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Neuntes Kapitel


Schon auf dem Gange nach dem Palmengrund war von den Damen Maurizius für einen der nächsten schönen Tage ein Ausflug durch die Olivenwälder nach dem hoch vom Berggrat herunter leuchtenden Städtchen La Colla vorgeschlagen worden. Am nächsten Tag wehte ein starker Südwind und die jagenden Wolken ließen auf nahende Regengüsse schließen. Von dem längeren Ausflug konnte heute keine Rede sein. Aber Herr Maurizius hatte schon eine Entschädigung dafür ausgesonnen.

»Wenn wir heute den Herrn Doktor einmal zu der Felsenhöhe hinaufführen würden«, schlug er schnell vor, als man sich vom Frühstückstisch erhob, und jeder sich anschickte, die drückend warmen Nachmittagsstunden nach seinem Bedürfnis zuzubringen. »Hernach können wir zum Strand hinabsteigen und den Herrn Doktor zu der unnahbaren Feste seines Sohnes führen, zu den Zyklopenfelsen hinter der alten Kapelle, wo er sich hin flüchtet mit der Tante, daß niemand sie ihm rauben möge. Nicht, Fräulein Cousine, wäre das nicht ein Gang für heute? Die Brandung an dem Felsen muß ja prächtig sein bei diesem Wind.«

»Wenn der Herr Doktor wünscht, unsern Felsen zu sehen, so bin ich gern dabei«, erwiderte Dori.

Der Doktor verbeugte sich zustimmend.

»Wenn Sie uns gestatten, Ihre Meeresburg kennen zu lernen und die beiden Damen Lust zu dem Gange haben, so nehme ich mit Vergnügen den Vorschlag an«, sagte er. »Es ist für mich von besonderem Interesse, die Stelle kennen zu lernen, die in den Briefen meines Jungen eine so große Rolle spielte.«

Fräulein Erna hatte längst ungeduldig ihre Handschuhe zwischen den Fingern in die Länge gezogen, so als wollte sie sagen: »Wie viel Worte um gar nichts!« Etwas kurz bemerkte sie jetzt: »Ob es der Mühe wert ist, dahin zu gehen, wissen wir freilich nicht; aber in guter Gesellschaft hat ja jeder Gang seine große Annehmlichkeit. Wir finden uns um vier Uhr in der Halle ein.«

Nun trennte man sich. Doktor Strahl sagte, er werde Briefe schreiben.

»Ihr könnt euch unterdessen hier im Garten verweilen, Jungens, oder wo ihr wollt«, setzte er hinzu, »und du, Otto, lässest auch eine Weile deine Tante Dori in Ruhe.« Dann ging er nach seinem Zimmer.

Dori war, mit Otto an ihrem Arm, in der Halle stehen geblieben und hatte dem Doktor nachgeblickt. Wie oft hatte sie ihm nachgeschaut, wenn er so ihr Haus verließ, damals im fernen Schuls. Dann war er für immer gegangen! Und nun war er wieder da, ganz derselbe, und doch lag eine so lange Zeit dazwischen! Sie war doch so anders geworden, so viel älter, dachte sie.

»Tante Dori, was haben Sie jetzt im Sinne zu tun?« fragte Oskar, ihre Gedanken unterbrechend.

»Was ich zu tun im Sinne habe? Ich weiß es selbst nicht so recht«, entgegnete sie.

»O wie herrlich!« rief Oskar aus. »Nun kommen Sie mit uns nach den Steinsitzen dort unter den Bäumen mit den langen Ästen, da ist es so schattig und kühl und wir können so schön ungestört uns erzählen, was wir wollen.«

Dori willigte sogleich ein. In der freien Luft zu sein war für Otto immer das Beste, zum Gehen war es zu schwül eben jetzt, in der schattigen Gartenlaube mußte wirklich für einmal der beste Zufluchtsort sein.

»Ich hole nur schnell mein Strickzeug herunter und finde euch dort«, sagte Dori. Aber Oskar wehrte sich dagegen.

»Es ist viel netter, wenn sie nichts tun, dann sind Sie recht mit uns zusammen, sonst schauen Sie immer wieder auf das Zeug; kommen Sie lieber gleich mit uns.«

Er hatte sich schon an ihren andern Arm gehängt; Dori wurde fortgezogen, Waldemar folgte den Vorangehenden auf den Fersen nach. Die viere waren anzusehen wie eine feste Masse, die sich durch die Gartenwege hin bewegte.

»Warum lachen Sie auf einmal, Oskar?« fragte Dori.

»Weil ich dort oben den Papa am offenen Fenster gesehen habe; er hat sich ganz hinausgebeugt, so, als könne er nicht recht erkennen, was er sah. Er hat gewiß geglaubt, wir seien nur eine einzige, dicke Person, die spazieren geht, weil wir so nahe zusammen gehen.«

In dem baumumschlossenen Winkel hatte jeder seinen alten Platz eingenommen, aber Oskar war nicht zufrieden.

»Komm, hilf mir, Waldemar«, sagte er, seinen Steinsitz mit Anstrengung hebend, »ich will auch nahe bei euch sein, es läßt sich nicht gemütlich plaudern, wenn man so hinüber schreien muß!« Der Sitz wurde ganz nahe vor Dori hingerückt; Oskar setzte sich darauf. »Nun sind wir wie in einem Vogelnest«, sagte er lachend, »so kann man gut plaudern. Wenn Sie doch einmal zu uns auf Besuch kommen würden, das wäre ein Hauptspaß! Sehen Sie, Tante Dori, bei uns geht es meistens traurig und langweilig zu. Papa hat ja natürlich so viel zu arbeiten, daß er nicht oft da ist, wenn wir heim kommen von der Schule. Dann ist wohl Fräulein Smele da, aber die ist nun so furchtbar alt und gebrechlich –.«

»Was fällt Ihnen denn ein, Oskar«, unterbrach ihn Dori, »Fräulein Smele ist weder gebrechlich noch schrecklich alt. Wenn sie auch schon dreißig Jahr alt war und das war sie vielleicht noch nicht einmal, und in Ihr Haus eintrat, sogleich nachdem Sie auf die Welt gekommen waren, so kann sie ja nicht mehr als sechsundvierzig Jahr alt sein.«

»Das haben Sie aber einmal schnell ausgerechnet«, sagte Oskar. »Richtig, ich bin sechzehn Jahre alt, so muß es wohl sein. Nun ja, aber dann hat Fräulein Smele immer Migräne. Und wie wir aus dem Institut heimkommen durften, da sagte Papa zu uns: ›Fräulein Smele dürft ihr nicht kränken, sie ist eine alte, treue Freundin des Hauses.‹ Also da mußten wir dann schon immer scharf aufpassen, daß wir sie nicht kränkten, nicht Waldemar? Denn es kränkte sie fast alles, was wir taten, und dann bekam sie Migräne. Und wenn wir einmal laut lachten, dann kam sie gleich und sah leidend aus und sagte: ›Wie könnt ihr nur so herzlos sein! Denkt ihr denn nicht daran, was euer Vater durchgemacht hat? Wie muß ihm sein, wenn er euch so lachen hört!‹ Dann erschraken wir freilich und lachten eine Zeitlang nicht mehr. Aber wirklich, wir hatten vergessen, was der Vater durchgemacht hatte, und nachher lachten wir wieder und dann ging es von neuem los, und so geht es bis auf den heutigen Tag, nicht, Waldemar? Wir wollen ja dem Papa nicht wehtun und die leidende, alte Smele nicht kränken, aber wir müssen doch manchmal lachen und ein wenig laut tun, und dann kommt gleich Jammer und Migräne und alles Unheil.«

»In früheren Jahren, als Sie noch Ihre Mutter hatten, da war es doch ganz anders«, sagte Dori. »Sie haben mir noch nie von Ihrer Mutter erzählt und können sich doch wohl ihrer erinnern aus der Zeit, da sie noch gesund war, nicht wahr, Sie und Waldemar?«

»Ja, so an einzelne Erlebnisse aus jener Zeit, aber an ein rechtes Zusammenleben mit der Mutter kann ich mich nicht erinnern«, entgegnete Oskar. »Das ist mir noch gut im Gedächtnis, wie wir an einem kleinen Tisch saßen und spielten, Waldemar und ich, und nebenan im großen Zimmer sang Mama so schön. Dann wollten wir durchaus hineingehn, aber da war eine Jette, ich denke, das war unsere Hüterin, die holte uns immer wieder zurück, wenn wir an der Tür waren, und sagte, wir dürfen nicht Mama stören und brachte uns wieder an den Tisch zum Spielen; und nachher fingen wir wieder von vorn an und liefen wieder an die Tür, weißt du das noch, Waldemar?«

»Ganz gut weiß ich's noch«, entgegnete dieser, »und wie Jette aussah, weiß ich auch noch, ich habe sie gefürchtet. Wenn sie uns zurückholte, sagte sie zu dir: ›Komm, Oskärchen, sei mal gut!‹ Und mich riß sie nur so am Arm zurück. O das weiß ich noch so gut.«

»Davon weiß ich nun nichts mehr«, nahm Oskar wieder auf, »aber eine andere Erinnerung ist mir noch ganz lebendig und dir gewiß auch, Waldemar, denn da war ein solcher Lärm dabei. Es war am Abend bei Licht, da ging die Tür auf am großen Zimmer; drinnen war alles hell erleuchtet und Fräulein Smele ging mit einer Lampe rings um die Mama herum. Mama stand mitten im Zimmer in einem weißen Kleid und hatte rote Rosen im Haar, das war so schön. Ich schoß hinüber und Waldemar mir nach. Dann wollte Mama hinausgehen, ich glaube, der Wagen wartete, aber ich hatte mit beiden Händen ihr Kleid gepackt und wollte sie zurückhalten, und Waldemar erfaßte das Kleid auf der anderen Seite und wir riefen beide: ›Bleib da, Mama!‹ Und Mama rief noch lauter: ›Macht sie los! Macht sie los!‹ Und Fräulein Smele schrie und Jette schrie, und ich weiß noch so gut, wie fest ich das Kleid in meine Hand klemmte, daß sie mit aller Gewalt mir die Faust aufmachen mußten. Ich wollte nur Mama bei uns festhalten; ich verstand nicht, daß ich das Kleid zerknitterte. Nachher habe ich dann von Fräulein Smele oft genug gehört, was ich getan hatte, um es zu begreifen. Wir kamen dann sehr früh ins Institut, weil Papa fand, wir seien zu unruhig, Mama müßte mehr Ruhe haben. Sie war immer sehr angegriffen und konnte Unruhe von Kindern nicht ertragen. Darum haben wir sie wohl so wenig gesehen, noch als wir daheim waren. Mama muß sehr schön gesungen haben, das sagt jedermann, der sie singen gehört hat. Papa sagte gestern, die Stimme von Fräulein Maurizius erinnere ihn an die Stimme der Mutter, besonders wenn sie dieselben Lieder singe, die Mama sang. Müssen Sie nun nicht selbst sagen, Tante Dori, daß in unserem Hause nie ein recht gemütliches Leben war und auch jetzt nicht ist? Da fehlt ein Mittelpunkt. Das merken wir am klarsten, wenn wir bei unserem Freund Thiele gewesen sind. Dort empfängt uns immer die Mutter und spricht mit uns und macht uns alles gemütlich. Und bei allem, das uns fehlt, oder das wir nicht einzurichten wissen, bei Spielen und Aufführungen und bei Verlegenheiten aller Art, sagt Max Thiele nur: ›Das muß man der Mutter sagen, sie weiß Rat und sie hilft uns wohl.‹ Und wenn wir ganz erfüllt von dem netten Leben bei Thieles heimkommen, dürfen wir nicht einmal recht davon sprechen, denn das ist gerade, was Fräulein Smele am tiefsten kränkt, wenn wir sagen: da ist es ganz anders als bei uns. Und vor Papa sagen wir auch nichts mehr, er wird ganz still und traurig und bedauert uns, und sagt dann immer so teilnehmend: ›Ihr armen Jungen, ich kann euch ja nicht ersetzen, was euch abgeht!‹«

»Ihr habt aber doch wirklich einen Ersatz für alles andere in eurem Vater«, warf Dori lebhaft ein. »Ihr fühlt es doch, welch einen Vater ihr habt und könnt wohl bei eueren Freunden auch bemerken, daß wenige von ihnen solche Väter haben, vielleicht nicht einer!«

»Ja, das ist wohl wahr, das haben wir auch schon oft zusammen gesagt, nicht, Waldemar?« fuhr Oskar fort. »Aber Sie können nicht begreifen, wie viele Fälle es gibt, wo man eine Mutter nötig hat, so wie Max Thiele eine hat, der man alles sagen kann und erbitten und fragen und mit ihr beraten und ihre Hilfe holen. Papa denkt selbst so und muß auch darunter leiden. Er seufzt auch manchmal auf, wenn es so öde ist bei uns und keiner weiß, zu wem er soll mit seinen Anliegen, dann sagt er: ›Unserem Hauskörper fehlt das Herz.‹ Das ist ja doch dasselbe, was ich auch meine.«

»Ich würde so gern noch länger hier bleiben und euch alles erzählen hören, aber die Zeit ist um, wir müssen uns zum Spaziergang stellen«, sagte Dori, »Sie sehen so blaß aus, Waldemar, ist Ihnen nicht gut?«

Waldemar erwiderte, er habe immer ein wenig Kopfweh, und Dori dachte, ein Gang im Freien möchte ihm wohltun.

Die Gesellschaft fand sich bald zusammen und setzte sich in Bewegung. Es hatte sich wie von selbst so ergeben, daß die beiden Damen Maurizius, Doktor Strahl an ihrer Seite, vorangingen.

»Die Erklärung des Ursprungs jener altfranzösischen Ballade, die Sie mir versprochen, schenke ich Ihnen nicht, Herr Doktor«, sagte Fräulein Erna im Fortgehen, »ich habe mich den ganzen Morgen lang darauf gefreut.«

Doktor Strahl warf einen raschen Blick zurück, dann ging er vorwärts mit den Damen.

»Ihre jungen Herren sind gut aufgehoben«, bemerkte Fräulein Erna, die dem Blick gefolgt war. »Mein Bruder und Fräulein Maurizius umgeben sie, wie Sie sehen. Die beiden sind selbst noch so jugendlich, daß es ja eine Freude für sie sein kann, sich mit den jungen Leuten abzugeben.«

Der Doktor lenkte das Gespräch auf die Ballade über und in belebter Unterhaltung wurde der Weg die Höhe hinan fortgesetzt. Weniger glatt ging es bei den Nachfolgenden ab. Dori konnte die in allen Farben schimmernden Anemonen am Weg und an den Halden nie genug bewundern und stand immer wieder still. Dann lief Herr Maurizius hin, ihr die schönsten zu pflücken und Oskar wollte nicht weniger dienstfertig sein, lief auch und wer zuerst zurück kam, nahm den Platz neben Dori ein und behauptete ihn fest bis zu einer neuen Blumenjagd. So entstand ein völliges Wettrennen und ein lautes, endloses Gelächter bei den Kämpfern, denn immer war einer wieder der Sieger und der andere hatte das Nachsehen. Jetzt kam die Besteigung der freien Felshöhe. Dori schaute sich um und mit einem Male fing auch sie zu laufen an, aber rückwärts, unaufhaltsam eine ganze Strecke weit. Ihre Begleiter standen verblüfft da und schauten ihr nach. Otto, der ihren Arm nie verlassen, war mitgelaufen. Sie kamen nicht zurück. Oben auf dem Felsen standen die drei Vorangegangenen still; Herr Maurizius und Oskar stiegen vollends hinauf und berichteten Doris Flucht.

»Sollte Fräulein Maurizius um Ottos willen zurückgekehrt sein, war etwas mit ihm nicht in Ordnung, Oskar, hast du nichts bemerkt?« fragte der Vater.

»O der lief ja mit und machte Sprünge wie ein Hase«, entgegnete Oskar, »aber ich glaube, Waldemar war zurückgeblieben, ich habe ihn nicht mehr gesehen.«

Doktor Strahl bat, die Herrschaften möchten sich doch nicht stören lassen und den projektierten Spaziergang zu Ende machen, er wollte gern auf dem kürzesten Weg zurückkehren. Fräulein Erna erklärte, sie werden alle mit ihm denselben Weg zurückmachen, es könnte für niemand eine Freude sein, weiterzugehen, da doch alle nur daran denken könnten, es möchte ihm etwas Unangenehmes bevorstehen. Ihr Bruder fügte bei, hier vom Felsen herunter könne der Herr Doktor auch die alte Kapelle und die meerumschäumten Felsstücke dahinter am besten sehen, was ja das Ziel des Spaziergangs gewesen wäre. Doktor Strahl warf einen flüchtigen Blick auf die Kapelle und das Meer hinab. Dann kehrte die Gesellschaft um. In die Villa eingetreten, fragte der Doktor gleich, ob Fräulein Maurizius zurückgekehrt sei. Er hörte, sie sei oben im Zimmer des jungen Herrn. Er eilte hinauf: Dori saß an Waldemars Bett und hielt seine Hand; ein großes, weißes Tuch bedeckte seine Stirn.

»O ich bin froh, daß Sie da sind, Herr Doktor«, sagte Dori, sobald er eintrat, »ich glaube, man sollte den Arzt kommen lassen, Waldemar hat starkes Fieber.«

Der Doktor trat heran. Er dankte Dori für ihre erste Pflege und wünschte von ihr zu hören, was vorgefallen sei. Dori berichtete, sie hätte schon den ganzen Tag bemerkt, daß Waldemar blaß und angegriffen aussah und als sie nun auf dem Spaziergang gewahrte, daß er nicht mehr folgte, hätte sie gleich gedacht, ihm fehle etwas, und so war es auch. Sie hatte ihn halb ohnmächtig am Wege sitzend gefunden. Sie brachte ihn nur mit Mühe wieder zur Villa zurück. Der Doktor war ganz einverstanden damit, daß nach dem Arzt geschickt werde und erteilte sofort den Befehl.

»Noch eins«, fügte er bei, das forteilende Mädchen zurückrufend, »Sie kennen wohl auch eine Krankenpflegerin, die Sie herbringen könnten? Oder sollte hier im Hause jemand sein, der zur Pflege hier im Zimmer sich niederlassen könnte? Sie verstehen wohl, daß sie ganz zum Dienste des Kranken dableiben müßte.«

»Aber Herr Doktor, das haben wir gar nicht nötig, die Pflege verstehe ich wirklich zu besorgen«, wandte Dori ein.

»Sie werden ja nicht denken, daß ich das annehmen könnte, Fräulein Dori«, entgegnete Doktor Strahl, »ich bitte Sie darum, selbst Ihre Befehle für eine Wärterin zu geben, so wie Sie finden, daß es sein soll.«

Dori schaute das harrende Mädchen an, dann den Doktor, der erwartend auf sie blickte, sie konnte ja nicht mit ihm kämpfen vor der Wartenden.

»Ich habe noch einen Gedanken, Herr Doktor«, sagte sie etwas zögernd.

»Sehr wohl«, fiel er zuvorkommend ein. »Sie holen den Arzt, die weiteren Befehle wird Ihnen nachher das Fräulein erteilen.«

Das Mädchen ging.

»Ich dachte, Herr Doktor«, begann Dori wieder, »wenn eine längere Krankheit in Aussicht stände und der Arzt es befehlen würde, so wäre ja immer noch Zeit genug, sich nach einer Wärterin umzusehen. Aber für einmal möchte ich gern bei Waldemar bleiben, wir sind so gute Freunde geworden; vielleicht ist es ihm auch recht, wenn ich bei ihm bleibe.«

»Ja, gewiß Papa, tausend, tausendmal lieber ist mir Tante Dori, als jede andere Pflegerin«, bezeugte Waldemar.

»Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt«, sagte Doktor Strahl lächelnd, »ich werde es aber nicht annehmen, daß Fräulein Maurizius als völlige Krankenwärterin an deinem Bette bleibe.«

»Bis der Arzt kommt und entscheidet, erlauben Sie mir's doch, Herr Doktor«, sagte Dori bittend. Waldemar hatte ihre Hand immer fester gehalten.

»Ich habe Ihnen nichts zu erlauben, Fräulein Dori; aber Sie bringen Opfer für meine Jungen, die ich nicht annehmen kann.«

»Nein, Herr Doktor, es ist durchaus kein Opfer, das ich bringe«, bezeugte Dori, fest und offen zu Doktor Strahl aufblickend. »Ich bleibe hier bei Waldemar viel lieber, als daß ich ihn verlasse; ich müßte doch immer mit Sorge daran denken, wie es ihm nun wohl gehe, wo ich auch wäre.«

Der Doktor erwiderte, er würde ja gern sie gewähren lassen und möchte auch seinem Waldemar eine so liebe Pflegerin wohl gönnen, wenn er nur nicht das drückende Gefühl dabei hätte, daß ihre Güte mißbraucht würde, daß sie ja schon viel zu sehr mißbraucht worden sei, ohne daß er es vorhergesehen hatte, durch alles, was sie an aufopfernder Pflege an Otto getan, was ihm hier mit jedem Tag klarer geworden sei.

»Aber Herr Doktor«, sagte Dori lebhaft, »wollen Sie mir denn die Freude nehmen, das wenige, das mir gegeben ist, zu brauchen, wenn ich jemand wohltun kann? Sie wissen ja wohl, wie viele Vorzüge andere Mädchen und Frauen vor mir haben; wollen Sie mir denn nicht die Freude gönnen, daß ich denen, die ich lieb habe, doch auch etwas sein kann?«

Doktor Strahl wollte antworten, da klopfte es an die Tür, der Arzt trat ein, er mußte schon in der Nähe gewesen sein. Er untersuchte den Kranken.

»Ein Fieberchen, ein Fieberchen, nichts weiter«, sagte er. »Sehr gut diese kalten Umschläge, nur fortgefahren und zum Schlucken werde ich noch etwas verordnen.«

Doktor Strahl fragte, ob er nicht finde, es sollte eine Wärterin für die Nacht genommen werden, vielleicht für einige Tage.

»O bewahre«, erwiderte der Arzt, »die Umschläge erneuert der junge Herr sich von Zeit zu Zeit selbst, wenn er nicht schlafen kann; schläft er, desto besser. Ebenso mit der Medizin. Der böse Schirokko hat den Jungen etwas umgeworfen, geschieht den Fremden häufig, die nicht an diese Luft gewohnt sind. Die Herrschaften sind wohl erst angekommen? Wird vorübergehen. Morgen noch stille liegen, übermorgen wird's gut sein! Werde nachsehen. Empfehle mich!«

Der Bericht war eine große Erleichterung für Doktor Strahl wie für Dori. Als der Doktor zur Abendtafel erschien, wurde von den Geschwistern Maurizius mit der lebhaftesten Teilnahme nach dem Patienten gefragt. Fräulein Erna blieb trotz aller ablehnenden Dankesworte von seiten des Vaters dabei, dem jungen Kranken ihre Reiseessenz schicken zu wollen, die Tropfen würden sofort Erleichterung bringen. Auch ein wohlriechendes Salz, ein kühlendes Mittel, das sie immer mitführte, würde sie beilegen. Der Kranke hätte nur einigemal kräftig daran zu riechen, so würde er sofort eine angenehme Kühlung im Kopfe und Linderung des Schmerzes empfinden. Fräulein Wera hatte auch einen Eisbeutel mitgebracht, den wollte sie ebenfalls ins Krankenzimmer schicken, wenn Eis aufgelegt werden sollte. Doktor Strahl hatte auf allen Seiten zu danken und nur immer zu versichern, die Sache sei nicht wichtig, der Arzt habe ihn durchaus beruhigt. Die Mitteilung befriedigte allgemein, um so mehr, als schon auf dem Spaziergang die Partie durch die Olivenwälder nach dem Bergdorfe hinauf für morgen festgesetzt worden war.

Der Himmel war gegen Abend heller geworden, man konnte einen schönen Morgen erwarten. Fräulein Erna schlug vor, noch die Höhe der Gartenterrasse zu besteigen, wo man einen weiten Horizont hatte, um recht beurteilen zu können, wie der Himmel aussehe. Der Gang wurde ausgeführt. Weithin war der Himmel rein gefegt von dem tosenden Wind, der jetzt noch alle Bäume rings um die Terrasse durchsauste.

»Es wird schön werden, Sie bestimmen die Zeit des Aufbruchs, Herr Doktor«, sagte Richard freudig erregt. »Spät darf es nicht sein, wir müssen oben anlangen, bevor die Mittagshitze da ist.«

»Ich möchte die Herrschaften in keiner Weise hemmen«, entgegnete der Doktor, »was mich betrifft, ziehe ich vor, meinen Entschluß erst morgen früh zu fassen.«

»Es ist ja, um Ihnen das Land zu zeigen, daß wir wünschen, die Partie zu machen, Herr Doktor«, fiel Erna ein, »so kommt ja nicht in Frage, was wir tun werden, bis Sie morgen einen bestimmten Entschluß gefaßt haben.«

Doktor Strahl dankte für die Freundlichkeit, wollte aber dagegen Einwendungen machen, daß von seinem Entschluß die ganze Unternehmung abhängig gemacht werden sollte. Es half nichts. Es wurde ihm bewiesen, daß der Hauptgenuß solcher Partien immer darin bestehe, sie in erwünschter Gesellschaft zu machen und daß die ganze Tagesfreude von seinem Entschluß abhänge. Der Entscheid wurde dann auf morgen früh verschoben und nach einigem Hin- und Hergehen auf der Terrasse zog sich der Doktor zurück, viel früher als gewöhnlich.

In Waldemars Zimmer, wo er jetzt eintrat, fand er Dori an derselben Stelle sitzend, wo er sie vorher schon getroffen hatte. Sie war gleich nach Tisch verschwunden; Otto mit ihr. Oskar hatte sich so bald als möglich von der Terrasse weggeschlichen und war dahin zurückgekehrt, wo er sich wohl fühlte.

Der Doktor war nicht überrascht, alle zusammen zu finden. Er setzte sich zu der Gruppe.

»Es sieht ganz gemütlich aus in dieser Krankenstube«, sagte er, »so mag man wohl ein wenig krank sein, nicht wahr, Waldemar? Ich will nicht mehr dareinreden mit Ihrer Pflege, ich lasse Sie ganz gewähren, Tante Dori, Sie möchten sonst denken, ich glaube Ihren Worten nicht, die Sie darüber ausgesprochen haben. Ich nehme diese ganz für wahr an, darüber aber habe ich mich in einer günstigen Stunde noch mit Ihnen ins klare zu setzen, was Sie von mir annehmen, das ich wissen sollte, die großen Vorzüge vieler anderer Frauen betreffend. Heute wollen wir uns in keine Besprechungen mehr einlassen, wir wollen uns nur noch freuen, daß du erst hier und nicht schon auf der Reise krank geworden bist, mein Junge, hier bist du so herrlich besorgt.«

Waldemar nickte ganz befriedigt.

Jetzt trat das Mädchen ins Zimmer mit mehreren Fläschchen, einem silbernen Büchschen, einem Eisbeutel und einem Luftkissen. Die Damen Maurizius sandten die verschiedenen Gegenstände für den kranken jungen Herrn; das Kissen sollte unter den Kopf gelegt werden, der Gebrauch der übrigen Gegenstände wäre den Herrschaften schon bekannt, berichtete das Mädchen. Doktor Strahl ließ den Damen seinen herzlichen Dank für alle ihre Teilnahme bezeugen, ihm tue nur leid, daß sie sich so sehr um den Kranken bemühten. Das Mädchen ging. Der Doktor fand es völlig rührend, wie die Damen sich um den kranken Jungen kümmerten; doch meinte er, für einmal sollte man die verschiedenen Hilfsmittel beiseite legen und bei den Anordnungen des Arztes bleiben. Es klopfte schon wieder, das Mädchen [trat] nochmals ein: die Damen ließen bitten, dem jungen Herrn von der kühlenden Erfrischung etwas zu geben, es möchte ihm vielleicht wohltun. Das Mädchen hatte einen Teller mit frischen Orangen und eine Flasche Zitronensaft auf den Tisch gestellt. Doktor Strahl konnte nur seine wiederholten Danksagungen zurückschicken, er würde aber morgen den Damen seine Aufwartung selbst machen, um seinen Dank auszusprechen.

»Diese unverdiente Freundlichkeit ist mir rührend und beschämend«, sagte er, als das Mädchen die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Wir haben ja doch den Damen noch gar nichts bieten können! Wie sehr wünschte ich, daß wir uns ihnen in irgend etwas gefällig erweisen könnten!« Er meinte nach einiger Zeit, wenn Dori seiner Ansicht wäre, so würden sie nun alle den Kranken verlassen, er würde wohl eher den Schlaf finden in völliger Stille. Sollte er etwas bedürfen, so wäre ja Oskar in der Nähe, der könnte ihm beistehen.

Dori war wohl einverstanden mit der Anordnung, doch wollte sie die letzte sein, die das Zimmer verließe, was der Doktor lächelnd gewährte. Nun begann erst ein Rüsten und Räumen im Zimmer, an das kein Mensch gedacht hätte. Da mußte alles, was der Kranke nötig haben konnte, in seiner Nähe so aufgestellt werden, daß er es ohne Mühe ergreifen konnte. Da mußte ein Nachtlicht hergerichtet werden, dann war es nötig, die Kissen noch einmal zu schütteln und die Decke zu strecken. Endlich war alles in Ordnung. Oskar hatte aufmerksam zugeschaut, wie Dori alles so sorgfältig für Waldemar zugerüstet hatte.

»Wenn Sie nicht dagewesen wären, Tante Dori, so hätte ihm ja niemand das alles so schön zurechtgemacht«, sagte Oskar.

»Desto besser, daß ich eben da war«, entgegnete Dori. »Es sind ja nur kleine Dinge, die ich ihm zurechtmache, aber so ist ihm wohler. Tun Sie mir nun noch einen Gefallen, Oskar? Wollen Sie Ihre Tür unverschlossen lassen? Das Haus ist ja so sicher, Sie fürchten sich doch nicht?«

»O bewahre! Ich verstehe wohl«, sagte Oskar, »Sie wollen später wiederkommen und sehen, ob Waldemar etwas bedarf. Ich könnte das wirklich nicht tun, denn sobald ich den Sprung ins Bett hinein getan, so schlaf' ich auch schon. Sonst wollte ich gern versprechen, daß ich ihn fragen will.«

Dori war ganz zufrieden mit dem Versprechen, das sie erreicht hatte; dann ging sie, von Otto gefolgt, der still in einer Ecke sitzend seine Zeit abgewartet hatte. Als sie jetzt in sein Zimmer eintraten, sagte er seufzend: »Wenn wir nur bald nach Cavandone gehen könnten!« Aber Dori verwies es ihm, daß er jetzt diesen Wunsch ausspreche, er müßte sich doch freuen, nun mit dem Vater und den Brüdern zusammen zu sein und gar nicht fort begehren. Es ging ihr aber eigen: je mehr sie gegen dieses Begehren sprach, je klarer fühlte sie, daß es auch in ihrem Herzen aufgestiegen war und immer lebendiger wurde. Als ihr Junge sie heute auf sich niederzog, um ihr den Nachtkuß zu geben, da hielt sie ihn so zärtlich fest, als sollte er ihr genommen werden. Dann mußte sie sich rasch abwenden, ihre Tränen durften nicht auf ihn fallen. Was war denn über sie gekommen? Dori setzte sich in ihrem Zimmer hin, legte den Kopf in ihre Hände und wollte ruhig alles überdenken, was so plötzlich wie im Sturm ihr innerstes Wesen aufgewühlt, wie sie es nie gekannt hatte. Sollte es wirklich kommen, was sie in Augenblicken sich schon vorgestellt, dann schnell wieder verworfen hatte? Sollte Doktor Strahl wirklich von Fräulein Erna angezogen sein, so sehr, daß er sie zur Lebensgefährtin, zur Mutter seiner Söhne erwählen könnte? Warum denn nicht? War sie nicht eine so vielseitig gebildete Dame, daß sie über alles mit ihm sprechen konnte? Mußte sie in der Gesellschaft nicht besonders gefeiert werden mit ihrer Gewandtheit und ihrer Unterhaltungsgabe? Und wie schön sang sie! – Ihre Stimme erinnerte ihn an die Frau, die er verloren hatte. Ja, es lag ja so nahe, es mußte wohl so kommen. Ihre Gesinnung war auch zu erraten. Dieselbe Dame, die für Otto, der nur zu einer unbedeutenden Pflegerin gehörte, nie ein freundliches Wort, nicht einmal einen freundlichen Blick gehabt, im Gegenteil, ihn nicht selten ihren Mangel an Sympathie für ihn deutlich genug hatte fühlen lassen –, konnte heute nicht genug Teilnahme für den Bruder zeigen und häufte eine Freundlichkeit auf die andere für ihn. Freilich, dieser war im Geleite seines Vaters gekommen, und was für eines Vaters! Es war nicht schwer zu erraten, wem die Huldigungen galten. Warum preßte nur der Gedanke ihr Herz so zusammen? Aber konnte es denn anders sein, wenn sie diese Dame als Mutter ihres Jungen vor sich sah? Ihr war, als müsse sie laut aufschreien: nein! Es kann ja nicht sein! Dori sprang von ihrem Stuhl auf und ging im Zimmer hin und her. Was hatte sie sich denn ausgedacht? Wie waren ihr diese Gedanken gekommen? Vielleicht war alles in ihrer eigenen Einbildung entstanden. Aber sie hatte ja nach Waldemar sehen wollen. Sie huschte leise hinüber. Oskar zog so tiefe Atemzüge, daß wohl zu hören war, wie fest er schlief. Dori beugte sich auf den Kranken nieder und fragte leise: »Schlafen Sie, Waldemar?«

»Nein, gar kein bißchen«, war die Antwort, »und das Tuch auf der Stirn liegt auch nicht gut, ich konnte es nicht mehr so knüpfen, wie es vorher war, ich hatte es im Wasser frisch machen wollen.«

Das konnte Dori sehen, es war wie ein Strick um den Kopf gewunden.

»Nein, so geht's nicht«, sagte sie, den Umschlag wegnehmend, »so wird's besser sein. Und nun die Medizin, haben Sie schon davon genommen?«

»Nein, der Kork war so hart in der Flasche, dann ist er mir abgebrochen«, berichtete Waldemar.

Dori besah sich den Schaden. Sie wußte erst nicht recht, wie zu helfen war, der Kork saß tief drinnen und unbeweglich fest. Ein Korkzieher war mitten in der Nacht nicht zu erhalten. Sie holte sich Messer und Schere in ihrem Zimmer und suchte damit zum Ziel zu kommen. Es war nicht leicht, aber endlich gelang es doch. Nun füllte Dori die kleine Schale und reichte sie Waldemar. Noch war kein Schlaf in seinen Augen zu sehen. Dori konnte ihn nicht gleich wieder allein lassen, sie setzte sich an sein Bett nieder.

»Wollen Sie ein wenig bei mir bleiben?« fragte er erfreut. »Ich bin so froh darüber! Wenn ich nicht schlafen kann, dann kommen mir so viel traurige Sachen in den Sinn. Aber ich wollte so gern, daß Sie mich du nennen sollten, ich bin ja doch kein Herr, ich bin ja nur 15 Jahr alt.«

»Glaubst du, daß es deinem Vater auch recht ist, wenn ich so tue?« fragte Dori.

»O ja, gewiß«, versicherte Waldemar. »Oskar hat letzthin gesagt, wenn wir nach Cavandone gehen und für die Ferien bei Ihnen bleiben dürfen, dann wolle er Sie auch bitten, uns du zu nennen, wie den Otto, der sollte Sie nicht allein als Tante haben. Dann hat Papa gesagt, wir hätten dann vor allem Sie zu fragen, ob Sie uns so nah an sich herankommen lassen wollen, als ob wir zu Ihnen gehörten.«

»Ja, das will ich nun ganz gern«, entgegnete Dori. »Zu einer Tante gehört man von vornherein und das bin ich nun schon für alle drei. Aber sag mir nun, Waldemar, was ist das Traurige, woran du denkst, wenn du schlaflos daliegst?«

»Ich denke dann an viele Tage bis weit zurück, wie wir noch klein waren, Oskar und ich, und ich weiß gar keine Zeit, in der ich recht fröhlich sein konnte; es machte mich immer etwas traurig, und ich weiß wohl, was es war.«

»Und was war es denn, Waldemar?« fragte Dori.

»Es war, daß alle Menschen immer nur Oskar lieb hatten, mich hatte niemand gern, gar niemand.«

»Ach, Waldemar, das hast du dir wohl eingebildet«, meinte Dori.

Waldemar schüttelte ganz ernsthaft den Kopf: »Nein, nein, ich weiß es ganz bestimmt und viele Leute haben es mir so deutlich gezeigt! Eine Dame hat auch einmal zu Fräulein Smele gesagt, als sie uns aus einer Gesellschaft bei der Dame abholte: ›Nie habe sie so ungleiche Brüder gesehen. Der eine so offen und liebenswürdig und entgegenkommend und der andere gerade das Gegenteil.‹ Und nachher sagte sie noch: Schon im Äußeren seien wir so verschieden. Wie doch ein Bruder so glänzend und feurig und der andere so fade aussehen könne. Sie wußte nicht, daß ich gleich hinter ihr stand. Ich verstand recht gut, wer so fade aussah, daß die Leute ihn nicht gern sehen mochten. Und Fräulein Smele sagte auch viele Worte, die mir verständlich machten, daß man Oskar lieb haben könne und mich nicht.«

»Aber dein Vater hat dir gewiß immer dieselbe Liebe gezeigt wie deinem Bruder«, wandte Dori ein.

»Ja, aber er konnte ja nicht anders als den Oskar lieber haben; wenn dieser doch immer fröhlich sein konnte und dem Papa, wenn er traurig war, so lustige Sachen zu erzählen wußte, daß es den Papa wieder erheiterte und er auf einmal lachen konnte. Dann hat er den Oskar manchmal um den Hals gefaßt und festgehalten, so wie wenn er einen Trost festhalten wollte; das konnte ich ja nie für ihn sein.«

»Aber wenn du doch empfandest, Waldemar, daß der Vater es nötig hatte, erheitert und getröstet zu werden, konntest du dann nicht auch etwas für ihn tun, das ihn freute? Du hast ja deinen Vater doch sehr lieb.«

»Ja, eben darum, wenn ich ihn so sah, wie er vor Traurigkeit kein Wort zu uns sagen mochte, dann hat es mir so weh getan, daß ich gar nichts tun und auch nicht reden konnte, dann hatte ich nur immer zu kämpfen, daß ich nicht weinen mußte. Und auch wenn Papa gar nicht traurig war, so konnte ich ihn nie so unterhalten und ihm Freude machen, wie Oskar es kann. Er ist eben von vornherein so, er muß nichts Besonderes machen, ich begreife es ganz gut, daß alle Menschen ihn lieb haben und mich nicht; das hat mich dann noch scheuer gegen alle Leute gemacht, weil ich das immer so deutlich fühlte.«

»Siehst du, Waldemar«, sagte Dori, »nicht viele können so von vornherein einnehmen ohne alles Hinzutun, nur schon durch ihr Wesen und ihre Erscheinung, das sind sehr bevorzugte Menschen. Aber jeder hat etwas, wodurch er die andern gewinnen kann. Wenn er gleich mit Liebe und Vertrauen ihnen entgegengeht und gar nicht an sich denkt, sondern nur an die andern, und was er tun könnte, das sie freuen würde.«

»O, ich kann nicht so sein, zu niemand, das kann Oskar tun und dann haben ihn die Leute um deswillen noch um so lieber. Aber wenn ich immer gleich von vornherein fühle, sie mögen mich nicht, dann kann ich ihnen ja nicht so entgegengehen, ich muß mich ja scheuen, ihnen nur nahe zu kommen, können Sie das gar nicht begreifen, Tante Dori?«

Armer Waldemar, dachte Dori, nicht nur gehörte er nie zu den Kindern, die aller Herzen gewinnen schon durch ihre Erscheinung, sondern auch jene Liebe, die dem Kinde jede andere leicht entbehrlich macht, hatte er nie gekannt, die Liebe einer Mutter.

»Ich kann wohl begreifen, daß es dich schmerzt, was du erfährst«, sagte sie dann, »wenn es auch manchmal nur etwas wäre, das du dir einbildest, es tut doch weh, um so mehr, wenn du es so in dich verschließest und es niemand sagen kannst. Ich weiß wohl, wie es tut, wenn man als Kind leidet, man fühlt das Weh so schrecklich schwer, weil man keine Wehr dagegen hat und denkt, es werde nimmer aufhören, so müsse es durch das ganze Leben in uns bleiben. Aber später kommt es anders, das wirst du auch erfahren, und das Schwere, das du getragen hast, ganz anders ansehen. Du wirst erfahren, daß du gerade dadurch gewonnen hast, was dich vielen Menschen lieb machen wird, denn du kannst dann andern wohltun damit, daß du verstehen kannst, was ihnen weh tut; du hast es selbst erlebt und kannst ihr Leid mit ihnen tragen. Und noch ein viel besserer Trost kommt dir dann ins Herz damit: das feste Vertrauen und die Zuversicht, daß dein Vater im Himmel dich so lieb hat wie seine anderen Kinder, daß er dich nur auf einem andern Wege Freude und Befriedigung finden lassen mußte, als andere ihn geben. Willst du daran denken, Waldemar, wenn dir die traurigen Gedanken wieder kommen, daß dir die beste Freude aus dem Schweren, das du trägst, erwachsen wird? Dann wird es dir auch jetzt schon leichter vorkommen.«

»Ja, ich will wohl«, antwortete Waldemar. »Wenn Sie immer bei mir wären, dann könnte ich gut alles so annehmen; aber es wäre dann alles nicht mehr schwer, weil Sie so lieb mit mir sind, und weil ich zu Ihnen reden kann, wie sonst zu niemand.«

Eben jetzt schlug es zwei Uhr.

»Ich glaube, du solltest nun versuchen, zu schlafen«, sagte Dori, nahm rasch noch einmal den kalten Umschlag zur Hand, tauchte ihn ein und band ihn wieder um die Stirne fest. »Auch noch einmal die Medizin, die wird gut tun.« Dori goß den braunen, wenig lockenden Saft in die Schale.

»Die hätte ich gar nicht nehmen können, wenn Sie nicht gekommen wären«, sagte Waldemar, »was hätte dann der Arzt gesagt und auch der Papa?« Jetzt schluckte der Junge mit völliger Befriedigung den bitteren Trunk hinunter.

»So, mein lieber Waldemar, nun suchst du zu schlafen; ich bin aber ganz in deiner Nähe, du hast nur die Klingel zu berühren, ich höre sie augenblicklich und bin wieder bei dir.«

Dori hielt liebevoll die Hand ihres Kranken noch einen Augenblick fest, dann ging sie nach ihrem Zimmer. Sie blieb noch an ihrem Fenster stehen. Der helle Himmel war von strahlenden Sternen übersäet, ein herrlicher Tag war vorauszusehen. Ein Tag für die Partie nach der Höhe, sagte sich Dori. Wie leicht und ungezwungen war der Verkehr auf solchen Wanderungen! Wie anders als im Gesellschaftssaal! Ein einziger Tag so verlebt, brachte die, welche sich zusammenhielten, einander näher als sonst wohl Wochen. Dori mußte weiter und weiter denken, immer noch blieb sie am Fenster stehen, sie fühlte keinen Schlaf. Wohl zwei Stunden waren ihr so vergangen; dann ging sie leise, leise noch einmal nach dem Krankenzimmer hinüber. Waldemar lag ruhig schlafend auf seinem Kissen. Einen Augenblick schaute Dori auf das auch im Schlaf so ernste, fast traurige und doch noch so junge Gesichtchen. Dann zog sie sich so leise zurück, wie sie gekommen war.


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