Johanna Spyri
Vom This, der doch etwas wird
Johanna Spyri

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4. Kapitel.
Was die Sennenmutter haben will

Die Sonne stieg strahlend hinter dem hohen Bergzacken empor, als Franz Anton seine Augen aufschlug und verwundert um sich schaute. Er schauderte ein wenig zusammen, es fröstelte ihn. Er wollte sich aufsetzen, aber sein Kopf war schwer und dumpf. Er fuhr mit der Hand an die Stirn, es war, als liege etwas darauf. Und er irrte sich nicht. Wohl sechsfach zusammengelegt lag naß und schwer das große Handtuch aus der Sennhütte auf seinem Kopf. Er legte es weg, und als nun der frische Morgenwind über die Stirn blies, fühlte er sich so wohlig und erleichtert, daß er sich schnell aufsetzte und um sich schaute. Da sah er auf einmal in zwei große, ernsthafte Augen hinein, die unverwandt auf ihn gerichtet waren.

»Bist du das, This?« fragte er verwundert, »Wie kommst du so früh auf die Alm? Nun, weil du da bist, komm, daß ich mich ein wenig auf deine Schulter stützen kann. Ich bin schwindelig und komme nicht allein auf.«

Der This sprang vom Boden auf und trat nahe an den Senn heran. Er stemmte mit aller Gewalt seine beiden Füße in den Boden hinein, so daß der Franz Anton einen festen Halt an ihm fand und aufstehen konnte. Während des langsamen Aufstiegs zur Hütte, als er sich immer noch auf die Schulter des Buben stützte, fing er an, sich daran zu erinnern, was ihm eigentlich passiert war. Doch blieben ihm einige Vorgänge der Nacht völlig unklar. Vielleicht konnte ihm der This auf die Spur helfen. In der Hütte angelangt, setzte sich der Senn auf einen seiner dreibeinigen Stühle und sagte: »This, hol dir den anderen und setz dich hierher zu mir. Aber zuerst nimm dort den Topf herunter, wir wollen ein wenig kalte Milch miteinander trinken, Feuer kann ich jetzt noch nicht machen. Ein Schüsselchen steht daneben. Sieh nur, wo ist es denn hingekommen ?« unterbrach sich der Senn, »ich stelle es regelmäßig dort hinauf. Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht seit gestern.«

Der This war feuerrot geworden, er wußte wohl, wer das Schüsselchen heruntergenommen hatte. Ganz zaghaft sagte er: »Dort steht's am Boden«, holte es schnell herbei, auch den Milchtopf und reichte beides dem Senn. Dieser schüttelte ganz betroffen den Kopf. Solange er lebte, hatte er noch nie sein Schüsselchen dort bei der Tür auf den Boden gestellt. Er trank jetzt schweigend und nachdenklich seine Milch, füllte dann das Schüsselchen wieder und sagte: »Da, This, trink auch! Du hast mir einen guten Dienst erwiesen, daß du so früh hinauf kamst. Hast du etwa gemeint, es sei Käsfischtag und du seist dann sicher der erste?«

»Nein, gewiß nicht«, versicherte This.

»Sag mir jetzt etwas«, fuhr der Senn fort, der schon ein paarmal unruhig auf das nasse Tuch, das jetzt auf dem Tisch lag, dann wieder zu dem kleinen Wasserkessel geschaut hatte. »Sag mir, This, habe ich denn das Tuch schon auf meiner Stirn gehabt, als du heute früh heraufkamst?«

Jetzt wurde der This ganz dunkelrot. Denn er dachte, wenn der Senn alles erfahre, was er getan hatte, so sei es ihm vielleicht nicht recht, und er könnte böse werden. Aber der Franz Anton schaute ihm jetzt so tief in die Augen, daß er alles sagen mußte: »Ich habe es selbst darauf gelegt«, fing er zaghaft an.

»Warum denn, This?« fragte der Senn verwundert.

»Weil sie so heiß waren«, erwiderte This.

Der Senn staunte immer mehr. »Aber ich bin ja schon bei Sonnenaufgang erwacht«, sagte er. »Wann bist du denn heraufgekommen?«

»Gestern um fünf, oder um vier Uhr«, stotterte der This furchtsam, »der Melker kam erst lange nachher.«

»Was, du bist die ganze Nacht hier oben gewesen? Was hast du denn gewollt und gemacht?«

Jetzt sah der Franz Anton, daß dem This ganz bange wurde, ihm selber aber fielen nun wieder die Vorgänge der letzten Nacht ein. Ganz väterlich klopfte er dem Buben auf die Schulter und sagte ermunternd: »Vor mir brauchst du dich gar nicht zu fürchten, This. Da, trink noch eins aus, und dann sag mir alles, was du weißt, von da an, als du hier heraufgekommen bist.« Auf diese Ermunterung hin faßte der This neuen Mut. Erst trank er die Milch in wenigen Zügen aus, denn sie schmeckte herrlich.

Dann fing er an zu berichten: »Ich habe nur ein wenig zu Ihnen hier herauf gewollt, aber nur so wie alle Tage, nicht wegen der Käsfische. Und weil dann der Melker schon lange die Milch gebracht hatte und Sie nicht kamen, habe ich Sie gesucht. Und dann habe ich Sie am Boden gefunden, und Sie sind ganz rot und heiß gewesen und haben Durst gehabt. Dann bin ich geschwind zum Sumpfloch hinabgelaufen und habe alle großen Erdbeeren gepflückt, die noch da waren, und habe sie Ihnen gebracht. Und Sie haben sie gern genommen. Aber dann haben Sie auf den Kopf gezeigt und nach Wasser verlangt. Da habe ich aus der Hütte das Schüsselchen geholt und den kleinen Kessel, und am Schwemmebach habe ich ihn gefüllt. Dann habe ich Ihnen mit dem Schüsselchen das Wasser über den Kopf geschüttet und auch zu trinken gegeben, denn sie haben immer wieder Durst gehabt. Wenn dann der Kessel leer war, bin ich zum Bach hinüber und habe ihn wieder gefüllt. Aber weil das Wasser immer so schnell aufgebraucht war, habe ich gedacht, ein dickes Tuch wurde den Kopf besser kühlen. Und so habe ich das Tuch aus der Hütte geholt und es ganz naß auf Ihren Kopf gelegt. Nur, wenn es dann trocken und heiß wurde, habe ich es wieder in den Kessel getaucht und es dann wieder naß auf den Kopf getan. Am Morgen sind Sie dann erwacht, und ich war froh, ich habe immer gedacht, wenn Sie nur nicht etwa krank werden.«

Der Senn hatte mit großer Aufmerksamkeit zugehört. Jetzt stand alles deutlich vor ihm, was er in der Nacht erlebt hatte. Er wußte auch wieder, wie er halb wachend und im Fieber den Engel mit den Erdbeeren als Retter empfunden und dann das Wasser des Schwemmebachs gespürt und genossen hatte. Der Franz Anton schaute den This so stumm und verwundert an, als hätte er noch nie einen Buben gesehen. Nein, einen solchen hatte er noch nie gesehen. Wie war es denn möglich, daß dieser Bub, den alle Leute nur den dummen This nannten, sein Leben gerettet hatte.

Hätte der This sein Fieber nicht mit dem Wasser gelöscht, wer weiß, was bis zum Morgen daraus geworden wäre! Und wie konnte dieser This, dem niemand ein freundliches Wort gab, zu einer solchen Aufopferung fähig sein, daß er die ganze Nacht bei einem anderen wachte und ihn pflegte! Dem großen, starken Franz Anton kamen die Tränen in die Augen, als er den scheuen, verachteten This ansah und das alles überdachte. Er nahm jetzt den Buben bei der Hand und sagte: »Wir wollen gut Freund bleiben, This, ich habe dir viel zu danken, das vergesse ich nicht. Tu mir nur noch einen Gefallen, mir zittern die Glieder so, daß ich mich jetzt niederlegen muß. Geh du nun hinunter zu meiner Mutter und sag ihr, sie soll zu mir heraufkommen, es sei mir nicht ganz wohl. Du mußt dann auch wieder mit ihr kommen, ich habe noch viel mit dir zu reden heute, vergiß es nicht!«

Solange er lebte, war der This noch nie so glücklich gewesen. Er lief springend den Berg hinunter, als könne er nicht hoch genug aufspringen vor Freude. Nun hatte der Senn ihm selbst befohlen wiederzukommen, und er brauchte sich nicht mehr zu verbergen, sondern durfte gleich in die Sennhütte eintreten. Außerdem hatte der Franz Anton ihm noch gesagt, er wolle gut Freund mit ihm bleiben. Bei jedem dieser Gedanken sprang der This wieder hoch in die Luft und kam bald bei der Mutter an. Gerade als er von oben herunter auf das saubere Häuschen mit den schimmernden Fenstern zurannte, kam von unten herauf im Sonntagsschmuck, das Gesangbuch in der Hand, die Sennenmutter aus der Kirche. Der Bub lief auf sie zu, konnte aber zuerst nichts sagen, denn er war ganz atemlos vom Laufen.

»Woher kommst denn du?« fragte die sonntäglich gekleidete Frau, die nicht gern etwas Unordentliches sah. Mißbilligend musterte sie den Buben von oben bis unten, denn er machte keinen sonntäglichen Anblick in seinen zerfetzten Alltagshöschen und dem schmutzigen Hemdlein. »Ich meine, ich habe dich schon dort drüben über dem Bach gesehen, du bist wohl einer vom Hälmli-Sepp?«

»Nein, nur der This«, erwiderte der Bub ganz demütig.

Jetzt fiel der Frau ein, daß die Frau des Hälmli-Sepp einen einfältigen Buben bei sich hatte, von dem sie sagten, er sei zu nichts zu brauchen. Den hatte sie wohl jetzt vor sich. »Und was willst du denn bei mir?« fragte sie nun erst recht verwundert.

Der This war wieder zu Atem gekommen und richtete nun seinen Auftrag klar und richtig aus. Die Frau erschrak sehr. Noch nie war der kerngesunde Franz Anton krank gewesen. Und daß er nach ihr schickte und nicht selbst herunterkommen konnte, war ein recht schlimmes Zeichen. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie ins Haus, packte in großer Sorge das Nötigste zusammen und kam nach kurzer Zeit mit ihrem großen Korb am Arm heraus.

»Komm«, sagte sie zu This, »wir wollen gleich gehn. Warum mußt du wieder mit?«

»Ich weiß nicht«, antwortete er. Und fast als wäre es etwas Böses, setzte er leise hinzu: »Muß ich nicht den Korb tragen?«

»So, jetzt verstehe ich's«, sagte die Frau, »der Franz Anton hat daran gedacht, daß ich allerhand mitbringen will.« Sie gab dem This den Korb. Schweigend ging sie nun neben ihm den Berg hinauf, denn sie war tief in ihren Gedanken versunken. Ihr braver Franz Anton war ihr ganzer Stolz und ihre Freude. Sollte er wirklich erkrankt sein? Konnte die Krankheit gefährlich sein? Ihre Angst wurde immer größer, je näher sie der Sennhütte kamen, Jetzt waren sie oben – nur noch einige Schritte – der bekümmerten Mutter zitterten die Knie, sie konnte fast nicht mehr weiter. Jetzt trat sie ein. Es war niemand da. Sie schaute überall umher und zu dem Heuboden hinauf. Dort lag ihr Sohn tief im Heu drinnen, sie konnte ihn nicht recht sehen. Mit klopfendem Herzen stieg sie die Leiter hinauf.

Der This blieb ehrerbietig draußen vor der Tür stehen, nur den Korb schob er in die Hütte hinein. Als die Mutter sich jetzt angstvoll über ihren Sohn beugte, schlug dieser seine blauen Augen auf, streckte ihr fröhlich seine Hand entgegen, setzte sich auf und sagte munter: »Grüß dich Gott, Mutter! Das freut mich, daß du da bist. Ich habe aber geschlafen wie ein Bär, die ganze Zeit, seit der This fortging.« Die Mutter starrte den Sohn an, halb in Freude, halb in Schrecken, sie wußte gar nicht, was sie denken sollte. »Franz Anton«, sagte sie jetzt ernsthaft, »was ist mit dir? Redest du im Fieber, oder weißt du, daß du mich hast holen lassen?«

»Ja, ja, Mutter«, lachte jetzt der Franz Anton, »jetzt bin ich ganz bei mir und das Fieber ist vorbei. Aber alle Glieder zitterten mir noch, ich konnte nicht herunterkommen und wollte doch so gern mit dir reden. Ich fühl's auch jetzt noch in den Knien zittern, ich käme noch nicht weit.«

»Aber was ist's denn, was war es denn, Franz Anton? Sag mir's doch«, drängte jetzt die Mutter und setzte sich auf das Heu neben den Sohn.

»Ich will dir nun alles berichten, Mutter, eins nach dem anderen«, sagte er, indem er sich an einen Heuballen lehnte. »Sieh einmal zuerst dort unten das schmale, magere Büblein an, das kein gutes Stück Gewand auf dem Leib hat, dem keiner ein gutes Wort sagt und den jeder nur den dummen This nennt.«

Die Mutter schaute zu dem This hin, der wie ein Sperber nach dem Senn hinaufspähte, ob er etwa wieder umfallen wolle.

»Und jetzt?« fragte die Mutter gespannt.

»Der hat mir das Leben gerettet, Mutter! Wenn dieses Büblein nicht gewesen wäre, so läge ich jetzt noch draußen auf dem Boden in einem tödlichen Fieber, oder vielleicht wäre es auch schon vorbei mit mir.« Und jetzt erzählte Franz Anton alles, was sich seit gestern nachmittag zugetragen hatte. Wie der This ihn die ganze Nacht nicht verlassen und ihn erquickt und gepflegt hatte, so wie der gescheiteste Mensch auf der Welt es nicht besser hätte tun können.

Die Mutter mußte sich mehrmals die Tränen abwischen. Sie stellte sich vor, wenn ihr Franz Anton allein und verlassen in seinem Durst da draußen gelegen hätte und vielleicht vom Fieber ganz verzehrt worden wäre, und kein Mensch hätte etwas von ihm gewußt. Und jetzt stieg ein Dank und eine Freude in ihrem Herzen auf, daß sie laut ausrufen mußte: »Gott sei Lob und Dank! Gott sei Lob und Dank!« Aber auch eine solche Liebe zu dem armen This überkam sie, daß sie ganz eifrig sagte: »Franz Anton, der This geht mir nicht mehr zur Frau des Hälmli-Sepp zurück! Sicher hat der arme Bub Hunger gelitten, und in Schmutz und Fetzen hat sie ihn laufen lassen. Heute noch nehme ich ihn mit mir, und morgen mache ich ihm ein Gewand, daß man ihn ansehen darf. Er muß es nicht schlecht haben bei uns, wir wollen nicht vergessen, wie er dir geholfen hat.«

»Das ist nun gerade, was ich wünschte, Mutter, aber ich mußte doch zuerst wissen, was du dazu sagst. Und jetzt hast du dasselbe Vorhaben und schon alles ausgedacht, wie es nicht besser sein könnte. Es geht nichts über eine Mutter!« Und der Franz Anton schaute sie so voller Glück und Liebe an, daß es ihr im Innersten wohltat und sie bei sich dachte: Es geht auch nichts über einen wohlgeratenen Sohn. Dann sagte sie: »Jetzt mußt du etwas essen, Franz Anton, daß du wieder zu Kräften kommst. Ich habe frische Eier und ein Weißbrot mitgenommen, und jetzt will ich Feuer machen, laß dir Zeit zum Herunterkommen.« Das mußte der Franz Anton auch tun, denn er schwankte noch ein wenig. Aber es ging. Er kam herunter und winkte jetzt den This zum Tisch heran, an den er sich selbst niedergesetzt hatte.

»This«, sagte er jetzt, dem Buben freundlich in die Augen schauend, »willst du ein Senn werden?«

Der This fing an zu lächeln, aber dann hörte er plötzlich die vernichtenden Worte, die er von allen Seiten hundertmal vernommen hatte: »Aus dem wird nie etwas,«, »der kann nichts«, »der wird nichts«. Und schüchtern antwortete er. »Ich kann nichts werden.«

»This, ein Senn wirst du«, sagte der Franz Anton mit Bestimmtheit. »Du hast dich gut genug angestellt bei deiner ersten Arbeit. Nun bleibst du bei mir und trägst Milch und Wasser und hilfst mir bei allem. Und ich zeige dir, wie man buttert und Käse macht und sobald du groß genug bist, steckst du die Arme in den Kessel und bist mein Gehilfe.«

»Hier in der Schwemmebachsennhütte?« fragte This, dem die Aussicht auf diese Glückseligkeit ganz unfaßbar war.

»Alles hier, in der Schwemmebachsennhütte«, bestätigte der Franz Anton.

Auf das Gesicht des This kam jetzt der Ausdruck eines so strahlenden Glücks, daß der Senn ihn nur ansehen mußte. Der Bub war wie verwandelt. Das bemerkte auch die Mutter, als sie eben den großen Eierkuchen auf den Tisch stellte, den sie gebacken hatte. Sie streichelte den Buben und sagte: »Ja, Thisli, heute wollen wir miteinander fröhlich sein und morgen auch noch. Und alle Tage wollen wir dem lieben Gott dafür danken, daß er dich gerade zur rechten Zeit in die Nähe vom Franz Anton geschickt hat, wenn schon kein Mensch begreift, warum du da heraufgekommen bist.«

Jetzt begann das fröhliche Essen, und noch nie in seinem ganzen Leben hatte der This so viele gute Sachen auf einem Tisch zusammen gesehen. Denn zu dem Eierkuchen hatte die Mutter das frische Weißbrot hingelegt und daneben Butter und weißen Käse. Und mitten auf dem Tisch stand eine große Kanne voll dickrahmiger Milch. Von allem legte jetzt die Mutter große, dicke Stücke vor den This hin, und wenn er fertig war, gab es gleich noch einmal so viel.

Als gegen Abend die Mutter sich zum Heimgehen bereitmachte, sagte sie: »Franz Anton, ich habe mich anders besonnen, der This muß bei dir oben bleiben, bis du wieder ganz gesund bist. Er kann dir helfen, wo es nötig ist. Der Frau des Hälmli-Sepp will ich schon alles berichten.«

Das war dem Sennen recht, und für den This war es das höchste Glück, das er erreichen konnte. Nun war er wirklich daheim beim Franz Anton. Nicht mehr verborgen unter den Tannenbäumchen hörte er heute den Nachtsegen, er stand unter dem Sternenhimmel neben dem Senn, als dieser seine Hände faltete und sagte: »Komm, This, nun beten wir den Abendsegen.« Andächtig faltete auch er seine Hände, und als am Schluß der Senn sagte: »Gute Nacht geb euch Gott!«, da war das Glück im Herzen des This so groß, daß er gern überlaut allen Menschen auf der ganzen Welt sagen wollte: ›Gute Nacht geb euch Gott!‹

Noch an demselben Abend ging die Sennenmutter hinüber zu der Frau des Hälmli-Sepp, die mit ihren drei Buben und Lisi vor dem Haus stand und gerne verstehen wollte, was ihre Kinder alle auf einmal erzählten. Die Sennin hörte, daß von Franz Anton die Rede war, dessen Unfall der Melker berichtet hatte. Als sie nun der Frau des Hälmli-Sepp erklärte, daß sie mit ihrem Sohn übereingekommen sei, sie wollten den This bei sich annehmen, da machte die Frau einen großen Lärm. Sie sagte, sie sollten doch lieber einen von ihren drei Buben nehmen, die seien für den Senn eine größere Hilfe als der dumme This. Und die Buben schrien alle aus vollen Hälsen: »Mich! Mich! Mich!« Denn sie wußten wohl, wie gut der Franz Anton war, und was es in der Sennhütte für gute Dinge gab. Da half aber alles Schreien und Bitten nichts.

Die Sennin sagte ganz ruhig, sie bleibe beim This, und sie kenne ihn schon, er habe mehr Herz und Verstand als mancher, der ihn den dummen This nenne. Sie wolle auch die Buben warnen, sie sollten jetzt das Hänseln und Verspotten unterlassen, sonst hätten sie es mit ihrem Sohn zu tun. Der rede dann mit seinen kräftigen Armen eine deutlichere Sprache mit den Buben, als sie es jetzt könnte. Dann verließ die Sennin die Leute, die ihr alle ganz stumm und verblüfft nachschauten, und jedes der Kinder dachte bei sich: Wenn ich doch nur der This wäre, der wird's gut haben, wie ein König wird er da oben in seiner Sennhütte leben. Wo aber von dem Tag an der This sich sehen ließ, liefen ihm die Buben alle nach, und jeder wollte sein bester Freund sein. Denn sie mußten alle an den letzten Käsfischtag denken, als der This so übel behandelt worden war. Von nun an würde er ja gewiß alle Käsfische allein bekommen, da wäre doch jeder gut daran, der sein Freund wäre. Und später waren sie auch alle gut daran, denn dem This machte es die größte Freude, die reiche Ernte der Käsfische unter allen gerecht aufzuteilen. Und er konnte sich nicht genug darüber wundern, wie freundlich jetzt alle Kinder zu ihm waren. Er wurde nie mehr ausgelacht. Als er vor niemandem mehr Angst hatte, da zeigte sich zur Überraschung aller, daß er auf einmal ein ganz flinkes, geschicktes Bürschchen war, von dem jeder sagen mußte: »Entweder ist das nicht derselbe Bub, oder man hat niemals ein Recht gehabt, ihn den dummen This zu nennen.« Sogar der Herr Pfarrer sagte nach einiger Zeit, sein liebster Schüler im Unterricht sei jetzt der This. Denn bei allem, was er antwortete, habe er einen klaren Gedanken, und die anderen Buben könnten ihn sich alle zum Vorbild nehmen.


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