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Auf dem Kongresse der Internationale, der 1900 in Paris tagte, konstatierte der Holländer van Kol in einem kurzen Schlußworte: »das internationale Proletariat biete somit das erhebende Schauspiel, einstimmig die kapitalistische Kolonialpolitik gebrandmarkt zu haben Noske, op. cit., S. 218..«
Dies geschah durch Annahme eines durch van Kol beantragten Beschlusses, worin ausdrücklich anerkannt wurde, daß »die Entwicklung des Kapitalismus notwendig zur kolonialen Expansion führe; daß der Imperialismus, der die notwendige Folge davon sei, in allen Ländern den Chauvinismus gebäre und zu immer größeren Ausgaben für den Militarismus zwinge«. Aber »die Kolonialpolitik der Bourgeoisie habe keinen anderen Zweck, als den Profit der Kapitalistenklasse zu steigern und das kapitalistische System aufrechtzuerhalten«. Man hielt also an der ungereimten Auffassung fest, daß der unerläßliche Teil des Kapitalismus, welcher Kolonialpolitik heißt, » keinen anderen Zweck« habe als den, solchen Sonderinteressen der Kapitalistenklasse, die gegenwärtig und in der weiteren Zukunft nichts mit dem wirtschaftlichen Wohlergehen der Arbeiterklasse zu tun hätten, zu dienen. »Den Profit der Kapitalistenklasse zu steigern« ist jedoch nach Marx kein Sonderinteresse der Kapitalistenklassen, sondern einer der bedeutungsvollsten Faktoren der nach der ersehnten sozialistischen Revolution hinstrebenden Entwicklung des Kapitalismus.
Der Kongreß erklärte deshalb(!), »daß das organisierte Proletariat alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel anwendet, um die kapitalistische Kolonialbesitzausdehnung zu bekämpfen.« Zu diesem Zwecke empfiehlt er, »daß die verschiedenen sozialistischen Parteien überall sich angelegentlichst mit dem Studium der Kolonialfrage beschäftigen« – ein Gedanke, den, wie wir gesehen haben, deutsche Sozialdemokraten noch im Jahre der Gnade 1907 auf ihrem eigenen Parteitage mit Heiterkeit zu begrüßen geruhten.
Die Auffassung der Internationale auf dem Kongresse zu Amsterdam im Jahre 1904 wird durch einen Beschluß gekennzeichnet, worin es heißt: »Der Kongreß anerkennt das Recht der Einwohner zivilisierter Länder, sich in Ländern niederzulassen, deren Bevölkerung sich in niederen Stadien der Entwicklung befindet« – »verurteilt aber auf das schärfste das heutige kapitalistische Kolonialsystem und fordert die Sozialisten aller Länder auf, dieses zu stürzen« Noske, op. cit., S. 223. – obgleich es nach Marx der reinste Blödsinn ist, einen wesentlichen Teil des kapitalistischen Systemes »stürzen« zu wollen, bevor dies System durch seine eigene Entwicklung auf dem Punkte angelangt ist, wo es von selbst gänzlich zusammenbricht.
Nun schritt man zum Formulieren eines sozialistischen Kolonialprogrammes, das fünf Punkte festsetzen sollte. Der erste dieser Punkte forderte von den sozialdemokratischen Reichstagsparteien aller Länder, »sich rücksichtslos jedem imperialistischen und protektionistischen Antrag, jedem kolonialen Eroberungszug und jeder militaristischen Ausgabe für die Kolonien zu widersetzen«. »Die vollständige Emanzipation der Kolonien« sollte, nach dem fünften Punkte des Programmes, »das erstrebte Ziel« der sozialistischen Kolonialpolitik sein.
Mit diesen Grundsätzen ließ sich natürlich keine wirklich positive sozialistische Kolonialpolitik vereinen. Auch fehlt jede Spur einer solchen im Programme. Sein dritter und sein vierter Punkt sind zwar beherzigenswert, aber ausschließlich unter Arbeiterschutzgesichtspunkten der Sozialpolitik, die man hier, in Übereinstimmung mit der ganz besonderen Natur der vorliegenden großen Übelstände, auf die Kolonialverwaltung ausdehnen will, um die Eingeborenen nach Möglichkeit vor Mißhandlung und Ausbeutung zu schützen. Sehr unklar ist dagegen der zweite Punkt des Programmes, der verlangt, »jedes Monopol, jede große Landkonzession zu bekämpfen«. Hier taucht wenigstens eine Ahnung auf, daß es eine großzügige, positive sozialistische und demokratische Kolonialpolitik mit Sozialisierung des Bodens und gesellschaftlicher Kontrolle über die Produktion und die Einkommensverteilung geben könne.
Die Verhandlungen auf dem 1907 in Stuttgart tagenden Kongresse der Internationale zeigen indessen, daß einer starken Minderheit bei diesem ebenso unmarxistischen wie volkswirtschaftlich und politisch unrichtigem »prinzipiellen Verwerfen« jeder Kolonialpolitik jetzt ungemütlich zu werden anfing. Die Mehrheit der vom Kongresse gewählten Kommission zur Vorberatung der Kolonialfrage wollte die Einleitungsworte des zu erlassenden Kongreßbeschlusses so formulieren: »Der Kongreß stellt fest, daß der Nutzen der Kolonialpolitik allgemein, besonders aber für die Arbeiterklasse, stark übertrieben wird. Er verwirft aber nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik, die unter sozialistischem Regime zivilisierend wird wirken können Noske, op. cit., S. 225..«
Die Minderheit der Kommission wollte jedoch von dieser kleinen, dem wirklichen Marxismus und der gesunden Vernunft gemachten Konzession nichts wissen, und der Kongreß stellte sich mit 127 Stimmen gegen 108 auf die Seite der »radikalen« Kommissionsminderheit. Der dann angenommene Beschluß bekräftigt den 1900 in Paris und 1904 in Amsterdam eingenommenen Standpunkt.
Die beiden letzten internationalen Sozialistenkongresse vor dem Weltkriege 1910 in Kopenhagen und 1912 in Basel – erbieten dem Studium der Entwicklung der sozialdemokratischen Auslandspolitik bis zum Ausbrechen des Weltkrieges viel Interessantes, aber die Kolonialpolitik ist dort nicht anders als nebenbei behandelt worden. Statt dessen beleuchten diese beiden Kongresse das Vorgefühl, das die Sozialdemokratie von dem herannahenden Weltkriege hatte, und ihre Auffassung seiner Ursachen und der richtigen Art und Weise, ihn abzuwehren. Der Kopenhagens war ein gewöhnlicher Kongreß, der sich mit einer großen Menge verschiedener Fragen beschäftigte. Der Baseler dagegen war eine während des Balkankrieges zusammenberufene Versammlung zur Erhaltung des durch die Balkanwirren als unmittelbar bedroht angesehenen Weltfriedens.
Unter den Beschlüssen und Äußerungen auf dem Kopenhagener Kongresse scheint mir folgende Resolution besondere Beachtung zu verdienen, weil sie die Art und Weise charakterisiert, wie die internationale Sozialdemokratie damals die großen auslandspolitischen Gegenwartsfragen aufgefaßt, besprochen und entschieden hat.
In Beziehung auf Finnlands Verhältnis zu Rußland nahm der Kongreß einstimmig eine Resolution an, die mit folgenden Worten beginnt: »Der Internationale sozialistische Kongreß zu Kopenhagen brandmarkt die barbarische und schmähliche Politik der russischen Regierung und der reaktionären Vertreter der besitzenden Klassen in der Duma und im Reichsrate, – eine Politik, welche sich anschickt, die Autonomie und die demokratischen Freiheiten Finnlands zu vernichten und Finnland in eine unterjochte Provinz Rußlands zu verwandelnd Internationaler Sozialistenkongreß zu Kopenhagen, 28. Aug. bis 3. Sept. 1910, Berlin 1910, S. 18..«
»Der Kongreß stellt weiter fest, daß die brutale Unterdrückung der Autonomie Finnlands nur die Folge eines ganzen Regierungssystems der rohesten Unterdrückung aller nichtrussischen Nationalitäten und des russischen Volkes selbst ist, – eine Unterdrückung, welche durch die von Blut und Schmutz triefenden russischen reaktionären Machthaber ausgeübt wird, die sich mit dem Scheine eines ›Konstitutionalismus‹ umgeben.«
So klang es in einer von französischen Sozialdemokraten verfaßten Op. cit., S. 24., von sozialistischen Vertretern Englands und Frankreichs offiziell unterstützten und angenommenen Resolution einige Jahre, bevor alle diese sich der Lehre anschlossen, daß Rußland ein herrlicher, würdiger Streiter »für Demokratie und Freiheit« sei, ein guter, stolzer Mitkämpfer »für die Freiheit der kleinen Nationen«, »für den Sieg der Humanität und des Rechtes« und »für die künftige Sicherung des Weltfriedens«. Der Kopenhagener Kongreß wußte noch gar nichts von diesen Dingen, sondern hörte mit »stürmischem Beifall« eine Rede an, die mit den Worten endete: »Der Zarismus ist das Gefängnis, der unterirdische Kerker ist Sibirien. Jeder Sieg, den der Zarismus davonträgt, ist eine Niederlage für die Zivilisation. – – -Der Zarismus ist der Tod Op. cit., S. 25..«
Dieser Umschwung in Auffassung und politischer Aktion ist zu gewaltsam, um einen anderen Schluß zuzulassen als den, daß entweder in dem früheren oder in dem späteren Standpunkt etwas von Grund aus verkehrt gewesen sein muß, wenn nicht vielleicht in allen beiden oder überhaupt in den sozialdemokratischen Methoden, nationalpolitische und weltpolitische Fragen zu beurteilen.
Der angenommene Beschluß gegen Kriegsrüstungen und Kriege war außerordentlich wortreich. Der Kernpunkt war jedoch, daß er den Wortlaut eines auf dem Stuttgarter Kongresse gefaßten Beschlusses wiederholte und bekräftigte. So heißt es: »Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Bureaus, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen Op. cit., S. 35..«
Bis zu einem späteren Kongresse vertagt wurde ein von Vaillant und Keir Hardie eingereichter Zusatzantrag, der folgenden Wortlaut hatte. »Unter allen Mitteln, welche angewendet werden sollen, um Kriegen vorzubeugen und sie zu verhindern, hält der Kongreß als besonders zweckmäßig den allgemeinen Streik der Arbeiter, hauptsächlich in den Industrien, welche für den Krieg die Materialien liefern (Waffen, Munition, Transport usw.), ebenso eine Agitation und Aktion im Volke, und zwar mit den kräftigsten Mitteln Op. cit., S. 32..«
Wenn man den wirklichen Verlauf der Ereignisse in den Jahren 1914-16, die angenommene Resolution und den als Wechsel auf die Zukunft ausgestellten Zusatz mit einander vergleicht, dann tritt es ja ungeheuer scharf hervor, daß dieser ganze Kongreßsozialismus ein Theoretisieren und Utopisieren gewesen ist, ungetrübt durch Kenntnis der weltgeschichtlichen Realitäten und Seite an Seite mit ihnen – besonders unkundig aber der Realität, die da heißt: das nationale Empfinden des modernen Arbeiters, auch des sozialdemokratischen modernen Arbeiters, sein Nationalinteresse, sein nationaler und staatlicher Selbsterhaltungstrieb, ja sogar sein nationaler und staatlicher Selbstbehauptungstrieb. Es scheint jenen Herren Kongreßsozialisten gar nicht eingefallen zu sein, daß ein Durchführen ihrer drastischen Vorschläge zur »Bekämpfung des Krieges« beim Kriegsausbruche oder während eines vor sich gehenden Krieges für ein bestimmtes Land nationalen und staatlichen Selbstmord bedeuten werde und daß die Arbeiter dieses Landes sich weigern könnten, ihre internationale proletarische Solidarität so weit auszudehnen.
Es war dem späterhin während des Weltkrieges so »neutralen« Herrn Hjalmar Branting vergönnt, als damaliger Tagespräsident des Kongresses die unter »stürmischem Beifall« ins Werk gesetzte Annahme jenes oben angeführten Beschlusses mit folgenden Worten zu begrüßen. »Wir haben durch diesen Beschluß noch einmal den festen Willen bekundet, für den Weltfrieden überall und in allen Formen, wenn nötig mit den schärfsten Mitteln zu wirken Op. cit., S. 43. Der Sperrdruck ist von mir angeordnet..«
Der außerordentliche internationale Sozialistenkongreß, der 1912 in Basel stattfand, nahm unter Begeisterungsdemonstrationen ein »Manifest Compte rendu analytique du Congrès Socialiste International extraordinaire tenu à Bâle les 24 et 25 novembre 1912, Bruxelles 1913, S. 9-12. « an, worin die Sozialdemokratie »sich zum erstenmal nicht darauf beschränkt, ihre Mißbilligung »der Regierung und der Diplomatie der bürgerlichen Gesellschaften« auszusprechen oder zu agitieren, sondern klar und nachdrücklich kundgibt, welcher Art die Richtlinien der Politik des Proletariates in jedem Lande sein müssen Op. cit., S. 12..«
Das Manifest beginnt damit, an die auf den Kongressen in Stuttgart und Kopenhagen angenommenen »leitenden Grundsätze für den Krieg der Sozialdemokratie gegen den Krieg Siehe oben S. 145.« zu erinnern. Darauf wird festgestellt, daß die auslandspolitische Lage von Jahr zu Jahr kritischer geworden sei. »Die großen Völker Europas sind beständig auf dem Punkte, gegeneinander getrieben zu werden, ohne daß diese Attentate gegen Menschlichkeit und Vernunft auch nur durch den geringsten Vorwand eines Volksinteresses gerechtfertigt werden könnten.« Eine Erweiterung der Balkankrise zu einem großen europäischen Kriege wäre »die größte Schandtat der Weltgeschichte durch den schreienden Gegensatz zwischen der Größe der Katastrophe und der Geringfügigkeit der ins Spiel kommenden Interessen.«
Dieser internationale Sozialistenkongreß schloß sich also ganz der in den bürgerlichen pazifistischen Kreisen üblichen Anschauung an, daß ein Krieg zwischen Europas Großmächten, falls es dazu käme, absolut nicht den geringsten Grund in einem Gegensätze wirklicher Volksinteressen, deren Vertreter diese Großmächte seien, haben könne, sondern dadurch hervorgerufen werden müsse, daß die Leitung der Politik, der Diplomatie und des Militärwesens besagter Großstaaten in den Händen des reinen Kriminalwahnsinnes liege.
Man leugnet ganz einfach das Vorhandensein eines Gegensatzes zwischen »wirklichen Volksinteressen« hinter den Interessenkonflikten der Staaten, wie sie in offiziellen und nichtoffiziellen Formen hervortreten. Doch ein derartiges einfaches Verneinen ist noch kein Beweis – und der Beweis würde mißlingen, um so gründlicher mißlingen, je mehr er versuchte, sich auf wirkliche Einblicke in die Lebensprozesse und den Entwicklungskampf der modernen Großstaaten zu stützen.
Man macht einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den »Völkern« der Großmächte einerseits und ihren »Militärkasten«, »Rüstungskapitalisten«, profitgierigen »Kolonialabenteurern«, chauvinistischen Staatsmännern, unzulänglichen Diplomaten, und was sonst noch alles die Staatsmacht beherrscht, andrerseits. Die »Völker« sind absolut friedlich – nicht nur in dem Sinne, daß sie Krieg nicht wünschen, sondern auch in dem Sinne, daß sie gar kein Interesse an irgend welchem Kriege haben. Die Kriegsgefahr kommt ausschließlich aus den Kreisen, die, mittelbar oder unmittelbar, die Staatsmacht in ihrer Hand haben und aus Gewinnsucht, Machtbegierde, Vorurteil, Chauvinismus und Dummheit »die Völker gegeneinander treiben«.
Diese hübsche Theorie leidet bedauerlicherweise an einem Fehler – nämlich daran, daß sie nicht genügend mit der Wirklichkeit übereinstimmt, um eine große internationale Partei in ihrer auswärtigen Politik in richtige Bahnen leiten zu können.
Die Theorie starrt sich an dem Antagonismus zwischen »Staat« und »Volk« blind, so blind, daß sie die hier allein entscheidende Tatsache: die Solidarität zwischen »Volk« und »Staat« gar nicht mit in Rechnung zieht. Aus dem »Volke« ist der »Staat«, aus irgendeinem »Volke« ist jeder »Staat« geschichtlich herausgewachsen, und jeder »Staat« wird stets von einem »Volke«, das seinen stärksten sozialen und kulturellen, ethischen und nationalen Lebenswillen in seinem Staate konzentriert hat, getragen und entwickelt. Der »Staat« ist nichts Vollkommenes. Aber das ist das »Volk« auch nicht. Das Lebensverhältnis zwischen »Staat« und »Volk« ist nicht vollkommen, aber das ist auch kein anderes bekanntes Lebensverhältnis. »Der Kapitalistenstaat« ist mangelhaft, ja brutal – aber ganz dasselbe läßt sich vom »Kapitalistenvolke«, einem Volke sagen, das »Kapitalisten« erzeugt und sich wirtschaftlich durch solche regieren lassen muß.
Es besteht oft an der Oberfläche eine auffallende seelische Ungleichheit zwischen einem Volke und seinen Politikern, wie diese durch die Jahrhunderte hindurch gewesen sind. Die Ungleichheit z. B. zwischen dem sehr soliden französischen Volke und den sehr unsoliden französischen Politikern ist verblüffend. Aber dennoch herrscht dort Solidarität, in der Tiefe. Ein Volk hat solche Politiker und einen solchen Staat, wie es seiner Gemütsart und seinem Entwicklungsgrade nach haben muß – im großen gesehen und mit Berücksichtigung zureichend langer Perioden betrachtet. Wenn der solide französische Kleinbürger Politiker wird, dann wird er ein Politiker des wohlbekannten französischen Typus – und von einem andern Typus läßt sich der solide französische Kleinbürger nicht regieren. Und so ist es in allen Ländern – sogar im heiligen Rußland.
Die Theorie, daß die »Völker« friedlich und unschuldig seien, wenn die »Staaten« verbrecherische Kriege führen, gibt übrigens der »materialistischen Geschichtsauffassung« und ihrem Urheber, dem Vater der Internationale, einen Schlag ins Gesicht. Nur Friedensfreunde, die nicht Marxisten sind, können zu einer so oberflächlichen soziologischen Anschauung berechtigt sein.
Wenn man sieht, wie das Manifest des Jahres 1912 verschiedene der akuten politischen Schwierigkeiten Europas lösen wollte, wird man noch deutlicher daran erinnert, daß die Politik der Sozialdemokratie noch in erster Reihe eine Agitationspolitik ist, die politischer Sachlichkeit und wirklichem politischen Verantwortungsgefühl nur sehr eng zugemessenen Spielraum gewährt. Die Massen zu politischem Selbstbewußtsein und Organisationswillen hinaufzuagitieren, ist eine Sache. Ihr tagespolitisches Handeln zu leiten, ist eine ganz andere Sache. Beides ist notwendig. Aber die groben Übertreibungen, Einseitigkeiten und Unsachlichkeiten, die entschuldbar sein können, wenn es sich nur um Agitation zum Massenanschlusse an ein allgemeines Programm handelt, werden zu vollständig bloßstellenden Unfähigkeitsbeweisen, wenn die realen Fragen der Tagespolitik zur Erreichung positiver Ergebnisse behandelt werden sollen.
Die Phrasenpolitik hat ihre Aufgabe im politischen Leben – denn der Mensch ist nun einmal so. Doch die Sozialdemokratie hat die Grenze der zulässigen Anwendung der Phrasenpolitik nicht genug beachtet.
So verkündet das Manifest, daß die Sozialisten dem »nationalen Chauvinismus« auf der Balkanhalbinsel » entgegenarbeiten« und »die Verbrüderung aller Balkanvölker, einschließlich der Türken, der Albaner und Rumänen, proklamieren« sollen. »Nur als autonomes Glied einer demokratischen Balkanföderation kann Albanien ein wirklich selbständiges Leben führen.« Nie eine Frage, ob »alle Balkanvölker« »einschließlich der Türken, der Albaner und der Rumänen« sich miteinander »verbrüdern« wollen oder können! Oder ob Albanien, resp. irgendein anderes Balkanland, vielleicht auch reif zur Mitgliedschaft in einer » demokratischen Balkanföderation« ist. Hier fragt man nicht nach der sozialen Entwicklungsstufe eines Volkes, bevor man ihm gegen seine sozialen und politischen Krämpfe moderne Demokratie verordnet. Bei den getreuen Schülern des großen soziologischen Evolutionisten Marx ist der soziologische Evolutionismus weggeblasen.
Neben einem solchen Idealpolitisieren ins Blaue hinein mutet es beinahe wie Realpolitik an, wenn das Manifest offen und ehrlich mit der großen Arbeiterrevolution droht, falls »die herrschenden Klassen« den Weltkrieg ausbrechen lassen. »Die Furcht der herrschenden Klassen vor einer proletarischen Revolution, im Gefolge eines Weltkrieges, hat sich als eine wesentliche Bürgschaft des Friedens erwiesen.« »Wenn die Regierungsgewalten jede Möglichkeit der normalen Fortentwicklung abschneiden und dadurch das Proletariat zu verzweifelten Schritten treiben sollten, würden sie selbst die ganze Verantwortung für die Folgen der durch sie herbeigeführten Krise zu tragen haben.« »Das Proletariat ist sich bewußt, in diesem Augenblicke der Träger der ganzen Zukunft der Menschheit zu sein. Um die Vernichtung der Blüte aller Völker zu verhindern, die von allen Greueln des Massenmordes, der Hungersnot und Pestilenz bedroht ist, wird das Proletariat all seine Energie aufwenden.«
Zu oberst auf der Skala realpolitischer Werte möchte ich jedoch gern die Äußerung des Manifestes über den russischen Zarismus setzen. Aber gerade in dieser Frage hat sich die internationale Sozialdemokratie unfähig erwiesen, zusammenzuhalten und einig die Versprechungen des Manifestes einzulösen, als es galt, from sounds to things überzugehen. Einigkeit in der Phrasenpolitik. In dem Verhalten der französischen und englischen Sozialdemokraten während des Weltkrieges liegt, wie es mir erscheint, reiner Verrat an der Antizarismusdeklaration des Manifestes vor.
Diese Deklaration hat folgenden Wortlaut Op. cit., S. 11. Ich habe hier gewisse Worte und Sätze gesperrt wiedergeben lassen..
»Mit großer Freude begrüßt der Kongreß den Proteststreik der russischen Arbeiter als Bürgschaft, daß das Proletariat Rußlands und Polens anfängt, sich von dem fürchterlichen Schlage der zarischen Gegenrevolution zu erholen. Darin sieht der Kongreß die stärkste Bürgschaft gegen die verbrecherischen Intrigen des Zarismus – jenes Zarismus, der, nachdem er die verschiedenen Völker seines eigenen Landes blutig zu Boden geschlagen und nachdem er die Balkanvölker unzählige Male verraten und sie ihren Feinden ausgeliefert hat, jetzt zwischen der Furcht vor einer drängenden nationalistischen Bewegung, die der Zarismus selbst erschaffen hat, hin und her schwankt.
Wenn nun der Zarismus sich wiederum den Schein gibt, als Befreier der Balkanvölker aufzutreten, so geschieht dies nur, weil er unter diesem heuchlerischen Vorwande durch blutigen Krieg sich wieder eine Übermachtstellung auf dem Balkan erobern will. Der Kongreß erwartet, daß Rußlands, Finnlands und Polens kräftig wachsendes Stadt- und Landproletariat dies Lügengewebe zerreißen, sich jedem kriegerischen Abenteuer von seiten des Zarismus, jedem Plane des Zarismus, gelte er nun Armenien oder Konstantinopel, widersetzen und seine ganze Kraft auf das Wiederaufnehmen des revolutionären Befreiungskampfes gegen den Zarismus konzentrieren wird.
Denn der Zarismus ist die Hoffnung aller reaktionären Mächte Europas und der rücksichtsloseste Feind der Demokratie auch unter den vom Zarismus selbst beherrschten Völkern – ein Feind, dessen Untergang anzustreben die ganze Internationale als eine ihrer vornehmsten Aufgaben ansehen muß.«
Als der »Zarismus« im Juli 1914 wirklich der »drängenden nationalistischen Bewegung« in Rußland nachgab und unter der »heuchlerischen« Maske des »Befreiers«, mit Serbien als Strohmann, noch einmal einen »blutigen Krieg« begann, um sich »eine Übermachtstellung auf dem Balkan zu erobern« und »die Balkanvölker zu verraten« – wie verhielten sich da die Sozialdemokraten Englands und Frankreichs gegen »die Hoffnung aller reaktionären Mächte Europas« und gegen den »rücksichtslosesten Feind der Demokratie«?
Haben sie rund heraus erklärt, daß Frankreich und England Deutschlands Neutralitätsgesuch während des Kampfes der Mittelmächte gegen Rußland annehmen müßten, und versucht, dies durchzusetzen?
Am 1. August 1914 um 1 Uhr 5 Minuten nachmittags telegraphierte der deutsche Gesandte in Paris folgendes an seine Regierung in Berlin: »Auf meine wiederholte bestimmte Frage, ob Frankreich im Falle eines deutsch-russischen Krieges neutral bleibe, erklärte der Ministerpräsident mir, daß Frankreich das tun werde, was seine Interessen ihm geböten.« Das Deutsche Weißbuch, Dokument Nr. 27. Bestätigt durch Nr. 117 des französischen Gelbbuches.
Nachdem Frankreich so sein Neutralbleiben in Deutschlands Kriege gegen Rußland verweigert hatte, verweigerte auch England seine Neutralität, und zwar ganz einfach aus dem Grunde, weil der Krieg auf diese Weise an die Küsten des englischen Kanals verlegt worden war, zu Frankreichs Schwächung zugunsten Deutschlands zu führen drohte und die England sowohl wie Frankreich strategisch unschätzbare Neutralität Belgiens über den Haufen warf.
Wo war jetzt der Entschluß der französischen Sozialdemokraten, »im Namen der Demokratie« den »Untergang des Zarismus anzustreben«? Und der gleiche Entschluß der englischen Sozialdemokraten? War ihre Beteiligung an dem Beschlusse der Internationale nichts weiter als eine Demonstration gewesen, eine so gedankenlose, haltlose Demonstration, daß jetzt nicht einmal die Rede davon war, einen Versuch zum Lösen der Schwierigkeiten zu machen, die mit dem Einlösen des Gelübdes, unter welchen praktischen Verhältnissen dies auch zu geschehen hatte, verknüpft sein mußten?
Denn den Umstand, daß Frankreich mit Rußland gegen Deutschland verbündet war und daß das Rußland des »Zarismus« sich darüber klar war, daß der Weg nach Konstantinopel über Wien und daher auch über Berlin gehen mußte, hatten die französischen Sozialdemokraten wohl nicht gänzlich übersehen, als sie 1912 in Basel das Manifest und seinen patzigen Phrasenkrieg gegen den »Zarismus« so tapfer mit Hurrageschrei begrüßten.
Der jetzige Glaube der französischen Sozialdemokraten, daß der »Zarismus« zum Vorkämpfer des Sieges der Demokratie in Europa tauge, muß recht schwach sein. Oder ihre Zustimmung zum Baseler Manifeste ist wenig ernst gemeint gewesen. Oder ihre ganze Auslandspolitik ist ein unzuverlässiges, zusammenhangloses Phrasengewebe. Eine vierte Möglichkeit kann ich nicht sehen. Denn ich lasse, was mich anbetrifft, nicht die Ansicht über den »Zarismus«, die das Baseler Manifest so kräftig andeutet, fallen.
Übrigens ist es ja nur zu klar, daß die Internationale, falls sie die Bedeutung in der auswärtigen Politik, welche sie trotz aller Phrasenpolitik vor dem Weltkriege zu erhalten begann, nach dem Kriege soll wieder erlangen und weiter entwickeln können, in sehr beträchtlichem Grade ihre Sachkenntnis vermehren und ihr Verantwortlichkeitsgefühl hinsichtlich ihrer eigenen Beschlüsse und Äußerungen steigern muß. Die Sozialdemokratie wächst jetzt während des Weltkrieges endgültig aus ihren grünen Agitationsjahren heraus und in ihr reifes politisches Verantwortlichkeitsalter hinein.