Johanna Spyri
Und wer nur Gott zum Freunde hat, dem hilft er immer wieder
Johanna Spyri

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3. Kapitel.
Eine Überraschung nach der anderen

Die Mutter daheim war inzwischen ein paarmal halb erwacht, hatte aber nicht die Kraft gehabt aufzustehen. Immer wieder war sie zurückgesunken und hatte mehrere Stunden in einer Art Betäubung dagelegen.

Endlich aber erwachte sie. Die Dämmerung war schon hereingebrochen. Ihre Kinder konnte sie nicht sehen, sie war aber so müde, daß sie noch sitzen blieb.

»Basti!« rief sie nach einiger Zeit, als alles so still um sie her blieb. »Fränzeli, wo seid ihr?«

Sie erhielt keine Antwort. Da gab ihr die Angst plötzlich Kraft. Sie stand schnell auf, trat vor das Häuschen, aber da war niemand. Sie ging zur Geiß hinein, die war ganz allein, dann rund um das Häuschen und rief dabei immer wieder die Namen der Kinder.

Alles blieb still. Nur von unten herauf rauschte tosend der wilde Schächenbach. Eine furchtbare Angst kam über die Mutter, kaum konnte sie sich auf den Füßen halten. Sie faltete die Hände und betete, daß der liebe Gott ihr doch das Schwerste ersparen wolle. Dann lief sie an den Fußweg und wollte den Berg hinuntersteigen. Da sah sie von unten herauf einen ganzen Zug Leute kommen. Alle sprachen laut und eifrig miteinander, und es war gerade, als ob die aufgehobenen Stöcke nach ihrem Hüttchen zeigten.

»Ach, Gott im Himmel!« sagte sie im höchsten Schrecken. »Sollte es eine Nachricht für mich sein?« Sie konnte keinen Schritt weitergehen, sie stand wie gelähmt da.

»Mutter! Mutter!« rief es auf einmal von unten herauf. »Wir kommen schon, und du mußt nur sehen, was wir bringen! Und die Herren kommen alle mit, und das Fränzeli kommt in einem Wagen mit einem Pferd.«

Und jetzt stürmte der Basti allen voraus und rief immerfort und erzählte atemlos, was alles geschehen war. Denn er konnte es nicht erwarten, daß die Mutter alles erfuhr.

Und als er endlich oben war und auf die Mutter losstürzte, drückte sie den Buben an sich und dankte Gott von ganzem Herzen. Vor Freude war sie neubelebt.

Aber Erstaunen und Überraschung wuchsen mit jedem Augenblick, denn hinter ihrem Basti kam eine ganze Schar von Herren heran. Und alle begrüßten sie freundlich wie eine alte Bekannte. Zwei davon trugen auf zwei Stöcken, die sie auf die Schultern gelegt hatten, einen ungeheuren Korb. Und zuletzt kam noch ein Herr, der hielt das Fränzeli an der Hand. Das sonst so schüchterne Kind schien ihm so zu vertrauen, daß es nicht einmal seine Hand losließ, als es die Mutter sah, sondern ihn mit sich zu ihr heranzog.

Die gute Afra wußte gar nicht, wo sie zu danken anfangen sollte. Denn nach Bastis Erzählung hatte sie schnell begriffen, daß die Herren den Kindern viel Gutes erwiesen hatten. Und der vollgepackte Korb zeugte auch davon.

Sie wandte sich nun gleich an den Barbarossa. Weil er der größte von allen war, so hielt sie ihn für eine Art von Anführer und dankte ihm mit so warmer Herzlichkeit, daß er ganz gerührt war.

Nun kam es ihm plötzlich in den Sinn, daß er ihr ja auch einen ärztlichen Rat geben sollte, und er schlug ihr vor, mit ihm in die Hütte zu gehen und ihm zu sagen, was ihr fehle.

Auch darüber war sie sehr froh, und drinnen erklärte sie ihm, daß sie zwar keine Schmerzen habe, nur vor Schwäche und Kraftlosigkeit kaum noch stehen und gehen könne. Er fragte nun, was sie esse und trinke, und sie sagte ihm genau alles. Nun trat Barbarossa vor die Hütte hinaus und rief mit lauter Stimme: »Alle Flaschen her!«

Er selbst lief eifrig hin und her, um die Flaschen einzusammeln. Endlich war der Tisch völlig bedeckt mit Flaschen, einige sogar standen noch auf dem Boden, und zu der sprachlos erstaunten Afra sagte er dann: »Ihr seht, Frau, die Medizin haben wir schon mitgebracht. Jeden Tag ein rechtes Glas voll genommen, dann wird's besser.«

»Ach, mein guter Herr«, konnte Afra endlich hervorbringen, »ich habe wohl manchmal gedacht, ein Tröpfchen Wein könnte mir gut tun, wenn ich's bekommen könnte. Aber so viel, so viel!«

»Meine gute Frau«, erwiderte Barbarossa, »wenn ein Tröpfchen gut tut, so tun mehrere Tröpfchen besser. Und nun lebt mir wohl und eure Kinder dazu!« Damit streckte er der Afra seine Hand hin.

Sie begleitete ihn hinaus und nahm Abschied von all den Herren. Aber sie konnte gar nicht fertig werden mit Danken. Auch das Fränzeli dankte jetzt seinem Beschützer und bat, er solle bald wiederkommen. Der Basti schoß mit seinen Danksagungen von einem zum anderen, und dann lief er auf die äußerste Spitze des Felsvorsprungs und schrie aus vollem Hals, so lange er noch etwas von den Herren sehen konnte: »Vergelt's Gott, Barbarossa! Vergelt's Gott, Maximilian!« Denn er hatte sich die Namen gut gemerkt.

Als die Kinder dann aber drinnen im Hüttchen bei der Mutter saßen, hatten sie so viel zu erzählen, wie sich alles ereignet hatte, wie sie schnell fortgegangen waren, um der Mutter ein wenig Brot zu ersingen, während sie schlief. Sie berichteten, wie dann eines zum anderen gekommen war, bis sie mit dem Wagen und dem Pferd heimbegleitet worden waren. Das Fränzeli konnte fast keine Worte finden, um die Herrlichkeit zu beschreiben, die es erlebt hatte, so im Wagen nach Hause zu fahren.

Dann wurde der große Korb ausgepackt. Aus jedem Paket rollten wieder neue, prächtige Eßwaren heraus, und zuletzt kamen unten noch drei ganze weiße Brote zum Vorschein, die die Herren noch eigens bestellt hatten. Da übernahm die Freude den Basti so, daß er in hohen Sätzen in der Stube herumhüpfen und noch einmal laut rufen mußte: »Vergelt's Gott, Maximilian! Vergelt's Gott, Barbarossa!«

Die Mutter aber mußte immer wieder sagen: »Das hat der liebe Gott den jungen Herren ins Herz gegeben. Wir wollen auch alle Tage für sie beten, Kinder, und es nie vergessen.«

Inzwischen wanderten die Herren Studenten fröhlich nach Altorf hinunter. Nur Ritter Maximilian war eine Weile ganz still gewesen, dann plötzlich sagte er. »Es ist doch nicht recht. Nein, es ist nicht recht. Nun haben wir die arme Frau und die Kinder nur gerade davor geschützt, daß sie nicht Hungers sterben, und weiter gar nichts. Was sollen sie da oben im Winter machen ohne warme Kleider, ohne Essen, ohne alles? Das geht nicht, wir müssen eine Sammlung veranstalten, gleich heute noch, der Wirt kann den Ertrag überbringen.«

»Ritter Maximilian«, entgegnete Barbarossa, »deine Gesinnung ist gut, dein Vorschlag aber unpraktisch. Du vergißt, daß wir auf der Reise sind, daß wir noch weit nach Hause haben und noch einiges Geld brauchen. Was bleibt da zu sammeln? Ich mache einen andern Vorschlag. Wir gründen eine neue Verbindung, die Bastiania. Jahresbeitrag vier Mark. Zu Ehrenmitgliedern werden alle Mütter und Schwestern ernannt, die liefern uns die nötigen Kittel und Röckchen für den Basti und das Mädchen. Sobald wir nachhause kommen, wird der Jahresbeitrag eingetrieben, die Ehrenmitglieder werden zur Mitwirkung überredet, und die erste Sendung der Bastiania geht ab.«

Dieser Vorschlag fand ungeheuren Beifall. In der fröhlichsten Stimmung zogen die Herren in Altorf wieder ein, fanden ihren Tisch noch draußen stehen und setzten sich gleich wieder daran. Hier im hellglänzenden Mondschein wurde sofort die Bastiania gegründet und besiegelt.

Wie mußte aber die Afra sich wundern, als einige Wochen nachher der Postbote ein so mächtig großes Paket zu ihr hinaufbrachte, daß er es mit Gewalt durch die offene Tür zwängen mußte.

Dann warf er es auf den Boden, trocknete sich die Stirn und sagte: »Es wundert mich nur, Afra, was Sie für eine Bekanntschaft so weit oben in Deutschland haben. Auch der Postverwalter hat's nicht erraten können, wer Sie so weit weg kennen könnte.«

»Ihr werdet wohl mit dem Paket an der falschen Stelle sein«, erwiderte die Afra.

»Sie können es lesen«, gab der Bote zurück und ging davon.

Wirklich standen deutlich Afras Name und ihr Wohnort auf dem Paket. Sie löste nun die festvernähten Ecken auf, und immer lockerer wurde die ganze Naht.

Die Kinder schauten gespannt auf den geheimnisvollen Gegenstand. Jetzt auf einmal ging alles auseinander, und heraus rollten Kittel und Jäckchen und Tücher und Stiefel und Strümpfe, zum Erstaunen viel. Und mitten heraus fiel eine schwere Rolle, darin waren viele, viele Silberstücke.

Die Mutter schlug die Hände zusammen und rief nur immer: »Aber woher! Woher ein solcher Segen?«

Da brachte ihr das Fränzeli ein Blatt Papier, das aus den Sachen herausgefallen war. Darauf standen die Worte:

»Und wer nur Gott zum Freunde hat,
Dem hilft er immer wieder.«

Da rief der Basti sofort: »Das steht im Lied, das kommt von den Herren!«

Ja, das mußte so sein. Jetzt war es auch der Mutter klar, daß die Sendung von niemandem sonst als von ihren Wohltätern kommen könnte. Aber welcher unaussprechliche Dank erfüllte jetzt ihr Herz, da sie auf einmal ganz und gar von der großen Angst befreit war, daß sie von ihren Kindern getrennt werde. Nun hatte sie ja eine so reiche Unterstützung, daß sie den kommenden Winter ohne Sorge leben konnte. Und dazu war sie von dem stärkenden Wein wieder ganz kräftig und gesund geworden.

Wie wird aber die Afra erst staunen, wenn nächstes Jahr wieder eine solche Sendung kommt und jedes Jahr aufs neue? Denn die Bastiania besteht als eine solide Verbindung fort, und die Ehrenmitglieder denken bei jedem ausgewachsenen Kleidchen und Kittelchen ihrer Kinder an die kleinen Neujahrssänger, die ihnen von den Söhnen und Brüdern bei der Rückkehr von der Schweizerreise in so lebendigen Farben geschildert worden sind.

Die Afra aber hat als bleibende Gedenktafel in ihrer Stube das Blatt aufgehängt, das die Herren ihrer Sendung beigelegt hatten, und worauf die Worte stehen:

»Und wer nur Gott zum Freunde hat,
Dem hilft er immer wieder.«


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