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Wir saßen auf der Bank unter der einsamen Tanne, die leise ihren Wipfel über uns bewegte; es rauschte nicht mehr darin wie vor Zeiten, die Zweige waren dünn und die Nadeln trocken. Die eine Seite des Baumes hatte keine Äste mehr, es war nur ein halber Wipfel. An der Rinde hatten wohl viele Namen gestanden, halb waren sie überwachsen, halb waren noch tiefe Schnitte zu sehen, wie von schwer vernarbten Wunden.
»Wie anders muß der Baum ausgesehen haben in früherer Zeit!« sagte meine Begleiterin.
Ja, wie anders damals, als der Baum in voller Frische neben dem langjährigen Gefährten stand, mit dessen Wurzeln die seinigen verwachsen waren tief in der Erde drinnen. Wie anders, als da droben über Einem die vollen Wipfel in einander rauschten, wenn der Föhn dort zwischen den Bergen herausschoß und die weißen Wolken über den Himmel hinjagte!
Meine Begleiterin erinnerte mich an ein Versprechen, das ich gegeben hatte, etwas aus jener Zeit zu erzählen; doch war das Versprechen unter einer Bedingung gegeben worden, die ich ihr dagegen in Erinnerung brachte, daß eine fern Weilende ihre volle Einwilligung zu der Erzählung gebe. Noch war keine Antwort auf die geschehene Anfrage erfolgt. Einige Zeit nachher langte der erwartete Brief an, es hieß darin:
»Sollte etwas aus meinen Jugendtagen jemandem zur Belehrung dienen können, so mag es immerhin erzählt werden. Bis zu den fernen Hügeln von Wales wird die Erzählung ja nicht gelangen, und im Vaterlande kennt mich kaum einer mehr.«
Der Schluß des Briefes lautete: »Ist Dein Bibelbuch mir auch nicht ganz, was Du wünschest, so denken wir ja darin gleich, daß wir noch nicht am Ende unserer Erkenntnis sind. Für einmal habe ich die Befriedigung, eine Lebensweisheit in dem Buche zu finden, die mich immer neu überrascht und die unerschöpflich scheint.
Klara.«
Am Abhange des Bergrückens, auf dem die kleine Kirche des Dörfchens steht, vom Pfarrhaus und einigen anderen ländlichen Wohnungen umgeben, schaut durch die grünen Bäume ein stattliches Bauernhaus, das heißt: der Hennenhof. Lustig gackern auch die alten Hennen mit ihren Scharen von Jungen im Hof um den Brunnen herum, wenn es da noch zugeht wie vor Zeiten. Wenige Schritte vom Haus entfernt steht die große Scheune mit den vielen Kühen darin und dem duftenden Heu hoch oben auf dem Boden, wohin die haushohe Leiter führt, die mit ihrem Locken nach unbekannten Höhen eine unüberwindliche Anziehungskraft ausübte auf unsere strebsamen Gemüter. Der anmutigste Aufenthalt des ganzen Geländes war aber für uns der sogenannte Schopf, eine hölzerne Gebäulichkeit, zwischen Haus und Scheune stehend, in deren unterem Raume allerlei ländliche Gerätschaften aufbewahrt wurden. Eigentlich war dieser Raum bestimmt, die unbenutzten Leiterwagen zu beherbergen; aber Pflüge, Sensen, Holzkörbe, Wasserschöpfer und viele namenlose Gegenstände waren dazwischen gelagert in den überraschendsten Stellungen. Es war ein gedankenanregender Aufenthalt, aber in noch viel höherem Maße war dies der Fall mit dem oberen Boden, wohin eine hölzerne Treppe führte, und wo ganze Schätze rätselhafter Dinge aufgehäuft lagen. Das Erkennbarste waren große Torfhaufen, hochaufgeschichtete Strohwellen, Thürme von Hobelspänen, Verschläge mit Korn und Sämereien – eine unvergleichliche Fundgrube für eine arbeitende Einbildungskraft. In den Hintergründen war beständig ein Knistern und Raspeln zu hören, das unabweisbar das Walten geheimnisvoller Mächte bekundete, deren Dasein uns fortwährend mit einer Art erwartungsvollem Schauer erfüllte, was uns den Raum um so anziehender machte. Später entdeckten wir freilich, daß jene unsichtbaren Mächte Mäuse waren, aber der Ort war schöner, ehe man dies wußte.
Eine herrliche Einrichtung waren die großen Fensteröffnungen, die breit und hoch, fast wie kleine Thüren waren, auch immer weit offen standen; denn da war kein Glas, nur des Nachts wurden die ungeheuren Balken zugeschlagen. Von außen her ragte beinahe bis zu der Fensterbrüstung empor der hochaufgeschichtete Holzberg, von klein gesägten Stücken sauber aufgebaut. Ein Laden lag darüber vor dem einen Fenster, da stand eine Reihe der schönsten dunkelroten Nelken, die hatten eine so warme Farbe und so gewürzigen Duft, daß sie mir jederzeit das Herz erfreuten; aber wenn die Abendsonne auf die Nelken schien, und sie wie lauter Rubinen flammten, dann wußte ich nichts Schöneres.
So standen die Blumen im scheidenden Sonnenlicht, als wir dort oben saßen am leuchtenden Herbstabend, die Tochter des Hennenhofes, die blauäugige Marie, und ich. Wir saßen auf der Fensterbrüstung, aber nach außen gekehrt, den aufgetürmten Holzstoß als Fußschemel benutzend und weit ins Land hinausschauend von unserem hohen Sitz herab.
Wir waren sehr befreundet, Marie und ich. Manch sonnigen Sommerabend hatten wir da droben verlebt, und auch die Regentage verscheuchten uns nicht aus unserem Reich; das waren die Zeiten der Entdeckungsreisen im Schopf herum.
Der Hennenhof war ein ansprechendes Bauernhaus, es hatte einen stillen, soliden Charakter. Die Leute redeten ruhig mit einander, Vater und Mutter machten wenig Worte, aber sie galten. Die würdige alte Großmutter war die Hauptperson im Hause, von jedermann hochgeachtet und mit Recht. Der Stempel der Wohlhabenheit, der Ordnung und unveränderlicher Haussitte war den Personen wie den Dingen des Hennenhofes aufgedrückt. Ein Hauch religiöser Weihe, von der Großmutter ausgehend, durchwehte die ganze Häuslichkeit.
Ich kannte das Haus in- und auswendig und wußte perfekt, was in diesem Moment drinnen geschah, während Marie und ich auf der Fensterbrüstung saßen in vergnüglicher Beschaulichkeit. Nun mußte in der Stube die Abendsonne einen langen Strahl über den Fußboden werfen, auf der Bank am Fenster saß die alte Großmutter und strickte an einem blauen Strumpf. Auf dem breiten Gesimse neben ihr, das immer sauber gescheuert war, lagen unveränderlich die Bibel, das Gesangbuch und Arndts »wahres Christentum«. Die Mutter kochte das Abendessen nebenan in der Küche, machte von Zeit zu Zeit die Thür nach der Stube auf und rüstete den Tisch zum Abendbrod. Das that sie alles ohne Geräusch, sie ging auch immer leise und bedächtig hin und her. Der Vater war mit den Knechten und Tagelöhnern auf dem Felde, der große Hof brauchte viele Hände zur Bearbeitung. So ging es einen Tag wie den andern im Hennenhof zu. Diese Unveränderlichkeit hatte etwas sehr Beruhigendes; für vielbewegte Kinderherzen sind feste Zustände und stetiges Wesen besonders wohlthuend.
Auch am Sonntag saß die Großmutter an demselben Platz auf der Bank, aber dann hatte sie eines der drei Bücher vor sich auf dem Tisch und die große Brille im Gesicht.
Marie war gerade so alt wie ich; wir hielten von jeher zusammen, erst als Spiel-, dann als Schul-, nun schon als Lebensgenossinnen. Viel Freud und Leid hatten wir schon geteilt zusammen, obschon wir bis dahin immer noch das Recht hatten, Kinder zu sein, was auf dem Lande länger dauert als in der Stadt, und wir waren dessen froh mit unseren vierzehn Jahren.
Marie war ein sanftes, gutgeartetes und wohlerzogenes Mädchen; Mutter und Großmutter hielten auf Zucht und wohlanständiges Wesen. Sie sah auch immer sehr ordentlich aus, die krausen blonden Haare um die Stirn standen ihr gut, wurden aber immer sorgfältig glatt um die Schläfe gestrichen. Ihr einfach natürliches Wesen und ihre ruhige, immer besonnene Weise machten sie mir besonders angenehm. Marie war aber von jedermann gern gelitten, denn Herzensgüte und Freundlichkeit waren in all' ihrem Thun.
Der Septemberabend war lieblich. Lange saßen wir und schauten um uns ohne ein Wort zu sagen. Von der Halde herauf ertönten die Glocken der weidenden Kühe, ein goldener Herbstschmelz lag auf der Wiese und über den Baumwipfeln vor uns. Durch die Stille tönte hin und wieder das Fallen einer reifen Frucht vom alten Birnbaum, auf den eben die letzten Sonnenstrahlen fielen, so daß wir die großen Birnen goldgelb aus den Blättern schimmern sahen.
»Wenn wir die Birnen holten?« meinte Marie, unser Schweigen unterbrechend.
Ich war unbedingt einverstanden und gleich die Treppe hinunter. In kürzester Zeit hatten wir die weichen Früchte gesammelt, saßen auch schon wieder auf unserer Festung und gingen ans Werk. Niemals schmeckten Birnen wie diese, so duftig und sonnensüß.
»Ich wollte Dich fragen,« sagte Marie nach einer Weile stillen Genusses, »ob Du mir einen Gefallen thun wolltest?«
»Ja natürlich,« sagte ich unbedenklich, durch den schönen Abend und die süßen Birnen liebevoll gestimmt, »sag' nur schnell, welchen!«
»Weißt Du,« sagte sie, »auf den Frühling kommt der neue Herr Pfarrer, den sollen wir mit Gesang empfangen; da müssen nun alle Kinder singen lernen, und weil unser alter Lehrer es selbst nicht kann, so sollen wir alle eine Zeit lang zur Singschule gehen nach dem Rain, jeden Sonntag Nachmittag. Dies hat uns gestern der Lehrer angezeigt, als Du nicht da warst. Nun weiß ich schon,« fuhr Marie etwas zögernd fort, »daß Du daheim singen lernen kannst; aber ich hätte gern, Du kämest mit mir. So allein nach der fremden Schule gehen, mag ich nicht, und mit jedem mag ich auch nicht gehen.«
Marie war heimlich ein bischen Aristokratin. Die Bitte kam mir ein wenig ungelegen. Vor dem Jahre hatte der Lehrer am Rain uns Geschwistern einen Kurs Singstunden gegeben und uns einen Monat lang täglich singen lassen: »Wer nur den lieben Gott läßt walten.« Die Erinnerung war mir etwas peinlich. So zu denken einen ganzen Monat lang, und noch länger, ist ja recht gut, aber singen, immerfort nach derselben Melodie – nein, das war zuviel und mußte alle Gesangslust im Keim ersticken. Aber ich hatte ja schon zugesagt, auch würde es nicht lange währen, und die Gänge durch die schönen Herbstsonntage waren eher lockend. Ich schlug also ein, wenigstens bis zum Winter für einmal. Marie war's zufrieden, gleich am Sonntag würde sie mich abholen.
Jetzt hörten wir die gewichtigen Tritte des Vaters und der Arbeiter von der Scheune her, was gewöhnlich das Zeichen zu unserer Trennung gab; es war die Zeit des Abendessens.
Am Sonntag erschien Marie, und wir gingen durch den sonnigen Nachmittag hin nach der Schule am Rain. Unser Weg führte über den Tannenacker. Mein Leben lang konnte ich diesen Weg nicht gehen, ohne einen Moment abzuschweifen nach der Bank hin, die auf dem höchsten Punkt des Hügels stand; so wollte ich auch jetzt thun.
»Nein, nein, jetzt nicht, im Heimweg dann,« sagte Marie bittend, »sie sind sonst mitten im Singen, wenn wir ankommen!«
Ich gab nach in der Aussicht auf die Heimkehr, da dann nicht zu eilen war. Die Gesangesübung ging nach Wunsch vorüber. Auf dem Heimwege gesellten sich andere Glieder der Singschule zu uns, Knaben und Mädchen. Eben war eine lebhafte Unterhaltung im Gange, als ich vom Wege ab zu der Bank hinlenkte. Man wollte uns zurückhalten; Marie war für Nachgeben, ich aber nicht, zweimal so nahe beisammen war mir zuviel, ich beharrte auf meinem Vorhaben. Nun fand Marie, sie müsse Wort halten; die anderen standen alle still, es gab eine ernsthafte Besprechung.
»Man sollte mit einander heimgehen und sich nicht teilen,« meinte der Johannes, der ziemlich still neben uns hergegangen war und sichtlich ungern sein Begleit verlor.
»Gehst Du auch dort hinauf, Margritli?« fragte der krausköpfige Rudi ein rotbackiges Mädchen, mit dem er bisher unaufhörlich gelacht und geschwatzt hatte. Das Mädchen sah nach Marie und mir hin. In demselben Augenblicke trat die Lise vor, die stattliche Figur mit der imposanten Nase – die Pharisäerlise nannte sie Rudi im Privatverkehr – nahm das Margritli beim Arm und sagte sehr bestimmt:
»Sie wollen uns nicht, Du siehst es ja, komm Du mit mir!«
Damit zog sie das Mädchen mit sich fort, rechts ab, den steilen Fußweg gegen das Mühlenthal hinunter.
Rudi warf ihr einen Blick nach, der deutlich sagte: Wart' nur, Dir will ich daran denken! und ging mit Johannes davon. Ehe wir uns aber noch umgewandt hatten, kam Lise zurück, sah mich von der Seite an und sagte:
»Marie, ich muß Dir noch etwas sagen.«
Damit zog sie Marie auf die Seite und flüsterte ihr in die Ohren. Ich war es gewohnt, von Lise seitwärts behandelt zu werden. Sie war eine sehr tugendreiche Person, ich aber nicht; sie hatte, so lange sie zur Schule ging, nie etwas Dummes gemacht, ich aber wohl; sie hatte von jeher alle Sprüche des Spruchbuches hintereinander ohne Anstoß aufsagen können vorwärts und rückwärts, ich aber wieder nicht. So kam es, daß Lise für mich nur Seitenblicke hatte.
Als das Geflüster dauerte, ging ich den Hügel hinauf, der Bank zu. Auf dem Gipfel der Anhöhe standen zwei hohe Tannen, mit geraden, kräftigen Stämmen, so nahe bei einander, daß die reichen Äste und Zweige sich oben alle in einander verschlungen hatten. Wie ein Wald rauschte es über die Bank hin, die unter den Tannen stand, und nur hie und da blickte das Himmelblau durch das dichtverschlungene Gezweige hernieder. Ich setzte mich auf die Bank. Drüben leuchteten die Schneeberge in den blauen Himmel hinein; nach allen Seiten zogen die weißen Wege so viel versprechend ins Thal hinab. In den Wipfeln über mir rauschte es ahnungsvoll, und vom See herauf tönten die hellen Glocken aus allen Dörfern wie zum Feste ladend, zum schönen Feste des vollen, reichen Erdenlebens, das verheißend von all' den Hügeln winkte, aus all' der Herrlichkeit hervorquellen mußte.
Marie war mir nahe gekommen, ohne daß ich sie bemerkt hatte; sie stand neben mir. In dem Moment konnte ich nicht recht zu ihr reden von dem, das in mir war, ich mußte wie von fernher zu ihr zurückkommen. Wie wünschte ich, daß Marie empfinden könnte, was ich empfand, daß sie verstände ohne Worte, was mich erfüllte.
Erst konnte ich nichts sagen. Sie sah mich fragend an, dann sagte sie: »Bist Du böse mit mir, weil ich Lise abhörte?«
Der Wahrheit nach verneinte ich dies und fragte, was ihr Lise in die Ohren geflüstert habe.
»Sie hätte gern, daß ich einmal mit ihr in die Versammlung der Wiedertäufer ginge; sie sagt es sei so schön da, sie gehe oft hin am Sonntagabend.«
»Geh nicht, Marie!« sagte ich.
»Warum nicht?« fragte sie schnell.
»Ich weiß nicht recht, warum nicht, aber ich weiß auch nicht, warum Du gehen solltest,« erwiderte ich.
»Lise sagt, man höre da so viel Gutes und man bekomme Freude am Singen der schönen Lieder und am Beten.«
Nun wußte ich nicht gleich Rat, aber er kam mir wieder: »Deine Großmutter geht ja auch nicht zu den Wiedertäufern und sie betet doch viel und gern.«
»Ja, Du hast recht,« sagte Marie nach einigem Nachdenken, »man kann auch sonst Freude am Guten bekommen; ich meine nur, es könnte auch eher so mit mir werden, wenn ich in die Versammlungen ginge.«
Jetzt fiel aus Mariens Gesangbuch ein Bildchen auf die Erde; es war ein Engel mit Flügeln und einem Kranz von schön gemalten Rosen auf dem Kopf. Darunter standen in zierlicher Handschrift die Worte:
Willst Du himmlische Rosen tragen,
Mußt Du's mit den Dornen wagen.
Das Bildchen war sehr sauber gemacht.
»Wer hat Dir das gegeben?« fragte ich.
Marie wurde ein wenig rot als sie mir antwortete:
»Der Johannes.«
»Hat er's selbst gemacht?«
»Ja, der Vers steht in einem alten Buch; er hat ihm so gut gefallen, dann hat er das Bildchen dazu erfunden.«
»Das gefällt mir. Ist der Johannes ein wenig fromm im Herzen?«
»Ja, viel mehr als alle die anderen Buben; er weiß auch so viel Sprüche auswendig und Liederverse, und dazu macht er so schöne Bildchen, Du solltest sie nur sehen!«
»Eigentlich, Marie,« sagte ich, diese Vorzüge erwägend, »mag ich den lustigen Rudi noch lieber, der ist so frisch und grad' heraus, man weiß immer gleich, woran man ist mit ihm.«
»Ja,« sagte Marie, »aber dann ist der Johannes auch nie grob, wie die anderen Buben, und thut einem zu Gefallen, was er kann, ohne daß man nur ein Wort sagt.«
»Vielleicht auch nicht allen, Marie?«
»Doch gewiß!« sagte sie, ganz eifrig werdend, »die Lise sagt es auch, und Du weißt, sie läßt nicht zu viel Gutes an den anderen gelten.«
»Ja, wenn sie's auch sagt, so muß es so sein,« sagte ich zustimmend.
So ging es eine Reihe von Sonntagen fort. Die Singschule wurde regelmäßig besucht; auf dem Heimwege fand sich unsere kleine Gesellschaft immer zusammen, und einträchtig zogen wir unseres Weges. Einige gute Lehren von seiten der Lise und die nie ausbleibenden passenden Antworten Rudis ermangelten nie die Unterhaltung zu würzen. Gewöhnlich machte Rudi den Weg in endlosem Gelächter und Geplauder an Margritlis Seite, das unermüdet antwortete. Der Johannes ging still einher; irgendwie kam er immer wieder neben Marie zu stehen, obschon sich Lise sichtlich mehr mit ihm abgab. Ich machte meine Betrachtungen und befand mich ganz wohl in der harmlosen Gesellschaft.
Im Oktober wurde unser Weg über den Tannenacker mit bunten Blättern bestreut, der Schnee bedeckte die Berge tiefer herunter, und wir mußten eilen, es wurde schon Nacht auf dem Heimwege. Im November heulte der Nordwind durch den entblätterten Wald, über den Tannenacker hin fuhr er so scharf und schneidend, daß er Lippen und Wangen aufriß und einem durch Mark und Gebein fuhr.
So war es an einem Sonntag gegen Ende November; der Schnee war weggefegt vom Wege und lag hoch aufgetürmt an der Seite. Eisig kalt fuhr der Nordwind über die Felder daher und jagte uns auseinander, das eine da, das andere dort hinaus; die Schneewirbel sausten beißend in Augen und Ohren hinein. Ich kämpfte vorwärts mit geschlossenen Augen und stieß auf einmal auf einen Gegenstand, in dem ich, die Augen aufmachend, das kleine Meieli erkannte, das blasse, magere Kind, das einen mit seinen zwei großen schwarzen, Augen so traurig ansah.
»Meieli, wo kommst Du her? Du siehst ja ganz erfroren aus!« sagte ich zu dem Kinde, das, seine Arme in die Schürze eingewickelt, in einem leichten Röckchen, ohne irgend welchen warmen Schutz, vor mir stand, zitternd vor Frost.
»Von Euch,« antwortete das Kind mit leiser Stimme.
»Was hast Du bei uns gethan?«
»Und nun?«
»Nun bekommen wir.«
»Wie bekommt Ihr die Milch?«
»Ich muß sie am Abend holen.«
Jeden Abend um diese Zeit, schon bei Nacht, denn vor sechs Uhr konnte die Milch nicht ausgegeben werden, sollte dieses zarte Meieli den ganzen Weg über den schneeverwehten Tannenacker bis an den Rain hin machen, wo es wohnte, und dazu mit einer schweren Milchflasche am Arm.
»Ach, Meieli!« – und wie das Kind mit dem traurigen Augen zu mir aufsah, schnürte es mir noch mehr das Herz zusammen – »könnte niemand anders die Milch holen?«
»Nein,« sagte Meieli, »und ich will doch lieber –«
Ein sausender Windstoß warf das Kind in den Schneehaufen am Wege und uns alle gegeneinander; wir stoben davon.
»Meieli, lauf fest!« rief ihm Rudi zurück, »so eins, wie Du bist, kann der Wind in die Luft hinaufnehmen, und kein Mensch find't Dich mehr!«
Meieli war schon weit weg, teils laufend, teils wirklich fortgeblasen.
»Du brauchst nicht zu spotten, Rudi!« sagte Lise scharf.
»Das thu' ich nur Dir zu lieb,« rief Rudi, vorwärts trabend, »wem wolltest Du predigen, wenn alle vollkommen wären, wie Du?«
»Ich komme nicht mehr diesen Winter,« sagte ich, vor unserem Hause angelangt und die Gesellschaft verabschiedend, »im Frühling wollen wir wieder singen.«
»Dann gehe ich auch nicht mehr,« sagte Marie.
»Und ich auch nicht,« fiel Johannes sogleich ein.
»Aber ich!« rief Rudi, »und die Lise kommt auch noch, schon um meinetwillen.«
Damit lief er davon, die Antwort wartete er nicht ab.
Wirklich hielten Rudi und Margritli tapfer aus, den ganzen Winter durch, und hatten manches grausige Schneegestöber zu bestehen auf dem Heimwege; aber das Margritli wurde nur immer rotbackiger dabei. Auch Lise hielt aus; denn wenn man etwas angefangen habe, so sollte man es auch vollenden und nicht wegen des ersten Sturmwindes aufgeben und andere noch mit sich ziehen.
Das war zu meinen Händen gesagt.
In diesem Winter ging mir oft ein Stich durchs Herz, wenn ich den Nordwind im Kamin heulen und an den Fenstern rütteln hörte und dachte, wie das arme Meieli nun über den Tannenacker hin kämpfe mit seiner Flasche am Arm so allein durch die Nacht. Oft sah ich auch das bleiche Kind in der Dämmerung herankommen, beide Arme immer in die Schürze gewickelt; die leere Flasche hing dann irgendwie hinten am Arm; aber wenn sie nun gefüllt war, da mußte ja das Kind die ganze Kraft seiner Hände gebrauchen, sie zu tragen, wie dann diese warm halten?
Meieli hatte vor dem Jahre seine Mutter verloren und lebte nun mit seinem Vater und einer älteren Schwester, einer rüstigen Weberin, weit hinten am Rain. Es waren ehrenfeste Leute, die sich selbst durchhalfen auch in schwerer Zeit. Der Vater und die Tochter waren tüchtige Arbeiter, die ihre Kräfte gebrauchten; die Mutter war eine zarte, stille Frau gewesen, Meieli war ihr sehr ähnlich.
Eines Abends, als es bitter kalt durch die halbgeöffnete Hausthür hereinwehte, wollte ich diese schließen, als eben Meieli mit seiner Schwester eintrat.
»Aber ich bitte Euch,« mußte ich dieser gleich entgegenrufen, »legt doch dem Meieli etwas Warmes um, es zittert ja wie ein Espenlaub!«
»Es friert doch, so wie so,« entgegnete mir die handfeste Schwester, »es friert immer, und heute hätte es auch daheim bleiben können, weil ich ging; aber es nützt nichts, daß ich ihm den Weg ersparen will, es läuft doch mit, es sagt, es friere auch in der dunkeln Stube und fürchte sich; denn ich lösche das Licht aus, wenn ich fortgehe und niemand da arbeitet.«
»Armes Meieli,« sagte ich, »frierst Du denn immer? Und vor wem fürchtest Du Dich?«
»Ich weiß nicht vor wem,« sagte das Kind leise, »aber es ist so kalt und leer in der Stube, seit die Mutter nicht mehr da ist.«
Meielis große schwarze Augen hatten einen unsäglich traurigen Ausdruck, wie es so sagte.
Wie unheimlich mußte dem einsamen Kinde in der dunkeln Stube sein, daß es lieber den weiten Weg in solcher Kälte machte, als dablieb!
»Das Meieli fragt immer, wie lange es noch gehe, bis es wieder Sommer sei und die Sonne warm scheine,« sagte die Schwester halb lachend. »Ja, es ist schon hart, daß es so herhalten muß, es ist ein Zartes, aber es muß sich eben gewöhnen, später muß es noch ganz anders dran.«
Mit diesem Troste nahm sie das Kind an der Hand und zog es in die eisige Dezembernacht hinaus.
Als ich einige Wochen darauf bei Einbruch der Nacht über den tiefverschneiten Tannenacker im Schlitten hergefahren kam, sah ich etwas ausweichen vom Wege in den tiefen Schnee hinein, konnte aber nicht recht fassen, was es war. Im nahen Vorbeifahren erkannte ich Rudi, der das bleiche Meieli väterlich an der Hand hielt. Er stand windzerzaust, ohne Kopfbedeckung, mit der vollen Milchflasche im Arm. Seine große Pelzkappe hatte er dem Meieli aufgesetzt und tief heruntergezogen bis zu den Augen.
Später hörte ich, daß Rudi den ganzen Winter durch an jedem stürmischen Abend, und an manchem andern dazu, dem kleinen Meieli nachgegangen war, ihm die schwere Flasche abgenommen und es, in seine Pelzkappe gehüllt, durch die hohen Schneeschichten des Tannenackers sicher heimgeleitet hatte.
Der Frühling war gekommen. Die Amsel war erwacht im Baum und sang lange, süße Töne über das Land hin. Die Buche am Waldessaum wiegte ihr hellgrünes Laub im Sonnenschein, und durch die Tannen rauschte der mächtige Föhn. Von den Bergen löste sich der Schnee und rieselte in hellen Wassern ins Thal hinab. Am sonnigen Abhang nickten goldene Schlüsselblumen, und die weißen Anemonen hatten ihre Kelche weit aufgethan und schauten lustig zum hellen Himmel auf. Vor der kleinen Kirche lag warmer Sonnenschein auf dem jungen Rasen; die Gräber grünten. Wir standen da im Kreise herum, die Kinder des ganzen Dorfes, Groß und Klein, wir sollten alle miteinander einen Gesang anstimmen, aber es galt nicht dem Empfang des neuen Pastoren. Die Glocken läuteten voll und festlich über uns. Mitten auf dem grünenden Rasenplatz stand eine Bahre, darauf lag im offenen Sarg das bleiche Meieli. Ein warmer Sonnenstrahl lag auf dem stillen Gesichtchen; Meieli fror nicht mehr. Wir sollten ein Lied an seinem Sarge singen, ehe er geschlossen und in die Erde gesenkt würde.
Ich konnte meine Augen nicht von dem toten Kinde abwenden. Was war mit Meieli vorgegangen? Ein Ausdruck von Ernst und Hoheit lag in den Zügen des Kindes, den ich nie zuvor gesehen hatte, der nie dagewesen war; ich erkannte es fast nicht mehr, und doch war es Meieli.
War das Kind im Moment des Todes auf besondere Weise mit dem Siegel seiner Abstammung bezeichnet worden? »Wir sind göttlichen Geschlechts!« stand auf diesem Angesicht geschrieben.
Die Glocken waren verstummt; ringsum war alles still; der Lehrer trat vor zur Leitung des Gesanges. Da, mitten durch die weite Stille, ertönte plötzlich ein lautes Weinen.
»Was ist das?« fragte der Lehrer.
Ein kleiner Junge wurde vorgeschoben. »Der Hans thut so,« hieß es.
»Was hast Du, Hans, was weinst Du so laut?« fragte der Lehrer.
Einen Augenblick erhob Hans den Kopf und schaute nach dem Sarge; dann drückte er beide Hände in die Augen und stieß gewaltsam, von lautem Schluchzen unterbrochen, die Worte heraus:
»Ich habe dem Meieli einen Griffel genommen, und nun schaut es mich so ernsthaft an und ist tot, und ich kann ihm den Griffel nicht mehr zurückgeben.«
»Hans,« sagte der Lehrer, »das mußt Du nicht wieder thun; aber den Toten kann man nichts zurückgeben; also sei nun ganz still und ruhig.«
Man stellte sich näher zusammen zum Gesang; der kleine Hans schlüpfte zwischen den Reihen durch und kauerte sich an der Mauer nieder; seinen Griffel hielt er in der Hand; er schluchzte leise fort.
Die Kinder sangen:
»Wieder aufzublühen werd' ich gesä't,
Der Herr der Ernte geht
Und sammelt Garben
Uns ein, uns ein, die starben,
Gelobt sei er!«
Meielis ernstes Angesicht leuchtete in der Sonne. Ich konnte nicht mitsingen. Neben mir hörte ich tief aufschluchzen; es war Rudi; große Thränen fielen auf sein Gesangbuch nieder; er konnte auch nicht singen.
Nun wurde der Sarg eingesenkt. Bevor die ersten Schollen in das Grab fielen, rollte ein harter Gegenstand auf den Deckel des Sarges nieder und brach in Stücke. Hans hatte sich leise zu dem Grabe vorgedrängt und seinen Griffel hineingeworfen, dann lief er mit lautem Weinen davon.
Nach dem kurzen Gottesdienst gingen alle, die da versammelt gewesen, schweigend auseinander, heute mochte keiner reden.
Es sollte nun ein Fest gefeiert werden, wie noch keins je gesehen worden war in unserm Dorfe: der neue Pastor wurde erwartet. Die Kinder aller Schulen, jung und alt, groß und klein, alle standen wir versammelt im Sonntagsstaat auf der grauen Schanze an der Kirchhofsmauer. Kränze und Blumen hingen und lagen aller Orten, ein würziger Duft von all' den Nelken und Veilchen und weißen Narzissen erfüllte die Luft. Der Himmel lag blau über den vollen Blütenbäumen, und Vögel sangen auf allen Zweigen.
Es war eben die Zeit der spannenden Erwartung auf die Wagen, die den Pastor und seine Begleitung bringen sollten. Unsere kleine Gruppe der Repetierschüler hatte sich, wie immer, nahe zusammen gefunden. Wir standen unter dem großen Apfelbaum; der lustige Maiwind schüttelte uns die roten Blüten über die Blätter hin, auf denen unser Lied des Willkommens stand, das wir zu singen hatten. Auch im Zustande der Erwartung ging uns die Unterhaltung nicht aus.
»Johannes,« sagte Rudi, »heute wollen wir aber einmal einen lustigen Tag haben.«
»Ja, mir ist's recht,« antwortete Johannes. »Wie wollen wir's machen?«
»Erst kommt der Herr Pfarrer,« zählte nun Rudi an seinen Fingern auf, »und wir singen. Dann geht's in die Kirche, und der neue Pfarrer predigt. Das gehört aber noch nicht zum Lustigen« – hier schielte Rudi nach der Lise hinüber, ob sie los zu gehen im Sinn habe – »dann kommen die Kuchen, der Sigrist hat große Körbe voll gesehen drinnen hinter der Hausthür, und dann gehen wir auf die Kegelbahn und bleiben den ganzen Abend beim Kegeln.«
Jetzt ging's los.
»Rudi,« sagte Lise mit scharfem Ton, »es schickt sich denn nicht, an einem solchen Tag zum Kegeln zu gehen, und noch viel weniger, einen dazu zu verführen, der sonst nicht gegangen wäre.«
»Aber es schickt sich, daß die Lise jedem sage, was sich schickt,« rief Rudi kampflustig, »und einen neuen Pfarrer hätten wir auch nicht gebraucht, das Lied könnten wir gleich der Lise singen, und nachher geht sie auf die Kanzel und macht es so gut wie einer, und der Johannes wird Sigrist, daß ihn der Pfarrer im Auge behalten kann.«
Nun wäre es Ernst geworden; mit kriegerischer Miene trat Lise aus der Reihe, aber: »Die Wagen kommen!« ertönte in dem Moment von allen Seiten, und nun galt es sich zu ordnen und unser »Willkommen« erschallen zu lassen. Ruhig und heiter verlief der Tag unter Gesang und Rede und neuen Gesängen. Dann saßen die Scharen auf dem grünen Rasen herum zum großen Kuchenfeste, und am Abend, als schon der junge Mond in den blühenden Apfelbaum schien, gingen Marie und ich noch hin und her auf dem Rasenplatz, die Mainacht war so mild, und unter den Bäumen lag der Mondschein so stille nach dem tönereichen Tag. Erst gingen wir beide unseren Gedanken nach, dann sagte Marie auf einmal:
»Du mußt nicht denken, daß der Johannes so leichtsinnig sei; er ist gar nicht auf die Kegelbahn gegangen; er sagte, er wolle einmal in die Versammlung gehen heut Abend, er habe schon oft gehört, man höre so viel Gutes da.«
Ich hatte dem Johannes weiter nicht nachgedacht; daß Marie die Neigung hatte, ihn immer im Licht zu sehen neben Rudi, dem Übelthäter, hatte ich lange schon bemerkt.
»Weißt Du, Marie,« sagte ich, »Rudi thut manchmal auch Besseres, als er redet, das habe ich selbst gesehen.«
Mit dem neuen Pastor war ein neues Leben in die Gemeinde gekommen. Die Wiedertäufer regten sich lebendig, denn der Pastor war ein frommer Mann und ein Hirte seiner Herde, doch ging alles still und friedlich zu. Er suchte wohl mit Liebe und Milde seine Schafe zu sammeln, und sie zu pflegen und zu nähren; fanden sie aber anderswo gute Weide, so ließ er es geschehen und sagte: Nicht, daß er sie alle in seiner Hand habe, sei seine Sorge, nur daß keins von ihnen verloren gehe.
Die kleine Kirche füllte sich sonntäglich mehr an. Es war einer der ersten Sommersonntage, als ich unter dem Läuten der hellen Glocken den Hügel hinab der Kirche zuging. Von allen Seiten wanderten die Leute über die sonnigen Fußpfade durch die blumenbesäeten Wiesen daher Die Frauen und Mädchen trugen alle ihre Sonntagssträußchen auf das Gesangbuch gelegt, jedes nach seiner Art. Marie hatte immer einige ihrer dunkelroten Nelken gepflückt und grüne Myrtenzweiglein dazwischen gesteckt. Das Margritli brachte einen lustigen Strauß von allerhand Blumen; die Lise hielt unveränderlich einen schönen, steifblättrigen Rosmarinstengel auf ihrem Gesangbuch fest. Ich hatte von jeher das Gefühl gehabt, im Bau des Rosmarinstockes müsse eine Ähnlichkeit mit dem Wesen der Lise liegen.
In der Kirche hatte ich gehofft, eine Persönlichkeit zu treffen, die ich mir gern erst von fern angesehen hätte, sie erschien aber nicht. Im Pfarrhaus war ein junges Mädchen zu längerem Besuch erwartet, wir sollten einander kennen lernen, gegenseitige Bekannte hatten uns längst darauf vorbereitet, ich war sehr gespannt auf die Erscheinung.
Etwas unmutig trat ich nach der getäuschten Erwartung aus der Kirche, der Sonntag sah so leer aus. An der Kirchhofsmauer wartete Marie auf mich, sie hatte eine Bitte im Sinn, wie ich gleich merkte. Ich hatte ihr versprochen, einmal die Versammlung der Wiedertäufer mit ihr zu besuchen; nun wünschte sie sehr, heute dahin zu gehen, und drang in mich, sie zu begleiten. Die Sache paßte mir in den unbesetzten Tag hinein; wir wurden gleich einig, Marie sollte mich abholen am Nachmittag.
Der Weg nach der Mühle hin, wo die Versammlung stattfand, war lieblich, durch duftende Wiesen sich schlängelnd, an den hohen Weißdornhecken vorbei, auf denen die Finken und Zeisige durcheinander hüpften und zwitscherten; das stimmte fröhlich. Unten bei der Mühle standen hohe Eschen am dunkelbeschatteten Teich, dessen Wasser im Windhauch leise sich kräuselte.
»Ich möchte lieber hier am Teich unter den Eschen stehen bleiben, als hineingehen,« sagte ich zu Marie, aber sie wurde ganz unruhig und beharrte darauf, daß wir hineingingen, wie ich versprochen hätte; so mußte es denn sein. Drinnen im Saal war eine andere Luft als draußen, es waren viele Leute da. Erst wurde ein Lied gesungen, das ging ganz ordentlich. Dann trat einer auf aus der Mitte der Versammelten und redete in Bildern, die mich etwas befremdeten, doch begriff ich nach und nach die Sache, der Redner war ein Wagner. Er sagte, der Kirche fehle es im Mittelpunkt, darum hänge alles daran nicht mehr zusammen. Sie sei ein Wagen, dem die Achse entzwei gegangen sei, und wenn es nun vorwärts gehen sollte, so gehe alles auseinander und bleibe doch stehen, und die drinnen sitzen im Wagen, die sitzen immerfort drinnen und kommen nicht weiter. Nun sei aber die neue Gemeinde, nämlich die ihrige, als wie ein neues und gut konstruiertes Fuhrwerk, das fahre richtig dahin, ohne Anstoß und Unfall, gleichsam umgehemmt über alle Kreuzstraßen der Erde weg direkt ins Himmelreich hinein.
Man bekam wirklich Lust, sich darauf zu setzen und mitzufahren. Marie sah aus, als wollte sie gleich einsteigen.
Als alles zu Ende und wir wieder draußen waren und den Berg hinanstiegen, merkte ich, daß Marie auf die Mitteilung meines Eindruckes wartete. So sagte ich nach einiger Zeit:
»Marie, geh' Du aber doch nicht zu den Wiedertäufern.«
Etwas enttäuscht rief sie aus:
»War es nun nicht recht schön, was er sagte?«
Das konnte ich Marie schon zugeben, ich sagte ihr auch, der Redner hätte mir recht Lust gemacht zu der ungehinderten Fahrt, aber ich habe doch kein rechtes Zutrauen zu der Sache und ich möchte wissen, was Marie eigentlich dahin ziehe.
Weil so viel Gutes von diesen Versammlungen ausgehe, meinte sie; ich solle nur an die Haushaltung des Korbmachers denken, der so liederlich gewesen sei, und die Frau so verkommen; seit sie beide die Versammlung besuchten, war die Haushaltung ganz zurecht gekommen. Die Leute arbeiteten nun und lebten eingezogen und friedlich. Dem war wirklich so, und ich wußte noch andere Beispiele von Leuten, die durch den Besuch dieser Versammlungen zurecht gekommen waren; aber ich hatte nicht das Gefühl, daß, wer nicht dahin ginge, nicht zurecht kommen könnte.
»Und dann,« fuhr Marie fort, »sieh nur die Lise an, welchen Gewinn sie von den Versammlungen hat! Wer kann in der Unterweisung alle Sprüche anführen, die der Herr Pfarrer wissen will?«
Der Wahrheit mußte ich Zeugnis geben, dies war Lise, und wir waren gültige Zeugen, Marie und ich, wir redeten aus eigener, demütigender Erfahrung.
»Ja und sieh,« fuhr Marie eifrig weiter fort, »alle Sonntage nach der Kinderlehre setzt sie sich hin und liest ein gutes Buch; dann geht sie in die Versammlung, und wenn sie heim kommt, so lernt sie Lieder und Sprüche auswendig, und dabei wird es ihr nie langweilig, sie hat es mir selbst gesagt. Wenn ich aber am Sonntag Nachmittag der Großmutter nur ein wenig im wahren Christentum vorlesen muß, so ist mir schon langweilig, und ich habe keine Freude daran.«
»Und in der Selbstvergessenheit mußt Du die Lise auch nachahmen, Marie,« sagte ich.
»Das ist dann gerade nicht nötig,« erwiderte sie lachend, »aber es ist keine Gefahr bei mir, es ist nichts da, daran zu denken.«
»Höre, Marie,« sagte ich jetzt mit ungeschwächter Überzeugung, »ich glaube nun einmal nicht, daß wir gleich Wiedertäufer werden sollen, bevor wir nur irgend etwas anderes geworden sind. Erst werden wir konfirmiert, da werden wir noch vieles hören, das wir noch nicht wissen, und dann wird eins aus dem andern kommen. Und weißt Du, Marie, man kann sicher gehen, wenn man jemand im Rücken hat, der recht fromm ist und doch nicht so besondere Wege gehen muß. So ist meine Mutter, und so ist auch Deine Großmutter, auf diese beiden können wir uns verlassen.«
Wir hatten unterdessen den Tannenacker erreicht und gingen der Bank zu.
Der erwartete Besuch mußte doch angekommen sein:
Auf der Bank saß ein junges Mädchen, das war nicht vom Dorfe, noch aus der Umgegend; es mußte Klara sein, die lang erwartete.
Marie gab mir eilends die Hand und lief davon; ich ging auf die Fremde zu. Wir wußten beide von einander und hatte Freude, zusammen zu kommen. Als ich zu ihr trat, wußte Klara gleich, woran sie war. Wir reichten uns die Hand und setzten uns auf die Bank unter die Tannen.
Der Abend war mild und lieblich; die Sonne war am Untergehen. Leise röteten sich die fernen Schneegipfel; die Vorberge standen in warmen Duft gehüllt, und auf den grünen Hügeln davor lag leuchtend der goldne Abendschein. Es war still geworden, der Wind rauschte nicht mehr in den Tannen, nur leise flüsterten die Zweige über uns.
»Hier ist's schön,« sagte Klara, »hier wollen wir oft zusammen sein.«
Und so thaten wir.
Manch' wonnigen Sommerabend verlebten wir unter den Tannen in immer reicher quillendem Genuß.
War der Sommer schöner, als je? Wir glaubten es. Im Umgang mit Klara war mir geworden, was ich lang ersehnt hatte. Mit ähnlichen Naturanlagen und der vollen Sympathie des Herzens für einander, riefen wir gegenseitig alle schlummernden Keime unseres Wesens wach. Im Verständnis des andern gingen beiden die Tiefen des eigenen Innern auf, und mit dem gleichen Lebensdurst tranken wir die Fülle der Herrlichkeit ein, die uns umgab.
Klara war ein großes, schlankes Mädchen; ob sie hübsch war, weiß ich nicht, aber in ihrem ganzen Wesen lag eine so gewinnende Anmut, daß ich dachte, aller Herzen müßten ihr zufallen, und in diese warmen, braunen Augen zu schauen, mußte jedem wohl thun. Sie war einige Jahre älter wie ich; das verwischt sich später, in diesem Zeitpunkt machte es einen leisen Unterschied zwischen uns. Fast in allen Dingen empfand ich ihre Überlegenheit, ich konnte zu ihr hinauf schauen, das ließ mir sie noch um so idealer erscheinen.
Nur ein Punkt war, in dem ich bei ihr oft eine unerklärliche Lücke empfand; ich wußte nicht recht, wo es fehlte, wollte mir auch selbst nicht recht zugeben, daß etwas fehle, aber stellenweise konnte der Eindruck über mich kommen, da wäre bei der einfachen Marie zu finden, was der reich begabten Klara mangelte.
Klara hatte früh ihre Mutter verloren; ihr Vater war in Unternehmungen seines Berufs für mehrere Jahre im Ausland festgehalten, so wurde Klara in der Familie naher Verwandter erzogen. In diesem Hause war viel geistiges Leben; jedem mußte gewinnreiche Anregung werden, der da aus- und einging; nur die religiösen Interessen wurden wenig berücksichtigt, dieses ganze Gebiet ließ man, so viel wie möglich, unberührt. So war Klara fremd in vielen Fragen, die uns Kindern vom Berge schon lange vertraut waren und durch die lebendige Anregung um uns her unsere Gedanken viel beschäftigt und entwickelt hatten.
Diese Verschiedenheit berührte mich momentweise etwas befremdend, doch trat sie nie störend zwischen uns in dieser Zeit.
Die hohe Buche am Waldessaum, die uns immer vor den Augen stand, wenn wir auf unserer Bank saßen, hatten wir begleitet vom ersten jungen Grün durch alle ihre Farbenschatten, bis sie nun ihr buntes Herbstlaub trug und schon damit den schmalen Weg bestreute. Die Zeitlosen standen blaß auf der Wiese umher, und die Vöglein der Wipfel schienen alle zu singen: »Ach, wie so bald!«
Ich saß allein auf der Bank; einige Tage vorher war Klara nach der Stadt zurückgekehrt. Bald sollte sie noch weiter ziehen; sie hatte Verwandte in England, da sollte sie hin kommen, um ihre Erziehung zu vollenden.
Mich hätte wohl alles noch trauriger angeschaut, aber auch für mich war die Zeit des Weggehens gekommen, der erste Auszug aus dem Vaterhause stand bevor; die Aussicht machte mich froh in diesem Augenblick. Ich hatte eine gute Weile den Vöglein gelauscht und ihr Lied beherzigt, als ich unten auf dem Wege Marie erblickte, der ich nun allerlei Zeichen gab, bis sie mich verstand und über den Acker heraufkam.
Ich sagte ihr, daß meine Abreise bestimmt sei, und daß wir uns mehrere Jahre nicht mehr sehen würden.
»Und wenn ich wieder heimkomme, Marie,« schloß ich, »dann sind wir gemachte Leute.«
Das wäre ihr schon recht, meinte Marie, wenn wir uns dann nur auch wieder zusammen fänden; sie glaube, diejenigen, die fortgehen, verändern sich viel mehr, als die dableiben.
»Aber,« sagte ich mit Überzeugung, »drei Jahre verwischen nicht, was die ganze Kindheit durch bestanden hat. Mein erster Gang, wenn ich wieder heimkehre, soll nach dem Hennenhofe sein, wie auch mein letzter, eh' ich gehe.«
Marie war's zufrieden.
»Sag' noch, Marie, wer hat denn das große »M« frisch eingeschnitten hier in die Tanne?«
»Vielleicht Rudi,« sagte Marie lachend, »Du weißt ja, daß er einen Namen gern hat, der mit ›M‹ anfängt.«
Sie wurde aber doch ein wenig rot bei ihrer Erklärung.
»Marie, Marie! es giebt noch einen Namen, der mit ›M‹ anfängt,« erinnerte ich, »das mag ich aber alles wohl leiden, geh' nur nicht zu den Wiedertäufern, während ich fort bin.«
»Versprechen kann ich nichts,« erwiderte sie. Und nun wanderten wir heim zusammen vom Tannenacker zum letztenmal für lange Zeit.
Am folgenden Sonntag, als ich aus der Kirche trat, stand ich still am Wege, um meinen Bekannten die Hand zum Abschied zu geben.
Rudi kam zuerst daher; er drückte mir alle Knochen zusammen beim Handschlag und sagte:
»Mach' nur, daß man Dir auch die Hand noch geben darf, wenn Du wieder heimkommst.«
Johannes hatte einen sanfteren Händedruck, eigentlich gar keinen, aber einen Wunsch zu glücklicher Reise.
Das Margritli schoß eilends herbei. Es wolle denn nicht die Letzte sein, die mir die Hand gäbe, sagte es. Auch die Lise trat heran und sagte mir würdig Lebewohl.
Am folgenden Morgen trat ich, zur Reise gerüstet, noch im Hennenhof ein zum letzten Abschied. Die alte Großmutter stand auf von der Bank und gab mir ihren Segen auf den Weg. Ich habe sie nicht wieder gesehen, die gute Großmutter! Marie begleitete mich durch den Hof; dann rannte sie die Treppe hinauf und brachte einen Strauß ihrer duftenden Nelken herunter, den mußte ich mit auf die Reise nehmen.
Drei Jahre waren vergangen und der darauf folgende Winter noch dazu. Der Schnee schmolz auf den Höhen, und über die Felsen schäumten die vollen Bergwasser herunter. Die jungen Buchen im Wald standen im ersten Grün und in den alten Föhren rauschte der Frühlingswind neues Leben wach.
Da stand ich wieder auf dem Boden meiner schönen Heimat. Auf allen altbekannten Stellen in Feld und Wald lag süße Erinnerung, und um die fernen blauen Berge zog ein Hauch der Verheißung für kommende Tage.
Mit Marie hatte ich mich bald zusammen gefunden auf den alten Fuß; sie hatte sich wenig verändert. Mit noch etwas mehr Sorgfalt strich sie das krause Haar glatt um die Stirne, der ruhige Ausdruck ihrer blauen Augen war immer gleich freundlich und wohlthuend. Still und aufmerksam hörte sie die Worte ganz zu Ende, die man zu ihr sprach, immer hatte sie fertig gedacht, wenn sie zu reden anfing, und was sie sagte, war verständig und klar.
Wir hatten bald unsere gemeinsamen Interessen wieder durchgesprochen; auch über die alten Freunde hatte Marie eingehend Bescheid gegeben. Besondere Veränderungen waren nicht vorgekommen in unserm Kreis; nur die Großmutter war nicht mehr da, sie lag unter dem Rasen an der Kirchhofsmauer.
Als die blauen Kornblumen zwischen den hohen Ähren standen, und die Grillen im Grase fröhlich zirpten, da saß ich einmal wieder unter den Tannen, und neben mir saß Klara, zum erstenmal seit langer Zeit. Erst kürzlich war sie aus England zurückgekehrt; mit Spannung hatte ich dem Wiedersehen entgegen geharrt, nun saßen wir neben einander und schauten uns forschend an, aber bald hatten wir den Ton der alten Vertraulichkeit wieder gefunden. Es war die Klara von ehemals in allem, was ich an ihr lieb hatte; was mir bei ihr als neu entgegentrat, schien mir das Anziehende ihres Wesens noch zu erhöhen: zu der Anmut ihrer Natur hatte sie die sichere Gewandtheit der großen Welt gewonnen. Ihr geistliches Leben hatte sich geweitet und bereichert mit manchen Schätzen neuen Wissens und mannigfaltigen neuen Lebensanschauungen; die schönste Entfaltung all' ihrer reichen Geistesanlagen war ihr geworden. Mir schien, in ihr vereinten sich so viele innere und äußere Vorzüge, daß man Klara lieben oder sie beneiden mußte.
Wie vieles hatten wir nachzuholen aus den vier Jahren der Trennung, und wie vieles lag vor uns gemeinsam durchzuleben! Klara sollte einige Wochen auf unserm Berge verweilen.
Die festgesetzte Zeit, die ich, befreit von den Pflichten des Hauses, täglich mit Klara verbrachte, war der Abend. Wenn es irgend möglich war, so blieben wir draußen, Feld und Wald durchstreifend. Der Anfang oder das Ende unserer Wanderungen war immer der Tannenacker, den vergaßen wir nie. Dort auf der Bank unter den verschlungenen Zweigen sollte nach unserm Plan eine Unzahl von Büchern gelesen werden, die wir uns schon genannt hatten, und deren Namen sich immer noch vermehrten. Nicht eines davon haben wir da gelesen; es ging anders, als wir dachten. Eine Reihe von Abenden durch hatten wir uns zu erzählen und unsere Gedanken auszutauschen, die sich dabei vermehrten und neuen Austausch forderten. Dann wünschte Klara vor allem andern mich mit einer Sammlung von Gedichten bekannt zu machen, die sie in Manuskript mitgebracht hatte. Der Verfasser war ein ferner Verwandter von ihr, für dessen poetische Begabung sie sich sehr interessierte, was auch mein Interesse sogleich lebhaft erregte. Auch ich wünschte daher diese Lektüre vor aller andern vorzunehmen. Um sie aber recht gründlich zu verstehen und zu genießen, bat ich mir aus, die Manuskripte erst allein zu lesen und schlug Klara vor, mich an einem der folgenden Abende eine Zeit lang allein zu lassen und erst später unter den Tannen einzutreffen.
Am festgesetzten Abend stieg ich früh den Hügel hinan, hörte aber bald einen leichten Schritt hinter mir; sollte es schon Klara sein? Ich kehrte mich um, es war Marie. Sie hielt ihren Schritt an; sie schien nicht zu wünschen, daß ich auf sie warte, ich blieb aber stehen; zögernd kam sie heran. Das war nicht wie sonst, wenn wir uns trafen. Marie sah mich auch nicht an, als sie mich erreicht hatte, ich sie dafür um so genauer – Marie hatte geweint, ich sah es deutlich. Das war etwas ganz Neues. Ich konnte mich nicht besinnen, in diesen ruhigen blauen Augen Thränen gesehen zu haben.
»Komm,« sagte ich, »wir gehen ein Stück weit zusammen. Was fehlt Dir, Marie?«
Sie schwieg. Endlich wollte sie etwas sagen, dann kam sie das Weinen an, sie sagte nichts.
»Kannst Du mir nicht sagen, was Dich bekümmert, Marie?« fragte ich wieder.
»Nein,« antwortete sie halblaut.
»Hast Du kein Vertrauen mehr zu mir?« fragte ich.
»O doch, wie immer,« sagte sie nun gefaßter, »aber ich kann es nicht sagen.«
»Es giebt aber doch nichts, Marie, das man nicht sagen kann, wenn man will,« sagte ich.
»Doch,« erwiderte sie schnell, »es giebt etwas. Du hast es nur noch nicht erfahren.«
Ich war sehr erstaunt.
»Komm mit mir nach der Bank hinauf, da wollen wir ruhig mit einander reden,« sagte ich nun und wollte Marie nach dem Fußwege hin mitziehen; aber sie entzog mir hastig ihre Hand.
»Nein, nein,« rief sie, »ich kann nicht, heute nicht,« und damit lief sie wie erschrocken davon.
Zum erstenmal hatte ich Marie in Aufregung gesehen, das gab mir viel zu denken. Lange hatte ich unter den Tannen gesessen, ehe ich der Manuskripte gedachte, die ich in der Hand hielt und lesen wollte. Endlich machte ich sie doch auf. Die Handschrift fiel mir gleich auf, mir war, als hätte ich sie auch schon gesehen, oder eine sehr ähnliche. Aber wo? – Auf einmal fiel mir's ein: die Schrift hatte eine überraschende Ähnlichkeit mit derjenigen des Johannes, die ich zwar lange nicht mehr gesehen hatte, aber hier waren dieselben feinen Striche, nirgends feste Züge, aber eine sehr zierliche und gefällige Schrift. Mir kam ein Abend in den Sinn, da ich hier unter den Tannen ein Buchzeichen mit dieser Schrift gelesen hatte – meine Gedanken gingen weiter.
Als Klara nach geraumer Zeit vor mich trat mit der Frage, was ich zu den Liedern sage, mußte ich bekennen, daß ich noch kein Wort davon gelesen hatte.
Der Abend war sonnig und still; wir beschlossen, noch einen Gang zu machen, und wanderten den Hügel hinab, dem waldumschlossenen Mühlenthale zu.
Klara erzählte mir mit Begeisterung von dem jungen Dichter, von seinen hohen Zielen und seiner idealen Persönlichkeit. Vom Gemeinen unberührt, gehe er durchs Leben als einer, der über die Erde wandere, ohne sich vom Staub des Weges auch nur die Füße zu beflecken.
Wir waren unterdessen in die Nähe der Mühle gekommen und standen nun am Teich unter den Eschen. Es gingen wiederholt Gruppen von Leuten der Mühle zu, es mußte der Abend sein, da die Versammlung stattfand. Ich machte Klara darauf aufmerksam, daß dies der Ort sei, wo die Wiedertäufer sich versammelten. Dies Gebiet interessierte sie nicht, sie schaute in den Teich und gab keine Antwort.
Es war still ringsum; die Wipfel der Eschen bewegten sich nur leise über uns, wir schauten beide schweigend in das dunkelgrüne Wasser.
Da traf eine Stimme mein Ohr, die kannte ich, und zwei Gestalten kamen Hand in Hand den Abhang herunter der Mühle zu, die kannte ich auch: es war die Lise mit dem Johannes an ihrer Seite. In vertraulichem Gespräch kamen sie heran und traten in die Mühle ein. Unwillkürlich rief ich aus:
»Nun geht mir ein Licht auf, Klara!«
»So laß es leuchten!« sagte sie ziemlich trocken.
Nein, lieber hätte ich es ausgeblasen. Die Sache machte mich traurig und war mir ganz unverständlich.
Am Sonntag Nachmittag, als es still war um den Hennenhof, wie ich wohl wußte, trat ich in die alte Stube. Marie saß allein auf der Bank, sie hielt ein Buch in der Hand.
»Ich hätte gern mit Dir geredet, Marie,« sagte ich, »aber ich höre die Mutter in der Küche; komm hinüber in den Schopf, wir setzen uns auf unsern alten Platz.«
So thaten wir. Die roten Nelken drüben glühten in der Sonne. Der alte Birnbaum stand vor uns, die schweren Äste senkend; hoch oben im Gipfel war noch das Krähennest. Jetzt ruhten die Vögel, es war still ringsum, nur drüben im Hof plätscherte der Brunnen wie vor alter Zeit.
»Marie,« sagte ich, nachdem wir eine kleine Weile still dagesessen und in das Gelände hinausgeschaut hatten, »Du siehst nicht gut aus, so mager bist Du noch nie gewesen; es drückt Dich etwas, und Du lässest es ganz in Dich hinein fressen; das ist nicht gut. Wenn Du noch Vertrauen zu mir hast, wie ehemals, so rede Du zu mir, es kann Dich erleichtern, und sieh, ich weiß jetzt, wo Dein Kummer herkommt.«
Marie sah mich erschrocken an.
»Wer hat Dir etwas gesagt? Wer weiß etwas davon?« fragte sie unruhig.
»Niemand; gehört habe ich nichts von anderen,« antwortete ich, »aber an einem dieser Abende bin ich der Lise und dem Johannes zusammen begegnet und wußte dann gleich, wie alles ist.«
Marie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte leise.
»Sieh,« sagte sie nach einer Weile, ihre Thränen trocknend, »ich kann es so gut begreifen; die Lise kann den Johannes auf den rechten Weg bringen, sie kennt ihn und geht ihn selbst, und der Johannes wollte immer das Gute, aber er ist selber nicht so recht sicher, wie er dazu kommen soll. Lise kann ihm auch gut zeigen, wie viel ihr daran liegt, daß es ihm wohl gehe; sie giebt ihm allerhand gute Bücher zu lesen und zieht ihn in die Versammlung mit. Ich konnte ja dem Johannes nichts geben, ich habe selbst nichts, und wie gern ich alles für ihn gethan hätte, kann er ja nicht wissen. Er meinte wohl, es sei mir nichts an ihm gelegen, weil ich ihm nichts davon sagen konnte.«
»Aber wie kann es nur sein, Marie, daß alles so kommen konnte?« fragte ich erstaunt. »Hat denn Johannes nicht lange schon merken können, daß Du ihn gern hattest?«
»Ich weiß nicht, wie es kam,« erwiderte sie, traurig vor sich hinblickend, »ich meinte auch, es könne nicht sein, als ich es sah. Das wußte ich freilich, daß Lise ihm immer so schön in's Herz und in sein Gewissen redete, daß der Johannes wohl verstehen konnte, wie wert sie ihn hielt. Ich konnte nie so zu ihm reden und immer weniger, je mehr mir an ihm gelegen war. Aber ich habe immer gedacht, es komme noch einmal bös mit mir, Du weißt wohl, es war mir nie recht Ernst mit dem Beten und mit allem Guten nicht.«
»Ist es denn jetzt so bös mit Dir, Marie?« mußte ich fragen.
»Ja, recht bös,« versetzte sie, »Du weißt nicht, wie das ist. Es ist mir alles zuwider, ich mag nicht arbeiten und nicht reden, nicht einmal den anderen zuhören; alles ist mir zur Last, und an gar nichts mehr ist mir etwas gelegen. Jeden Morgen beim Erwachen wünsche ich, daß es doch nur nie Tag würde und ich keinen Menschen mehr sehen müßte.«
Ja, es stand bös mit Marie, so hatte ich es nicht erwartet. Ich sann auf Hilfe und Trost für sie, aber ich fand keinen, der mir recht wirksam erschien.
»Ich möchte Dir so gern helfen, Marie, wenn ich nur wüßte wie,« sagte ich ratlos.
»Kein Mensch kann mir helfen« – und in Maries Blick lag die volle Bestätigung ihrer trostlosen Aussage – »und der liebe Gott wird mir nun auch nicht helfen, ich habe Ihn auch nicht gesucht in den guten Tagen und auch jetzt nicht; ich kann nicht einmal beten, es ist mir auch gar nicht darum, es ist mir um gar nichts.«
Ja, das sah ich ihr an; sie saß da, die Hände in den Schoß gelegt, mit einem Ausdruck auf ihrem Gesichte, als gäbe es im Himmel und auf Erden nichts mehr, für das sie noch Teilnahme empfinden könnte.
»Soll ich Dir nicht etwas Schönes zu lesen schicken, es könnte Dich auf andere Gedanken bringen,« sagte ich, »das müßte Dir wohl thun.«
»Nein, ich kann nicht lesen,« erwiderte sie, »den ganzen Nachmittag sitze ich da und halte ein Buch in der Hand, und wenn ich auch noch die Worte lese, so weiß ich doch nicht, was da steht, es geht mir nichts ein.«
Ich wußte nicht mehr, was sagen. Es war mir unheimlich, eine Macht zu empfinden, die diese ruhige stete Natur so ganz aus ihrem Geleise hatte werfen können; wie war dies nur möglich! Freilich, Marie hatte von den frühesten Kinderjahren an in der Stille all' ihr Leben mit Johannes in Beziehung gebracht, oder in Gemeinschaft mit ihm durchlebt, wohl um so tiefer, je stiller es zuging; und nun sollte dieses Band mit einem Mal für immer durchschnitten sein! Und Johannes? Ich wußte doch wohl, wie er Marie nachgegangen war und so lange!
Nun kam ein Zorn über mich gegen diesen Sanftmütigen.
»Wie kann aber auch der Johannes so handeln!« rief ich aus, »es ist schmählich!«
»Nein, nein,« sagte Marie eifrig, »das mußt Du nicht denken! Es ist kein Wort zwischen uns geredet worden, nie, der Johannes hat nichts Ungerades gethan, und er hatte ja Recht, was hätte er auch an mir gehabt?«
Hier beugte sich Marie auf ihre Nelken, als wollte sie den Duft einatmen, aber sie weinte darüber hin.
Ich verließ Marie mit schwerem Herzen; wie konnte ihr geholfen werden? Die Sache war mir doch ganz und gar unbegreiflich, wie ich darüber nachdachte. Johannes konnte doch Marie nicht so gering achten, wie sie es selbst that, ihre Anspruchslosigkeit mußte sie ihm um so werter machen, denn auch ihrer äußeren Stellung nach gehörte sie nicht zu den Geringen. Und die langjährige Anhänglichkeit der treuen Marie, die mußte Johannes kennen, er hatte sie auch geteilt. Wer konnte mir irgend welchen Aufschluß über diese rätselhafte Sache geben?
Es war mir der Mühe wert, einen alten Bekannten aufzusuchen, der etwas mehr wissen konnte; ich schlug darum im Heimgehen meinen Weg über die Wiesen ein, dem Häuschen an der Halde zu, das lustig oben flimmerte in der Abendsonne. Richtig, auf der Bank am Hause saß Rudi, ein Röslein im Knopfloch; er pfiff vergnüglich.
»Schön zum Spazieren!« rief er mir entgegen, als ich noch weit unten an der Halde war. Nun stand er auf und kam mir entgegen.
»Darf man auch ein paar Schritte mitgehen?«
Gewiß, das war gerade, was ich wünschte.
Gleich ging ich auf mein Ziel los. Ich fragte Rudi, ob er etwas von Johannes wisse, und was der für seltsame Wege gehe.
Rudi wußte Bescheid. Kaum hatte ich die Frage gethan, so gab er mir bereitwillig die volle Einsicht in die Sache, wie er sie selbst hatte. Es seien da allerhand Fäden durcheinander gelaufen, sagte er. Einmal habe der Johannes wohl gemerkt, daß der Hennenhofbauer keine besondere Freude daran gehabt hätte, ihm seine Tochter zu geben, er könne schon noch einen andern Schwiegersohn bekommen, denn der Johannes habe immer vornehmer ausgesehen, als sein Gütchen. Das habe ihn schon gestochen, denn der Johannes habe sein heimliches Stölzlein. Dann sei ihm eben die Lise häufig begegnet, und er habe sehen können, wie viel ihr an seiner Wohlfahrt liege; das habe ihm gefallen, und er habe auch wohl gewußt, wie gut er von den Alten aufgenommen würde, wenn er da anklopfte. In alle dem sei Marie ganz still geblieben und habe sich nicht gerührt und kein Wörtlein gesagt, zu keinem Menschen. Der Johannes habe sicher im Stillen gehofft, sie rufe ihn etwa.
»Aber falsch gerechnet!« sagte Rudi entschieden; »die ruft keinen, aber bekommen hätte er sie doch, denn sie hatte ihn gern, und der Hennenhöfler hätte seine einzige Tochter am Ende machen lassen, wie sie's im Sinne hatte. ›Den Johannes hielt ich immer für den viel Gescheiteren von uns beiden‹,« schloß Rudi, als wir uns am Kirchenhügel trennten, »aber so stockdumm hätte ich dann nicht gehandelt.«
Klara kannte meine Schulgenossen alle von fern, doch zu wenig, um ein rechtes Interesse für jeden Einzelnen zu haben. An diesem Abend war ich aber so erfüllt von den Erlebnissen des Tages, daß ich an nichts anderem Teil nehmen konnte. Ich erzählte Klara, was mich bewegte.
»Das ist das Unglück solcher beschränkten Existenzen,« sagte sie; »da ist immer nur eines, auf das all' ihr Sinnen und Wünschen gerichtet ist; fällt dies weg, so ist nichts mehr da, sie haben keine Interessen und keine Aussicht mehr ins Leben, und zur Freude am Dasein ist ihnen noch aller Halt genommen.«
»Woher glaubst Du, daß uns ein fester Halt werden könne in solchen Zeiten des Zerfalls unseres Innern?« fragte ich Klara.
»Jedenfalls nicht aus Welten, von denen wir nichts wissen noch kennen können, das siehst Du nun an dieser verarmten Marie. Von jenen überirdischen Tröstungen weiß sie, aber sonst weiß sie nichts und besitzt sie nichts. Wir haben aber reale geistige Güter, an denen sich die Seele erquicken kann, was uns auch treffen mag. Für solche arme, beraubte Leben möchte man bitten:
»Ist auf Deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton
Seinem Ohre vernehmlich,
So erquicke sein Herz!
Öffne den umwölkten Blick
Über die tausend Quellen
Neben dem Durstenden in der Wüste.«
»Klara,« sagte ich, »ist denn nicht neben all' den köstlichen Quellen der Poesie und alles Wissens auch die Herrlichkeit dieser Natur, die uns umgiebt, eine solche, ja eine Hauptquelle der Erquickung? Marie kennt diese, warum kann sie nicht mehr daran trinken?«
»Sie hat nie recht daran getrunken,« meinte Klara, »ihr inneres Auge war nie geöffnet für diese Schönheit.«
»Sollte es nicht Krankheiten geben, die auch die geöffneten Augen schließen und die Aufnahme all' dieser Erquickungen unmöglich machen könnten, Klara?«
»Nein,« sagte sie bestimmt; »ausgerüstet mit dem geweiteten Blicken des Gebildeten, dem alle Quellen des geistigen Lebens geöffnet sind, kann uns ein solches Kranken nicht niederwerfen. Nicht die Schutzmittel fehlen, die Kenntnis derselben fehlt, wo solches geschehen kann. Versiegt für uns eine Quelle, die uns Kräfte des Lebens zugeführt, so kennen wir tausend andere, daraus wir schöpfen können; wir müssen nicht ermatten, wie das Land, dem der einzige Bach vertrocknet, dessen Wasser es grünen gemacht.«
Ich hatte meine eigenen Gedanken hierüber. Im Stillen dachte ich, wenn nur die Großmutter noch lebte, vielleicht wüßte sie eine Hilfe für Marie.
Wir hatten gehört, daß der Nachbar, dessen Felder an den Tannenacker grenzten, sich beschwert hatte, die eine der Tannen breite ihre Wurzeln zu weit aus in sein Land hinein, was ihm Schaden verursache. Er verlangte, daß der Baum umgehauen werden sollte. Keiner, der die schönen Tannen mit den verschlungenen Zweigen kannte, mochte glauben, daß diese That geschehen könnte. Wie die Zweige, so mußten auch die Wurzeln in einander verschlungen sein: das Erschlagen des einen Baumes mußte dem andern ans Leben gehen.
Als nach mehreren Regentagen der helle Abendhimmel um so klarer über den Bergen lag, eilte ich zur gewohnten Stunde den Hügel hinan. War dies die alte Bank? Sah ich mit meinen Augen die Wirklichkeit?
Die eine Tanne war umgehauen.
Klara kam heran. Wir saßen schweigend auf der Bank. Tief unten im Grunde mußten die Wurzeln der verwundeten Tanne bluten, die einsam da stand; oben im Wipfel war sie zerrissen, die verschlungenen Zweige waren alle miteinander zusammengebrochen, die Tanne war überall verletzt. Regungslos hingen die Äste, die noch da waren, kein Ton war zu hören, erschrocken waren alle Vöglein aus dem Wipfel entflohen. Wir konnten zu keinen Worten kommen.
In diesen Tagen waren wir auch zum erstenmal auf einen Punkt gestoßen, auf dem wir uns nicht verständigen konnten. Ich hatte die Manuskripte durchgelesen von Anfang bis zu Ende und viele derselben zu wiederholten Malen. Nicht aus Befriedigung, im Gegenteil, ich suchte immer wieder, ob nicht etwas da sei, das mir einen lebendigen Eindruck machen könnte, um Klara zu verstehen in ihrer Begeisterung, aber ich fand nichts. Es waren die bekannten Töne lieblicher Gefühlspoesie, in leichte Formen gekleidet; Kraft oder Originalität trat mir nirgends daraus entgegen. Mir war unverständlich, wie Klara mit ihrem ausschließend klassischen Geschmack etwas Besonderes an diesen Gedichten finden konnte. Ich sagte ihr dies. Sie wurde etwas aufgeregt und wollte mich auf einzelne Schönheiten aufmerksam machen; aber alle ihre Erklärungen bestätigten nur meine Überzeugung, daß das Interesse für die Persönlichkeit des Dichters ihr Urteil durchaus bestimmt hatte.
War es die erschlagene Tanne, war es die große Stille, oder war es das Bewußtsein eines unausgesprochenen Gedankens, der zwischen uns lag und uns beide bewegte – an diesem Abend blieben wir stumm auf unserer Bank sitzen, bis die ersten Sterne am Himmel standen und ein kühler Hauch über den Acker her wehte. Dann gingen wir den Hügel hinunter, Hand in Hand. Die Blumen am Wege zitterten im ersten Herbsthauch. Wie oft waren wir an diesen Blumen vorbeigewandert, seit sie zuerst die Kelche aufgeschlossen in der hellen Sommersonne. Dies war das letzte Mal.
Ohne daß vorher davon die Rede gewesen war, verließ Klara wenige Tage nach diesem Abend unsern Berg. Verwandtschaftliche Pflichten riefen sie, war ihre Antwort auf meine Fragen nach der Ursache der plötzlichen Abreise; sie war nicht zu halten, es mußte sein.
Daß die Erfüllung verwandtschaftlicher Pflichten Klara in eine so fieberhafte Hast bringen konnte, wie ich sie an ihr wahrnahm in diesen letzten Tagen, war mir etwas fraglich, aber Klara wich all' meinen Bemühungen nach klarem Verständnis auf diese Seite hin aus.
Es wurde Herbst und Winter, und wieder kehrte der weckende Frühling, und so wurden Jahre daraus. Neue Menschen und Interessen tauchen auf mit den neuen Jahren, und die Wege unseres Lebens führen um manche Ecke herum, die uns verborgen hatte, wo wir durchgehen müssen. Stehen wir dann einmal still am Wege und übersehen wir, was hinter uns liegt, so heißt es in unserm Herzen: »Du änderst den Menschen, bis er zerbricht.« So hatte auch ich vielbewegte Zeiten und mancherlei Wege zu gehen. Meine Schulgenossen sah ich immer wieder ab und zu, gewöhnlich nur in vorübergehender Berührung. Marie grüßte ich oft auf dem Wege zur Kirche, die sie nicht verlassen hatte. Mit Freude hatte ich bemerkt, daß nach und nach ein Ausdruck stiller Fröhlichkeit auf ihr Gesicht gekommen war, der vieles sagte. Gesprochen hatte sie nie zu mir darüber, wie sie Genesung gefunden.
Von Klara wußte ich nichts mehr seit langen Monaten. Ihre Briefe waren immer selten gewesen, seit längerer Zeit hatten sie ganz aufgehört. In einem kurzen Billet hatte sie mir vor nahezu einem Jahre angezeigt, sie reise zu ihrem Vater, um bei ihm zu bleiben. Später hörte ich von ihren Verwandten, Klara sei lange schwer krank gewesen; doch wußten auch sie nichts näheres von ihrem Leben, auch an sie hatte Klara nie eingehend geschrieben.
So waren die Jahre dahingegangen. Manche Wunde früherer Zeiten war vernarbt, auch an der einsamen Tanne. Sie stand wohl noch immer oben auf dem Acker und schaute weit ins Thal hinab, aber sie krankte fortwährend. Die eine Seite war kahl geblieben, auf der andern waren die Zweige dünn geworden, und auch die warme Frühlingssonne lockte kein kräftiges Grün mehr aus dem ins Mark getroffenen Baum.
Ich war ins Thal hinab gezogen, wo die Blumen blasser sind, aber auch mildere Lüfte wehen, indeß manch rauher Bergwind oben über die Höhen streicht. Als ich das Vaterhaus verließ, weilte Marie noch in dem ihrigen. Wie ich zum Abschied zu ihr kam, erinnerte sie mich nicht an ein Erdreich, dem der einzige Bach vertrocknet ist, eher an ein solches, über dem der blaue Himmel liegt mit seiner frohmachenden Sonne.
Marie sagte nicht viel, aber ihre Augen waren wieder hell und hatten einen ganz neuen Ausdruck heiterer Ruhe gewonnen. In ihrem ganzen Wesen lag etwas Bestimmteres, als Marie sonst eigen war. Mit einer freudigen Zuversicht, die ich nie an ihr gekannt, sprach sie von einer neuen Aufgabe, die ihr geworden war, indem ihre Eltern ein Waisenkind ins Haus aufgenommen hatten.
In Marie war eine große Veränderung vorgegangen, das fühlte ich; da sie darüber schwieg, ließ auch ich die Vergangenheit ruhen.
Jahre waren vergangen. Was Klara lebte, wußt ich nicht mehr, kaum vernahm ich noch hier und da durch ihre Verwandten ein Wort über ihre äußeren Verhältnisse. Da kam mir eines Tages die überraschende Nachricht zu, Klara werde mich besuchen auf ihrer Durchreise nach England, wo sie in eine Thätigkeit eintreten sollte, die sie sich gewünscht hatte.
Wie werde ich Klara wiederfinden! Dies war der einzige Gedanke, der mich beschäftigte bis zum Augenblick ihrer Ankunft.
Nun stand sie vor mir. Ja, es war Klara – und doch – etwas Starres lag in ihrem Blick, auf all ihren Zügen, etwas so wehthuend Fremdes bis in den Klang ihrer Stimme hinein.
Nach dem ersten Grüßen und einigen schweigend fragenden Blicken waren wir einig, ins Freie zu gehen, es wurde uns beiden zu enge im Zimmer. Wir gingen die Baumallee hinunter bis dahin, wo die alten Lindenbäume ihre Äste in die Wellen des Flusses senken; dort setzten wir uns auf die zweigbedeckte Bank nieder.
»Klara,« sagte ich, »wie lange ist es doch, seit wir so zusammen saßen auf einer andern Bank! Und durch all' diese langen Jahre hin hörte ich so viel wie nichts von Dir, Du selbst hast ganz geschwiegen. Du warst recht krank.«
»Ja,« erwiderte sie, »sehr lange und tief krank war ich an Leib und Seele.«
So hatte ich mir's gedacht.
»Aber jetzt fühlst Du Dich ganz genesen, Klara?«
»So weit es sein kann,« versetzte sie kurz.
Mir schnürte sich das Herz zu; ich wußte die alten Wege zu dem ihrigen nicht mehr zu finden. Wie war alles so anders geworden! Wo war das lebendige Feuer dieses Wesens, das einst gewaltig in mein Herz gezündet hatte? Welche Macht hatte Klara in ihrem innersten Wesen so verändern können? Wir schauten in die vorübereilenden Wellen und schwiegen lange.
»Wie geht es der Marie?« fragte Klara plötzlich.
Diese Frage überraschte mich. Klara hatte nie so viel Interesse an Marie genommen, um ohne besondern Grund im ersten Moment unseres Wiedersehens nach ihr zu fragen. Ich sagte Klara, was ich wußte, daß es Marie recht gut gehe, daß sie sich schon vor längerer Zeit verheiratet habe an einen wohl angesehenen jungen Mann nach einem ferngelegenen Gute hin; ich hatte sie seither nicht gesehen.
»Klara,« sagte ich nun, »hast Du die Krankheit durchmachen müssen, an der wir Marie damals so elend sahen?«
»Ja,« sagte Klara, in die Wellen blickend; dann setzte sie mit etwas bitterem Lächeln hinzu: »Der Dichter war auch ein Johannes. Es ist aber alles lange vorüber.«
Vorüber – es klang mir ins Herz, als sagte das Wort, es sei überhaupt alles vorüber für Klara. Nach einer Weile fragte ich sie, ob sie sich freue, in ihre neue Thätigkeit einzutreten.
»Freuen!« sagte sie fast vorwurfsvoll; »O nein! ich suche auch keine Freude; ich will mich nützlich machen, meine Kräfte brauchen, daß ich nicht vergeblich lebe.«
»Aber, Klara, was ist denn jetzt Dein inneres Leben? Womit nährst Du Deine Seele? An welchen Quellen trinkst Du?« mußte ich fragen in Erinnerung an ihre Aussprüche früherer Zeiten.
»Ich brauche keine Nahrung als meine Thätigkeit,« erwiderte sie mit dem befremdend harten Klang in ihrer Stimme; »ich trinke auch an keinen Quellen, mich dürstet nicht mehr. Wunschlos nehme ich meinen Tag hin, wie das Geschick ihn bringt, ich weiß ja:
›Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen
Müssen wir alle
Unsers Daseins Kreislauf vollenden.‹«
»Wie hast Du Dich verändert, Klara!« mußte ich ausrufen. »Wo sind Deine reichen Erquickungen für die Gegenwart? Deine weiten Aussichten auf alle kommenden Tage? An was erfreut sich Dein Herz auf dieser Erde?«
»Freude habe ich nicht mehr am Leben, ich ertrage es,« erwiderte sie. »Ich habe an allen Quellen geschöpft, um mir neue Lebenslust daraus zu holen, da ich krank und elend war; ich fand sie nicht; aber die Erkenntnis habe ich dabei gewonnen, daß im vollen Verzichten auf alle Lebensfreude die Ruhe liegt, und daß das einzige Glücklichsein ist, keinen Wunsch und kein Begehren mehr zu haben.«
»Dies ist eher tot sein, als glücklich sein, Klara,« meinte ich. »Es giebt aber eine Quelle, da wird noch immer frisches Leben geschöpft von den Krankenden und neue Freude von denen, die traurig sind. Du hast sie immer unbeachtet gelassen. Da muß Marie geschöpft haben, denn heute ist sie heil und lebensfrisch, wie in den Tagen der fröhlichen Kindheit.«
Dies interessierte Klara. Ich sollte ihr genau erzählen, was mit Marie vorgegangen war. Das konnte ich damals nicht thun, ich wußte es nicht, mußte aber Klara versprechen, ihr darüber alles mitzuteilen, was mir bekannt würde.
»Dafür will ich aber auch ein Versprechen von Dir, Klara,« sagte ich dann. »Versprich Du mir, nun einmal gründlich das alte Bibelbuch durchzulesen und bald daran zu gehen, aber nicht wie ein veraltetes Lehrbuch, sondern mit demselben Glauben, mit dem wir uns vormals unsere Dichter abnahmen, wenn wir uns sagten: Hier ist ein Quell des Lebens, trink daraus!«
Klara sah mich erstaunt an; dann versprach sie. Wir schieden für lange Jahre.
Noch in demselben Jahre, als die Herbstsonne ihren goldenen Schmelz über Berg und Thal gebreitet, ging ich durch den frischen Morgen unter den fruchtbeladenen Obstbäumen hin, einem Bauernhofe zu, der mitten in den duftenden grünen Wiesen stand. Von fern schon hatte ich ihn erkannt aus der Beschreibung. Da war ja der steinerne Brunnen im Hof mit den zwei reichen Wasserströmen; da war der große Apfelbaum vor dem Haus, und oben im Fenster standen volle rote Nelken, dunkelglühend in der Morgensonne.
Jetzt trat Marie aus der Hausthür, sie hatte mich herankommen sehen.
»Wie gut Du aussiehst, Marie!« mußte ich ihr gleich entgegenrufen.
»Ja, wie gut es mir auch geht!« erwiderte sie, mir die Hand festhaltend, in alter, traulicher Weise. »Und Dir doch auch?«
»Ja wohl!«
Wir traten zusammen in das wohnliche Haus. Wie viel hatten wir uns zu sagen und zu fragen. Vor allem mußte Marie mir erzählen, wie ihr wackerer Philipp sie gefunden und gewonnen hatte. An dem offenen Fenster, durch das die milde Herbstsonne hereinschien und ihr warmes Licht in die freundliche Stube warf, setzten wir uns nieder. Die Wiese lag grün schimmernd vor uns, und Scharen fröhlicher Vögel hielten Mahlzeit draußen auf dem reichbeladenen Apfelbaum.
»Und wie viel besser meint es der liebe Gott mit uns, als wir selbst!« fuhr Marie fort, nachdem sie mir den Gang ihrer Bekanntschaft mit Philipp und ihr Zusammenkommen erzählt hatte. »Jeden Tag sehe ich es mit neuer Dankbarkeit ein. Du glaubst nicht, wie gut der Philipp ist, und er ist auch ein frommer Mann, wie ich nie geglaubt hätte, daß einer sein könnte, und überall beraten, ich kann ihn nur fragen, wo ich anstehe, so weiß er gleich das Rechte. Und für die Buben ist er ein Vater, wie ich keinen andern kenne.«
»Das tönt gut, Marie,« sagte ich erfreut . . . »Und die Buben? Die muß ich doch sehen!«
Marie rief sie herbei und stellte mir erst den größeren vor, den fünfjährigen Philipp, der sich sehr aufrecht vor mich hin stellte und mich unerschrocken anstaunte. Dann schob sie mit einiger Mühe den Kleinen vor, der sich immer wieder hinter die Mutter verkroch.
»Das ist der Dreijährige,« erklärte sie, als der Kleine annähernd sichtbar wurde, »der heißt Johannes.«
Ich sah Marie fragend an.
»Ja,« sagte sie, auf meine Gedanken antwortend, »dem Johannes nach heißt er so, meinem Mann war es auch recht. Ich habe den Johannes nie mehr so gesehen, daß ich ihm hätte sagen können, wie ich denke, daß ich so gerne hätte, wir dächten beide mit Freundlichkeit an einander und an die Zeit, da wir so gut Freund waren, und er mir auch viel Gutes erwiesen hat. Daß er sehen kann, ich thue es und höre gern seinen Namen, wollte ich einen Johannes haben, und der will auch ein Guter sein, nicht wahr, Johannesli?«
Der Kleine schmiegte sich so schmeichelnd an die Mutter an, als wollte er gut machen, was alle Johannesse von jeher verschuldet. Der gehaltene Bruder Philipp sah ihn etwas von oben herab an, der sah gar nicht aus, als wäre da etwas gut zu machen.
Nun trat auch der große Philipp ein. Das gewinnende Wesen dieses Mannes, seine einfache Sicherheit und der gerade Sinn, der ihm aus den lauteren Augen schaute, ließen mich leicht begreifen, daß Marie aus der glücklichen Gegenwart mit voll versöhntem Herzen auf alle Vergangenheit zurückblicken konnte.
Sie wollte mich länger halten, aber ich hatte noch einen langen Weg vor mir, ich wollte nach dem Berge hin, der alten Heimat zu. Marie wollte mich begleiten, und nun wir einmal wieder zusammen wanderten, wie wir so oft gethan, stieg die Erinnerung an die alten Zeiten in meinem Herzen auf. Wie vieles war in uns beiden vorgegangen, seit jener Zeit, da wir uns so vertraulich all' die großen Ereignisse unseres kleinen Lebens mitteilten da oben auf dem Schopffenster hinter den Nelkenstöckchen.
»Marie,« sagte ich, in meinen Gedanken weiter kommend, »sag' mir nun etwas: wie kam es, daß Du damals, als Du so traurig warst, nicht zu den Wiedertäufern gingst? Ich fürchtete, Du würdest dort Deinen Trost suchen.«
»Nein,« erwiderte sie, »es kam ganz anders. Ich hatte Dir damals schon erzählt, was in mir vorging, aber ich dachte –«
»Ich würde es nicht recht verstehen,« ergänzte ich, als Marie zögerte, »aber jetzt kannst Du mir's sagen.«
Marie erzählte mir nun, sie sei damals so zu Boden gelegen, daß sie nach keinem Trost mehr suchte. Alle Lebenskraft war ihr genommen. Schlafen konnte sie fast gar nicht mehr und alle Arbeit verrichtete sie nur noch halb oder verkehrt. Dann habe sie der Gedanke beschlichen, sie komme um den Verstand, weil sie keiner Sache mehr recht nachdenken konnte und sich auf keinem Punkte mehr in der Hand hatte. Vater und Mutter seien auch so fremd gegen sie geworden und hatten sie manchmal so von der Seite angesehen, als sei sie's nur noch halb wert, und das alles sei ihr am Ende wie ein großes Wasser über dem Kopf zusammen gelaufen, daß ihr war, sie komme nicht mehr durch, und es müsse ein böses Ende mit ihr nehmen.
»Da lief ich,« erzählte Marie weiter, – »es war an einem Sonntag Nachmittag – in unsäglicher Angst nach dem Grabe der Großmutter und setzte mich hin und weinte und sagte fast laut: Ach Großmutter, wenn Du noch da wärst, Du könntest mir helfen! Ich blieb lange auf dem Grabe sitzen und weinte und dachte an die Großmutter, wie gut ich es ihr sagen konnte, wenn mich etwas drückte in früherer Zeit. Da kam mir so vieles in den Sinn, das sie mir dann gesagt hatte, und das ich wohl gehört und verstanden, aber doch nie so recht ins Herz aufgenommen hatte. Da lief ich heim, und zum erstenmal seit dem Tode der Großmutter öffnete ich ihre Bibel mit Verlangen. Es lag noch ein Buchzeichen darin; auf dieser Seite mußte die Großmutter zum letzten Male gelesen haben. Ich schlug sie auf und meine Augen fielen gleich auf die Worte: »Rufe mich an in der Not, so will ich Dich erretten, und Du sollst mich preisen.« Ich mußte ganz laut sagen: Ja, Großmutter, das will ich auch thun! Dann lief ich in meine Kammer und betete aus meiner Not zu Gott, wie ich nie vorher gebetet hatte. Von da an habe ich es fort und fort gethan, und ich habe dann wohl gemerkt, wo es mir gefehlt hatte, daß ich immer meinte, es müsse mir jemand von außen helfen, die Wiedertäufer könnten es thun.
Aber je ernstlicher ich betete, je mehr fühlte ich, daß kein Mensch mir helfen konnte. Es fing mir so vieles an auf dem Herzen zu brennen: was hatte ich an der guten Großmutter versäumt und wie manches Leid ihr gethan, das ich nicht mehr gut machen konnte! Wie verbitterte ich dem Vater und der Mutter das Leben täglich! Und manches Unrecht noch, von dem keiner wußte, stieg mir quälend auf. Wenn ich dann in der Angst meine Bibel ergriff, so war es mir oft, als seien die Worte, auf die ich traf, aus meinem eigenen Leben geschrieben, gerade so war es bei mir:
›Meine Tage sind vergangen wie ein Rauch, und meine Gebeine sind wie ein Brand verzehret.
Mein Herz ist zerschlagen und verdorret wie Gras, daß ich auch vergesse mein Brot zu essen,‹
Da mußte doch auch Hilfe für mich zu finden sein, wo meine Krankheit so deutlich stand, wie im eigenen Herzen. Und ich fand sie auch. Wie ich es zuerst erfaßte, daß wir einen Herrn im Himmel haben, der uns alles vergiebt und uns rein macht von aller Schuld, wir dürfen ihn nur anrufen, da war mir, als sei die Sonne so schön noch nie am Himmel gestanden, und eine große Freude kam mir ins Herz, alle Angst und Last war mir von der Seele genommen, und auch das alte, schwere Leid hatte keine Gewalt mehr in mir. Die ganzen Tage lang sagte ich voller Dank und Freude in meinem Herzen:
›O Jesus Christ, mein Leben,
Mein Trost in aller Not,
Dir hab' ich mich ergeben
Im Leben, und im Tod.
Ich will Dein eigen sein,
Erlöser meiner Seele,
Und ewig bist Du mein!‹«
Hier schwieg Marie. Eine Zeit lang gingen wir schweigend neben einander her.
»Und so ist Dir's noch, Marie,« sagte ich dann, »dies ist der feste Halt und die herzerfreuende Zuversicht Deines Lebens?«
»Ja,« erwiderte sie, »in jedem Moment und für immer, deß bin ich gewiß.«
»Du bist glücklich, Marie,« sagte ich, »mehr als hier und da eines, das früher sein Leben nicht an das Deine getauscht hätte.«
»Ja wohl,« versetzte sie und sah mich dabei an, als wäre sie leise meinen Gedanken nachgegangen, »so glücklich, daß ich mit keinem Menschen tauschen möchte. Ich habe für Leben und Sterben, was mich froh macht, und ich vergesse nicht dafür zu danken, denn ich weiß, wie es ist, wenn Frieden und Freude im Herzen fehlen.«
Wir waren an der Bergstraße angekommen, hier standen wir still. Marie hatte mir das Herz erfreut mit ihrer Erzählung; ich sagte es ihr. Dann trennten wir uns im Gefühl alter Freundschaft und neuen vollen Verständnisses.
Ich stieg den Berg hinan, die altbekannten Stellen grüßend. Wo der Weg steiler wird und die Blumen dunklere Farben bekommen, betrat ich den schmalen Fußpfad und ging quer über die Wiese einem Häuschen zu, das mitten unter den grünen Bäumen stand. Im Grase nahe am Haus krabbelte es lebendig: ich trat hinzu; eine Schar kleiner, unverkennbarer Rudi und Margritli rollte da den roten Äpfeln nach, die der Vater vom Baum schüttelte. Eben trat die Mutter heraus, rotbackig wie immer, und nach den ersten Ausrufen der Überraschung nötigte sie mich, mit ihr ins Haus zu treten, und der Vater Rudi wurde auch herbeigerufen vom Baum herunter.
»Das ist recht!« sagte er, als er mich in seiner Stube mit dem alten Händedruck begrüßte.
Ich erklärte, ich wollte nur guten Abend sagen und sehen, wie es bei ihnen stände, da ich in der Gegend sei.
»Das ist recht!« sagte Rudi nochmals zustimmend und nun mußte ich sitzen, und Rudi wollte allerlei Bewirtungen einrichten; ich sagte aber, heute gehe es nicht, es sei schon zu spät. Nun frug ich den alten Bekannten nach.
»Ja,« sagte Rudi, »da giebt's Allerhand zu erzählen. Haben Sie auch schon die Phari – die Frau Lise, wollte ich sagen, gesehen?« – Das Margritli hatte ihm heimlich einen Stoß gegeben mit dem Ellenbogen. –
»Die gedeiht wie ein Gerechter.«
Jetzt bekam er den zweiten Stoß.
Nein, ich hatte noch niemand gesehen, jetzt eben kam ich nach ziemlich langer Zeit einmal wieder hierher, aber mir war es lieb, etwas von den Leuten zu hören.
»Und wie geht es dem Johannes?« fragte ich.
»Ja dem!« sagte Rudi, »recht geht's ihm, der liegt jetzt grad', wie er sich gebettet hat. Am Sonntag geht's zweimal zur Versammlung; voran die Lise, aufrecht wie ein General, der's gewonnen hat: dann der Johannes, ganz demütig, an der Hand das Kleine mit dem Rosmarinstengelchen.«
»Es geht ihnen aber ganz gut,« fiel hier das Margritli ein, »sie machen einen recht ehrsamen Hausstand, und die Lise hält gute Ordnung und sorgt für den Mann, daß er's recht hat.«
»Ja, und mehr als recht,« fuhr Rudi fort, »was er nur an Predigten bekömmt die Woche durch, je eine am Morgen und eine am Abend, und am Sonntag erst recht. Lieber wollte ich jeden Montag eine rechte Ohrfeige und damit abgemacht für die Woche.«
»Rudi, hättest Du's gern, wenn Deine Frau Dir einmal eine rechte Ohrfeige geben würde?« fragte Margritli.
»Nein, nein, bewahre!« erwiderte Rudi, »ich rede nur für den Johannes; ich habe darum eine genommen, die mir keine Predigten hält und keine Ohrfeigen giebt. Hatte ich nicht recht?«
Die Frage war an mich gerichtet; dabei sah Rudi nach dem Margritli hin ganz mit demselben Wohlgefallen, wie in den Tagen der Singschule.
»Gewiß hattet Ihr recht,« sagte ich, »und mich freut es heute aufs neue, daß Ihr die Sache so glücklich ausgeführt habt.«
Rudis Händedruck, der hierauf erfolgte, mußte zugleich als Abschied gelten, und es war gut, denn dieser war einer seiner kräftigsten.
Eben war die Sonne untergegangen, als ich oben auf dem Tannenacker ankam; ich setzte mich auf die Bank, an die wohlbekannte Stelle, und lehnte mich an den alten Baum. Vergangene Tage zogen durch meine Seele. Dort unten, dem Hügel entlang, ging der Weg, den das zarte Meieli in seinem kurzen Leben so oft gegangen war durch Nacht und Frost, und mehr Wege noch verloren sich hier und da ins Thal hinab, die von anderen räthselhaften Anfängen und unvollendetem Leben und von manchem brennenden Warum des Menschenherzens redeten.
Eben erklangen die Glocken der kleinen Kirche unten am Hügel; es war Sonnabend, sie läuteten den kommenden Festtag ein. So hatten diese Glocken über Meielis verklärtes Angesicht geläutet.
Ein Windhauch trug die Töne heran, und über alle die verschwindenden Wege hin sangen die Glocken wie Antwort von Meielis Grab herauf:
»Wieder aufzublühn ward ich gesä't,
Der Herr der Ernte geht
Und sammelt Garben;
Gelobt sei Er!«
Noch steht die einsame Tanne auf dem Hügel und schüttelt ihren alten Wipfel im weckenden Bergwind. Ein junges Geschlecht sitzt auf der Bank darunter. Ob es vernimmt, wie über ihm die Vöglein in den Zweigen singen: »Ach, wie so bald!«? –