige Tage sein Gast.
Goethes naturwissenschaftliche Beschäftigungen waren mir bis dahin nur sehr unvollkommen bekannt. Ich hatte zwar die Beiträge zur Optik gelesen, war aber zu sehr an die strenge mathematische Behandlung der Optik gewöhnt, um in der Art, wie Goethe seinen Gegenstand behandelte, einen großen Gewinn für die Wissenschaft zu erwarten. Auch hatte ich diesen ganzen Teil der Physik noch nicht selbständig behandelt. Nach der Art, wie ich in der physikalischen Schule gebildet war, wußte ich für jetzt nichts mit diesen Untersuchungen anzufangen, obgleich eine lebendige Betrachtung der Tätigkeit des Lichts mich überzeugte, daß die tiefere Auffassung derselben zur Begründung einer Naturphilosophie im höchsten Grade wichtig wäre.
Die kleine Schrift über die Metamorphose der Pflanzen hatte einen viel tieferen Eindruck auf mich gemacht. Die wechselnden Pulsschläge der Tiere sah ich hier Gestalt gewinnen, und was im Blut nie ruhende Bewegung ist, ward durch die wechselnde Systole und DiastoleZusammenziehung und Trennung. lebendig fortschreitende Entwicklung. Seine Knochenlehre war mir durchaus unbekannt.
Goethe war im höchsten Grade mitteilsam; es war ihm darum zu tun, junge Naturforscher für seine Ansichten zu gewinnen. Die paar Tage verflossen in einer beständig fortdauernden naturwissenschaftlichen Unterhaltung. Ich lernte nun Goethe von einer mir bis dahin unbekannten Seite kennen. Das tiefe Naturgefühl, die lebendige schöpferische Macht, die durch alle seine Gedichte hindurchging, über alle seine Darstellungen ein helles Licht ergoß, rang nach Bewußtsein; Pflanzen und Tiere und das allbelebende Licht, welches als ein Ding unter den andern Dingen, zusammengesetzt wie diese, sich in Farben verteilen ließ und so nur in ein äußeres Verhältnis zu allem Lebendigen treten konnte, erschienen hier zwar nicht in einer bewußten Einheit, aber ein tiefer geistiger Instinkt faßte sie dennoch zusammen. Wer mein Leben und meine Neigung mit einiger Teilnahme verfolgt hat, wird einsehen, wie bedeutend mir diese Zeit sein mußte. Was ich zu erringen strebte, alle Richtungen meines Daseins schien er zu kennen, und der Schatz, den ich unruhig suchte, schien ihm ein, von einer günstigen Natur geschenkter Besitz zu sein. Ich verlebte diese kurze Zeit wie in einem Taumel, und hielt mich nun für entschieden überzeugt, daß eine lebendige Naturanschauung, die ich als die Quelle der echten Dichtkunst betrachtete und die so heitere und bedeutungsvolle Früchte getragen hatte, auf immer für die Geschichte gewonnen wäre. Mein ganzes früheres Leben schien mir eine dunkle Prophezeiung, deren Erfüllung nahe lag, und voll Begeisterung eilte ich nach Jena zurück, um Schelling mitzuteilen, was ich entdeckt zu haben glaubte. Er war aber schon mit allem bekannter als ich. Ob er schon damals in eine persönliche Berührung mit Goethe gekommen war oder nicht, vermag ich mich nur dunkel zu erinnern und kann es nicht entscheiden.
Bei der fortdauernden geistigen Anregung, die noch nicht zur starren Schule kristallisiert war, vielmehr lebendig und beweglich, geschwängert mit Natur- und geschichtlichen Ereignissen, auch in der Poesie und Kunst ein wichtiges tiefes Element des Daseins erkannte, mußte eine jede bedeutende Erscheinung die lebhafteste Teilnahme erregen. Zwar galt Schiller neben Goethe den Gebrüdern Schlegel nicht viel. Wenn dieser vergöttert wurde, wenn eine tiefe Absichtlichkeit in Wilhelm Meister mit scharfsinniger Kunst nachgewiesen wurde, so daß diese Dichtung als ein geschichtliches Ereignis neben das größte und wichtigste der Zeit gestellt,In der von ihm und seinem Bruder August Wilhelm herausgegebenen Zeitschrift »Athenäum« (1, 2) hatte Friedrich Schlegel diesen Roman als »schlechthin neues und einziges Buch«, als Beispiel einer neuen Gattung der Poesie, eben der »romantischen« Dichtung, gepriesen. als ein entschiedener Wendepunkt für die dichterische Ansicht des Lebens hervorgehoben wurde, so ward Schiller gelegentlich getadelt und offenbar mit einseitiger Härte behandelt. Ich konnte diese Ansicht nicht teilen. Die freie ritterliche Gesinnung, die in seinen Dichtungen herrschte, hatte einen entschiedenen Einfluß auf mich, und mich sprach der redliche Ernst in seinen größeren Dramen sehr an. Ich vermochte nie der Ansicht zu huldigen, die mit dem Leben ein fortdauerndes ironisches Spiel zu treiben suchte. Der göttliche Leichtsinn, der das Tiefste im Leben hervorhob, mit allen Farben der glutvollsten Dichtung ausmalte, um sich lächelnd auf einen vermeintlich höhern Standpunkt zu erheben,Wie es Friedrich Schlegel bewußt zur Manier seiner Kritik erhob, um seine Freiheit niemals zu verlassen. und sich an einer Verehrung, die als Knechtschaft erschien, durch eine Mischung von Spott, die sich in sie hineinmischte, zu rächen suchte, konnte mir niemals Religion werden. Eine heilige Erinnerung aus meiner frühesten Kindheit, die zwar zurückgedrängt, aber nie verschwunden war, bildete eine sichere Grundlage, die, wenn auch noch so verborgen, alles trug. Und obgleich ich Schiller niemals mit Goethe gleichstellen konnte, obgleich ich selbst eine gewisse Beschränktheit in seinen Dichtungen zu erkennen glaubte, schien doch alles, was er schrieb, durch die klare und reine Vornehmheit seiner Gesinnung gehoben und verklärt. Ja ich glaubte Schätze der Dichtkunst zu erkennen, die nur so durch die edelmütige Ritterlichkeit der Ansicht an das Tageslicht gefördert werden konnten. Indessen war der Tadel, der Schiller traf und den ich oft genug hörte, nicht ohne Einfluß. Ich war zu plötzlich aus meiner geistigen Einsamkeit herausgerissen, aus einer Umgebung, neben der ich mir auch etwas zu sein dünkte, in die Mitte solcher Männer versetzt, die nach der Herrschaft über die Literatur rangen, sie zum Teil ausübten und nach meiner Überzeugung zu besitzen verdienten. Diese erlangten durch die bloße Autorität schon eine große Gewalt über mich, und wo ich eine abweichende Ansicht im Innern festhielt, schwieg ich wenigstens.
Schiller hatte schon seit Jahren an seinem großen Drama »Wallenstein« gearbeitet. »Wallensteins Lager« war schon auf die Bühne gebracht, und es ist hinlänglich bekannt, wie lebhaft Goethe auch an der Aufführung teilnahm. Es war, irre ich nicht, die erste ans Licht tretende schöne Frucht des freundlichen Bündnisses zwischen diesen beiden großen Dichtern. Goethe fand in den bunten und wechselnden Szenen dieses Vorspiels eine günstige Gelegenheit zu einer Darstellung, die wir eine dramatische Komposition, einer musikalischen ähnlich, nennen könnten, und dieses bunte Vorspiel hinterließ einen überaus wohltätigen und klaren Eindruck. Der tragische Moment, welcher den Untergang des Helden des großen Dramas ahnen läßt, blickt durch das Spiel der Personen verhängnisvoll hindurch. Es war in der Tat eine in ihrer Art vollendete Darstellung. Auch auf die Umgebung war viel Fleiß verwandt; die Dekorationen waren nicht bloß anständig, sondern schön. Doch war die Zeit noch nicht gekommen, in welcher der Rahmen das Bild verschlingt. Alles war in einer heitern Übereinstimmung, und die Familien in Jena versäumten nicht leicht irgendeine Vorstellung. Die gebildeten Einwohner betrachteten in der Tat diese dramatische Unternehmung als ein bedeutendes Ereignis, welches aus ihrer Mitte hervorgegangen, der dramatischen Kunst eine höhere Bedeutung geben müßte und durch welches Stadt und Universität gehoben und verklärt würden. Jetzt war nun »Piccolomini«, der erste Teil des großen Dramas, fertig, einstudiert und sollte zum erstenmal aufgeführt werden. Die Spannung, mit welcher man dieser Aufführung entgegensah, war merkwürdig. Die Familien der Professoren sorgten mit der größten Mühe schon bei der ersten Nachricht von der bevorstehenden Aufführung für Plätze. Man hörte in der ganzen Stadt von nichts anderem sprechen. Frauen und Töchter intrigierten gegeneinander, um sich wechselseitig zu verdrängen; wer einen Platz erhalten hatte, pries sich glücklich. Es entstanden aber auch Feindschaften, die später nicht ohne Folgen waren. Ich fuhr mit Justizrat Hufeland und Loder, beider Frauen waren mit und Loders schöne Tochter. So waren wir sechs in eine Kutsche zusammengequetscht, stiegen in dem »Elefanten« ab und eilten in das Schauspielhaus. Schlegels geistreiche Frau war zu Hause geblieben, ebenso Schelling, der mit seinen Vorträgen anhaltend beschäftigt war. Ich hatte in Schillers Loge einen Platz gefunden und machte unter so interessanten Verhältnissen seine persönliche Bekanntschaft.
Von diesem Drama hier zu reden, wäre überflüssig. Die Stimmung, in welcher das ganze Publikum war, teilte sich einem jeden mit. Das weitläufige Drama, in welchem nichts abgeschlossen ist, alles mehr oder weniger Andeutung, mit seinen langen Reden, fesselte dennoch die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die lebhafteste Weise. Auf die Aufführung war große Mühe verwandt, das Zusammenspielen war vortrefflich; nie fand in dieser Rücksicht irgendeine noch so leise Störung statt; alle Schauspieler gaben sich, das war klar, die größte Mühe; die längsten Reden wurden in einem Fluß hergesagt; ein jeder wollte Ehre einernten. Und in der Tat, in dieser Rücksicht konnten die Verhältnisse nicht günstiger sein. Der große Dichter, dem die dramatische Kunst ein wichtiges Geschäft war, stand an der Spitze; seine ansehnliche Stellung im Lande gab ihm eine Gewalt über das Theaterpersonal, die selten oder nie stattfand. Aber die Schauspieler fürchteten nicht bloß den Mächtigen, sie verehrten auch den Kundigen; sie waren sich bewußt, daß, wer sich in Weimars Schule fleißig ausgebildet hatte, der hatte einen entschiedenen Ruf auf allen deutschen Bühnen erlangt, und wenn Verhältnisse es wünschenswert machen sollten, Weimar zu verlassen, so würde es ihm nie an einer vorteilhaften Anstellung fehlen. Begeisterung für eine Kunst, die durch Goethes warme Teilnahme gehoben wurde, verband sich mit dem eigenen Vorteil, um aus den Schauspielern alles zu machen, was durch eine so seltene günstige Vereinigung der Mittel möglich war. Auf die heutige Darstellung mußte nun der Enthusiasmus des Publikums, die Spannung aller Zuschauer anregend zurückwirken. Der Eindruck, den alles dieses auf mich machte, erinnerte mich lebhaft an den Abend in Wilhelm Meister, als »Hamlet« zum erstenmal aufgeführt wurde.
Und dennoch war ich in einer ganz seltsamen Verlegenheit. Man weiß, mit welcher Leidenschaft ich in Kopenhagen an den dramatischen Vorstellungen teilnahm. »Piccolomini« war das erste große Stück, welches ich in Weimar sah. Ich brachte die übertriebensten Vorstellungen von dem, was die Weimarer Bühne unter Goethes Anleitung leisten müßte, mit. Und nun war ich genötigt, mir zu gestehen, daß das Spiel freier, natürlicher, die Talente der Schauspieler und Schauspielerinnen in Kopenhagen hervorragender waren als hier. Ich hatte SchröderFriedrich Ludwig Schröder, 1744-1816, vor Iffland einer der gefeiertsten deutschen Schauspieler, wirkte in Hamburg und Wien und erwarb sich besonderes Verdienst durch sein Eintreten für Shakespeare auf der deutschen Bühne. gesehen und erwartete freilich nicht, seinesgleichen hier zu finden; auch stand er, als ich die Hamburger Bühne kennenlernte, unter seinen Mitspielenden fast allein. Aber was ein im Hintergrund ordnender mächtiger Geist in Weimar leistete, das schien mir durch das mächtige Spiel, welches die Umgebung beherrschte, in Hamburg stattzufinden.
Ich suche immer ein vorzügliches Drama, wenn es irgend möglich ist, zu lesen, ehe ich die Aufführung sehe. Das Lesen ist doch eine Aufführung, und es muß ein unfähiger Mensch sein, dem diese nicht besser gelingt als die gewöhnliche. Nur ein großer Schauspieler, der selbst Dichter ist, vermag es, geheime Schönheiten und Tiefen eines Dramas aufzuschließen, die uns selbst beim Lesen verborgen geblieben sind. Bei einem solchen stillen Schauspiel gestalten sich die Personen, und wenn wir nun bei einer öffentlichen Aufführung eine wenig entsprechende Gestalt des Helden erblicken, so ist der Eindruck doch nur vorübergehend, die edlere, die uns beim stillen Lesen entgegentrat, erscheint schnell wieder. – Ganz anders ist es, wenn wir ein Drama zuerst durch eine öffentliche Darstellung kennenlernen. Mir wenigstens prägen sich dann die Gestalten der Hauptpersonen so unauslöschlich ein, daß ich sie nie völlig loswerden kann. So verfolgt mich noch immer der lange hagere unglückliche Graff als Wallenstein. Er hatte sich unsägliche Mühe gegeben; die Rolle bewundernswürdig memoriert; die Diktion war vortrefflich. Keine einzige Stelle erweckte den unangenehmen Mißton, der so unvermeidlich entsteht, wenn man merkt, daß der Schauspieler etwas ausdrückt, was er nicht versteht, und dennoch war Gestalt, Bewegung, Spiel geradezu hölzern. Es war mir, als sagte er eine ihm durch Goethe und Schiller eingetrichterte Lektion auf eine allerdings bewunderungswürdige Weise her. Selbst als ich später den unübertrefflichen Fleck als Wallenstein sah, ging immer der unglückliche Graff als sein Doppelgänger und Gespenst neben ihm her. Ebenso wollte mir Vohß als Max keineswegs ganz gefallen; nur die Jagemann, jung, blühend, lebendig, wie sie war, entzückte mich als Thekla.
Nun aber saß Schiller selbst neben mir und war mit allem nicht allein zufrieden, sondern überaus glücklich. »Durch eine solche Aufführung«, sagte er, »lernt man erst sein eigenes Stück kennen; es erscheint veredelt durch die Darstellung, es ist, so ausgesprochen, besser als ich es schrieb.« Besonders erstaunte ich über den Beifall, den er einer Schauspielerin zollte, welche die Rolle der Terzky spielte. Allerdings war eine gewisse Lebendigkeit, selbst Leidenschaftlichkeit in ihrem Spiel, und in dem heftigsten Fluß der Rede stockte sie nie; insofern war die Rolle richtig aufgefaßt, aber es herrschte etwas so Geringes, Gemeines in Gestalt, Bewegung und Aussprache, daß sie mir in meiner innersten Seele zuwider war: und dennoch war Schiller entzückt. Wie Schiller, der Hochdeutsche, die platte Berliner Aussprache auch nur dulden konnte, war mir völlig unbegreiflich. Selbst Goethe, der ab und zu in die Loge hineintrat, schien mit der Aufführung gut zufrieden, obgleich er sich nicht enthusiastisch äußerte wie Schiller. Abgesehen von der Absicht, die er wohl haben konnte, den Dichter nicht in seiner Zufriedenheit zu stören, ist es schon begreiflich, daß Goethe, nach so vielfältigen mühsamen Proben, zuletzt selbst in eine Art von Bewunderung geraten konnte, wenn er entdeckte, wieviel man mit einem widerstrebenden Stoff und einem Material, das nun einmal nicht besser war, zu erreichen vermochte.
Wir fuhren gleich nach Beendigung des Stückes nach Jena, und obgleich es sehr spät war, versammelten sich doch noch einige bei der Frau Professor Schlegel, die zurückgeblieben war. Sie forderte nun und zwar mit der Entschiedenheit, die ihr eigen war, ein bestimmtes Urteil über das Drama; und hier zeigte es sich nun, wie der erste Eindruck, den ein neues, im großen Sinne aufgefaßtes und angelegtes Stück unmittelbar hinterläßt, sich selbst durch die schärfste Kritik nicht sogleich verdrängen läßt.
Auf den deutschen Universitäten bildet sich fast unvermeidlich eine stagnierende Masse durch früher selbst verdienstvolle, aber allmählich veraltete Lehrer. Die Verhältnisse, die diese damals ausbildeten, sind zwar zurückgedrängt, denn jetzt versetzt die große und rasche Bewegung in der Geschichte und in der Wissenschaft einen jeden in eine fortdauernde Spannung; selbst die jugendliche Begeisterung hat einen tieferen Grund, und es ist fast unmöglich geworden, was uns einst durchdrang, selbst in den spätesten Jahren völlig bedeutungslos aufzufassen. Freilich, was bloß Masse war, bleibt es, auch noch so sehr herumgeworfen und äußerlich geschüttelt, und versteht es, seine ursprüngliche Ruhe wiederzugewinnen.
Nun darf man nicht vergessen, daß in Jena eine Begeisterung, durch welche die ganze deutsche Literatur einen neuen Aufschwung erhielt, eben in dem ersten Moment frischer jugendlicher Ausbildung war, als ich das Glück hatte, den lebendigsten Entwicklungspunkt zu erleben. Jena hatte noch von früheren Zeiten her verdienstvolle Lehrer; Paulus und Griesbach, in der theologischen Fakultät, hatten einen großen und verdienten Ruf; Justizrat Hufeland galt für einen tüchtigen Juristen; Hufeland, Gruner und Starke hoben die medizinische Fakultät; Batsch war ein ausgezeichneter Botaniker; Schütz und Eichstädt waren berühmte Philologen. Mehrere von diesen verdienten Männern, mit ihren bestimmten Fächern beschäftigt, die ihren Ruf begründeten, mischten sich gar nicht in die Streitigkeiten, die sich in der Literatur erhoben; obgleich die Neuerungen ihnen unzugänglich, sehr bedenklich fremd, ja wenn sie sahen, wie die Jugend ergriffen wurde, beschwerlich werden mußten. Andere hingegen, teils durch ihre literarischen Verhältnisse, wie Schütz und der Jurist Hufeland, als Redaktoren der »Allgemeinen Literaturzeitung«, teils durch die eigene polemische Natur, wie Gruner, veranlaßt, äußerten die Unzufriedenheit entschiedener, Schütz und der Jurist Hufeland aber mit großer Vorsicht; denn der ältere Schlegel war in den letzteren Jahren der bedeutendste Rezensent im ästhetischen Fache, hatte dadurch den Ruf der »Literaturzeitung« gehoben, und man fürchtete ihn als Gegner. Aber eine bald stillere, bald lautere Opposition der älteren Lehrer gegen Fichte, Schelling und A.W. Schlegel gestaltete sich dennoch durch die Majorität der älteren Professoren. Nur Paulus, dessen seltsame, jetzt gottlob veraltete Exegese damals den Blütepunkt des Ansehens erreicht hatte, schloß sich entschieden an Fichte an. Die Gegner suchten nun den drei angefeindeten Männern das Leben möglichst sauer zu machen; aber der Schutz von oben, und die entschieden offensive Stellung, die von den genannten neueren Professoren angenommen wurde, machte sie gleichgültig gegen diese mehr oder weniger verborgenen Angriffe. Es entstand Geklatsch aller Art, welches sorgfältig verbreitet wurde. Ich habe es vergessen, und es erschien mir auch damals zu gleichgültig und gering; ich achtete kaum darauf, obgleich mein Landsmann, der theologische Kandidat Malte Müller, mit allem Gerede der Art sehr genau bekannt war und mir es zutrug.
Was diese Zeit in Jena so erfreulich machte, war die Einigkeit, welche unter den Urhebern einer so wichtigen Umgestaltung in der Literatur herrschte. Wie bei einer jeden organischen Entwicklung die verschiedensten Bildungen kaum unterscheidbar von einem gemeinschaftlichen Punkte ausgehen – nur freilich so, daß die abweichenden Bildungen ihre innere Einigkeit nicht aufheben –, so glaubten auch alle damals durchaus ein gemeinsames Werk zu treiben, und es entstand ein Bündnis der Geister, welches im höchsten Grade bedeutend wirken mußte. Fichte und Schelling hatten ihre Differenz wohl begriffen, aber noch nicht ausgesprochen. Indessen sahen sie sich nicht häufig, und Fichte, obgleich er glauben mochte, daß Schelling, spekulativ betrachtet von einem ähnlichen Standpunkt des Bewußtseins, wie er selber, ausging, konnte doch an der Schellingschen Naturphilosophie keine Freude finden, ja sie mußte demjenigen, der Licht und Luft a priori konstruierte, und zwar nicht als ein solches, was seine Bedeutung in sich selber hatte, sondern als daseiend, damit die verschiedenen Ichheiten sich sahen und hörten, als von dem Bewußtsein postulierte und nur als Postulat zu duldende Formen des Daseins betrachtet, zuwider sein. So lag hier allerdings eine Differenz, ja eine feindliche Scheidung, ursprünglich verborgen. Da aber Fichte sich lediglich auf dem ethischen und mit diesem verbundenen rechtlichen Gebiet bewegte, so gingen beide, Fichte und Schelling, eine Zeitlang nebeneinander und stritten nicht, weil sie sich nicht berührten. Es war der übriggebliebene Rest der Kantschen Trennung zwischen praktischer und theoretischer Philosophie, eine Trennung, die freilich von keinem von beiden anerkannt wurde, die aber dennoch ihre Macht auszuüben schien.
Aber nicht allein die in Jena Anwesenden, auch die Abwesenden gehörten zu den Verbündeten, die nach außen und der herrschenden Literatur gegenüber in gleichem Sinne tätig waren. Berlin ward zwar damals als der Sitz des plattesten gemeinen Verstandes betrachtet und von uns allen geringgeschätzt. Die Allgemeine deutsche Bibliothek von Nicolai, die Berliner Monatsschrift, durch Biester redigiert, wurden als die Stapelplätze des gemeinsten Räsonnements angesehen; aber dennoch waren auch hier wichtige Verbündete. Unter diesen blieb mir doch damals noch Schleiermacher am meisten fremd. Mehr einen unmittelbaren Eindruck machte Tieck als Dichter auf mich. Es ist bekannt, wie sehr der dichterische Sinn in Deutschland gesunken war, so daß Tiecks erste Schriften nicht allein gar keinen Eindruck machten, und (wie der Verleger, Nicolai der Jüngere, behauptete,) sogar als Makulatur sich auf seinen Niederlagen aufhäuften. Die Gebrüder Schlegel waren die ersten, die auf das reiche und durchaus selbständige Talent dieses Dichters aufmerksam machten, und es ist in der Tat unbegreiflich, wie es möglich war, daß die anmutige Sprache, die Frische der poetischen Anschauung so ganz den Eindruck verfehlen konnten. Herrschten doch in den Volksmärchen ein so tiefer Ton der kindlichen Naivität der Vorzeit, eine solche Kindlichkeit des Daseins, solche heitere Klänge aus der verborgensten Herrlichkeit der deutschen Sprache, daß dieser Ton, einmal laut geworden, diese Klänge, einmal angeschlagen, niemals mehr aus der Sprache verschwinden konnten. In der Tat waren es diese scheinbar naiven, mit kindlichen Tönen unbefangen spielenden Märchen, die zuerst an die verborgene Bedeutung einer vergangenen dichterischen Zeit erinnerten. So wie Tiecks Übersetzung des »Don Quijote«, die schon begonnen war, auch nach einer Zeit hinwies, die zwar nicht unbekannt war, aber deren dichterischer Reichtum verborgen blieb.
A. W. Schlegels Proben einer Übersetzung und Beurteilung von »Romeo und Julia«, sein Aufsatz über Dante, die Unterhaltungen, die sich an solche Arbeiten knüpften, riefen Sinn und Gedanken von der engeren Literatur der Gegenwart und ihren kleinlichen Beschäftigungen ab, und wir gewöhnten uns, einen größeren Maßstab für die Poesie anzulegen; wir fingen an einzusehen, daß der Sinn für die eigentliche Dichtkunst, die, einst ein wesentliches Moment des Daseins, Kunst, Wissenschaft und Staat durchdrungen hatte, verlorengegangen war und wieder belebt werden mußte.
Auch für die Kunst ward der Sinn erweckt; noch kannte ich sie nur in der Ahnung. Lessings Laokoon konnte mir nur Gedanken, aber keine Gegenstände geben. Jetzt erfuhr ich, wie Winckelmann der erste war, der auf eine bedeutende Weise die plastische Kunst der Alten hervorgehoben und belebt hatte. Ich las seine Schriften, und schon die klassische Sprache, die wunderbar und fremdartig durch Größe und Einfachheit für die Zeit, in welcher seine Schriften erschienen, hervorleuchtete, riß mich hin. Der Zustand, in welchen ich versetzt wurde, als ich Winckelmann las, mag einige Ähnlichkeit mit dem gehabt haben, in welchen ihn selbst in der kleinen Stadt, in welcher er lebte, die plastische Kunst der Alten anzog und in Bewegung setzte. Noch hatte ich so gut wie nichts gesehen, das Auge war für die Kunst geschlossen; was mir Goethe mit Freundlichkeit zeigte, konnte nur für das schon geöffnete Auge einen Wert haben. Ich seufzte, indem ich mit nordischer Redlichkeit bekannte, daß mir der Sinn für die Kunst, wie ich befürchten mußte, fehle, und dennoch durchdrang mich das Bewußtsein, daß dieser Mangel ein geistig wesentlicher war. Ich fand mich in eine andere höhere Welt versetzt, und was in dieser lebte und sich bewegte, durfte mir nicht fremd sein. Wie Himmel und Erde, Gebirge und Meer, Pflanzen und Tiere mich in der Natur sinnlich umgaben, so mußten auch alle Gestalten der geistigen Welt, in der ich zu atmen anfing, vor mir liegen und mir verwandt sein. Ich vermochte es nicht zu begreifen, wie einige sich noch so beharrlich verbargen, und ich hatte nicht gelernt, einen Enthusiasmus zu affektieren, den ich nicht empfand. Goethe tröstete mich. Ich hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, Italien zu sehen, aber er stellte die nächste Hoffnung auf Dresden. »Dort«, sagte er, »werden Sie Kunstschätze finden, die für Sie eine Vorschule bilden werden.« Die Redlichkeit, mit welcher ich nach den Genüssen der Kunst, wie nach einem mir unbekannten Gute, mich sehnte, schien ihm zu gefallen.
Aber auch die Musik war mir noch verschlossen. Einzelne Melodien rissen mich hin, bewegten mich aufs allertiefste: aber die große Welt der Töne verwirrte mich nur, ja wenn eine einzelne Gestaltung, ein eigentümlicher Gesang sich hervorhob und mich momentan ergriff, so war der Eindruck von dem größeren mir verworrenen Ganzen verschwunden, und ich vermochte nicht, ihn wieder zu finden. Ein betäubender, verworrener, erschöpfender Eindruck blieb zurück, wenn ich Haydn oder Mozart gehört hatte, und ich konnte die Begeisterung, die um mich herrschte, nicht begreifen.
Aber alles, was ich noch nicht verstand, war angeregt. Es war nicht eine kalte Reflexion, es war ein neues, warmes, glühendes Leben, welches mich in Bewegung setzte, und selbst, was mir Qualen zubereitete, ward Stachel und Sporn der Lust, die mich durchdrang.
Während nun auf eine solche Weise das Leben um mich herum so reich sich gestaltete, ging auch im größeren Kreise die Wirkung von Jena aus und verbreitete sich mehr und weniger über alle Zweige der Literatur. Die BrownscheVgl. Seite 74 Anmerkung 2. Lehre in der Medizin, die einen Urgegensatz der Erregung und der Erregbarkeit auffaßte und mit Scharfsinn hervorhob, hatte einige der berühmtesten Ärzte für sich gewonnen, und sie lag der Spekulation so nahe, daß sie notwendig einige deutsche Ärzte zu dieser hindrängen mußte. Unter diesen zeichnete sich besonders Röschlaub aus. Mehrere andere Ärzte, die später hervortraten, ließen es nicht an Beifallsäußerungen fehlen. Irre ich nicht, so hörte ich schon damals die Namen: Eschenmaier, Windischmann und Görres nennen.
Wenn nun auf eine solche Weise die Naturphilosophie vorzüglich die Ärzte in Anspruch zu nehmen anfing, so schien auch Fichte, der schon seit mehreren Jahren in Jena lehrte, wie Gegenstand der heftigsten Angriffe, so auch der Bewunderung zu sein. Während dieses Winters machte besonders der später berühmt gewordene Brief von JacobiVom 3. März 1799; er erschien im gleichen Jahre gedruckt in Hamburg. vieles Aufsehen. Er enthielt jene wunderbare Mischung von Bewunderung und Widerstreben, die Jacobi allenthalben bezeichnete, wo von eigentlicher Spekulation die Rede war. Die wunderbare Ansicht, daß man sie kennen und verehren müsse, ja daß sie wohl auch dazu tauglich sei, manchen Äußerungen einen Hauch von Geistreichigkeit mitzuteilen, daß man sich ihr aber nicht zu sehr hingeben, am allerwenigsten sie konsequent ausbilden dürfe, herrschte in diesem Briefe vor. Die berühmte Stelle, in welcher er das Recht der sittlichen Persönlichkeiten dem Formalismus des Sittengesetzes gegenüber in Anspruch nahm, machte damals einen tiefen Eindruck. Ich führe sie hier an, sie ist in ihrer Art klassisch: »Ja ich bin«, heißt es, »der Atheist und Gottlose, der dem Willen, der nichts will, zuwider – lügen will, wie Desdemona sterbend log; lügen und betrügen will, wie der für Orest sich darstellende Pylades; morden will, wie Timoleon; Gesetz und Eid brechen, wie Epaminondas, wie Johann de Witt; Selbstmord beschließen, wie Otho; Tempelraub begehen, wie David – ja Ähren ausraufen am Sabbat, auch nur darum, weil mich hungert, und das Gesetz um des Menschen willen gemacht ist, der Mensch nicht um des Gesetzes willen. Denn mit der heiligsten Gewißheit, die ich in mir habe, weiß ich, daß das privilegium aggratiandi solcher Verbrechen wider den reinen Buchstaben des absolut allgemeinen Vernunftgesetzes das eigentliche Majestätsrecht des Menschen, das Siegel seiner Würde, seiner göttlichen Natur ist.«
Dieser Brief, wegen des Verfassers schwacher Augen auf grünes Papier geschrieben, zirkulierte, und ward von uns allen in demselben Sinne gelesen, als er geschrieben war. Er ward gelobt und hart getadelt, obgleich die Zeit noch nicht gekommen war, in welcher Jacobi, der von seinem einseitigen Standpunkte sich an allem, was bedeutend in der Philosophie erschien, zu reiben suchte und es nicht vergessen konnte, daß er eine lange Zeit hindurch als ein einzelnes Exemplar dem gewöhnlichen Philosophen gegenüberstand und durch geistreiche Winke das Urteil leitete oder zu leiten vermeinte,Friedrich Heinrich Jacobis Stellung innerhalb der philosophischen Strömungen seiner Zeit wird hier nicht gerecht gewürdigt. Jacobi wollte die Wirklichkeit vor der Spekulation retten und kämpfte deshalb gegen Spinoza wie gegen Fichte; »Spinozismus ist Atheismus« und »Idealismus ist Nihilismus« sind zwei seiner bezeichnenden Äußerungen. Gegenstand heftiger Angriffe ward.
Was diese glückliche Zeit in Jena vorzugsweise auszeichnete, war der Fleiß und Ernst, der in allen herrschte; die Überzeugung, daß man, um den Gegnern entgegenzutreten, sie auf ihrem eigenen Boden bekämpfen müsse, daß man nicht bloß mit leeren Allgemeinheiten, mit geistreichen Wendungen sich begnügen dürfe, daß ein Kampf bedeutungslos werden müßte, wenn er nicht durch Einsicht und Kenntnisse nachhaltig wäre, durchdrang einen jeden. Diejenigen, die an die Spitze der Zeit traten, hatten sich schon von allen Seiten durch tüchtige Werke ausgezeichnet; sie hatten sich, wie auch Lessing, als er in strenger Opposition gegen die herrschende Literatur hervortrat, ein Bürgerrecht und einen bedeutenden Besitz in der literarischen Welt erworben; es waren Männer, die da wußten, was sie wollten, die einen eigenen bestimmten Zweck hatten, den sie unablässig verfolgten, und wenn die Kritik hart und schneidend die Gegner traf, so war es die Macht der in sich abgeschlossenen Gedanken, die Gewalt der eigentümlichen positiven Ansichten, die, gehegt und gepflegt, heranwuchsen und sich, jeden Widerstand überwältigend, Platz machten. Wohl herrschte in diesem Kampfe nicht selten Übermut, aber es war nicht bloß das armselige Jucken der Oberhaut, das sich durch Reiben an anderen Linderung verschaffen will und sich in Äußerungen ergießt, die nur einen augenblicklichen, schnell verschwindenden Einfluß hervorrufen. Es war nicht eine blasierte Zeit, die sich stimulieren mußte, um aus der leeren Kraftlosigkeit irgendeinen vorübergehenden scheinbar lebendigen Effekt hervorzulocken: es war eine kraftvolle, jugendliche, die in allen Richtungen des Daseins die Spuren des alles vereinigenden Geistes erkannte; es war ein sprudelndes, ja übermütiges Leben, nicht die krampfhaften Zuckungen eines Sterbenden. Man beschuldigte die Verbündeten, besonders die Gebrüder Schlegel, daß sie nach Paradoxen jagten: aber mußte nicht alles, was aus einem Großen und Ganzen ausging, denjenigen fremd, unverständlich, paradox erscheinen, die in der zersplitterten Vereinzelung des Lebens sich mit einem geistlosen Detail begnügten?
Ich fühlte es, wie der alte Spinoza sich zu regen und zu bewegen anfing; wie jene ruhende Notwendigkeit sich in ihrer ursprünglichen Freiheit ergriff, wie die Substanz nicht bloß sich erkannte, sondern auch in ihrem Erkennen tätig ward und eine Welt lebendig zu erzeugen anfing. Auch mich ergriff jene Zeit in allen Richtungen mit einer unendlichen Gewalt; die reiche Natur drängte sich an mich und suchte Verständigung. Alte Zeiten wurden neu, längst verstorbene Geister fingen ein Gespräch an, und wenn manches nur halb gehört, ja falsch verstanden wurde, so verschwanden doch die nicht, die sich mir einmal genähert hatten, an die ich mich mit Vertrauen wenden konnte, die dem Zweifler eine genügende Antwort zu geben vermochten. Wunderbar aber war es, wie alle Äußerungen um mich her, selbst wo sie anscheinend feindselig gegen die Religion auftraten, mir niemals so erschienen; vielmehr war es mir, als müßte meine früheste Jugend, ja Kindheit zurückkehren, als läge in dem, was ich jetzt suchte, die frische, blühende und heitere Natur verborgen, die mich in meiner Kindheit entzückte, als müßten auch bei mir alte Zeiten jung werden. Es ruhte eine tiefe Erinnerung an die stille Hingebung der Religion hinter dem zuversichtlichen Streben, und als die in sich selbst ruhende Substanz das Antlitz erhob, um sich blickte und zu sprechen anfing, war es mir, als spräche hinter den Konstruktionen der Vernunft ein Höheres, als blickte hinter den bunten, ja fast betäubenden Blüten der Poesie aller Blumen schönste Blume, als regte sich in der großen, alles tragisch vernichtenden und wieder zum neuen Leben hervorrufenden Geschichte ein Geist, der mächtiger war als sie, und sie mit ihren Staaten, Wissenschaft und Kunst und uns selber, die wir jugendlich und zuversichtlich uns in Gedanken und großen Entwürfen ergingen, trieb und in Bewegung setzte. Wenn ich mich in diese Zeit versetze, so erkenne ich eine seltsame Ähnlichkeit zwischen ihr und dem stillen Leben in Roeskilde. Was mich damals besaß und beherrschte, hoffte ich jetzt als eigenen Besitz zu erlangen. Wurde es doch ausgesprochen als das Letzte, als das Ziel aller Reflexionen: daß diese sich in ihrem eigenen Anfangspunkte erkennen und in dem ruhigen Reichtum des ursprünglichen gesunden Sinnes sich selbst in ihrer tiefsten Bedeutung wiederfinden würden.
Indessen näherte sich die Zeit meiner notwendigen Abreise von Jena. Ich mußte nach Freiberg reisen; ich durfte mich nicht länger als ein halbes Jahr in Jena aufhalten, und so angenehm und anregend mein Umgang hier war, so sah ich doch ein, daß ich hier die Ruhe nicht würde finden können, die für selbständige Produktionen notwendig war. Ich hatte beschlossen, über Berlin zu reisen; ich wollte aber auch nur die Stadt kennenlernen. Aber ein bedeutendes Ereignis fand noch statt, ehe ich Jena verließ. Vom sächsischen Hofe aus und durch den Theologen Reinhard ward, wie bekannt, Fichte als Atheist angeklagt.
Nach einigen Tagen wurden die Studierenden von dem Prorektor (Loder) vorgeladen; er hatte als Prorektor den Auftrag, sie über die Lage der Sachen im Sinne des Hofes zu belehren und ihnen klarzumachen, wie Fichte selbst durch die Schritte, die er getan hatte, seine Entlassung herbeigeführt.
Dieses Ereignis ward mir in mehr als einer Rücksicht höchst wichtig; zwar sah ich Fichte nicht oft, meine Studien, mein ganzes Denken entfernte mich vielmehr von ihm, aber er war mir lieb und teuer, und die Strenge seines sittlichen Gefühls, wie es Grundlage seiner ganzen Philosophie geworden war, erwarb ihm meine hohe Achtung, Man ward, wenn man mit ihm zusammen war, leicht aufgefordert, mit ihm über seine Philosophie zu reden, ja ihm heftig zu widersprechen. Gegen die Härte seiner formellen, absoluten, sittlichen Wahrheit hatte ich viel einzuwenden; noch früher als der erwähnte Brief von Jacobi angekommen war, hatte ich mit ihm einen heftigen Streit, denn das Fiat justitia, pereat mundus,Gerechtigkeit geschehe, möge auch die Welt untergehen! der absolute Sieg formeller Sittlichkeit, war mir grauenhaft. Als ich hörte, wie er den Satz: man dürfe unter keiner Bedingung eine Unwahrheit sagen, behauptete, wagte ich es, ihm folgendes Verhältnis entgegenzustellen: Eine Wöchnerin ist gefährlich krank, das Kind, sterbend, liegt in einer anderen Stube; die Ärzte haben entschieden erklärt, daß eine jede Erschütterung ihr das Leben kosten wird. Das Kind stirbt – ich sitze am Krankenlager meiner Frau, sie fragt nach dem Befinden des eben gestorbenen Kindes: die Wahrheit würde sie töten; soll ich sie sagen? – »Sie soll«, antwortete Fichte, »mit ihrer Frage abgewiesen werden.« – »Das heißt«, erwiderte ich, »auf das bestimmteste sagen: ihr Kind sei tot. Ich würde lügen«, rief ich bestimmt, und Tränen traten mir in die Augen, weil ich mich einer solchen Szene, die ich erlebt hatte, erinnerte, »und ich nenne ganz entschieden diese Lüge eine Wahrheit, meine Wahrheit.« – »Deine Wahrheit?« rief Fichte entrüstet, »eine solche, die dem einzelnen Menschen gehört, gibt es gar nicht; sie hat über dich, du nicht über sie zu gebieten. Stirbt die Frau an der Wahrheit, so soll sie sterben.« Ich sah die absolute Unmöglichkeit ein, mich mit ihm zu verständigen; ihm klarzumachen, daß die absolute formelle Lieblosigkeit die tiefste Lüge des persönlichen Daseins wäre, würde mir doch unmöglich sein. Fichte selbst war bei aller scheinbaren Härte seiner Lehre der gütigste Mensch; ich war überzeugt, daß er unter den angegebenen Verhältnissen selbst lügen würde, und schwieg. Und dennoch habe ich Gelegenheit gehabt, in viel späteren Jahren meine damals ausgesprochene Ansicht mit einer Konsequenz ausführen zu sehen, die mich höchst bedenklich machte.
Ich hatte nun das Seltsame erlebt, einen Mann, den ich achtete und liebte, als Atheisten angeklagt und von seinem Lehramte vertrieben zu sehen.Den Anlaß bot Fichtes Aufsatz »Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltordnung« von 1789. Was, wenn ich es als ein längst verflossenes Ereignis früherer Jahrhunderte vernahm, mich erschütterte, geschah jetzt unter meinen Augen, ja in dem engen Kreise meiner nächsten Umgebung. Da erwachte alle frühere Erinnerung meiner Kindheit, und ich fragte mich selbst, ob der Vorwurf, der den geachteten Philosophen traf, völlig grundlos wäre oder nicht? Daß die Fichtesche Lehre die konsequent durchgeführte Kantische war, sah ich wohl ein. Die Gegenstände des sichern Erkennens gab nur die Erscheinung; die Philosophie aber suchte die Wahrheit. Das sittliche Gefühl und sein Ausdruck, das Gewissen, war ebensowohl wie Zeit, Raum und Kategorie eine nie abzuweisende Tatsache des Bewußtseins, nur mit dem bedeutenden Unterschiede, daß der Inhalt des Gewissens nicht eine Erscheinung, vielmehr ein An-Sich genannt werden mußte. Zwar konnte man von der Sittlichkeit nicht behaupten, daß sie sei in dem Sinne, in welchem Gegenstände sind, sie blieb vielmehr ein Sollen, ein ewig sich erneuerndes Postulat; aber als solches war sie keine Erscheinung, sondern ein An-Sich, ja offenbar das einzige und absolute. Dieses schlechthin Wahre kommt uns nicht von außen, es ist nur als eigene Tat.
Ich erinnere mich, wie Fichte in einem engen vertrauten Kreise uns die Entstehung seiner Philosophie erzählte und wie ihn der Urgedanke derselben plötzlich überraschte und ergriff. Lange hatte ihm vorgeschwebt, wie ja die Wahrheit in der Einheit des Gedankens und des Gegenstandes läge; er hatte erkannt, daß diese Einheit innerhalb der Sinnlichkeit niemals gefunden werden konnte, und, wo sie hervortrat, wie in der Mathematik, erzeugte sie nur einen starren unlebendigen Formalismus, dem Leben, der Tat völlig entfremdet. Da überraschte ihn plötzlich der Gedanke, daß die Tat, mit welcher das Selbstbewußtsein sich selber ergreift und festhält, doch offenbar ein Erkennen sei. Das Ich erkennt sich als erzeugt durch sich selber, das denkende und das gedachte Ich, Erkennen und Gegenstand des Erkennens, sind eins, und von diesem Punkte der Einheit, nicht von einer zerstreuenden Betrachtung, die Zeit und Raum und Kategorien sich geben läßt, geht alles Erkennen aus. Wenn du nun, fragt er sich, diesen ersten Akt des Selbsterkennens, der in allem Denken und Tun der Menschen vorausgesetzt wird, der, in den zersplitterten Meinungen und Handlungen verborgen liegt, rein für sich heraushöbest und in seiner reinen Konsequenz verfolgtest, müßte nicht in ihm, aber lebendig tätig und erzeugend, dieselbe Gewißheit sich entdecken und darstellen lassen, die wir in der Mathematik besitzen?
Dieser Gedanke ergriff ihn mit einer solchen Klarheit, Macht und Zuversicht, daß er den Versuch, das Ich als Prinzip der Philosophie aufzustellen, wie bezwungen von dem in ihm mächtig gewordenen Geiste nicht aufgeben konnte. So entstand der Entwurf einer Wissenschaftslehre und diese selbst. In den Buchhändlerankündigungen dieser Schriften ward es ausgesprochen, daß die Wissenschaftslehre für die Philosophie das werden sollte, was Euklid für die Mathematik war. Ich glaube nicht, daß diese Äußerung jemals, als von ihm selbst ausgesprochen, laut geworden ist: aber nachdem ich jene Geschichte der Entstehung seiner Philosophie vernommen hatte, halte ich mich für überzeugt, daß dieser in den Anzeigen geäußerte Gedanke durch ihn selbst veranlaßt war und seine ersten Hoffnungen am reinsten ausdrückte.
Wenn man Fichtes Bildung aus der Kantischen Philosophie heraus bedenkt, so kann man nicht daran zweifeln, daß das absolute Sittengesetz die reine Voraussetzung, das Leitende und Ordnende der erzeugenden Selbsttat des Ichs sein und daß dieses ihm während der Entwicklung seiner Philosophie immer klarer werden mußte. Freilich, wie das Sittengesetz, welches nur ein Postulat war, das nur eine Bedeutung hätte, indem es sich zu verwirklichen suchte, ohne selbst wirklich zu sein, dazu käme, das Ordnende, eine Denktätigkeit zu sein, die doch nur ihre Bedeutung hätte, insofern die innere Übereinstimmung mit ihr selbst eine Selbsttat wäre, blieb völlig unbegreiflich. Aus dieser Unbegreiflichkeit entsprangen erst alle Begriffe. Und so hatte Fichte ein heiliges Geheimnis, welches unerklärbar seiner Philosophie zugrunde lag, ein Geheimnis, welches durchaus unzugänglich und prädikatlos war; und es mußte ihm vor allem wichtig sein, alle Prädikate, durch welche er in die Sphäre des Erkennbaren und Erklärbaren hineingezogen wurde, von diesem verborgenen Grunde auszuscheiden. Das war Fichtes Gott. Ich erkannte dies sehr wohl, und die Beschuldigung des Atheismus, wie sie jetzt Fichte traf, war mir ein trauriges Zeichen der armseligen Oberflächlichkeit der Zeit; vielmehr der Gott, den man mehr fürchtete als anbetete und liebte und nicht einmal fürchtete, sondern in eine ferne Unendlichkeit hineinschob, wo er sich hinter Gesetzen verbarg, denen er sich, wie uns, unterworfen hatte, kam mir neben dem erhabenen geheimnisvollen Gott der Sittlichkeit unbedeutend und kümmerlich vor. – Und dennoch sagte ich mir, im stillen grübelnd: das ist nicht der Gott deiner Kindheit, den du verloren hast und den du suchst. Aber es war nicht bloß diese Ahnung eines tieferen göttlichen Daseins, die mich von Fichte trennte, auch in einer anderen Richtung ward er mir jetzt entschieden entfremdet. Wohl war mir die Trennung der theoretischen von der praktischen Philosophie durch Kant, die zugestandene Unwahrheit der ersteren, die leere Allgemeinheit der letzteren in der innersten Seele zuwider; aber die Welt behielt doch nicht allein, dem Mechanismus der Kategorien unterworfen, eine sinnliche, sondern auch teleologisch betrachtet, eine höhere, wenn auch verborgene Wirklichkeit. Durch Fichte ging auch diese rein verloren. Es war mir nach meiner Art seltsam zumute, wenn ich mir seine Anschauungsweise dachte; er mußte keinen Baum, kein Tier, am allerwenigsten eine reiche Gegend jemals lebendig aufgefaßt haben. Daß nicht allein in den menschlichen Gedanken und Taten, sondern auch in jener reichen Fülle von Bildungen, Entwicklungen und Gestalten das eigentliche innerste, geistige Mysterium unseres Daseins verborgen läge und erkannt werden müßte, schien ihm völlig fremd geblieben zu sein. Was Kant noch als Erscheinung gelten ließ, ward ihm eine bloße Negation, alles nämlich, was nicht das Ich wäre, und an welchem sich das Ich erst manifestieren sollte. Die Erscheinung blieb, und zwar in ihrer ganzen Härte, aber bloß um sich abweisen, dann beherrschen und in ein Ich durch das Ich verwandeln zu lassen. Der Knecht eines unbegreiflichen Gesetzes verwandelt sich in den Titan der Selbstbestimmung und in den Schöpfer Himmels und der Erden. Eine solche Philosophie war mir nun völlig fremd, und je genauer ich sie kennenlernte, desto mehr mußte ich sie von mir abweisen.
Die Schellingsche Identitätslehre, die Einheit des Subjekts und Objekts schlechthin angenommen, wie sie das ganze Dasein umfaßt, lag mir, wie ich durch Spinoza gebildet war, natürlich näher.
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Ich trennte mich nicht ohne Schmerzen von Jena, und obgleich meine Verbindung mit den bedeutenden Männern in dieser Stadt zu innig war, um durch die Entfernung aufgehoben zu werden, fühlte ich doch, wieviel ich verlor. Ich reiste über Weimar, ich besuchte Goethe, der mich mit ermunternden Worten entließ, obgleich ich einige Verlegenheit in seinem Benehmen zu spüren glaubte. Er schien mit der Rolle, die ich in der Fichteschen Sache gespielt hatte,Steffens hatte eine Bittschrift für Fichtes Verbleiben an der Universität entworfen. nicht unbekannt zu sein, und der Hof selbst fand sich offenbar in einer unangenehmen Klemme; auf der einen Seite durch die freie ungehemmte Entwicklung des wissenschaftlichen Geistes, deren allgemein anerkannter und gepriesener Beförderer er war, aufgefordert, ja wohl auch innerlich geneigt, den Philosophen zu schützen; andererseits durch die höchst bedenkliche Beschuldigung, die der Herzog, seine Umgebung, ja selbst Goethe in ihrem eigentlichen Unwert nicht zu durchschauen vermochten. – Durch die dringende Aufforderung aller sächsischen Höfe geängstigt und gequält, ließ man zwar Fichte fallen,1799 wurde Fichte aus Jena entlassen und veröffentlichte zu seiner Verteidigung die »Appellation an das Publikum«; er ging von Jena aus nach Berlin. aber eine gewisse Scham vermochte man doch nicht zu unterdrücken. Fichte der JüngereDer Sohn des Philosophen, Immanuel Hermann Fichte, veröffentlichte 1830 »Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel«. hat die Stellen aus Goethes Erinnerungen aus seinem Leben, und andere briefliche Äußerungen, aus welchen die Verlegenheit des Weimarischen Hofes klar wird, und besonders die innere Qual, die Goethe empfand, klar genug dargestellt.
Als ich Goethe verließ, schwebten mir die Verhältnisse, aus welchen ich mich jetzt losgerissen hatte, lebhaft vor Augen; eine dunkle Ahnung, als wenn die dort eben aufgeschlossene Blüte im Begriff wäre, die bunten Blätter und die Düfte allen Winden preiszugeben, befiel mich mit unendlicher Wehmut.
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Freundlich empfing uns nun Freiberg keineswegs. Das öde Gebirge erschien höchst traurig. WirSteffens wurde auf der Reise von seinem Kieler Bekannten Möller begleitet. fuhren unter dem Gestänge durch, welches einförmig knarrend sich hin und her bewegte. Die Grube Himmelfahrt samt Abraham lag links am Wege, und eine Glocke zeigte in einförmigen Pausen den Umschwung des oberen Rades an. Es war, als wenn die Bergkobolde ihren geheimen Spuk schon trieben. Wir schwiegen beide still, als wir durch die Straßen hineinfuhren. Die Notwendigkeit, uns hier länger aufhalten zu müssen, war uns keineswegs erfreulich.
Als wir nun aber den Gasthof verlassen und in einer recht freundlichen Wohnung, obgleich von schlechten armen Häusern umgeben, uns eingerichtet hatten, stumpfte sich das erste unangenehme Gefühl bald ab. Die uns neue Beschäftigung, die vor uns lag, das Hineinsteigen in die Gruben, die unterirdische Betriebsamkeit, die hier seit Jahrhunderten in so großartigem Sinne stattgefunden hatte, erregte unsere Neugierde, und wir eilten, die Bekanntschaft der beiden, für uns bedeutendsten Männer der Stadt zu machen. Wir besuchten den Berghauptmann von Charpentier und den Bergrat Werner. Ich war diesen Männern nicht ganz unbekannt. Die kleine Schrift »Über die Mineralogie und das mineralogische Studium« hatte in Freiberg einige Aufmerksamkeit erregt.
Freiberg stand als Akademie damals in der höchsten Blüte. Werner ward in ganz Europa unbestritten als der erste Mineralog, ja als der neue Stifter und Begründer dieser Wissenschaft betrachtet. Keiner konnte sich damals mit ihm als Oryktognosten messen, selbst Linné besaß nie eine allgemeinere Autorität in der Botanik, als Werner in der Oryktognosie.Die Wissenschaft von der Klassifizierung und Beschreibung der Mineralien. In der Geognosie hatten die Neptunisten den entschiedenen Sieg über die VulkanistenDie Neptunisten lehrten irrtümlich, alle Gesteine seien durch Absatz im Wasser entstanden (außer den Produkten tätiger Vulkane); ihr Hauptvertreter war Werner. Die Vulkanisten schrieben dem Einfluß der Glut des Erdinnern den bedeutendsten Anteil an der Entstehung der Gesteine und Gebirge zu (Hutton, L. v. Buch). errungen. Von Huttons Erhebungstheorie war kaum die Rede. Aus allen Gegenden Europas und Amerikas strömten die Mineralogen nach Freiberg. – Humboldt, L. v. Buch, Esmark, der Norweger, Elhyar, der spanische Mexikaner, Andrada, der brasilianische Portugiese, waren wenige Jahre früher dagewesen. Zu meiner Zeit fand ich dort noch den Irländer Mitchel, der in England schon einen bedeutenden Ruf in seinem Fache besaß; Jameson, den Schottländer, dessen Verdienste um die Geognosie seit seiner Reise durch Schottland allgemein geschätzt wurden. Unter denen, die später als berühmte Mineralogen genannt wurden und die sich zu meiner Zeit in Freiberg aufhielten, waren D'Aubuisson, der Franzose, Mohs und Herder.Ein Sohn Johann Gottfried Herders. Werner war noch in der Blüte seiner Jahre, neunundvierzig Jahre alt.
Er war eine höchst ausgezeichnete Persönlichkeit und nahm mich schon bei meinem ersten Besuche ganz für sich ein. Er war von mittlerer Größe, breitschultrig, sein rundes freundliches Gesicht versprach zwar beim ersten Anblick nicht viel, und dennoch beherrschte er auf eine entschiedene Weise einen jeden, wenn er zu sprechen anfing. Sein Auge ward dann feurig, die Züge schienen sich zu beleben; seine Stimme hatte durch die Höhe etwas Schneidendes, aber jedes Wort war überlegt; eine besonnene Klarheit und die entschiedenste Bestimmtheit seiner Ansichten sprach sich in allem, was er sagte, aus. Damit verband sich aber eine so seltene Güte, daß er unwiderstehlich alle Herzen gewann.
Werner litt anhaltend an einer Unterleibskrankheit; er war dabei sehr ängstlich und um seine Gesundheit besorgt. Er kleidete sich sehr warm; der Magen war immer mit einem Tierfell bedeckt, und wenn er an Magenschmerzen litt, fügte er eine erwärmte Blechplatte hinzu. Das Klima in Freiberg ist freilich rauh, aber doch erschrak ich nicht wenig, wenn ich im Juli-Monat zu ihm hereintrat und den Ofen warm fand. Er war in allem bis zur Pedanterie pünktlich. Mit den Zuhörern, die er vorzüglich lieb hatte, pflegte er nach solchen Gegenden, die sich irgend durch eine geognostische Merkwürdigkeit auszeichneten, in seiner Equipage hinzufahren. Er bestimmte dann ganz genau die Zeit der Abfahrt, man durfte um keine Minute zu früh oder zu spät kommen. Kam man zu früh, so saß er nicht selten bei der Arbeit, sah den Hereintretenden bedenklich an, und dann auf die Uhr; kam man zu spät, wenn auch nur um einige Minuten, so ward man in Verlegenheit gesetzt, wenn man ihn selbst in ziemlich warmen Tagen mit Rock, Überrock und Pelz auf der Treppe wartend fand. Da mich das Glück, ihn auf solchen kleinen Touren zu begleiten, eine Zeitlang fast jede Woche traf, so sorgte ich ängstlich dafür, daß meine Uhr genau mit seiner übereinstimmend ging. Ich liebte diesen seltsamen und ausgezeichneten Mann unbeschreiblich. Ich selbst litt nicht selten am Magenkrampf, vergaß aber die Krankheit durchaus, wenn die Schmerzen vorüber waren, und an sorgfältige Diät oder streng geordnete Lebensweise dachte ich nie. Werner aber war wegen meiner Gesundheit in beständiger Sorge und unerschöpflich in Ratschlägen, wie ich meine Lebensweise einrichten solle. Aus Achtung gegen ihn war ich freilich äußerlich aufmerksam, hörte aber dennoch nur mit halbem Ohre zu.
Ich erlebte einen Auftritt, der mich und alle seine Zuhörer einmal in große Verlegenheit setzte. Bekanntlich war Werners Edelsteinsammlung berühmt, und die Kristallisationssuite gehörte zu den vollständigsten in Europa. In seiner Vorlesung zirkulierte eine Schublade mit Spinellen. Ein jeder, wie er Werner kannte, suchte die Schublade mit der größten Sorgfalt und langsam zu bewegen, damit keine Unordnung entstand. Keiner wagte, jemals mit der Hand in die Schublade hineinzulangen. Unglücklicherweise stieß einer unvorsichtig an die Schublade, während sie herumging. Sie neigte sich; die Kristalle wurden untereinander geworfen; es schien, als könnten sie sogar herausgeworfen werden. Es war ein ängstlicher Auftritt. Man weiß, wie großen Wert selbst die kleinsten Exemplare haben können, wie mühsam, ja fast unmöglich es ist, alle Kristalle, wenn sie auf dem Boden zerstreut liegen, sich zwischen den Ritzen der Dielen versteckt haben, vollständig wieder aufzufinden. Werner erblaßte, schwieg. Das Unglück war nicht geschehen. Die Zuhörer schoben sorgfältig die Schublade von sich, daß sie sicher in der Mitte des Tisches stehenblieb, und wir saßen da, wohl eine halbe Viertelstunde ängstlich harrend, bevor Werner sich so erholt hatte, daß er sprechen konnte. »Nehmen Sie es mir nicht übel«, sagte er, »daß ich so erschrocken bin; der Verlust, der entstehen konnte, wäre unersetzlich.« Er erzählte uns nun, wie einige Jahre früher eine Schublade mit Edelsteinen wirklich bei einer solchen Gelegenheit umgeworfen ward, wie die Zuhörer unbescheiden genug waren, dazubleiben, um bei dem Aufsuchen der kleinen Kristalle behilflich zu sein. Bekanntlich war Werner der erste, der dartat, daß der Rubin und Saphir zu einer Gattung gehörten. »Ich besaß«, erzählte er uns nun, »einen dreifarbigen Saphir, der oben weiß, in der Mitte rubinrot, unten indigoblau war. Es war das einzige Exemplar in der Welt. Das Stück war groß, ist aber bei dieser Gelegenheit verschwunden, und wenn Sie es irgendwo entdecken, so können Sie Beschlag darauf legen, denn es ist bestimmt das mir geraubte Exemplar.« Die Vorlesung ward abgebrochen. Werner blieb ein paar Tage unsichtbar; er konnte sich von dem Schrecken nur langsam wieder erholen.
Werners großes Hauptverdienst um die Oryktognosie beruhte vorzüglich auf der scharfen Auffassung der zartesten Unterschiede. In seinem ganzen Wesen drückte sich eine mit Ängstlichkeit gepaarte Bestimmtheit aus, mit welcher er sie erkannte und darstellte. Eine jede Unklarheit beunruhigte ihn. Er zwang seine Zuhörer fast, die unmerklichsten Nuancen in den Farbenmischungen der Fossilien mit möglichster Entschiedenheit zu erkennen. Alle Kennzeichen derselben waren höchst genau klassifiziert, und eine jede Abweichung von der durch ihn streng bestimmten Ordnung, ein jedes schwankende Auffassen ängstigte, ja verletzte ihn. Obgleich er zur Bestimmung der Kristalle keine mathematische Formeln benutzte, waren seine Beschreibungen derselben dennoch zu seiner Zeit durch die einfachsten Mittel die genauesten und klarsten. Die kristallinische Struktur der Fossilien ward von ihm zuerst erkannt, und die Zahl der Durchgänge der Blätter, wie er sie nannte, und ihre Stellung gegeneinander enthielt schon den Keim der Ansicht von einer bestimmten Grundform sämtlicher Kristallisationen eigentümlicher Gattungen, die später so wichtig ward.
In der Oryktognosie konnte Werner einen jeden Schritt seiner Schüler verfolgen, eine jede Unbestimmtheit und Unklarheit tadelnd hervorheben und seinen Schülern zu der Sicherheit Anleitung geben, die ihm selber eigen war. In der GeognosieAlter Ausdruck für den Teil der Geologie, der sich mit dem Aufbau der Erdkruste, den Formationen und ihrer Verbreitung beschäftigt. hingegen mußte er diese sich mehr selbst überlassen. Aber, wer nach seiner Anleitung eine Gebirgsreise antrat, erhielt ein äußerst genaues Schema, nach welchem er alle Beobachtungen anstellen mußte. Eine jede, auch die geringste Abweichung, eine jede Vernachlässigung irgendeines Teils der Vorschriften wurde streng getadelt. Wollte man von seinem Unterricht irgendeinen Nutzen haben, so mußte man sich ihm ganz und unbedingt hingeben; denn das Ganze war so innerlich ineinander verkettet, die verschiedenen Richtungen der Bestimmung in der Oryktognosie, der Beobachtung in der Geognosie waren so eng miteinander verbunden, daß die Verrückung irgendeiner alle anderen unsicher und schwankend machte. Eine zweite, auf eine solche Weise sicher in sich abgeschlossene Persönlichkeit habe ich vor und nach ihm nie kennengelernt. Und in der Tat, eben darauf beruhte die unbedingte Herrschaft, die er in seiner Wissenschaft ausübte und die er erst in seinen letzten Jahren, gewiß nicht ohne Schmerzen, schwanken sah.
Werner hatte mich sehr freundlich aufgenommen, und ich gewann immer mehr seine Zuneigung, obgleich ich in meiner genannten ersten Schrift hier und da von seiner Ansicht abwich. Er sah wohl ein, wie wenig schwache und abstrakte Einwürfe der Art ein so fest in sich geschlossenes Gebäude, wie das seinige, zu treffen oder zu erschüttern vermochten. – Charpentier war Werners Gegner. Obgleich Werner sich auch mit den praktischen Teilen des Bergbaues beschäftigte, so war und blieb doch die Mineralogie sein eigentliches Hauptfach. Charpentier hingegen war schon durch seine Stellung als Berghauptmann sowie durch frühere Beschäftigung und Neigung vorzüglich praktischer Bergmann. Seine Verdienste in dieser Rücksicht sind allgemein bekannt. Er hatte das große vorzügliche Amalgamationswerk zu Halsbrück angelegt und im Hüttenwesen wie im Bergbau große Verbesserungen eingeführt. Doch liebte er auch besonders geognostische Untersuchungen, und seine Beobachtungen über das Vorkommen des Basalts in den großen Schneegruben des Riesengebirges, die vorzüglich die Aufmerksamkeit der Geognosten auf diese Erscheinung hinlenkten, sind bekannt. Sie erschienen zwar erst einige Jahre nachher, nachdem ich Freiberg verlassen hatte, waren aber viele Jahre früher angestellt, und seine Ansicht über dieses seltene Vorkommen war schon bekannt. Im ganzen war er kein Freund einer entschiedenen, alle geognostische Erfahrungen unter einem Gesichtspunkt zusammenfassenden Theorie; er hielt dafür, daß die geognostischen Beobachtungen noch nicht den Grad der Reife erhalten hätten, der uns zur Aufstellung einer solchen Theorie berechtigte. Er war geneigt, große Gasexpansionen im Innern der Erde anzunehmen und diesen einen bedeutenden Einfluß auf die Bildung der Gebirgsmassen zuzuschreiben, während Werner alles aus mechanischen und chemischen Niederschlägen und aus mächtigen Fluten zu erklären suchte. So standen diese Männer sich wissenschaftlich als Gegner gegenüber; sie sahen sich wahrscheinlich nur, wenn sie in Geschäften zusammenkamen. Einige Äußerungen in meiner kleinen Schrift stimmten mit Charpentiers Ansicht überein und hatten seinen Beifall gefunden; so fand ich ebenfalls in seinem Hause und in seiner Familie eine günstige Aufnahme. Diese war sehr ausgezeichnet durch Geist sowie durch Talente und allseitige Bildung. Eine Tochter war mit dem General Thielemann verheiratet, einem der fähigsten und tüchtigsten Offiziere der sächsischen Armee; eine zweite war die Gemahlin des Dr. Reinhard, der als gelehrter Theologe, als berühmter Kanzelredner, als Oberhaupt der protestantischen Kirche in Sachsen großes Ansehen und im ganzen Lande eine allgemeine Verehrung genoß. Diese verdienten Männer lernte ich gar nicht kennen, aber die Frauen, die sich ihrer Stellung bewußt waren und mit freundlicher Würde erschienen, besuchten öfters ihre Eltern. Eine dritte unverheiratete, Karoline, war durch ihre mannigfaltigen Kenntnisse, durch ihre Talente und reifes Urteil ausgezeichnet. Sie war eine sehr gewandte Klavierspielerin. Die jüngste Tochter, Julie, schön, weich, mit einem wehmütigen Ausdruck, zog mich vorzüglich an, denn sie war die Braut Hardenbergs (Novalis). Ich sehnte mich nach der Bekanntschaft dieses merkwürdigen originellen Dichters, dessen ätherisch-phantastisches Wesen und tiefe blitzähnliche Äußerungen mir merkwürdig vorkamen und mich anzogen. Eine Familie, in welcher, durch feine Sitte veredelt, soviel geistig Anregendes mir entgegenkam, hatte ich bis jetzt noch nicht kennengelernt, und eine Aufforderung, in ihrer Mitte zu erscheinen, die oft an uns erging, war uns jedesmal höchst angenehm, denn auch mein Freund Möller wurde gern in dem gastfreien Hause gesehen.
Wenn nun Charpentier und Werner uns die bedeutendsten Männer waren, so erweiterte sich doch zugleich auch unser Umgang mit den vorzüglichsten Männern des Auslandes, die durch Werners großen Ruf hierher gezogen waren. Das Leben in Freiberg hatte nun für mich durch die neue Welt, die sich mir aufschloß, einen großen Reiz. Wir verschafften uns ein Bergmannshabit, in welchem wir fleißig die Gruben befuhren. Werner hatte uns geraten, mit »Himmelfahrt samt Abraham«, jener Grube, deren knarrendes Gestänge und melancholisches Glockengeläut uns bei unserer ersten Ankunft nach Freiberg so trübe stimmte, deswegen den Anfang zu machen, weil die Gangverhältnisse dort die einfachsten waren. Wir fuhren ein paarmal wöchentlich an, und die Grubenwelt ergriff mich tief. Die unterirdische Welt, die dunkle Nacht in den Stollen und Gezeugstrecken hatten für mich etwas unbeschreiblich Anziehendes. Allerdings kostete es uns nicht geringe Mühe, in der Dunkelheit, von den Grubenlampen spärlich erleuchtet, die Gangmasse und die Fossilien, aus welcher sie zusammengesetzt war, durch Feuchtigkeit und Schmutz bedeckt, zu unterscheiden. Schwieriger noch war es uns, ja im Anfange schien es fast unmöglich, die Richtung der Gänge, in denen wir uns durch den Kompaß orientierten, zu verfolgen und es uns klarzumachen, wie sie sich durchkreuzten, scharten und schleppten. Wenn wir die senkrechte Leiter herunterstiegen, wenn das Blau des Himmels durch die Öffnung allmählich verschwand, wenn das große Rad, durch welches das Tageswasser in Bewegung gesetzt wurde, in dem engen Felsenraum neben uns seinen Umschwung machte, das Anschlagen der Glocke einen jeden Umschwung bezeichnete, während um uns herum und über uns die Tropfen still rauschend, unablässig herunterfielen, so war uns im Anfang seltsam und wunderlich zumut. Nach und nach fingen wir nun auch an, die entfernteren Gruben zu befahren, – »Beschert Glück«, »Himmelsfürst«, »Kurprinz«, mit ihren reichen Erzen. Der Fremde, der die Akademie besuchte, erhielt unmittelbar von dem Kurfürsten die Erlaubnis, alle Gruben im Erzgebirge, mit Ausnahme der Arsenik- und Kobaltgruben in Annaberg und Schneeberg, zu befahren. Gewaltig ward meine Phantasie angeregt, als ich nun nach und nach den großen Umfang und den mächtigen, weltumfassenden inneren Zusammenhang der unterirdischen Werke, die, viele Meilen einnehmend, Freiberg umgaben, überschaute. Seit fünfhundert Jahren war das Innere des Gebirges allenthalben durchwühlt, die mannigfaltigen Gänge, die in allen Richtungen das Gebirge durchzogen, aufgeschlossen, nicht wenige völlig abgebaut. Die Schächte führten senkrecht oder sich mehr oder weniger neigend auf die mannigfaltigsten Punkte in die Tiefe. Seitwärts von den Schächten drang man in die Gangmasse hinein und baute sie über und unter sich ab. In bestimmten Tiefen von gleichem Niveau wurden die verschiedenen Gruben durch die horizontal laufenden Stollen, die zu Tage ausliefen, miteinander in Verbindung gebracht. Mit einer kleinen Neigung angelegt, dienen sie dazu, das Tageswasser aus den Gruben zu führen, die Erze auf eine leichtere Weise als durch die Schachtöffnung herauszubringen und einen frischen Luftwechsel hervorzurufen. Je tiefer diese Stollenverbindung stattfindet, desto vorteilhafter ist sie.
Ich habe diese allgemein bekannten Verhältnisse deswegen hier erwähnt, weil sie mächtig auf meine Phantasie wirkten. Wenn Tausende von Jahren verschwunden sind, was würde unsere Zeit hinterlassen? fragte ich, was verglichen werden könnte mit den Riesenwerken vergangener Geschlechter, mit den Resten der Zyklopenbaue, mit Susa und Palmyra, mit den griechischen und römischen Ruinen, Wegen und Wasserleitungen? Unsere leichtgebauten Städte würden kaum eine Spur hinterlassen, unsere Paläste zusammenstürzen, unsere größten Fabriken, wandelbar wie die Unternehmungen, die sie hervorriefen, würden schnell verschwinden. Hier und da würden die Mauern einer Kirche des Mittelalters die Sage von einer herrlichen Baukunst unterhalten, alles übrige, was die neuere Zeit leistete, wird in die unübersehbare Masse des Geschriebenen und Gedruckten hineintauchen, ja aus diesem Abgrunde ebenso trübe hervorblicken wie die Sagen und Mythen der Vorwelt aus der bloßen mündlichen Tradition. Wenn nun ein Forscher auf den öden Stätten früher blühender Staaten forschend herumwandelt, wenn irgendein Zufall den Zutritt zu einem tiefen Stollen eröffnet, wenn kühne Männer den Mut haben, immer tiefer und tiefer hineinzudringen, wenn Öffnungen von verschiedenen Richtungen her den Zutritt erlauben, so daß der große Zusammenhang der unterirdischen Werke, wenn auch sich nicht unmittelbar verfolgen, so doch erkennen läßt: dann werden ihm unterirdische Baue, riesenhaft wie die alten, entgegentreten, und es schien mir, als hätte durch den mächtigen Bergbau unsere Zeit allein ein Monument gewaltiger Art hinterlassen, welches sich mit den Resten einer großen Vergangenheit messen könnte. Je genauer nun ich den Freiberger Bergbau kennenlernte, desto wichtiger ward mir der ganze Zusammenhang des Bergwesens. Der Bergbau hatte den Mineralogen mit den wichtigsten Erfahrungen bereichert, während er doch eigentlich bestimmt war, mächtig in die Verhältnisse des Staates einzugreifen. Die Bergleute selbst interessierten mich nicht weniger als die Nützlichkeit und staatswirtschaftliche Bedeutung ihrer Arbeit. Mit großer Teilnahme besuchte ich ihre Hütten. Es ist ein gutmütiges, friedliches Völkchen, aber freilich von einer unterirdischen Phantasie, von irgend etwas Dichterischem, was ihrem mühsamen Geschäft eine höhere Bedeutung geben könnte, spürte ich nur wenig. Die drückende Armut, die unaufhörliche Sorge für die nächste Zukunft erlaubt weder der Lust noch dem Schmerz, weder der Hoffnung noch der Furcht, sich dichterisch heiter oder trübe zu gestalten.
Ich hatte bei Köhler ein Privatissimum über die Administration des Bergwesens und über den Bergbau selber, insofern er mir wichtig war, angenommen. Er fügte sich meinem Wunsche, als ich ihn ersuchte, mir die jetzt herrschende Administration in ihrer geschichtlichen Entstehung vorzutragen. In dieser Rücksicht ist eben die Organisation des sächsischen Bergwesens höchst merkwürdig. Sie hat sich naturgemäß und ruhig entwickelt, so wie das Bedürfnis allmählich stieg. Es war das erstemal, daß ich mit klarer Übersicht die Geschichte eines bestimmten praktischen Gegenstandes verfolgte, und diese freiwillige Beschränkung auf einen ganz in sich abgeschlossenen Gegenstand schien mir unerwartete Aufschlüsse auch über andere Richtungen der Entwicklung des Geschlechts zu versprechen. Aber das Resultat dieser Geschichte des Bergwesens hinterließ einen trüben, ja tragischen Eindruck. Im dreizehnten Jahrhundert fing der Bergbau an. Sagen von dem unermeßlichen Reichtum an gediegenem Metall und edlen Erzen bilden den Vorgrund dieser Geschichte. In den offenen Spalten der Gebirge haben die ältesten Massen, die sich bildeten, die Wände auf beiden Seiten überzogen. Spätere Bildungen riefen einen neuen Überzug hervor, und je öfter diese Bildungen sich wiederholten, die oft ganz verschiedene Massen waren, desto mehr verengerten sich die Spalten. So haben sich in der geognostischen Urzeit die Gangmassen, wie Werner glaubte, von oben gefüllt. Meist aber blieb ein enger Raum in der sogenannten oberen Teufe wohl längere Zeit unangefüllt. Chemische Verwandlungen der alten Gangmassen, die diesen Raum umschlossen, fanden nun hier statt. Die Kristalle ragten von den Wänden in die Höhle hinein; jene wurden durch neue Produkte überzogen; verschiedene Erze und Fossilien entstanden allmählich hier, und es ist höchst interessant, die Anhäufung dieser Bildungen zu verfolgen. Nicht allein in den Gängen selbst, sondern auch in den einzelnen Handstücken der Museen kann man den mannigfaltigsten Wechsel der Prozesse, die Richtung, in welcher die kristallinischen Niederschläge sich abgesetzt haben, und die Verschränkung der mannigfaltigen Bildungen untereinander erkennen. Hier schoß nun das gediegene Silber in zarten, verschlungenen Haaren, zackenartig, baumförmig, oft in dicken derben Massen an. Hier bildeten sich die edelsten Erze, dem Bergmann ohne viele Mühe zugänglich, und so, daß sie durch die einfachsten, wenig kostspieligen Hüttenprozesse in reiner Metallform gewonnen werden konnten. Dieser Reichtum der oberen Teufe war verschwunden. Mit immer wachsender Anstrengung, mit immer größeren Kosten wurde das unedlere, schwerer zu behandelnde Erz gewonnen; und so wuchs mit der Armut des Gebirges Anstrengung und Aufwand immer mehr. Ich hörte nun von Zubuße, wiedererstattetem VerlagWieder herausgekommenen Auflagen. und wenig von wahrem Gewinn reden. Die Zubuße wuchs, der wiedererstattende Verlag ward seltener, und reinen Gewinn brachten nur wenige Gruben. Es war mir rührend und zugleich schmerzlich, wenn ich sah, wie man den geringsten Schimmer von Hoffnung bei irgendeinem neuen Bau leidenschaftlich ergriff. Ich erinnere mich nie während meines Aufenthaltes, daß sie erfüllt wurde. Ich kenne die gegenwärtige Lage des sächsischen Bergbaues nicht. Ich denke mir, daß die so schnell heranwachsende Gewerbtätigkeit des Erzgebirges auf eine wohltätige Weise dem im ganzen wenig lohnenden Bergbau immer mehr und mehr Hände abziehen wird. Auf mich machte dieses fortdauernde Sinken des Bergbaues, und eben am meisten um Freiberg herum, einen höchst trüben Eindruck. Es gibt keinen drückenderen Anblick, als wenn, von mächtigen Halden umgeben, das taube Gestein um die Grubenmündungen, immer wachsende Hügel bildend, sich anhäuft. Nicht bloß die Wälder sind in der Gegend dieser Halden verschwunden, sie dulden in ihrer Nähe keine freudige Vegetation, selbst der Graswuchs ist kümmerlich; über die kahlen Höhen, die langgedehnt Flächen bilden, pfeift der Wind. Man sieht nichts als tote Halden und die einzeln stehenden traurigen Hütten, die schuppenähnlich über den Gruben aufgebaut sind.
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Es war gegen Ende August, als wir auf Mietpferden durch den Grillenburger Wald ritten, um über Tharandt Dresden zu erreichen. Der Abend näherte sich, wir dachten in Tharandt zu übernachten. Als wir das Dorf Hartha erreicht hatten, sahen wir mehrere Wege vor uns. Möller, der immer tiefer von der Philosophie ergriffen wurde, hatte ein Gespräch über Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft angefangen. Seine Äußerungen waren jederzeit bedeutend und geistreich. Wir achteten nicht auf den Weg und verfolgten instinktmäßig den breitesten. Das Dorf lag hinter uns; wir waren im tiefen Gespräch versunken. Die Dunkelheit nahm zu; wir ritten im langsamen Schritt und merkten jetzt erst, als es fast völlig dunkel war, daß wir uns verirrt hatten und auf einen Holzweg geraten waren. Wir versuchten umzukehren, einen breiteren Weg aufzusuchen, und nachdem wir lange hin und her geritten, entdeckten wir eine einsame Wohnung, auf einem offenen Platz im Walde liegend, wahrscheinlich zu Hinter-Gersdorf gehörend. Es kostete uns Mühe, die Leute aufzuwecken, die in ihrem Schlafe gestört, sich polternd vernehmen ließen. Es gelang uns zuletzt, einen der Einwohner zu bewegen, uns den Weg nach Tharandt zu zeigen. Mit einer Laterne schritt er vor uns her, quer durch den Wald, über unwegsame Holzstraßen, und es verging wohl eine volle Stunde, ehe wir in das Weißeritztal hinabkamen. »Sie können sich hier nicht irren«, sagte unser Begleiter, »reiten Sie über den Fluß, auf der anderen Seite führt der Weg nach Tharandt. In weniger als einer Viertelstunde werden Sie dasein.« – Wir aber, die wir die Lage von Tharandt nicht kannten, verfolgten einen breiten Weg, der aus dem Tal führte, und verirrten uns zum zweiten Male. Wir kamen tief in der Nacht nach Höckendorf, wo wir, damit die müden Pferde sich erholen konnten, zwar abstiegen, uns aber scheuten, das Lager zwischen einer Menge von Fuhrleuten einzunehmen. Den Tag darauf erreichten wir Tharandt und eilten nach Dresden. So von Nachtwachen erschöpft, dennoch von der anmutigen Gegend zwischen Tharandt und Dresden, von der Stadt selbst, die von der Morgensonne beleuchtet war, entzückt, nachdem wir uns gestärkt, mehr Wein als gewöhnlich des Vormittags getrunken hatten, eilten wir nach der Galerie.
Die hohen Säle, dicht mit Gemälden besetzt, hatten etwas Imposantes; die Fremden, teils einzeln, teils in Gruppen verteilt, bewegten sich still und feierlich in den weiten Räumen. Da ich eine übertriebene Vorstellung von einem jeden Gemälde hatte, welches Kunstwert genug besaß, um in einer so berühmten Galerie aufgenommen zu werden, so überraschte mich die Menge derselben fast. Der alte Riedel führte uns herum, und wir sollten nun seine Belehrung mit Aufmerksamkeit verfolgen. Wir hatten nicht bedacht, daß zur stillen Betrachtung der Gemälde eine innere Ruhe und Nüchternheit gehört, die wir nun gar nicht besaßen. Für mich schwankten und bewegten die bunten Bilder sich untereinander; ebenso chaotisch und verworren mischten sich die Namen der Maler, die ich, obgleich sie mir wohl zum Teil bekannt waren, doch meistenteils zum erstenmal nennen hörte. Wir hatten schon eine für mich unendlich lange Zeit in der äußeren, mit den Reichtümern der niederländischen Schule besetzten Galerie zugebracht und traten in die innere, wo die Bilder der italienischen Schule hingen. Hier war es nun, wo ich erwartete, und zwar seit meiner frühen Jugend, die großen Kunstgegenstände zu sehen, die durch den Ruhm von Jahrhunderten verherrlicht waren. Mit der Poesie war ich seit meiner frühesten Kindheit vertraut; was der Dichter darzustellen sucht, war mir innerlich gegeben, und die Mittel der Darstellung, selbst wenn diese die vorzüglichste war, selbst wenn sie mir unerreichbar schien, waren mir nicht fremd. Hier aber sollte sich eine neue Welt für mich aufschließen durch einen neuen Sinn, den ich mir kaum zutraute. Diese Vorstellungen bewegten sich dunkel und verworren vor meiner Seele, ohne daß ich sie festzuhalten oder zu ordnen vermochte. Furchtbar schläfrig und ermüdet, suchte ich mich gewaltsam zusammenzufassen, aber es gelang mir nicht. Die Gestalten der Bilder schwebten mir halb wie Visionen vor, schienen sich zu bewegen, aus dem Rahmen zu treten, sich mit den Fremden, die hin und her gingen, zu vermischen. Dazwischen tönte mir die einförmige Belehrung des Begleiters, die ich mir merken sollte, seltsam in die Ohren. Ein ängstliches Bewußtsein, daß dieser wunderliche Zustand einem jeden, der mich sah, in die Augen fallen müßte, quälte mich, und in dieser Lage brachte ich eine Zeit zu, die mir unendlich dünkte. Da traten wir vor ein großes Bild. Es stand unten, war uns also näher gerückt, denn es wurde kopiert. Eine weibliche Gestalt schwebte aus den Wolken hervor und trug ein wunderbares Kind. Der Moment überraschte mich, die seltsame Spannung, in der ich war, hatte den höchsten Gipfel erreicht, ich vergaß, wo ich war. Ein tiefes Gefühl durchdrang mich, und ich brach in Tränen aus, die unaufhaltsam flossen. Der alte Riedel war überrascht; es war, als wenn dieses gewaltsam hervorbrechende Gefühl mich plötzlich aus diesem traumähnlichen Zustande herausriß und mir das volle Bewußtsein wiedergab. Ich blickte um mich, ich sah, wie ich Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden war, ich suchte mich zu fassen und erfuhr nun, daß das Bild, welches mich so heftig in Bewegung gesetzt hatte, das berühmteste der Galerie, daß es Raffaels Madonna war.
Der Durchgang durch die Galerie war nun fast zu Ende, und ich dankte Gott, als wir wieder auf der Straße waren. Halb taumelnd erreichten wir das Gasthaus; ich hörte kaum Möllers Vorwürfe und versank in einen tiefen Schlaf. Die bunten Bilder beunruhigten mich noch im Schlafe; aber über alle herrschte, wie eine göttliche Erscheinung, die Madonna. Als ich durch den Schlaf gestärkt wieder erwachte, war ich vollkommen nüchtern, und eine dunkle Erinnerung von allem, was ich in der Nacht und in der Galerie erlebt hatte, ängstigte und quälte mich.
Es ist bekannt, daß mit der wiedererwachten tieferen Poesie auch die katholische Religion eine eigene und tiefere Bedeutung erhalten hat. Das Mittelalter mit seiner Kraft ward hervorgehoben und wohl auch höhergestellt als eine Zeit, die, berufen zu großen, mächtigen Taten, diesen gegenüber selbst ohnmächtig, sich in leeren Abstraktionen verlor, in wenigen oberflächlichen Begriffen, die, an die Stelle eines mächtigen reichen Naturgrundes getreten, Staaten wie Wissenschaften aus sich heraus entwickeln und gestalten sollten. Mir selbst war diese Bewegung der Zeit keineswegs fremd. Auch mir erschien diese Zeit der großen Kämpfe, der herrlichen Gesänge, der tiefen Andacht bewunderungswürdig, und neben der Armut der Gegenwart überschwenglich reich. Besonders wurde die Madonna als die göttliche Frau mit aller Illusion der Dichtkunst verehrt, und nachdem Tieck, August Wilhelm Schlegel und Novalis ihr die poetische Weihe erteilt hatten, sah man alle jungen Dichter vor dem Altar der Madonna knien. Diese Zeit entwickelte sich zwar in der ganzen Übertreibung erst später, aber sie keimte schon damals, und ich konnte mich wohl in dem Sinne der überschwenglichen Jugend als einen Geweihten betrachten, dem die Madonna erschienen war.
Indessen wuchs der Umfang der neuen Richtung, die sich nach allen Seiten ausbreitete und alle Momente der Wissenschaften wie der Poesie in Anspruch nahm. Der Unterschied zwischen der antiken und modernen, zwischen der klassischen und romantischen Zeit, der immer entschiedener bei Beurteilung der Werke der alten und neuen Zeit zugrunde gelegt wurde, der in unsern Tagen selbst eine europäische Bedeutung erhalten hat, wie er durch Friedrich Schlegel in seiner Schrift »Die Poesie der Griechen und Römer« zuerst umfangreich und bedeutend ausgesprochen wurde, ward immer herrschender und fing an, sich als eine geschichtliche Anschauung auszubilden. In dieser Unterscheidung zweier großer geschichtlicher Epochen, in dem Sinne für die Eigentümlichkeit beider lag ein Reichtum von Anschauungen und damit gegebenen Bestimmungen, die seit der Zeit klarer oder dunkler sich, man möchte sagen, bei einem jeden, der sich mit diesem Gegenstand beschäftigte, zu entwickeln anfingen. Für mich konzentrierte sich dieser Unterschied gleich anfänglich durch das überwiegende Moment der Persönlichkeit als solcher in der modernen Poesie, und wichtig für meine innere Gesinnung ward schon damals diese Ansicht dadurch, daß ich sie als eine Folge des Christentums betrachtete, daß der Grund gelegt wurde zu einer Betrachtungsweise der Geschichte, die bestimmt war, mein ganzes Leben in Anspruch zu nehmen und ihren Einfluß auch auf die Art, wie ich die Natur auffaßte, zu äußern.
Sie mußte um so erfolgreicher erscheinen, je lebendiger das Interesse für die Poesie des Mittelalters wuchs, je weiter sie zurückging. Zu den großen Verdiensten, die sich Tieck erworben hat, gehört nun auch dieses, daß er es vorzüglich war, der die allgemeine Aufmerksamkeit der Zeit auf die Dichterwerke der ältesten germanischen Vergangenheit hinlenkte. Es ist bekannt, welches große Aufsehen Goethes Abhandlung »Über deutsche Art und Kunst«»Von deutscher Baukunst, von Goethe« erschien in: »Von Deutscher Art und Kunst, Einige fliegende Blätter. Hamburg, 1773« – und war die Programmschrift für die Kunstauffassung des Sturms und Drangs. erregte, indem er den Straßburger Münster zuerst von dem verdeckenden Schutt, der ihn für das verblendete Auge verbarg, befreite und dem besseren erwachten Sinne vorführte. Dieser Aufsatz und »Götz von Berlichingen« hatten freilich zuerst das Geschlecht aus der beschränkten Selbstgenügsamkeit herausgerissen und nach einer Welt tiefsinniger Kunst und mächtiger persönlicher Kraft einer vergangenen Zeit, die man geringschätzen zu können und für immer beseitigt glaubte, auf eine nie mehr abzuweisende Art hingelenkt. Aber dieser Versuch stand noch immer vereinzelt da, als ein Fremdes, mit welchem man nichts anzufangen wußte. Seit BodmerJohann Jakob Bodmer, 1698-1783, der deutschschweizerische Dichter und Kritiker, hatte durch seine Ausgabe von »Chriemhildens Rache und die Klage«, Zürich 1757, die Aufmerksamkeit auf das Nibelungenlied hingelenkt. hatte man das Nibelungenlied und wohl auch andere Werke der ältesten deutschen Poesie zum Gegenstand gelehrter Untersuchungen gemacht, aber ein allgemeineres geistiges Interesse ward dadurch nicht erweckt und der lebendige Sinn für diese Dichtungen nicht aufgeschlossen. Mit Tieck war ich noch nicht in genauere persönliche Verbindung getreten; über diesen Gegenstand hatte er sich noch nicht öffentlich vernehmen lassen; aber dennoch ging von ihm schon damals, von seinen lehrreichen persönlichen Mitteilungen das lebhafte Interesse aus, welches immer mächtiger um sich griff. Ich hörte nun von einer alten mächtigen Dichtkunst reden, von einem Epos, dessen hohe tragische Bedeutung und künstlerischer Wert sich neben die Produkte der klassischen Zeit stellen dürfe; ich hörte von Parzival reden und von den tiefen religiösen Mysterien, die im Titurel verborgen lägen. Mir war seltsam zumute, als diese mir so unbekannte Welt mir entgegentrat, als ich vernahm, daß die ältesten und bedeutendsten Klänge germanischer Dichtkunst nach meinem Vaterlande hinwiesen und ihre Verwandtschaft mit den alten skandinavischen Götter- und Heldensagen nicht verleugnen könnten. Was ich erfuhr, war freilich nur fragmentarisch. In einer ganz anderen Richtung mit Anstrengung beschäftigt, stand diese Welt mir noch fern, aber sie näherte sich mir, wenn auch nur aus der Ferne. Es war ein Ereignis, welches aus dem Leben um mich her hervortrat, den Gesichtskreis des ganzen geistigen Daseins erweiterte, und was ich, wenn auch nur gesprächsweise und durch jugendliche Mitgenossen unvollständig genug erfuhr, lag wie ein reicher Schatz vor mir, der in irgendeiner Zukunft gewonnen werden sollte und auch jetzt unvermeidlich einen großen Einfluß auf die Gegenstände ausübte, die ich mit aller Kraft geistig zu beherrschen suchte, ohne daß sie, selbst in der größten Einzelheit behandelt, mich aus der allgemeinen Einheit des ganzen Daseins herauszureißen vermochten.
Und während nun so Poesie und Kunst immer reicher und mächtiger sich an mich herandrängten, während selbst Bonapartes Rückkunft aus Ägypten, sein Sieg bei Marengo, seine Macht, die sich in Paris immer mehr ausbildete, in der lebendigen Gegenwart mir eine gewaltige Persönlichkeit naherückte, die aus der verworrenen Gärung der Zeit, den merkwürdigsten, den mächtigsten der Vergangenheit vergleichbar, sich hervorhob, erlebte ich auch in dem engen Kreise des geistigen Bündnisses manches, was mich tief bewegte. Es ward mir immer klarer, daß ein innerer Zwiespalt die Männer trennte, die ursprünglich so eng verbunden waren. Ja diese Trennung leuchtete mir am klarsten ein in der Zeit, wo man das Bündnis nach außen noch als ein festes betrachten konnte. Ich lernte jetzt erst Tiecks Originalität genauer kennen. Ich las seinen Abdallah und William Lowell. Die finstere Ansicht des Lebens, die in diesen beiden Schriften herrscht, zog mich wechselweise an und stieß mich zurück. Obgleich die letzte Schrift besonders die steigende Verwirrung eines immer mehr in sich zerrissenen Gemütes mit ermüdender Breite darstellt, so überraschte mich dennoch die Naturtiefe des Schmerzes, die hier laut ward und in immer wechselnden Variationen einen nächtlichen Abgrund des Daseins schaudervoll eröffnete. Und diese Schriften verfaßte Tieck, als er zweiundzwanzig Jahre alt war. Es war eine neue tragische Gestalt, die hier zum erstenmal hervortrat und in immer erneuerter Darstellung seitdem die Poesie bis in unsere Tage beherrscht hat. Die schmerzhaften Töne, die durch Tieck aus den dunkelsten Tiefen des Gemütes hervorbrachen, hat keiner wie er anzuschlagen gewußt. In Golo in Tiecks Genoveva»Leben und Tod der heiligen Genoveva«, 1799, eine Nachbildung des alten Volksbuches. erkannte ich Abdallah und William Lowell wieder. Durch HoffmannErnst Theodor Amadeus Hoffmann, 1776-1822. ward diese Gestalt schon verzerrt; das Barocke trat an die Stelle des wahren Schmerzes; diese Verzerrung wanderte über die Grenze nach Frankreich und bildete sich dort durch Dichter, die sich Romantiker nannten und in neueren Zeiten mehrere Jahre hindurch von da aus wiederum nach Deutschland zurückwirkten, zur wahren abschreckenden Karikatur aus. Ich erkannte es wohl, daß in der inneren Verfinsterung des Gemütes, wie sie von Tieck aufgefaßt wurde, eine Art Naturfatalismus vorherrscht: aber die leicht bewegliche phantastische Art, mit welcher er sein Thema behandelte, verbarg wenigstens die unüberwindliche Naturbestimmtheit, die in den späteren Darstellungen das Prinzip der sittlichen Freiheit vernichtete. Man sah, wie diese tragischen Personen sich einem träumerischen Wahne, der sie verlockte, willenlos hingaben. Besonders ergriff mich das Märchen von Tieck »Der blonde Ekbert«. Eine Zaubermusik scheint diese leicht beflügelte Darstellung melodisch lockend zu begleiten, bis sie, in Wahnsinn verkehrt, verklingt. Ich kann es nicht leugnen, daß diese Richtung der Tieckschen Poesie ein fast gefährlicher Moment meines Daseins geworden ist und doch zugleich mehr als irgendeine andere dazu gedient hat, mich vor der Tiefe der menschlichen sittlichen Verirrung warnend abzuschrecken. Tage und Nächte verlebte ich, von grauenhaften Träumen verfolgt. Ich habe es nie dahin gebracht, was auf eine solche Weise mit fast frevelhaftem Grauen in das Innerste des Gemütes hineinwühlte, wie später Tiecks Liebeszauber, mit künstlerischer Gleichgültigkeit und ruhiger Objektivität betrachten zu können. Denn eine ähnliche dunkle Verlockung ruhte in meinem Innersten, und die dämonischen Kräfte, die sich hinter Übermut und Leichtsinn verbargen, traten lockend hervor, waren nur durch anstrengende wiederholte Arbeit zu verscheuchen. Meine glückliche Natur überwand freilich solche Momente, und eine Neigung, geistigen, ja systematischen Zusammenhang in meine Ansicht hineinzubilden, erwachte nach solchen trüben und träumerischen Stimmungen nur um desto stärker und frischer.
Das Leben in Freiberg bildete mit meinem Dresdener Aufenthalte einen merkwürdigen Gegensatz. Dort verstummte Kunst und Poesie, die bestimmten Gegenstände, die mich beschäftigten, riefen in allen Richtungen ein bestimmtes Denken hervor. Nicht bloß mit Mineralogie und Bergwesen beschäftigte ich mich hier. Die wichtige Entdeckung der Voltaschen Säule setzte alle Physiker in Bewegung. Ich hatte eine nicht unbedeutende Summe aus Dänemark erhalten; ich setzte sie in Laubtaler um, und konnte schon eine ziemlich bedeutende Säule aufbauen.
Ich experimentierte vom Morgen bis zum Abend mit der Säule. Einige Entdeckungen, die jetzt freilich unbedeutend geworden sind, machten mir viele Freude. Das Ammoniak zerlegte ich durch die Säule zuerst; ja es ist mir jetzt recht seltsam, wenn ich in einer Geschichte der galvanischen Entdeckungen für die »Allgemeine Literatur-Zeitung« mich als den ersten genannt finde, der den Phosphor durch die Säule entzündete. Die Sache war neu und interessierte jedermann, nicht bloß die Physiker. Charpentier und Werner besuchten mich. Meine Stube war zu gewissen Stunden fast immer mit Neugierigen gefüllt. Auch Damen beehrten mich mit ihrem Besuche.
Ich lernte bei meinem Besuch in Jena Friedrich Schlegel kennen, der sich bei seinem Bruder aufhielt. Er war in jeder Rücksicht ein merkwürdiger Mann, schlank gebaut, seine Gesichtszüge regelmäßig schön und im höchsten Grade geistreich. Er hatte in seinem Äußeren etwas Ruhiges, fast Phlegmatisches. Wenn er tief sinnend in seinem Stuhle saß und einen Gedanken ausspann, pflegte er mit dem Daumen und Zeigefinger die Stirne zu umfassen, bewegte diese beiden Finger langsam gegeneinander bis zwischen die Augen, dann ebenso langsam über die schöne, zierlich geformte Nase, endlich je tiefer er in die Entwicklung des Gedankens fortschritt, die genannten Finger, jetzt vereinigt, über die Nasenspitze heraus, in einer langen geraden Linie in der Luft. Er sprach dabei langsam und bedächtig und konnte mich manchmal zur Verzweiflung bringen. Wenn ich nun mit Lebhaftigkeit auf und nieder schreitend seinen Gedankengang unterbrach, so blieb er ruhig sitzen. Später hat TieckDer Bruder des Dichters, der Maler Friedrich Tieck. eine Karikatur entworfen, wo Schlegel tief sinnend, die Finger in der Luft vor der Nase gehalten, vor sich hinschauend dasitzt, während ich, Hände und Füße heftig bewegend, die Nase in die Luft erhebe. Ich schloß mich bald sehr innig an Friedrich Schlegel an, obgleich ich jetzt schon fühlte, daß unsere Ansichten im Innersten verschieden waren, und doch vergaß ich es jeden Augenblick; denn es ist höchst merkwürdig, wie man in den abgeleiteten Resultaten, von den entgegengesetztesten Prinzipien ausgehend, zusammentreffen kann. Fr. Schlegel lebte ganz in der Geschichte. Die Natur war ihm völlig fremd, selbst der Sinn für schöne Gegenden schien den beiden Brüdern zu fehlen. Solche Beschränktheiten selbst der ausgezeichnetsten Männer hatten für mich von jeher etwas Auffallendes, ja Rätselhaftes. So fehlte Lessing wie W. von Humboldt bekanntlich der Sinn für Musik ganz und gar.
Es gab nicht leicht einen Menschen, der so anregend durch seine Persönlichkeit zu wirken vermochte wie Friedrich Schlegel. Er faßte einen jeden Gegenstand, der ihm mitgeteilt wurde, auf eine tiefe und bedeutende Weise auf. So konnte er zwar auch mit Leichtigkeit auf meine naturphilosophischen Ideen eingehen, aber alle seine Schriften beweisen, daß er von einer lebendigen Naturansicht nicht produktiv auszugehen vermochte. Sein Witz war unerschöpflich und treffend. Auch gehörte er zu denen, die den Witz zu schätzen wissen. In dieser Rücksicht war ihm ChamfortSébastien Roch Nicolas Chamfort, 1741-1794, französischer Dramatiker und Aphoristiker, ein tiefer, aber verdüsterter Geist; » Pensées, maximes, anecdotes«, Dresden 1803. sogar bedeutend.
Meine Ansichten über die Bedeutung des Witzes bildeten sich bei mir zwar erst nach Jahren aus, aber der Grund dazu ward vorzüglich durch den Wert gelegt, den Friedrich Schlegel dem Witze beimaß, sowohl in Schriften, als in Gesprächen. Ich machte später die Erfahrung, daß eben die scharfsinnigsten Männer zugleich die witzigsten waren; ja daß der tiefste Witz, der daher selten begriffen wird, eben derjenige ist, der aus dem tiefsten Scharfsinn entspringt. So waren Shakespeare, so unter den Männern, mit welchen ich lebte, Goethe, die Gebrüder Schlegel, Tieck, Schleiermacher, Wolf zugleich durch Scharfsinn und Witz ausgezeichnet. Und der Witz gab dem Scharfsinn, dieser jenem seine Bedeutung. Wer unterschied Zeiten und Verhältnisse schärfer und schneidender, als Talleyrand, und wer war witziger, als er?
Friedrich Schlegel nun konnte sich an einem jeden neuen bedeutenden Witze höchlich erfreuen, ja wenn dieser ihn selbst auch noch so verletzend traf. Der flache Witz war ihm im höchsten Grade zuwider. Und er sagte, daß man den Umfang und die Tiefe einer geistigen Persönlichkeit am sichersten beurteilen könne aus der Art des Witzes, die ihn zu ergötzen pflegte. Als einen solchen, der den historischen Schatz echter Witze vermehrte, nannte er unter anderen Kant in seiner Anthropologie. Und in der Tat nicht bloß in dieser Schrift, in der ganzen Methode seiner Philosophie ist der Witz vorherrschend. Man weiß, welche überwiegende Rolle der Sprachwitz der Synonyme in seinen scharfsinnigsten Unterscheidungen spielt.
Der Witz ist seiner Bedeutung nach durchaus poetisch. Daß die Poesie durch meine Freunde (um einen bekannten und oft wiederholten Ausdruck von Friedrich Schlegel zu benutzen) bis zur Religion getrieben, ja an die Stelle derselben gesetzt wurde, war mir nur zu einleuchtend. Daher die absolute Vornehmheit der Ironie.
Ich darf hier nicht vergessen, was ich in einer anderen Beziehung Friedrich Schlegel verdanke. Eine wissenschaftliche Richtung, die freilich von A. W. Schlegel ernsthafter verfolgt wurde, der ihr Gründer und Schöpfer genannt werden muß, trat mir doch zuerst durch den jüngeren Bruder anregend entgegen. Er machte mich auf Georg Forsters Übersetzung von Kalidasas Sakuntala aufmerksam. Diese Übersetzung ist zwar nur aus dem Englischen, aber die wunderlich neue, bunte, unendlich zarte, phantastische Welt, die erste Kunde von einer so reichen, geistigen Blüte, die sich in einem unbekannten Lande gebildet hatte und zugrunde gegangen war, ergriff mich mit wunderbarer Gewalt.
Es war eben in jener Zeit, als die Untersuchungen der Engländer in Kalkutta, besonders des William Jones,William Jones, 1746-94, einer der Begründer des Sanskritstudiums und der vergleichenden Sprachwissenschaft. anfingen, für die deutsche Literatur so äußerst wichtig zu werden, ja einen neuen bedeutenden Zweig derselben zu begründen.
Wirft man nun einen Blick auf den großen Umfang und inneren Reichtum der Bestrebungen der damaligen Zeit, so wird man gestehen müssen, daß kaum irgendein Jahrhundert großartiger anfing als das neunzehnte. Was früher bedeutend in einer ruhigen Entwicklung zu sein schien, konnte doch dem Einflusse des allgemeinen Umschwungs nicht entgehen. Geister, die in allen Wissenschaften ihren Gegenständen gegenüber eine freiere Richtung annahmen, traten in ein Bündnis; ja was sie geistig bildete, schien, aus einer Verabredung einander völlig unbekannter und fremder Persönlichkeiten entstanden, eine den Verbundenen selber verborgene Übereinkunft vorauszusetzen und auf ein gemeinschaftliches großes Ziel hinzuarbeiten.
In einer so reichen Zeit erschien Goethe erst recht in seiner tiefen Bedeutung. Der Dichter war allem, was sich entwickelte, zugleich verwandt. Wenn WolfDer berühmte Philologe Friedrich August Wolf, 1759-1824, Professor in Halle, seit 1807 in Berlin, vertrat in seinen » Prolegomena ad Homerum«, 1795, die Lehre, jedes Epos Homers stamme von mehreren Verfassern, die nacheinander daran tätig gewesen seien. in Halle eine neue freie Bahn in der Behandlung alter Schriftsteller brach und eine tiefere Kritik begründete: wenn er an das alte Epos der Griechen die Hand legte und den wunderbaren grauen Homer zerteilte, so schien der neue Dichter, der ein ganzes poetisches Leben aus der Tiefe hervorzog, mit der wärmsten Teilnahme sich an diese Untersuchungen anzuschließen. Wenn Gries sich mit den italienischen Dichtern, wenn A.W. Schlegel und Tieck sich mit Shakespeare und mit den spanischen Dichtern, besonders Cervantes und Calderon, beschäftigten, so unterstützten, so erweiterten sie nur Studien des allumfassenden Dichters. Wenn die Letztgenannten den tiefen Geist germanischer und skandinavischer Vorzeit immer anregender aufschlossen, so war Goethe derjenige, der diese Zeit zuerst in ihrer Eigentümlichkeit aufgefaßt hatte, und er verfolgte mit der Teilnahme eines verwandten Geistes den erweiterten Weg, der immer neue Schätze, die sie aus einer immer ferner liegenden Vergangenheit hervorhob, darbot. Aber auch Forschungen, deren Bedeutung den geschichtlich aufgeregten Geistern verborgen waren, beschäftigten ihn schon früher. Er gehörte, wie der Dichterwelt, so den Geistern zu, die sich der Naturwissenschaft widmen. Aber was alle diese Forschungen gemeinschaftlich umschlang, ja ihnen eine gemeinschaftliche Bedeutung mitteilte, die tiefe Quelle, aus welcher sie hervorsprangen, die geistige Freiheit, mit welcher sie sich äußerten, die geistige Einheit, die selbst bei der Differenz der Prinzipien in ihnen mächtig war, die Philosophie nämlich, zog ihn an; er vermochte es nicht, ihre Gewalt abzuweisen, wenn sie ihm auch, ihrem eigentlichen Inhalt nach, fremd blieb.
In Jena lernte ich nun auch Novalis kennen. Ich hatte viel von ihm sprechen hören. Es war kaum ein Mensch, nach dessen persönlicher Bekanntschaft ich mich wärmer sehnte. Ich traf ihn zuerst bei Friedrich Schlegel, in dessen Armen er ein paar Jahre danach verschied. Sein Äußeres erinnerte dem ersten Eindruck nach an jene frommen Christen, die sich auf eine schlichte Weise darstellen. Sein Anzug selbst schien diesen ersten Eindruck zu unterstützen; denn dieser war höchst einfach und ließ keine Vermutung seiner adligen Herkunft aufkommen. Er war lang, schlank, und eine hektische Konstitution sprach sich nur zu deutlich aus. Sein Gesicht schwebt mir vor als dunkel gefärbt und brünett. Seine feinen Lippen, zuweilen ironisch lächelnd, für gewöhnlich ernst, zeigten die größte Milde und Freundlichkeit. Aber vor allem lag in seinen tiefen Augen eine ätherische Glut. Er war ganz Dichter. Das ganze Dasein löste sich für ihn in eine tiefe Mythe auf. Gestalten waren ihm beweglich wie die Worte, und die sinnliche Wirklichkeit blickte aus der mythischen Welt, in welcher er lebte, bald dunkler, bald klarer hervor. Man kann ihn nicht einen Mystiker im gewöhnlichen Sinne nennen; denn diese suchen hinter der Sinnlichkeit, von welcher sie sich gefangen fühlen, ein tieferes Geheimnis, in welchem ihre Freiheit und geistige Wirklichkeit verborgen liegt. Ihm war diese geheime Stätte die ursprüngliche klare Heimat; von dieser aus blickte er in die sinnliche Welt und ihre Verhältnisse hinein. Die ursprüngliche Mythe, die zu seinem Wesen gehörte, schloß ihm selbst das Verständnis der Philosophie, aller Wissenschaften, der Künste und der bedeutendsten geistigen Persönlichkeiten auf. Daher war die wunderbare Anmut seiner Sprache, die Melodie seines Stils nichts Erlerntes, sondern ihm eben das Natürlichste; daher bewegte er sich mit gleicher Leichtigkeit in der Wissenschaft wie in der Poesie, und die tiefsten, ja schärfsten Gedanken konnten ihre Verwandtschaft mit dem Märchen ebensowenig verleugnen wie das bunteste, scheinbar willkürlichste Märchen seine wenn auch verborgene spekulative Absichtlichkeit. Die Lehrlinge zu Sais und Heinrich von OfterdingenZwei hinterlassene Romanfragmente des Dichters. mußten einen tiefen Eindruck hervorbringen und schienen, seinem ätherischen Geiste ähnlich, das Geheimnis, welches die Philosophie durch strenge Methode zu enthüllen suchte, ursprünglich zu besitzen. Daher durfte er sich über alle Gegenstände zwanglos äußern, und wenn er selbst behauptete, der Philosoph solle zwar eine Methode besitzen, aber erst dann lehren, wenn er sie beherrschte und aus ihr heraus, nicht durch sie, darzustellen vermöchte, so spricht er sein eigenes Wesen in der Tat am klarsten und deutlichsten aus.
Er konnte, besonders in größeren Gesellschaften oder in Gegenwart von Fremden, lange stillschweigend, in Nachdenken versunken, dasitzen. Ein zartes Gefühl schien ihm die Gegenwart verschlossener und innerlich entfremdeter Naturen zu verraten; nur wo ihm verwandte Geister entgegenkamen, gab er sich ganz hin. Dann aber sprach er gern und ausführlich und erschien im höchsten Grade lehrhaft.
Alte Männer, die ein bedeutendes Leben geführt haben, in welchem sie vielfältig einwirkten, wenn die Epoche ihrer Tätigkeit verschwunden ist und, was sie getan und erlebt haben, als eine halbverschollene Vergangenheit der in anderen Richtungen bewegten Gegenwart erscheint, lieben es, über die frühere Zeit, die eigene Tat, ausführlich zu reden, und ist der Erzähler ein geistig Bedeutender, so hören wir ihm gern zu. Die Vergangenheit scheint, wieder erlebt, ihre eigenste Bedeutung zu enthüllen, ja die lebendige Gegenwart selber durch sie ein tieferes Verständnis zu erhalten. So aus einer tiefen Vergangenheit des Geistes, aus einer ursprünglichen, welche sich in der tätigen Gegenwart nur unklar zu äußern vermag, heraus schien Novalis zu sprechen wie zu schreiben.
Ich sah ihn in Jena nur wenige Tage, in Freiberg, wo er seine Braut, die Tochter des Berghauptmanns von Charpentier, besuchte, nur einige Wochen, dann, schon bedenklich erkrankt, in Dresden. Ich verließ ihn mit der bestimmten Ahnung, ihn nie wieder zu sehen. Wenige Menschen hinterließen mir für mein ganzes Leben einen so tiefen Eindruck. Wenn ich ihm gern zuhörte, so nahm auch er einen freundlichen Anteil an den Ansichten und Ideen, die mich bewegten. Meine geschichtliche Ansicht der Natur schien auch ihm wichtig und für die Zukunft vielversprechend. Was ich von ihm las, was ich von ihm vernahm, mit ihm erlebte, begleitete den Gesang meines Lebens wie eine akkompagnierende Musik, oft wie ein wundersames Echo aus fernen Gebirgen, welches, was in meinem tiefsten Inneren ruhte und was ich kaum auszusprechen wagte, mir laut und geistig reicher wiedergab.
Ich habe später Menschen kennengelernt, die ganz von ihm beherrscht wurden: Männer, die sich durchaus einem praktischen Leben weihten, empirische Naturforscher aller Art, die das geistige Geheimnis des Daseins hochhielten und den verborgenen Schatz in seinen Schriften aufgehoben glaubten. Wie wundersame, vielversprechende Orakelsprüche klangen ihnen die dichterisch-religiösen Gedanken von Novalis, und sie fanden in seinen Äußerungen eine Stärkung, fast wie der fromme Christ in der Bibel.
In der Tat war Novalis im tiefsten Sinne Christ und religiös. Es ist bekannt, daß Lieder von ihm herrühren, die zu den herrlichsten gehören, welche die christliche Kirche kennt. Seine Neigung zum Katholizismus war, wie bekannt, sehr ausgesprochen, ja keiner hat vielleicht mehr als er die Jugend zur katholischen Religion hingelockt. Später erschien in seinen gesamten Schriften eine Verteidigung der Jesuiten, und dennoch möchte ich behaupten, daß er die innere sittliche Freiheit, das geheime Band einer höheren Entstehung derselben, welches die gereinigte Gesinnung mit Gott verknüpft, den Begriff der Gnade und der Gerechtigkeit durch den Glauben, das eigentlichste Lebenselement der protestantischen Kirche, rein bewahrte. Denn die ganze mythisch katholische Welt war ihm eine zur sittlich-geistigen Religion gesteigerte, nur innerlich sich bewegende und sich gestaltende Poesie. Aber die betäubende Gewalt der Dichtung überwältigte die sekundären Geister, und sie gingen unter in der bunten Welt, die er mit Sicherheit beherrschte.
Mir war in religiöser Rücksicht Novalis wichtig wie keiner. Der tiefe Ernst des Glaubens, wie er meine Kindheit durchdrang, fing an, sich zu regen und immer mächtiger alle geistige Untersuchung zu tragen als den schon gegebenen festen Grund des zu Begründenden.
Und hier, in Dresden, traf ich nun Tieck mit seiner Familie. Er hatte sich da niedergelassen, und auch Friedrich Schlegel hielt sich bei seiner Schwester auf, die an einen sächsischen Hofbeamten, Ernst, verheiratet war. Tieck war von meinem Alter, und also achtundzwanzig Jahre. Schlank gebaut, schön, mit Augen, deren geistige Gewalt und wunderbare Klarheit selbst das Alter bis jetzt nicht zu besiegen vermochte. In allen seinen Bewegungen herrschte eine große Anmut, ja Zierlichkeit; seine Sprache entsprach seiner körperlichen Erscheinung völlig. Er schreibt kaum schöner, als er spricht. Es ist nicht allein die große Klarheit, mit welcher er die Gegenstände behandelt, die uns hinreißt, es ist auch die Anmut und klangvolle Rundung der Sprache, die eine unwiderstehliche Gewalt ausübt. Es gibt nicht leicht eine Persönlichkeit, die mächtiger wäre als seine. Ich habe ihn kaum jemals heftig gesehen. Seine Gespräche faßten den Gegenstand mit ruhiger Objektivität auf, behandelten ihn umsichtig und doch mit einem zurückhaltenden Enthusiasmus, durch welchen die Darstellung selbst eine innere Wärme erhielt, die mehr aus dem Gegenstande, aus seiner lebendigen, geistigen Bedeutung, als aus ihm zu entspringen schien. Er selbst hat mir erzählt, daß, wenn er in höheren Kreisen das geistig und dichterisch Bedeutendste mit vornehmer Geringschätzung behandeln sah, wenn man besonders das Vorzüglichste, wodurch Goethe sich auszeichnete, verächtlich besprach, er sich wohl plötzlich wie verwandelt fühlte. Ein innerer heftiger Ingrimm ergriff ihn, wie er versicherte, daß er erblaßte; aber er schwieg, wo ich, wie ich es gestehen muß, unbesonnen mich geäußert haben würde. Ich habe seine erklärtesten Feinde ihm gegenüber gesehen, jedesmal von seiner siegreichen Persönlichkeit überwunden; ja ich darf behaupten, daß diese, so leicht zugänglich, sich so liebenswürdig hingebend, ebenso großen Einfluß auf die Zeit ausgeübt hat wie seine Schriften. Was er mir geworden ist, kann ich nach einer innigen, verwandtschaftlichen Verbindung, in einer langen Reihe von Jahren, unter den verschiedensten Verhältnissen, selbst nachdem wir über das Wichtigste verschieden dachten und uns entfernt fühlten, kaum auf eine klare Weise darstellen. Wenn er über Gegenstände, mit denen er vertraut war, wenn er über Dichter, die er verehrte, wie Goethe, Shakespeare, wohl auch über Holberg, sprach, so teilte er alle seine Ideen unbefangen und freigebig mit.
Seine schriftstellerische Tätigkeit und wie reich und umfassend er als Dichter auf seine Zeit einwirkte, ist neulich auf eine so meisterhafte Weise auseinandergesetzt, daß ich auf diese Darstellung hinweisen kann. Sie ist in dem Aufsatz über Tieck von Braniß, welcher der zweiten Auflage der Victoria Accorombona beigefügt ist, enthalten. Aber viele jüngere Dichter sind durch die Spolien seiner Gespräche bereichert und haben ihn nie genannt; ja viele haben sich ihm feindlich gegenübergestellt, und wenn ihre Angriffe eine leise Ahnung von Geist enthielten, so entsprang diese aus dem geraubten Schatze, den sie freilich nicht in seinem Reichtum zu benutzen verstanden. Von mir muß ich das Geständnis ablegen, daß mehrere Ansichten, die ich auch wohl öffentlich aussprach, mir ihrem Ursprünge nach zweifelhaft geworden sind. Ich weiß nicht, ob ich sie mir selber oder seinen reichhaltigen Gesprächen verdanke.
Als die Krankheit ihm noch nicht die volle Beweglichkeit seines Körpers geraubt hatte, war seine wechselnde und reiche Mimik ebenso bewunderungswürdig wie die Flexibilität seiner Sprache. Er würde, wenn er aufgetreten wäre, der größte Schauspieler seiner Zeit gewesen sein; und selbst jetzt in seinem hohen Alter, wenn er von Gicht gelähmt auf dem Stuhle sitzt, wenn er mit der in ganz Europa bekanntgewordenen Virtuosität ein Drama vorträgt, ist es mir, als wäre die Schauspielerkunst in ihrer höchsten Bedeutung, während sie auf der Bühne nur noch ein zweifelhaftes und schwaches Dasein fristet, an diesen Stuhl des alten Mannes gefesselt.
Es war der Geburtstag seiner Frau. Tieck war besonders heiter gestimmt und wollte zur Feier des Tages ein Schauspiel, und zwar allein alle Rollen darstellen. Aber dieses sollte erst erfunden werden. Er forderte mich auf, ein Thema zu geben, und ich schlug ihm vor, ein Stück zu erfinden und darzustellen, in welchem der Liebhaber und ein Orang-Utan die nämliche Person wäre. Ich konnte freilich bei der damaligen Richtung seiner Laune keine günstigere Wahl treffen.
Tieck entfernte sich etwa eine halbe Stunde. Die Zuschauer – die Familie und wenige Freunde – nahmen sitzend die eine Hälfte der Stube ein, die andere stellte die Bühne vor.
Es ist mir nicht vergönnt, den Witz wiederzugeben, der mit der Leichtigkeit des Augenblicks hervortrat und die ganze Darstellung durchdrang. Unsre Lustspieldichter könnten sich glücklich schätzen, wenn es ihnen gegeben wäre, in einem ganzen Lustspiele einen solchen Reichtum des Witzes zu entfalten, wie sich hier in einem jeden Auftritt entwickelte, Man kann sich denken, wie das Stück endigt, die Tochter sträubte sich, gab endlich nach, und der Liebhaber verwandelte sich in der Tat, nachdem die Ehe geschlossen war, aber auf eine Weise, die dem Vater nicht angenehm war. Er gab indessen nach, konnte aber die frühere Vorstellung nicht sobald loswerden und nannte unwillkürlich seinen aufgedrungenen Schwiegersohn noch immer Herr Orang-Utan. Ich hatte nie etwas Ähnliches gesehen. Alle Personen standen lebhaft vor uns. Der Fluß des Gesprächs ward nie unterbrochen; mit der Schnelligkeit der Gedanken waren die Personen verwandelt und vervielfältigt. Es war keinem Zweifel unterworfen, daß Tieck damals, in seiner Jugend, der größte Schauspieler seiner Zeit war.
So lebte ich nun mit Tieck und Friedrich Schlegel einige Monate lang, und wir sahen uns alle Tage. Was mir diese Zeit geworden, ist schwer zu sagen; denn der geistige Einfluß eines so bedeutenden Mannes läßt sich nicht als etwas Vereinzeltes oder Gesondertes darstellen; er bildet nicht ein bloß Mitgeteiltes: er wirkt anregend auf die eigenste Natur. Wir fühlen uns nicht gefesselt durch ihn, wie durch etwas Fremdes, welches uns hinzugefügt wird. Was hervorgerufen wird, entspringt aus uns selbst, und je mächtiger der Einfluß ist, desto freier und selbständiger fühlen wir uns. Die Kunst schloß sich mir in dieser Gesellschaft reicher auf; ich lernte das Ursprüngliche von dem Abgeleiteten, das Einfache von dem Manierierten, die Natur der Kunst von der Einseitigkeit der Schule unterscheiden. Die großen Dichterepochen der Italiener, der Spanier, der Engländer und der germanischen Vergangenheit traten mir nahe, ja ich ward in ihre Mitte versetzt durch einen ihnen verwandten Geist. Ich erlebte diese blühenden Zeiten, ich genoß die bedeutende Vergangenheit, als wäre sie eine reiche Gegenwart, und sah einem jeden Tage mit Freuden entgegen.