Johanna Spyri
Moni der Geißbub
Johanna Spyri

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3. Kapitel.
Ein Besuch

So waren mehrere Tage vergangen, einer so sonnig und klar wie der andere, denn es war ein besonders schöner Sommer. Und der Himmel blieb blau und wolkenlos vom Morgen bis zum Abend.

Jeden Morgen in der Frühe war der Geißbub mit hellem Gesang am Badehaus vorbeigezogen, jeden Abend mit hellem Gesang wieder zurückgekehrt. Und alle Badegäste waren so an das fröhliche Singen gewöhnt, daß keiner es hätte missen mögen.

Vor allen aber freute sich Paula an Monis Fröhlichkeit und ging ihm fast jeden Abend entgegen, um ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen.

An einem sonnigen Morgen war Moni wieder oben bei der Felsenkanzel angelangt und wollte sich eben auf den Boden setzen, als er sich noch anders besann. »Nein, vorwärts! Ihr habt ja das letztemal die guten Blättlein alle stehenlassen müssen, weil wir dem Mäggerli helfen mußten, jetzt geht's noch einmal hinauf, da könnt ihr fertig nagen!« Und mit Freuden sprangen ihm die Geißen alle nach, denn sie merkten, daß es zu den schönen Büschen an den Drachensteinen hinauf ging. Diesmal hielt Moni aber sein kleines Mäggerli die ganze Zeit im Arm fest, riß ihm die guten Blättlein selber ab und ließ es aus seiner Hand fressen. Das gefiel dem Geißlein am allerbesten, es rieb ganz vergnügt von Zeit zu Zeit sein Köpfchen an Monis Schulter und meckerte fröhlich. So war der ganze Morgen vergangen und Moni merkte erst an seinem Hunger, daß es spät geworden war. Er hatte aber sein Essen unten bei der Felsenkanzel in der kleinen Höhle hegen lassen, da er mittags wieder hinunter kommen wollte.

»So, ihr habt nun schon viel Gutes bekommen, und ich habe noch gar nichts«, sagte er zu seinen Geißen. »Jetzt muß ich auch etwas haben und unten findet ihr noch genug, kommt!« Dann pfiff er laut, und die ganze Schar zog auf und davon, die lebhaftesten immer voran und allen voraus die leichtfüßige Schwalbe, der heute etwas Unerwartetes begegnen sollte. Sie sprang hinunter von Stein zu Stein und über manche Felsspalte weg, aber auf einmal konnte sie nicht weiter.

Unmittelbar vor ihr stand ganz plötzlich eine Gemse und schaute ihr neugierig ins Gesicht. Das war der Schwalbe noch nicht vorgekommen. Sie stand da, schaute die Fremde fragend an und wartete, daß ihr diese aus dem Weg gehe. Denn sie wollte auf den Felsblock springen, der vor ihr aufragte. Aber die Gemse rührte sich nicht und schaute der Schwalbe frech ins Gesicht. So standen beide voreinander, immer hartnäckiger, und noch heute würden sie dort stehen, wenn nicht inzwischen der große Sultan herbeigekommen wäre. Sofort erkannte er die Sachlage und kletterte vorsichtig an der Schwalbe vorbei. Plötzlich stieß er die Gemse so weit und so gewaltig auf die Seite, daß sie einen kühnen Sprung machen mußte, um nicht über die Felsen hinabzurutschen.

Die Schwalbe aber zog triumphierend ihres Weges, und der Sultan schritt befriedigt und stolz hinter ihr her, denn er fühlte sich als sicherer Beschützer seiner Herde. Inzwischen war von oben herab Moni und von unten herauf ein anderer Geißbub auf einem nahen Platz angekommen und blickten auch erstaunt einander an. Aber sie kannten sich, und nach der ersten Überraschung begrüßten sie sich freundlich. Es war der Jörgli von Küblis, der schon den halben Morgen lang vergebens den Moni gesucht hatte und ihn nun hier oben traf, wo er ihn gar nicht mehr vermutete.

»Ich habe nicht gedacht, daß du so hoch hinaufgehen würdest mit den Geißen«, sagte der Jörgli.

»Freilich gehe ich«, entgegnete Moni, »aber nicht immer. Gewöhnlich bin ich bei der Felsenkanzel. Warum bist du da heraufgekommen?«

»Ich will dir einen Besuch machen«, war die Antwort, »ich habe dir allerhand zu erzählen. Auch habe ich hier zwei Geißen, die bringe ich dem Wirt im Bad, er will eine kaufen, und da dachte ich, ich wollte noch zu dir hinauf.«

»Sind es deine Geißen ?« fragte Moni.

»Natürlich, die fremden habe ich nicht zu hüten, ich bin nicht mehr Geißbub.«

Darüber mußte sich Moni sehr wundern, denn zu gleicher Zeit mit ihm war der Jörgli Geißbub von Küblis geworden, und Moni begriff nicht, daß das so aufhören konnte und der Jörgli nicht einmal jammerte.

Inzwischen waren Hirten und Geißen bei der Felsenkanzel angekommen. Moni holte Brot und ein Stückchen getrocknetes Fleisch hervor und lud den Jörgli zum Mittagessen ein. Sie setzten sich beide auf die Kanzel hinaus und ließen sich's gut schmecken. Denn es war sehr spät geworden, und sie hatten beide ausgezeichneten Appetit. Als nun alles aufgegessen und dann noch ein wenig Geißmilch getrunken worden war, legte sich der Jörgli ganz behaglich der Länge nach auf den Boden und stützte seinen Kopf auf beide Ellbogen. Moni aber war sitzen geblieben, denn er schaute immer gern von oben in das tiefe Tal hinunter.

»Was bist du denn jetzt, Jörgli, wenn du nicht mehr Geißbub bist?« fing Moni nun an, »etwas mußt du doch sein.«

»Freilich bin ich etwas und etwas Rechtes«, erwiderte Jörgli, »Eierbub bin ich. Jeden Tag gehe ich mit den Eiern in alle Wirtshäuser, so weit ich komme. Hier hinauf ins Badehaus komme ich auch, gestern war ich schon dort.«

Moni schüttelte den Kopf: »Das ist nichts, Eierbub möchte ich nicht sein, tausendmal lieber will ich Geißbub sein, das ist viel schöner.«

»Ja warum denn?«

»Die Eier sind ja nicht lebendig, mit denen kannst du kein Wort reden. Und sie laufen dir nicht nach wie die Geißen, die sich freuen, wenn du kommst und anhänglich sind und jedes Wort verstehen, das du mit ihnen redest. Du kannst keine Freude mit deinen Eiern haben wie mit den Geißen hier oben.«

»Ja und du«, unterbrach ihn Jörgli, »was hast du denn für große Freuden hier oben? Jetzt hast du wohl sechsmal aufstehen müssen, während wir beim Essen waren, nur wegen des dummen Geißleins, damit es nicht hinunterfällt. Ist denn das eine Freude?«

»Ja, das tue ich ganz gern. Nicht wahr, Mäggerli, komm! Komm!« Moni sprang auf und lief dem Geißlein nach, denn es machte ganz unvorsichtige Freudensprünge. Als er wieder saß, sagte Jörgli: »Es gibt auch ein anderes Mittel, die jungen Geißen zu halten, daß sie nicht über die Felsen hinabfallen und man ihnen nicht immer nachspringen muß wie du.«

»Was für eins?« fragte Moni.

»Man steckt einen Stecken fest in den Boden und bindet die Geiß mit einem Bein daran. Sie zappelt dann zwar furchtbar, aber sie kann doch nicht fort.«

»Du wirst doch nicht glauben, daß ich so etwas mit dem Geißlein mache«, sagte der Moni ganz entrüstet. Er zog das Mäggerli zu sich und hielt es fest, als müßte er es schützen.

»Um das Geißlein mußt du dich nicht mehr lange sorgen«, fing Jörgli wieder an, »das kommt nicht mehr hier herauf.«

»Was? Was? Was sagst du, Jörgli?« fuhr Moni auf.

»Pah, weißt du's denn nicht? Der Wirt will es nicht aufziehen, es ist ihm zu schwach, es wird nie eine kräftige Geiß. Er hat es meinem Vater verkaufen wollen, aber der wollte es auch nicht. Nun will es der Wirt nächste Woche schlachten, und dann kauft er unseren Scheck dort.«

Moni war vor Schrecken ganz weiß geworden. Erst konnte er kein Wort sagen, aber jetzt jammerte er laut und rief:

»Nein, nein, das dürfen sie nicht tun, Mäggerli, das dürfen sie nicht tun. Sie dürfen dich nicht schlachten, das kann ich nicht ertragen. Oh, ich will lieber gleich mit dir sterben. Nein, das kann ja nicht sein!«

»Tu doch nicht so«, sagte Jörgli ärgerlich und zog den Moni in die Höhe, der sich in seinem Jammer mit dem Gesicht zu Boden geworfen hatte. »Steh doch auf, du weißt ja, daß das Geißlein nun einmal dem Wirt gehört und er damit machen darf, was er will. Denk doch nicht mehr dran! Komm ich weiß noch etwas: Sieh! Sieh!« Dann hielt Jörgli dem Moni die eine Hand hin, und mit der anderen deckte er den Gegenstand fast zu, den Moni bewundern sollte. Es funkelte aber ganz wunderbar aus der Hand heraus, denn die Sonne blitzte eben dort hinein.

»Was ist's ?« fragte Moni, als es eben wieder aufblitzte, von einem Sonnenstrahl beleuchtet.

»Rat!«

»Ein Ring?«

»Nein, aber so etwas Ähnliches.«

»Wer hat dir's gegeben?«

»Gegeben? Niemand, ich hab es selbst gefunden.«

»Dann gehört es aber nicht dir, Jörgli.«

»Warum nicht? Ich habe es niemand genommen, ich wäre fast mit dem Fuß darauf getreten, dann wär's doch zerbrochen. Ich kann es ebenso gut behalten.«

»Wo hast du's gefunden?«

»Unten beim Badehaus, gestern abend.«

»Dann hat es jemand aus dem Haus unten verloren. Du mußt es dem Wirt sagen, und wenn du's nicht tust, so tue ich's heute Abend.«

»Nein, nein, Moni, tue nur das nicht«, sagte Jörgli jetzt bittend, »sieh, ich will dir zeigen, was es ist. Und ich will es in einen von den Wirtshäusern an ein Zimmermädchen verkaufen, sie muß mir aber vier Franken geben, dann geb ich dir auch einen oder zwei, und dann weiß ja niemand etwas davon.«

»Ich will nichts! Ich will nichts!« unterbrach ihn Moni heftig, »und der liebe Gott hat alles gehört, was du gesagt hast.«

Jörgli schaute zum Himmel auf. »Ja, so weit weg«, sagte er zweifelhaft. Er fing aber gleich an, leiser zu reden.

»Er hört dich doch«, sagte Moni zuversichtlich.

Dem Jörgli war es nicht mehr recht wohl in seiner Haut. Wenn er nur den Moni auf seine Seite zu bringen wußte, sonst war alles verloren. Er dachte lange nach. »Moni«, sagte er plötzlich, »ich will dir etwas versprechen, das dich freut, wenn du keinem Menschen etwas von dem Gefundenen sagen willst. Du brauchst ja auch nichts davon zu nehmen, dann hast du nichts damit zu tun. Wenn du das willst, so will ich dafür sorgen, daß mein Vater doch das Mäggerli kauft. Dann wird es nicht geschlachtet, willst du?«

In Moni entstand ein harter Kampf. Es war ein Unrecht, wenn er dabei half, den Fund zu verheimlichen. Jörgli hatte seine Hand aufgemacht, es lag ein Kreuz darin, mit vielen Steinen besetzt, die in allen Farben funkelten. Moni sah wohl, daß das nicht ein wertloses Ding war, nach dem niemand fragen werde. Wenn er schweigen würde, würde er etwas behalten, was ihm nicht gehörte. Aber auf der anderen Seite war das kleine, liebevolle Mäggerli, das sollte auf schreckliche Weise mit einem Messer getötet werden, und er konnte das verhindern, wenn er schweigen wollte. Eben jetzt lag das Geißlein so vertrauensvoll neben ihm, als wußte es, daß er ihm immer helfen wurde. Nein, er konnte es nicht geschehen lassen, er mußte es retten.

»Einverstanden, Jörgli«, sagte er, aber ohne Freudigkeit.

»So schlag ein.« Und Jörgli hielt Moni seine Hand hin, daß er hinein verspreche, denn nur so galt ein Versprechen unwiderruflich.

Jörgli war sehr froh, daß er nun seiner Sache sicher war. Da aber Moni so still geworden war und er einen viel weiteren Weg nach Hause hatte als Moni, so beschloß er, mit seinen zwei Geißen aufzubrechen. Er verabschiedete sich von Moni und pfiff den beiden Gefährten, die sich inzwischen zu den weidenden Geißen des Moni gesellt hatten. Es hatten einige bedenkliche Angriffe zwischen den beiden Parteien stattgefunden, denn die Fideriser Geißen wußten nicht, daß man mit einem Besuch artig sein muß. Und die Kübliser Geißen wußten nicht, daß man nicht gleich die besten Kräutlein aussuchen und die anderen davon wegdrücken darf, wenn man auf Besuch ist. Als nun der Jörgli ein Stück den Berg hinuntergegangen war, brach auch Moni mit seiner Schar auf, aber er war ganz still und sang keinen Ton und tat keinen Pfiff auf dem ganzen Heimweg.


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