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Die enge Stadtgasse hinauf, deren Häuser so hoch waren, daß an von unten her die obersten Fenster kaum sehen konnte, weil man so nahe an den Häusern stand, wanderte, auf den dicken Stock mit goldenem Knopf sich stützend, am hellen Maimorgen ein gewichtiger Herr. Er mußte von Zeit zu Zeit stillstehen und Atem schöpfen; die Gasse stieg steil hinan. Dann las er von neuem die Hausnummern, soweit er sie erkennen konnte, und sagte wiederholt: »Immer noch nicht.« Dann stieg er weiter hinan. Endlich hatte er seine Nummer erreicht. Die Haustür stand offen; sechs Klingelzüge waren am Pfosten daneben angebracht. Der Herr las die Namen, die darauf standen, immer wieder den Kopf darüber schüttelnd, daß er nicht auf den gesuchten traf. »Ah, endlich, zu alleroberst«, sagte er jetzt mit einem Seufzer und trat in das Haus ein. Nun ging das Steigen erst recht an. Erst waren die Treppen, wenn auch hoch, doch hell und hatten ordentliche Stufen; dann wurden sie dunkler und schmaler, und zuletzt ging es auf abgelaufenen, ungleichen Stufen ganz steil einer engen Tür zu, vor der kein anderer Raum zum Stehen blieb, als die letzte schmale Treppenstufe. »Ist das ein Käfig!« sagte schwer atmend der Emporklimmende, indem er sich an der hölzernen Rampe festhielt; denn auf den dünnen, krachenden Stufen war das Auftreten recht unsicher. Er zog an dem einfachen Klingelschnürchen. Die Tür ging auf. Eine schwarz gekleidete Frau stand vor ihm.
»Oh, Herr Erziehungsrat, Sie sind es«, sagte sie überrascht. »Es tut mir leid, daß Sie die mühsamen Treppen hinaufsteigen mußten«, fügte sie hinzu, als sie bemerkte, wie der wohlbeleibte Herr sich das Gesicht nach der großen Anstrengung trocknen mußte. »Ich wäre gern zu Ihnen gekommen, wenn Sie mich benachrichtigt hätten, daß Sie mich zu sprechen wünschen.« Die Frau hatte unterdessen ein Zimmer aufgemacht und den Herrn gebeten, einzutreten und sich zu setzen.
»Ihr Beistand muß Sie doch einmal aufsuchen«, entgegnete der Herr, der jetzt auf dem alten Sofa Platz genommen hatte und sich mit beiden Händen auf den dicken Stockknopf stützte; »das muß ich Ihnen gleich sagen, Frau Pfarrer, daß Sie meinen Rat nicht befolgten, auf dem Lande eine kleine Wohnung zu nehmen, wo Sie doch schon waren, sondern es vorzogen, hierher in die Stadt zu ziehen, wo Sie natürlich eine solche Mansardenwohnung nehmen mußten: das finde ich nicht praktisch und auch nicht einmal wünschenswert. Sie haben hier doch nicht die leiseste Bequemlichkeit. Für Sie selbst und für Ihre Kinder wäre die Landluft unbedingt besser gewesen.«
»An Bequemlichkeiten für mich hatte ich nicht zu denken, als ich meinen Mann verlor und unsere Pfarrwohnung verlassen mußte, Herr Erziehungsrat«, entgegnete die Frau mit einem matten Lächeln. »Gewiß wäre die Landluft für alle meine Kinder besser gewesen; aber der sie am meisten nötig hat, mein älterer Junge, mußte um der Schule willen nach der Stadt, und ihn von mir weggeben, so zart wie er ist, das hätte ich nicht tun können, auch –«
»Es gibt Kostfamilien in der Stadt, wo solche Knaben auch gut besorgt werden«, unterbrach der Herr hier berichtigend; »aber welche Gründe denn noch weiter?«
»Meine Mädchen sind beide auch so weit, etwas zu lernen, das sie verwerten können, Herr Erziehungsrat«, fuhr die Frau fort; »daß dies notwendig ist, wissen Sie ja wohl; daß aber auf dem Lande die Gelegenheit zu weiterer Ausbildung für die Mädchen schwer zu finden ist, das ist Ihnen auch bekannt. Mit meinen Kindern in die Stadt zu ziehen war daher nicht ein unpassender Wunsch, noch eine unpraktische Unternehmung von mir, wie ich annehmen darf. Ich bin Ihnen aber recht dankbar, daß Sie mir Gelegenheit geben, Ihnen meine Gründe auseinanderzusetzen, warum ich Ihren Rat nicht befolgen konnte.«
»Was sollen die Töchter lernen?« fragte der Herr ein wenig kurz.
»Nika, die Ältere, malt recht ordentlich«, entgegnete die Frau, »Agnes hat eine entschiedene Begabung für Musik. So hatte ich gedacht, da beide Mädchen recht eifrig in ihren Studien sind, sie würden später unterrichten können, was sich beide ernstlich vornehmen.«
»Brotlose Künste, nach endlosen Jahren von Unterrichtnehmen«, sagte der Herr Beistand. »Sehr viel praktischer erscheint mir, die Schwestern widmen sich beide der Damenschneiderei; so kommen sie schnell zu einem Ziel, eröffnen ein Geschäft, arbeiten sich gegenseitig in die Hände und machen treffliche Geschäfte, die der Mutter und dem Bruder das Leben erleichtern. Der letztere wird ohnehin lang genug zu keiner Selbständigkeit kommen, wenn er durchaus studieren soll, wie Sie meinen.«
Die Frau Pfarrer schaute mit traurigen Blicken vor sich hin; sie sagte kein Wort mehr.
»Sie verstehen mich doch, Frau Pfarrer, ich rede durchaus nur zu Ihrem und Ihrer Kinder Wohle«, nahm der Herr Beistand das Gespräch wieder auf; »es tut mir auch leid, daß ich Ihre Mädchen nicht getroffen habe. Ich bin überzeugt, sie hätten mir bald mit Freuden zugestimmt, wenn ich ihnen meine Gründe dargelegt hätte. Heutzutage verstehen die jungen Leute, was es heißt, ihren Weg bald und vorteilhaft zu machen, glauben Sie mir das!«
»Vielleicht sind meine Kinder durch den Einfluß ihrer Eltern in diesem Verständnis noch etwas zurückgeblieben und hängen noch an Dingen, die Sie als brotlose Künste ansehen müssen«, sagte mit Seufzen die Frau; »ich werde aber nach Ihrem Wunsche meinen Kindern Ihre Ansichten mitteilen und in Ihrem Sinne zu sprechen suchen, soweit es mir möglich ist.«
»Wie alt ist Ihre Älteste? Die müßte wohl schon vernünftige Begründungen verstehen können«, meinte der Herr.
»Nika steht in ihrem vierzehnten Jahre, so daß, wie Sie sich denken können, ihr Unterricht in vielen Dingen noch mangelhaft ist«, entgegnete die Frau, »Dino ist zwölf, Agnes elf Jahre alt; diese hat vor allem noch ihre gesetzliche Schulzeit durchzumachen.«
»Noch junges Volk«, sagte kopfschüttelnd der Herr Beistand. »Das eine ist gewiß: je länger noch die Erziehung, desto nötiger die kürzesten Wege zum Ziel, Frau Pfarrer. Ich komme mehr und mehr zur Überzeugung, daß mein Vorschlag der richtige ist und daß Sie Ihre Töchterchen entschieden einer geschickten Damenschneiderin übergeben sollten, dann hat Ihre Übersiedelung nach der Stadt auch einen wirklichen Wert.«
In seinem Eifer, die schweigende Zuhörerin zu überzeugen, hatte der Herr Beistand nicht bemerkt, daß ein kleiner Junge eingetreten war, sich erst hinter der Mutter versteckt und dann auf ihren Wink sich von der Seite her dem Herrn genähert hatte. Erst jetzt wurde dieser den Eingetretenen dadurch gewahr, daß eine kleine Faust sich gewaltsam in seine geschlossene Rechte eindrängte.
»Nehmen Sie's nicht übel, der Kleine stellt sich etwas aufdringlich zu seinem Gruße an«, entschuldigte die Mutter.
»Ah, wahrhaftig, da ist noch einer, der Kleinste, ich wußte es ja«, sagte etwas bestürzt der sorgliche Berater. »Wie heißt du denn, mein Junge?«
»Mux«, war die Antwort.
Fragend schaute der Herr die Mutter an.
»Es ist ein Name, den die Geschwister ihm gegeben und der sich nun so unversehens eingebürgert hat«, entgegnete sie. »Mein Jüngster heißt Markus; er hat soeben sein fünftes Jahr zurückgelegt.«
»Gut, gut, und was hast du denn im Sinne zu werden, mein Freund Mux?« fragte der Herr Erziehungsrat.
»Ein Reitergeneral«, antwortete unverzüglich der Kleine.
Der Herr stand auf.
»Frau Pfarrer, es scheint mir, Ihre Kinder wollen alle etwas hoch hinaus«, sagte er nachdrücklich. »Ich kann nur wünschen, daß sie einsehen lernen, daß auf dieser Welt nicht jeder tun kann, was ihm am besten gefällt.«
Dem guten Wunsche stimmte die Mutter bei. »Aber das muß ich Ihnen doch noch sagen«, fügte sie hinzu, »daß der Ausspruch des Kleinen nur daher kommt, daß in seinem Bilderbuch der General zu Pferde seine Aufmerksamkeit besonders erregt hat, was vorübergehen wird wie andere Kindereindrücke.«
»Ermahnung zu richtiger und erfolgreicher Arbeit kommt nie zu früh und kommt nie zu oft, das lassen Sie nicht außer acht, Frau Pfarrer«, schloß der Herr Berater, indem er sich empfahl und nun sorgfältig die steile Treppe hinunter stieg.
Eben kam von unten herauf ein Mädchen so rasch heran, als wollte es die Stufen hinauffliegen. Da der Herr allen Raum auf der Treppe ausfüllte, die leere Stelle ausgenommen, die sich unter dem ausgestreckten Arm befand, der die Lehne festhielt, wollte das behende Mädchen schnell darunter durchschlüpfen.
»Halt, halt! Solltest du nicht der Frau Pfarrer Halm gehören?« fragte der Herr, seinen Arm als Schranke tiefer haltend.
»Ja, der gehöre ich«, war die schnelle Antwort, indem das Persönchen sich noch tiefer bückte, um durchzukommen.
»Halt eine Minute still, wenn es dir möglich ist«, sagte der Herr jetzt gebietend. »Ich bin der Erziehungsrat Schaller, der Berater deiner Mutter, das wirst du wissen. Ich habe ihr soeben einen guten Rat für euch erteilt, verstehst du, zu eurem Besten. Du wirst deine Mutter darin bestärken; du siehst nicht einfältig aus und kannst begreifen, was für euch alle gut sein wird. Bist du die ältere?«
»Nein, die jüngere«, kam rasch heraus.
»Desto besser, so wird die ältere noch vernünftiger sein, und ihr werdet beide zum Wohl der ganzen Familie beitragen und meinen Rat gern befolgen wollen.« Damit gab der Herr dem Kinde die Hand und ging weiter.
Agnes schoß den Rest der Treppe hinan und stürzte in den schmalen Korridor hinein. Der Bruder Mux stand erwartungsvoll unter der offenen Zimmertüre, wie er zur Zeit, da die Geschwister heimkehrten, zu tun pflegte; denn er liebte die Abwechslung, die dem stillen Morgen folgte.
»Es ist ein dicker Herr dagewesen, und dann hat die Mutter nachher gesagt: ›Ach Gott!‹ Und du darfst nicht mehr Klavier spielen«, berichtete er.
Agnes stürzte ins Zimmer hinein, dann wieder heraus. »Wo ist die Mutter? – Mutter! Mutter!« schrie sie, eine Tür um die andere aufreißend.
»Hier, Agnes, nur nicht so im Sturm«, tönte es aus der Küche herüber.
Agnes lief hin. »Mutter, was sagt denn Mux? Ist es wahr? Ich weiß, daß der Herr Schaller da war und daß er sagen kann, was wir tun müssen. Was hat er gesagt? Ist es wahr, was der Mux berichtet? Dann will ich lieber gar nichts mehr tun und nicht mehr essen und nicht mehr schlafen und gar nichts mehr, dann ist alles aus.«
Agnes stand vor Aufregung mit purpurroten Wangen unter der Küchentüre, ihre Augen sprühten Blitze.
»Nein, Kind, so mußt du nicht reden und dich nicht so schrecklich aufregen«, mahnte ruhig die Mutter. »Jetzt ist keine Zeit, über eine Frage zu sprechen, die alle Ruhe erfordert. Heute abend wollen wir alles besprechen. Du weißt wohl, Agnes, daß ich in deinem Wünschen und Streben ganz mit dir fühle, daß es meine Sache ist, wie die deine. Laß uns erst zusammen warten, bis wir eine ruhige Stunde haben, und dann zusammen alles besprechen.«
Die Worte beruhigten das Kind. So war es ja, sie wußte es; die Mutter erlebte mit ihrem ganzen Herzen alles mit; sie hatte dasselbe lebhafte Verlangen, daß nun in der Stadt der so lange gehegte Wunsch von Agnes nach musikalischer Ausbildung erfüllt werden sollte. Es war ja die Sache der Mutter, wie die ihrige. Auf die Hilfe der Mutter konnte sie also sicher rechnen. Sie ging rasch an ihre Arbeit in der Küche; da hatte sie wie ihre Schwester Hand anzulegen, wenn nicht die Mutter die Arbeit tun sollte; denn als Bedienung war nur ein ganz junges Mädchen im Haus, das neben den nötigen Gängen nur gerade die geringste Arbeit fertig brachte. Mux hatte sich wieder auf seinen Posten zurückbegeben; denn daß seine Worte einen solchen Eindruck auf Agnes gemacht und solche Aufregung hervorgerufen hatten, war ihm sehr unterhaltend vorgekommen; er wollte gleich noch einmal die Wirkung erzielen.
Jetzt hörte er jemand die Treppe heraufkommen; es war Nika.
»Es ist ein dicker Herr dagewesen, und dann, als er fort war, hat die Mutter gesagt: ›Ach Gott!‹, und du darfst keine Bäume und keine Blumen mehr malen«, berichtete er von oben herunter.
Aber Nika hatte den Herrn Erziehungsrat nicht angetroffen, so hatten die Worte keinen Sinn für sie. Sie ging ganz unberührt und schweigend an dem Bruder vorbei und trat ins Zimmer ein. Mux war sehr enttäuscht. Jetzt hörte er den Bruder heraufrennen. Etwas von seiner Enttäuschung mußte er auf den abladen.
»Nein, wir haben heute nicht, was du meinst«, rief er dem Kommenden entgegen.
»Was soll ich denn meinen, du Gedankenrater?« rief der hinauf.
»Ja, wenn du meinst, wir haben grüne Erbsen zu Mittag, dann kommst du allemal so schnell herauf, weil du nicht warten kannst und sie furchtbar gern ißt«, behauptete Mux; »aber wir haben keine, wir haben Kohl, jetzt hast du's!«
»So, so komm herein, wir wollen sehen, wer darüber ärgere Gesichter schneidet, du oder ich.«
Damit ergriff der oben angelangte Dino den Kleinen bei der Hand und machte einen großen Sprung mit ihm in die Stube hinein. Bald nachher saß die Familie zusammen am Mittagstisch in der kleinen Stube. Es war heute nicht wie gewöhnlich, daß jedes der Kinder seine Erlebnisse zuerst erzählen wollte und die Mutter nicht wußte, wie sie alle Mitteilungen auf einmal bewältigen sollte. Es war still und schwül wir vor einem Gewitter; auf allen Gesichtern lagerten schwere Wolken, nur auf einem nicht. Agnes hatte ihrer Schwester eben noch eine Mitteilung gemacht, die dieser die drohenden Worte des Kleinen deutlich machten. Sie saß brütend da, schaute auf ihren Teller und schwelte und schluckte, obschon sie keinen Bissen zum Munde führte, als habe sie von innen genug hinunterzubringen. Agnes zog ihre Brauen zusammen, daß die ganze Stirn nur noch wie eine Runzel aussah. Die Mutter mußte es nach allen Seiten hin mit schweren Gedanken zu tun haben, das konnte man ihren bekümmerten Blicken entnehmen. Sogar der sonst so gesprächige Mux nagte seufzend an seinem Kohl herum. Nur Dino schaute mit seinem fröhlichen Lächeln von einem zum andern, mit erwartungsvollen Blicken; sein Mittagsmahl schien ihn nicht sehr in Anspruch zu nehmen.
»Ich erwarte ein Gewitter«, sagte er nun, da die Stille andauerte. »Nika wird die Blitze loslassen, die ihr unter den Wimpern zucken, und Agnes wird nicht zögern, die Donnerschläge folgen zu lassen. Dann wird gleich der Regen niederstürzen; denn der Mux kann seinen Tränenerguß über den Unglückskohl kaum noch zurückhalten.«
»Ja, ja, du hast noch viel weniger Kohl gegessen als ich«, sagte Mux in kläglichem Ton.
»Siehst du, Muxchen, das tu ich aus lauter Bescheidenheit, damit niemand zu kurz kommt«, erläuterte der Bruder.
»Ja, Dino, wenn ich Zeit hätte, wollte ich dir schon antworten auf das Donnern und auf den Kohl«, brach jetzt Agnes los; »aber um ein Uhr hab ich Musikstunde, und dann habe ich sonst noch genug zu schlucken zum Kohl.«
»Mir wäre es lieber, Dino, wenn deine Bescheidenheit sich auf andere Gebiete erstreckte«, sagte mit einem etwas traurigen Lächeln die Mutter. »Du ißt ja heute wieder gar nicht, und in der Nacht habe ich dich soviel husten gehört. Von allem, das mich ängstigt, ist mir dein Zustand noch das Quälendste. Hast du auch in der Schule so gehustet?«
»Ja, gewiß, Mutter; aber da ist doch nichts Quälendes dabei«, entgegnete Dino heiter; »das geht schon vorüber. Der Herr Professor sagte zwar heute, ich hätte besser getan, weiter auf den milchreichen Auen meines Heimatdorfes zu weiden als die Staubwinkel der Stadt aufzusuchen; aber ich erwiderte: ›Das Latein entspringt nicht aus milchreichen Auen, Herr Professor‹.«
»Ich hoffe, das hast du nicht erwidert«, sagte erschrocken die Mutter.
»O doch, aber nur in Gedanken; du mußt nicht schon wieder sorgen«, beruhigte Dino.
»Der Herr Professor hat ja schon recht«, sagte seufzend die Mutter; »es ist mir auch ein Gedanke gekommen, den wir heute abend besprechen wollen. Auch mit euch, Nika und Agnes, will ich dann in Ruhe die Vorschläge unseres Beraters überlegen. Tut mir nur das eine zuliebe, nicht von vornherein so schrecklich unglücklich auszusehen; es ist ja doch noch nicht alles verloren.«
»Es wird ja wohl so kommen«, sagte Nika und verließ das Zimmer.
»Ja, und noch viel ärger«, setzte Agnes hinzu, rückte im Sturm ihren Sessel an seinen Ort, stieß ihre Musikhefte in die Mappe und rannte davon.
»Was ist noch ärger, als alles verloren?« rief ihr Dino fragend nach.
»Ich weiß schon was«, sagte Mux kundig, während Agnes dem Frager nur einen Blick zurückwarf, der deutlich sagte: Wenn ich Zeit hätte, blieb ich dir keine Antwort schuldig.
»Was denn, du weiser Mann?« fragte Dino.
»Wenn sie gar nichts als nur immer Kohl essen müßte«, antwortete Mux so überzeugt, daß man merken konnte, er hatte seine Ansicht aus eigener Erfahrung geschöpft.
Sorgenvoll strich die Mutter jetzt über das reiche Haar ihres Dino, der sich auch zum Fortgehen erhoben hatte: »Nicht wahr, mein Junge, du hütest dich vor allzu raschem Laufen«, bat sie, »du wirst sonst zu heiß, und nachher sitzest du im kühlen Schulzimmer. Sieh, ich kann dich nie mehr ohne Angst fortgehen sehen.«
»Aber Mutterchen, so krank bin ich ja gar nicht«, sagte Dino, seine Mutter zärtlich umfassend; »weißt du, wenn einer auch einmal hustet, so hört er allemal wieder auf. So mache ich es gerade auch; sei du nur fröhlich, dann ist alles in Ordnung. Nun muß ich aber rennen!« rief er aus.
»Nur nicht so schrecklich eilen, Dino, du hast noch genug Zeit, denk daran!« rief ihm die Mutter nach; dann trat sie schnell ans offene Fenster und schaute die Straße hinab, solange sie noch etwas von dem laufenden Jungen sehen konnte.
Dino war ihr Sorgenkind. Er selbst war immer fröhlich und wohlgemut und stets bemüht, alle andern fröhlich zu stimmen, vor allen seine Mutter. Aber täglich sah der Junge ein wenig zarter aus und zeigte etwas weniger Eßlust, was dem wachsamen Mutterauge nicht entging. Daß von allem Schweren, was sie zu tragen hatte, diese Wahrnehmung das Schwerste für sie war, konnte man dem schmerzlichen Ausdruck ihres Gesichtes entnehmen, mit dem sie nun das Fenster schloß und sich zu ihrer Näharbeit hinsetzte.
Mux hatte schon dreimal dieselbe Frage an die Mutter getan und war nicht gehört worden. Nun erhob er seine Stimme mit Macht und fragte zum viertenmal: »Mama, warum muß man essen, was die Kühe bekommen?«
»Was meinst du, Mux«, fragte sie dagegen, »was willst du sagen?«
»Ich habe es ganz gut gesehen im Bilderbuch, daß es die gleichen Blätter sind wie in der Küche«, war seine nicht besonders klare Erläuterung.
Die Mutter verstand ihn aber doch gleich, indem sie sich erinnerte, wie genau er die grünen Blätter betrachtet hatte, die das Mädchen heute früh in die Küche gebracht. Zugleich trat ihr ein Bild aus dem beliebten Bilderbuch vor Augen, wo der glänzend braunen Kuh die prächtigen grünen Blätter vom Stallknecht vorgesetzt werden.
»Bist du denn immer noch bei deinem Kohl, Mux, und immer noch mit Unwillen? Das ist gar nicht recht«, sagte die Mutter. »Siehst du, es gibt arme Kinder, die müssen hungern; das tut sehr weh, und du bekommst gutes Brot zu deinem schön gekochten Gemüse.«
»So wollen wir ihnen alles schicken, was wir noch von dem Kohl essen müßten«, schlug Mux schnell vor.
»Komm, nimm die Stickarbeit her, die ich dir angefangen habe, wir wollen um die Wette arbeiten, so kommst du einmal von deinem Kohl ab; komm, setz dich hierher, zu mir.«
Die Mutter rückte das Stühlchen näher zu sich, gab dem Kleinen die Arbeit in die beweglichen Finger, und nun ging das Wettrennen der Stiche los. Mux vergaß im großen Eifer, die Mutter zu überholen, endlich, was sein Gemüt so beschwert hatte, daß er fast nicht darüber wegkommen konnte.
Der spätere Abend war gekommen, da alle Schularbeiten beendigt waren, die Mutter ihren großen Flickkorb beiseite zu stellen und den leichten Strickstrumpf zur Hand zu nehmen pflegte, der keinen ihrer Gedanken in Anspruch nahm. Das war die Stunde, da die Kinder sich alle um sie drängten und ihr jedes sein besonderes Anliegen vorzubringen gewohnt war. Für den kleinen Mux war es der schwerste Augenblick des Tages; denn regelmäßig, bevor die Mutter sich zum eingehenden Gespräch mit den drei Älteren festsetzte, ergriff sie die Hand des Jüngsten, um ihn erst zu Bett zu bringen. Das führte jeden Abend denselben Kampf mit demselben Ausgang herbei; denn der schlaue Mux gedachte durch hartnäckigen Widerstand die Regel umzustürzen; die Mutter aber wußte, daß das Gelingen seines Planes gar keine Freude, sondern nur jämmerliches Gähnen und Zufallen der Augen zur Folge haben würde. Heute mußte die Mutter es besonders eilig haben; denn bevor nur der Kleine zum Kampf bereit war, befand er sich schon an seinem Lager und gleich darauf für die Nacht gerüstet. Einmal in seinem Bett angelangt, war Mux immer mit seinem Geschick ausgesöhnt; denn dann kam der Augenblick, da die Mutter sich noch einmal ruhig zu ihm hinsetzte, damit er gleich den andern ihr noch alles mitteilen konnte, was ihm auf dem Herzen lag. Hatte er aber sein Nachtgebet gesprochen, dann war das Ende aller Unterhaltung unumstößlich gekommen. Das wußte Mux sehr genau und suchte darum täglich diesen Schlußpunkt mit allen Mitteln so weit als möglich hinauszuschieben.
»Mama«, sprach Mux jetzt nach Besteigung seines Bettes in nachdenklicher Weise, »wenn man allenthalben, wo der Kohl wächst, lauter Kirschen pflanzen würde, dann könnten alle Menschen Kirschen essen, während sie sonst Kohl essen müssen.«
»Nun wollen wir gleich abschließen, mein kleiner Mux«, sagte die Mutter zu seiner Überraschung; denn er hatte ein eingehendes Gespräch einzuleiten gedacht. »Siehst du, heute kannst du nicht über deinen Kohl wegkommen; den mußt du erst verschlafen; gesprochen hast du nun genug darüber.«
Mux erkannte, daß für heute nichts mehr zu machen sei. Sobald er sein Nachtgebet vollendet und der Mutter einen Kuß gegeben hatte, legte er sich aufs Ohr und schlief schon, als die Mutter die Tür hinter sich schloß.
Agnes hatte eben ihre letzte Schularbeit beendet und warf ihre Hefte und Bücher in die Schublade, immer eines heftiger hineinschleudernd als das vorhergehende; sie mußte von einer starken inneren Bewegung getrieben sein. Sowie sie die Mutter ins Zimmer eintreten sah, brach sie los: »Nein, Mutter, wenn ich nicht singen und das Klavierspiel nicht recht erlernen darf, so will ich lieber gar nichts lernen, gar nichts mehr. Dann will ich gleich Stubenmagd werden; das kann ich ganz gut, und wenn ich genug Geld verdient habe, dann will ich eine Harfe kaufen, und dann will ich vor die Häuser gehen und will singen; dann kann ich auch leben. Eine Schneiderin braucht niemand zu werden; man kann einen Unterrock tragen und eine Jacke dazu; die kann man weben; etwas anderes braucht kein Mensch. Alle anderen Kinder haben es besser als wir, Mama, alle dürfen lernen, was sie wollen, und wir gar nichts«; und jetzt kam ein Tränenstrom und erstickte alle Worte, die noch kommen wollten.
Nika hatte während der stürmischen Rede der Schwester ihren Kopf immer tiefer auf die Zeichnung niedergebeugt, an der sie, ohne aufzuschauen, fort und fort gearbeitet hatte; jetzt tropfte es auch aus ihren Augen. Sie schob ihr Papier weg und hielt sich ihr Tuch vor das Gesicht.
»Ach, Kinder, seid nur nicht gleich so ganz verzagt«, sagte die Mutter mit sorgenvollem Blick auf die beiden Weinenden. »Ihr wißt es ja, daß euer Leid mein Leid ist, und daß ich alles tue und noch tun will, daß ihr lernen könnt, was ihr so sehnlich wünscht. Es wäre ja auch meine größte Freude, eure Anlagen so ausbilden zu können, daß ihr ganz der Musik und der Malerei leben könntet. Wenn es aber nicht sein kann, Kinder, dann müssen wir den Glauben festhalten, daß es nicht zu eurem Besten wäre, daß der liebe Gott einen andern Weg kennt, der für euch besser sein muß. Laßt uns nur das Vertrauen nicht verlieren und an dem Trost festhalten, daß ein Vater im Himmel uns alle mit Liebe führt. Er wird uns ja auch nicht vergessen; vergessen nur auch wir nicht, daß er weiter sieht als wir und weiß, warum er uns so führt und nicht anders, auch dann, wenn wir es im Augenblicke nicht verstehen können. Einmal verstehen wir es doch, daß auch das Schwere uns nur auferlegt ward zum Segen für uns selbst.«
»Nun wollen wir wieder fröhlich sein und ein Lied anstimmen«, fiel Dino ein, der gern fröhlich war und am liebsten alles um sich her fröhlich sehen mochte. »Wir wollen gleich einmal singen:
›Und stürmt der Winter noch so sehr.
Es muß doch Frühling werden.
Und wenn die Agnes gern aufbegehrt,
So sei ihr dieser Trost gewährt.‹«
»Ja, ja, Tino, du hast gut lachen«, fuhr Agnes auf; »wenn du Schneider werden müßtest, du würdest aus einem andern Ton pfeifen. Du kannst alles lernen und alles studieren, wenn du nur willst.«
»Nein, alles studieren will ich nun wirklich nicht, lieber nur eines«, berichtigte Dino. »Aber weißt du was, Agnes, dein Singen ist viel schöner als dein Schelten, stimm gleich einmal an. Gefällt dir mein Lied nicht, so schlag ein anderes vor.«
»Singen wollen wir dann zum Schluß miteinander, Kinder«, sagte die Mutter, »jetzt habe ich noch etwas mit dir zu besprechen, Dino. Dein Husten und dein Aussehen machen mir Sorge, und ich habe mich schon seit einiger Zeit umgesehen, wo ich dich hinbringen könnte, daß du einige Wochen lang dich in der Landluft stärken könntest. Es sind ja wohl solche Orte genug; aber ich muß ein einfaches Haus finden, und doch will ich dich nur in ein Haus bringen, wo jemand Sorge für dich trägt. Nun habe ich heute im Blatt eine Anzeige gefunden; das könnte vielleicht etwas sein, wie ich es suche. Sieh hier, Dino, lies die Anzeige selbst.«
Dino nahm das Blatt und las. Dann lachte er laut auf. »Ja, ja, Mutter, da muß ich hin«, sagte er, immer noch einmal sich vor Lachen schüttelnd, »zu der Marthe am Illerbach; da ist's gewiß gemütlich bei der Marthe Wolff, wo's so schön aufgeräumt ist und so saubere Überzüge herrschen.«
Nun wollten die Schwestern auch wissen, wie die Anzeige laute, die Dino so zum Lachen brachte. Er las ihnen das Gesuch der Marthe Wolff in Illerbach vor, und alle fanden, bei dieser Marthe müßte es ein ganz gemütliches Wohnen sein. Die Mutter entschloß sich, gleich an die Frau zu schreiben und dann sobald als möglich ihren Dino dahin zu bringen. »Kinder, nun singen wir noch ein Lied zum Tagesschluß«, sagte sie dann, sich an das alte Klavier setzend; denn sie begleitete immer die Choräle, die jeden Abend von den Kindern gesungen wurden. »Das sollt ihr mir heute singen, Kinder«, sagte sie jetzt, ihr Buch aufschlagend und das Lied anstimmend. Die Kinder erhoben alle drei ihre guten Stimmen und sangen:
»Klag deine Not
Dem lieben Gott,
Wenn alle dich verlassen,
Und keiner hört,
Was dich verzehrt,
Und deinen Schmerz kann fassen.
Eh' du's gesagt,
Eh' du's geklagt,
Hat er es schon erfahren,
Mehr als die Hut
Der Mutter tut,
Will er sein Kind bewahren.«