Johanna Spyri
In sicherer Hut
Johanna Spyri

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3. Kapitel.
Es wird Bekanntschaft gemacht

Am folgenden Morgen konnte man in aller Frühe schon ein fürchterliches Peitschenknallen hören, denn um vier Uhr standen Chäppi und Jörg schon vor dem Häuschen und warteten auf die Kühe. Die sollten von überall her auf die Alm hinaufgeführt werden, wo die große Herde war. Dann sollten die beiden bis zum Herbst als Hirtenbuben oben bleiben, und darauf freuten sie sich so sehr, daß sie gar nicht genug Lärm machen konnten. Denn zu zweit da oben zu sein und den ganzen Sommer nichts zu tun zu haben, als mit den Peitschen und mit den Kühen umherzurennen, das war für die beiden ein herrlicher Gedanke.

Als die Mutter ihnen noch die Ränzlein aufgebunden und sie ermahnt hatte, brav zu sein, und sie dann mit ihren Kühen davongezogen waren, da kehrte die Mutter in das Häuschen zurück. Nun begann ein Fegen und Putzen in jedem Raum und Winkel, von oben bis unten, daß es den ganzen Tag kein Ende nehmen wollte. Schon ging die Sonne hinter den Tannen unter, als die Frau noch einmal ein Fenster nach dem anderen abrieb und sie dann prüfend anschaute.

Nun glitzerte aber auch alles. Die vielen Fenster, der Tisch mit der Platte aus Schiefer, die Bänke ringsum an den Wänden und auch der Boden. Jetzt sah die Frau, wie den Weg vom Tal herauf ein ganzer Zug von Trägern, von Rossen und Reiterinnen nahte. Schnell lief sie die kleine Treppe hinauf zu der Bodenkammer, band eine saubere Schürze um und stellte sich in die Haustür, um ihre fremden Gäste zu empfangen.

Der Zug hielt, und Herr Feland hob erst seine Frau und Fräulein Hohlweg, dann die Kinder von den Pferden. Kaum stand Rita auf dem Boden, so rannte sie vor Wonne hin und her und wußte gar nicht, was am allerschönsten war. Sie bewunderte das hölzerne Häuschen mit der kleinen Bank vor der Tür, die grünen Wiesen ringsum mit den Blumen und Bächen und den goldenen Abendschein oben auf den Felsen und Tannen. Alles war so neu, so schön!

Auch Ella war ganz voller Bewunderung und schaute sich staunend um. Aber jetzt traten Vater und Mutter in das Häuschen. Für Rita begann wieder ein neues Abenteuer, denn da war alles so anders, als sie es je in ihrem Leben gesehen hatte. Sie faßte Ella bei der Hand und rannte mit ihr in alle Winkel. »Sieh, sieh, da kann man in der ganzen Stube an der Wand sitzen, und sieh nur, wohin man da klettern kann.« Dann stieg Rita mit schnellen Schritten die Stufen hinauf, die hinter dem Ofen zu einer Öffnung führten, durch die man in die Schlafkammer eintrat. Das war eine herrliche Entdeckung. Von da ging es durch die offene Tür in eine andere Kammer, in der wieder zwei Betten standen. Daneben lag ein kleiner Abstellraum und ein hölzernes Treppchen führte auf der anderen Seite wieder in die Wohnstube hinunter. Das war ein herrlicher Kreislauf, den man am Tag oft machen konnte. Alles im ganzen Häuschen innen und außen sah so neu und ungewohnt und vielversprechend aus.

Rita wußte gar nicht, worüber sie sich am meisten freuen sollte. Als sie endlich in ihrem großen Bett oben in der Kammer neben Ella lag und die Mutter nach dem Abendgebet den Kindern gute Nacht sagte, da machte Rita einen tiefen Atemzug und sagte mit innigster Befriedigung: »Oh, nun sind wir auf der Gemmi!«

Die schönsten Sommertage folgten nun mit goldenem Sonnenschein auf den Wiesen, mit frischem Windesrauschen oben im Tannenwald und dem dunkelblauen Himmel, der weithin über die Felsen und die weißen Schneeberge ausgebreitet lag. In wenigen Tagen schon hatten Ella und Rita alle schönen Stellen in der Nähe entdeckt, wo man sich ausruhen und die warmen Nachmittagsstunden gemütlich zubringen konnte. Abends wurde wieder eine Wanderung mit Papa und Mama unternommen.

Aber der Rita war es eigentlich mehr um die Entdeckung der schönen Plätzchen als um das Ausruhen zu tun, während Ella sich auf das weiche Moos bei den Tannen oder auf den grünen Weideboden des Bergabhangs hinsetzte und sich darauf freute, daß nun Fräulein Hohlweg kommen und eine schöne Geschichte lesen oder erzählen würde. Inzwischen war Rita schon wieder auf Entdeckungsreise gegangen. Die Mutter saß drinnen im Häuschen beim Papa, und manchmal mußte sie sich auch zum Ausruhen hinlegen, denn ihre Gesundheit war sehr angegriffen.

Wenn Rita Fräulein Hohlweg aus dem Häuschen treten sah, den großen Korb mit sämtlichem Strickzeug am Arm, da kamen dem Kind erst recht viele schöne Orte in den Sinn. Dorthin wollte sie gehen. Und ehe noch Fräulein Hohlweg sich hingesetzt hatte, erklärte ihr Rita, sie müsse schnell zum Papa hinein, da sie ihm vieles zu sagen habe. Husch – war sie im Häuschen, hatte sich auf Papas Knie gesetzt und machte ihm eine Menge Vorschläge, wie man zu den Tannen hoch oben auf die Felsen klettern und dann weit umherschauen könnte, oder man könnte tief in das Gehölz hineingehen, bis man zu den großen Vögeln käme, die manchmal so fürchterlich schreien.

Der Papa hörte dann die kühnen Vorschläge mit Interesse an, meinte aber, vorläufig wären noch kürzere Wanderungen zu unternehmen, und jetzt möge sie wieder zu Ella und dem Fräulein zurückkehren.

Eben hatte sich Rita wieder auf das Knie des Vaters gesetzt. Heute wollte sie einen neuen Vorschlag machen, und sie hatte es sehr eilig.

»O Papa, leg nur das Buch einen ganz kleinen Augenblick weg«, bat sie, »ich will dir nur etwas sagen.« Der Papa tat ihr den Gefallen und hörte aufmerksam zu. »Sieh, Papa«, fuhr Rita fort, »schon gestern und heute wieder steht dort drüben vor dem Häuschen ein kleiner Junge und sperrt die Augen auf und schaut immer herüber. Ich muß wirklich einmal hinübergehen und fragen, warum er das tut, und wie er heißt.«

Der Papa war mit dem notwendigen Gang einverstanden, und Rita machte sich gleich auf den Weg. Drüben stand der Seppli noch auf dem gleichen Fleck wie vor einer Stunde und schaute zum Nachbarhaus hinüber. Seit die fremden Leute angekommen waren, gab es hier immer etwas Neues und Merkwürdiges zu sehen. Als Rita bei ihm angelangt war, stellte sie sich vor ihn hin, die Hände auf den Rücken gelegt, so wie Papa, wenn er wichtige Besprechungen mit Mama zu führen hatte.

»Was hast du sehen wollen, als du immer hinübergeschaut hast?« fragte sie.

»Nichts«, erwiderte Seppli.

Diese Antwort schien der Rita nicht ganz zutreffend.

»Hast du etwa gemeint, wir haben auch einen kleinen Jungen, und hast du sehen wollen, wie er aussieht?« forschte sie weiter.

»Nein«, gab der Seppli kurz zurück.

»Du hast jetzt vielleicht vergessen, was du sehen wolltest«, sagte nun Rita. »Wie heißt du denn?«

»Seppli.«

»Wie alt bist du?«

»Weiß nicht.«

»Das muß man wissen. Komm, stelle dich neben mich, so.« Und Rita stellte sich neben den Seppli und schaute ihm über die Schulter. Er war ein wenig kleiner, aber dafür auch viel kräftiger gebaut als Rita.

»Du bist noch nicht so groß wie ich«, sagte sie, »du bist noch ziemlich klein. Siehst du, ich werde sieben Jahre alt. Denn ich bin sechs Jahre alt geworden, gerade an meinem Geburtstag, das weiß ich noch gut, denn ich habe viele Geschenke bekommen. Du wirst vielleicht erst sechs Jahre alt, weil du noch so klein bist.«

Der Seppli nahm die Belehrung gläubig an, denn er wußte nicht, daß er schon seit einiger Zeit sieben Jahre alt war, und daß er nur mehr in die Breite als in die Höhe gewachsen war.

»Was machst du den ganzen Tag, Seppli?« fragte Rita.

Seppli hatte lange nachzudenken. Endlich sagte er: »Ich weiß, wo es rote Blumen gibt.«

Dieses Wort fiel wie ein zündender Funke in Ritas Herz. Auf einmal sah sie einen Busch flammender, roter Blumen im Wald, und sie wünschte sich nichts sehnlicher als die wunderbaren Blumen.

»Wo, wo? Seppli, wo sind die Blumen? Komm, wir wollen schnell hingehen!« Und Rita hatte schon Sepplis Hand erfaßt und zog ihn fort. Der Seppli folgte aber langsam.

»Dort«, sagte er jetzt und zeigte mit dem Finger zu dem Gehölz hinauf.

»Oh, geht man dort in den großen Wald hinein?« rief Rita erwartungsvoll und zog den Seppli mit aller Macht mit sich.

»Ja, und dann immer weiter«, antwortete Seppli bedächtig und ohne in einen schnelleren Schritt zu verfallen. Er hatte auch schwere Holzschuhe an den Füßen. Aber Rita zog immer stärker an dem Seppli. Schon sah sie den Weg durch den dunklen Wald vor sich und hinter den Bäumen die großen roten Blumen, leuchten und schimmern.

»Komm doch, Seppli, komm«, rief sie und zog ihn noch heftiger vorwärts.

Jetzt kamen sie am Häuschen des Kaspar vorüber. Der Papa stand in der Tür. Er wollte sehen, wo seine Kleine sich so lange aufhalte. Der gestattete Besuch konnte wohl nun zu Ende sein. Als er gerade auf die Schwelle trat, kam das seltsame Paar vorüber. Rita zog mit aller Anstrengung den Seppli hinter sich her.

»He, he! Nicht so eilig, kleine Heuschrecke!« rief der Papa. »Komm hierher! Wo soll der neue Freund hingeschleppt werden?«

»O Papa«, rief Rita mit großem Eifer, »er kennt so schöne, rote Blumen im Wald, wir wollen sie holen.«

»Nein, nein«, sagte der Papa und nahm Rita bei der Hand, »das geht nicht. Jetzt gehen wir mit Mama spazieren, und der kleine Freund holt einmal die Blumen und bringt sie dir, dann soll er ein schönes Butterbrot haben.«

Damit zog der Papa sein Kind mit sich ins Haus, und bald kamen alle miteinander, Vater und Mutter, Fräulein Hohlweg, Ella und Rita wieder heraus und wanderten zusammen auf dem sonnenbeschienenen Bergpfad in das Tal hinab. Der Seppli blieb auf demselben Fleck stehen, bis er gar nichts mehr von der Gesellschaft sah, dann erst wandte er um und kehrte wieder zu seiner Haustür zurück.


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