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Fünftes Kapitel.

Was wollte denn Justus von Dir? fragte Marthe ihren Vater, als er, der ihr sonst alles mitteilte, nach ein paar Tagen noch immer schwieg.

Ach, es ist dummes Zeug, erwiderte der Alte verdrießlich.

Ich dachte es mir. Ich glaube, es ist in seinem Kopfe noch immer nicht ganz richtig. Er spricht manchmal so sonderbare Sachen.

Ja, ja, sagte der Alte; sonderbar war's; aber dumm – nein, eigentlich dumm ist es nicht. Er will das Studieren aufgeben und Arbeiter werden, wie wir.

Dann ist es doch dumm, sagte Marthe; das kann er gar nicht. Und wenn er es könnte – er ist zu was besserem auf der Welt.

Das bist Du auch, mein Kind.

Und Du, Vater. Aber Du bist verheiratet und hast vier Kinder und hast die Arme nicht frei. Und ich auch nicht, sonst ginge ich in die Stadt und würde Krankenpflegerin.

Du kannst ja jeden Tag heiraten. Der Stanik Stolarzeck will Dich.

Aber ich will den Stanik nicht; sagte Marthe, die schweren Brauen zusammenziehend. Ich will überhaupt nicht heiraten und mich von meinem Manne prügeln lassen, wie Suska. Warum will Justus Arbeiter werden? Wenn seine Eltern auch tot sind, und er von den schlechten Menschen da im Schlosse nichts nehmen will – was ich auch nicht thäte – da ist doch noch immer der Herr Pfarrer. Noch gestern hat er zu mir gesagt: ich werde Justus nie verlassen.

Der Alte schob sich die Mütze so weit aus dem Gesicht, daß er sich die Stirn nachdenklich reiben konnte, zog sie wieder herab und sagte:

Das weiß Justus so gut wie wir; aber wie lange kann denn der Pfarrer noch leben? Ich habe ihn mir darauf angesehen: kein Jahr mehr und vielleicht nicht einmal so lange, wenn er's so weiter treibt. Und bleibt er länger am Leben, und sie lassen ihn von Breslau aus ungehudelt – er hat selber nichts, der arme Mann, und um jeden Groschen, den er Justus geben wollte, müßte er mit Muhme Anna auf Tod und Leben kämpfen. Das hat sich Justus alles überlegt, und sobald er so weit ist, will er zum Direktor gehen und ihn um Arbeit bitten.

Und es ist doch dumm, sagte Marthe. Was will er in unserer Fabrik, wo jeder andere in seinem Alter mehr leisten kann, als er? Warum will er nicht wenigstens in dem technischen Bureau unterzukommen suchen? oder in dem Schreiberbureau bei dem Oberdirektor? Der verschafft ihm gewiß eine Stelle, wenn er ihn darum bittet.

Das war und ist auch meine Meinung, sagte der Alte; aber er bleibt dabei.

Ich werde einmal mit ihm sprechen, sagte Marthe.

Es wird Dir nichts helfen. Und wenn er gerade in unsere Fabrik will, ich glaube, ich habe ihm das in den Kopf gesetzt, als er mir im Walde sein Märchen erzählte von dem Ogre, der den Wald auffrißt, und ich ihm sagte: der Ogre soll nur fressen. Je mehr er fräße, desto mehr Papier könnten wir machen, und je mehr Papier wir machten, desto mehr Bücher und Zeitungen würden gedruckt, und je mehr Bücher und Zeitungen gedruckt würden, desto klüger würden die Menschen, und je klüger die Menschen würden, desto weniger Raum hätten die Ogres, bis sie ganz heraus aus der Welt müßten, die dann eine glückliche Welt sein würde. Du weißt, Marthe, das ist mein Glaube und meine Überzeugung, und ich thue deshalb mein Tagewerk, ohne zu murren, so hart es auch manchmal ist, und denke mir immer dabei: ich thu's den armen Menschen zuliebe und den reichen Ogres zuleide und mehr und Besseres kann man nicht thun. Ja, keiner sollte etwas anderes thun und zu einem anderen Zwecke, jeder nach seinen Kräften, ob er nun an der Maschine steht oder im Bureau rechnet. Wenn aber Justus lieber an der Maschine stehen oder noch niederere und schwerere Arbeit thun will, als im Bureau warm und trocken sitzen, so hat es damit noch seine besondere Bewandtnis. Er sagt, daß er im Schlosse so lange von dem Tische des Ogre gegessen habe, während er doch recht gut gewußt hätte, wie viele arme Menschen hungern müßten, damit auf dem Ogretische das Brot nicht fehle und der Wein nicht ausgehe; das sei eine große Sünde, die er erst abbüßen müsse, bevor er wieder einem ehrlichen Menschen in die Augen sehen könne.

Ja, Ehre hat er im Leibe, er! sagte Marthe mit Nachdruck.

Nicht wahr? rief der Alte erfreut. Und wenn es so kommt, wie er es sich denkt, und er, als Arbeiter, nicht mehr bei dem Herrn Pfarrer wohnen kann, ohne daß es ein Gerede giebt – in der Giebelkammer, die doch, seit Suska aus dem Hause ist, leer steht, könnte er ganz gut wohnen. Meinst Du nicht?

Marthe antwortete nicht gleich; sie hatte sich über das Feuer des Herdes gebeugt und rührte in einem Topfe, aber nur, um die Röte zu verbergen, die ihr in die Wangen geschossen war. Justus bei ihnen im Hause! Justus mitten in dem Wirrwar der elenden Wirtschaft! Justus zugegen, wenn sich Christoph und Boleslaw schreiend prügelten, oder schlimmer: die Stiefmutter sich einen Rausch getrunken hatte! Justus, der ihr so hoch stand! um dessen willen sie aus dem Schmutz des Dorfes in die Stadt strebte, damit auch er nicht niedrig von ihr denke und sie nicht allzutief zu stehen kam, wenn er sie mit seiner Isabel verglich!

Gefällt Dir der Gedanke nicht? fragte der Vater, über ihr Schweigen verwundert.

Ja und nein, erwiderte Marthe kurz, den Topf vom Feuer nehmend und den Inhalt in die Schüssel schüttend, die sie in die Stube trug.

Sie behielt Zeit, reiflicher zu überlegen, ob sie sich, wenn der vorausgesehene Fall eintrete, für Ja oder Nein entscheiden solle. Justus' Genesung ging nur langsam von statten, wofür der alte Arzt dem wüsten Wetter die Schuld beimaß, das seinen Patienten verhinderte, ausreichend an die frische Luft zu kommen, ja, ihn auf halbe Wochen lang wieder an das Haus und in das Zimmer bannte. Denn inzwischen war ein selbst für diese Gegend harter Winter eingetreten: Schneestürme brausten durch das Land, Weg und Steg verschüttend, die Chausseen und die Eisenbahnen selbst auf Tage unpassierbar machend. Es war eine harte Zeit, außer für die Jungen, die sich Höhlen in die weißen Wälle gruben, mit denen die niedrigen Häuser umgürtet waren, und auf den zugefrorenen Lachen der Dorfstraße auf Topfscherben, die sie sich an die Füße gebunden hatten, Schlittschuh liefen.

Justus konnte, an seinem Fenster stehend, von dem man, vorüber an der Kirche, weit in die Dorfstraße hineinsah, dem Spiel der Jungen stundenlang zuschauen. Wie lange war es her, daß er auch ein Junge gewesen und mit Isabel, die ihn zu besuchen gekommen war, vor des Vaters Hause im Walde einen Schneemann gebaut hatte? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor; die Ereignisse der letzten Zeit und jetzt seine Krankheit hatten das Heute von dem Einst durch eine, wie ihm schien, unermeßliche Kluft getrennt. Man hatte ihm mit seinen übrigen Sachen auch die Bücher gebracht, die er im Schlosse zurückgelassen, und er hatte zu arbeiten versucht. Was ihm früher so viel Freude gemacht – es wollte ihm kein Interesse mehr abgewinnen. Ob er noch ein paar lateinische oder griechische Wörter mehr lernte, ob er eine Stelle im Horaz, die selbst dem Doktor Müller Kopfzerbrechen bereitet hatte, mit Leichtigkeit konstruieren konnte – was lag daran? Und seine Poesie, die er ehemals so hoch und heilig gehalten, wie schal und nichtig erschien sie ihm jetzt? Ja, schlimmer: als ein Frevel, als ein schnöder Diebstahl, an der Zeit, die der Herrgott dem Menschen zu besseren Dingen gegeben. Sein großes Trauerspiel, das schon bis zu dem vierten Akt gediehen war, seine Gedichte, die bereits ein dickes Heft füllten, – er hatte sie in das Feuer des Ofens geworfen. Sein Märchen würde denselben Weg gewandert sein; aber er hatte es nie aufgeschrieben und aus der Erinnerung konnte er es nicht reißen.

So wenig wie ihr Bild. Es umschwebte ihn, wo er ging und stand. Wenn er einschlief, war es das letzte, was er sah; wenn er erwachte, war es wieder da,– das Bild der Treulosen, der Verräterin, für die er – er wußte es jetzt – alle diese letzten Jahre einzig und allein gelebt hatte und die, obgleich er sie jetzt zu hassen versuchte, sein Denken und Fühlen und seine Entschließungen beherrschte, gerade wie vormals. Wenigstens hatte er die dumpfe Empfindung, daß an seinem Entschluß, Arbeiter werden zu wollen, der Trotz gegen sie ein gemessenes Teil hatte. Sie wollte seine Sache »in der Hand behalten!« Er wollte ihr zeigen, wie er seine Sache ansah, sie ihr aus der kleinen Hand winden, in der sie nur schon zu lange gelegen, und in die eigene nehmen.

An einem Tage, der etwas weniger unhold war, als die anderen, machte er sich auf den Weg zu dem Direktor der Fabrik. Es war ein Mann in bereits vorgerückten Jahren, dem seine Kränklichkeit um so größere Sorge bereitete, als er eine große Familie zu erhalten hatte, und der, weil er bei dem Grafen und auch bei dem Oberdirektor nicht besonders hoch angeschrieben stand, immer in der Furcht lebte, seine Stelle zu verlieren. Justus kannte ihn flüchtig von früher her, da der Komplex von Häusern, in welchem die Fabrikbeamten wohnten, nicht weit von seinem elterlichen Hause, zwischen diesem und der Fabrik am Rande des Waldes lag.

Er fand den kränklichen Herrn in besonders übler Laune. Der Oberdirektor war am Morgen dagewesen und es hatte zwischen ihm und Herrn Wendelin eine heftige Scene stattgefunden, von der Justus, der im Vorzimmer wartete, sogar noch die letzten Worte gehört hatte.

So ließ ihn Herr Wendelin, als er dann vorgelassen wurde, sehr unfreundlich an. Eben erst habe der Herr Oberdirektor dekretiert, daß bei den schlechten Zeiten so und so viele Leute entlassen werden müßten, und wenn er – Justus – der, so viel ihm bekannt, aus dem gräflichen Schlosse auf eine für ihn wenig erfreuliche Weise ausgewiesen sei, in einer Fabrik des Herrn Grafen Arbeit suche, so komme ihm das doch mehr als sonderbar vor. Übrigens gehe ihn die Sache gar nichts an; Justus möge sich an den Herrn Inspektor wenden.

Damit war Justus entlassen. Der Herr Inspektor war in der Fabrik. Justus begab sich nun dahin und gelangte nach vielem Hin- und Herfragen endlich auch glücklich zu Herrn Fabian, dem er seine Angelegenheit vortrug. Herr Fabian kraute sich hinter dem Ohr und meinte, das sei eine kuriose Sache. Als ein guter Bekannter seines verstorbenen Vaters wolle er Justus gern behilflich sein; aber ob er denn nichts Besseres in der Welt anzufangen wisse? Mit seinen sechzehn – im Frühjahr siebzehn? – also siebzehn Jahren, auch wenn er wieder bei vollen Kräften sei, könne er ihn höchstens in einem der Packräume bei einer Arbeit verwenden, die ganz ungebildete Menschen ebensogut und, weil mit derselben längst vertraut, besser leisteten. Dabei sei der Lohn, wie er selbst sagen müsse, jammervoll. Justus solle sich doch die Sache noch einmal überlegen.

Justus sagte, er habe alles schon oft überlegt mit sich allein und mit Anders.

Ach was, sagte der Inspektor, Anders ist ein guter Arbeiter, sogar mein bester, aber ein hirnverbrannter Kopf; auf den sollten Sie nun schon gar nicht hören. Wenn Sie indessen durchaus wollen und sagen, daß Sie schlechterdings keine anderen Aussichten und Mittel haben, nun – ich bin auch von Haus aus nichts anderes als ein gemeiner Arbeiter gewesen, und wenn man fleißig und nicht auf den Kopf gefallen ist, kann man es auch als Arbeiter zu etwas bringen. Ich werde Sie also notieren und, wenn die Zeit kommt, an Sie denken. Ich sage Ihnen aber schon jetzt: vor dem Frühjahr ist so gut wie keine Aussicht.

Das letztere schien Justus, der in seinem großen Eifer am liebsten an demselben Tage mit der Arbeit begonnen hätte, besonders hart. Aber als er von der Unterredung mit dem kurz angebundenen Mann, dem doch das Wohlwollen aus den hellen blauen Augen geblickt hatte, nach dem Pfarrhaus zurückkehrte, mußte er sich sagen, daß er vorläufig auch einer leichten Arbeit wohl kaum gewachsen sei. Der erste lange Weg, den er heute gemacht, hatte ihn sehr angegriffen, von den Gesprächen mit den beiden Herren fühlte er sich fieberhaft aufgeregt. Ja, als er endlich nicht ohne Mühe wieder auf sein Zimmer gelangt war, schüttelte ihn ein richtiger Fieberfrost, und er war wieder für ein paar Tage an das Bett gefesselt.

Doch das ging vorüber, und er fand endlich die Kraft, an Isabel zu schreiben. Sein Brief war ebenso kurz, wie der ihre lang gewesen war: er danke ihr für ihre Bemühungen in seinem Interesse, aber er könne von den Anerbietungen des Herrn Grafen in keiner Weise Gebrauch machen. Im übrigen wünsche er ihr viel weiteres Vergnügen in Berlin und an der Riviera, wenn sie noch dahin gehen sollte. Er bitte Miß Brown und vor allem Komtesse Sibylle viele Male von ihm zu grüßen. – Von seinem Plane schrieb er nichts.

Isabel antwortete nach Verlauf einer Woche.

 

»Lieber Justus! Ich muß Dir sagen, daß Du sehr unverständig bist. Das ist auch die Meinung des Herrn Grafen. Ob er Dir, was er Dir bietet, gern giebt, oder nicht, kann Dir ganz gleichgültig sein. Er hat es Dir einmal, als Du damals zu uns kamst, versprochen und muß sein Wort halten, schon deshalb, weil er es sonst mit mir gründlich verderben würde. Was willst Du denn nun eigentlich beginnen? Es scheint, Du verläßt Dich auf den Onkel. Als ob auf den jemals Verlaß gewesen wäre! Ich denke, Du besinnst Dich. Vielmehr: ich befehle Dir, daß Du an den Herrn Grafen schreibst, wie ich Dir neulich gesagt habe. Ich wiederhole: alles andere überlaß mir; ich weiß hundertmal besser, was Dir gut ist als Du selbst.

Weiter schreibe ich Dir heute nichts, aus Strafe dafür, daß Du auf die tausend Dinge, über die ich in meinem Briefe an Dich geplaudert habe, mit keiner Silbe eingegangen bist.

Nur noch eines, auf die Gefahr, daß es Deine bekannte Eitelkeit – Dein schlimmster Fehler, Justus! – noch erhöht: Sibylle hat Dein Märchen aus dem Gedächtnis aufgeschrieben und Miß Brown und mir vorgelesen. Wir fanden beide, daß kaum ein Wort fehlt, oder anders ist. Nur hat sie den zweiten Schluß genommen. Sie läßt Hubert nicht sterben, sondern Eremit werden. Sie meint, seine Liebe für Maiennacht sei wohl begreiflich, aber doch eigentlich eine Sünde gewesen, die er abbüßen müsse! Eine Sünde, wenn ein junger Jägersmann eine wunderschöne Fee liebt! Die frommen Leute sind eben wunderlich.« –

 

Hatte ihn ihr erster Brief tief geschmerzt, so erfüllte ihn dieser zweite mit hellem Zorn. Sie hatte ihn so oft gescholten, ohne daß er es ihr übel genommen, und würde es ebenso vielleicht noch heute gedurft haben, hätte sie für sich allein gesprochen. Aber dies: »das ist auch die Meinung des Herrn Grafen« brachte ihn außer sich. Es stand vor seinen Augen, wie der Herr Graf diese seine identische Meinung mit einem Kusse auf ihre kleine Hand bestätigte. Und ihm fiel ein, mit welchem Gefühl, wenn nicht von Ehrfurcht, so doch von Scheu, er immer zu dem stattlichen Herrn mit den buschigen Brauen und dem ergrauenden Vollbart aufgeblickt hatte; und der unermeßliche Abstand, der ihn, den armen Jungen, den ein Beamter des Grafen so wegwerfend behandelt, von Isabel trennte, »mit der der Herr Graf es nicht verderben dürfe,« lag vor ihm da wie eine Öde, durch die kein Weg führte, jemals führen würde. Ja, sie war seine Fee gewesen, aber nicht die herzige Fee des deutschen Waldes, die für ein geliebtes Menschenkind, wenn es sein muß, sterben kann, sondern die Fata Morgana der schattenlosen arabischen Wüste, die den lechzenden Wanderer nur anlockt, um ihn desto sicherer im heißen Sande verschmachten zu lassen.

Selbst was sie ihm von Sibylle geschrieben, wollte ihm keinen Trost bringen. Auch sie, wie gnädig sie sich ihm bezeigt, gehörte zu dem Ogrestamm, dem Erbfeind des armen Mannes, mit dem er in den Kampf ziehen wollte auf Tod und Leben. Das schwur er sich bei des Menschen Sohn, der da auf dem groben Holzschnitt an der Wand unter der Last des Kreuzes zusammenbrach. Mochte auch er unter dem Kreuz zusammenbrechen! Es haben es ja schon so viele gemußt und werden's noch müssen, bis die stolzen Ogres am Boden liegen und ihre stählerne Zwingburg in Flammen auflodert unter dem Jubelgeschrei der befreiten Knechte!

Das stand nun fest in seiner Seele, auch als nach ein paar Tagen die erste Gewalt des Zornessturmes ausgerast hatte und er wieder mit klarerem Auge um sich blicken konnte. Bis zum Frühjahr, hatte der Inspektor gesagt, habe er keine Aussicht, in der Fabrik anzukommen. Die Zeit mußte ausgefüllt werden. In einem Schuppen auf dem Pfarrhofe wurde Holz gesägt und gespalten; er gesellte sich zu den Leuten und schaffte mit aus Leibeskräften, der Schwielen in den Händen und der Schmerzen im Rücken und in den Schultern nicht achtend. Er ging des Abends zu dem alten Anders und ließ sich von ihm die Arbeit in der Fabrik wieder und wieder schildern; er bat einen jungen Mann, der in dem technischen Bureau als Chemiker fungierte, ihm Bücher zu leihen, aus denen er sich wissenschaftlich unterrichten könne. Der junge Mann gab sie ihm, aber sie halfen ihm nicht viel. Die Mathematik war immer seine schwächste Seite gewesen, und auch sonst fehlte es ihm überall an den nötigen Vorkenntnissen. Er tröstete sich, das alles würde besser werden, wenn er erst einmal dazu käme, das Ding praktisch anzufassen. Wäre doch nur erst die Zeit da!

Der gezwungene Aufenthalt in dem Pfarrhause wurde ihm von Tag zu Tag unheimlicher. Er hatte dem guten Pfarrer nichts von seinen Plänen gesagt, der auch nicht gefragt hatte, sondern in seiner Weise die Dinge gehen ließ, wie sie gingen. Von Unterrichtsstunden war nicht mehr die Rede, als ob Justus seine Gymnasial-, womöglich seine Studienzeit bereits hinter sich habe, und nur so zufällig zum Besuch auf der Pfarre sei. Ein Besuch, den Muhme Anna, je mehr er sich in die Länge zog, mit um so scheeleren Augen ansah. Sie ließ keine Gelegenheit vorübergehen, darauf anzuspielen, wie unanständig es von einem jungen und nun wieder gesunden Menschen sei, dem armen Pfarrer sein kärgliches Brot wegzuessen. Daß Justus ihr die paar hundert Mark, die bei dem Verkauf der Sachen seiner Eltern herausgekommen waren, gleich nach seiner Krankheit als Kostgeld übergeben hatte, schien sie vergessen zu haben.

Ließ sie es ihm gegenüber bei Anspielungen, so ging sie dem Pfarrer gegenüber offenbar mit der Sprache sehr viel deutlicher heraus. Justus hörte schaudernd durch die nicht eben dicken Wände ihr Gekeife und Gezetere. Wiederholt hatte er auf dem Punkte gestanden, das Anerbieten, das ihm der alte Anders gemacht, anzunehmen und zu diesem zu ziehen, hätte ihn nicht immer wieder das Mitleid mit dem guten Manne gehalten, der sich in seiner Hilflosigkeit dem bösen Weibe gegenüber an ihn klammerte wie ein Ertrinkender an den Balken, welcher ihn retten soll. Und hier war keine Rettung. Anders sagte es, der alte Arzt sagte es, er selbst sah es. Während Justus' Krankheit hatte der Unglückliche seiner Leidenschaft einigen Zügel angelegt, nachdem er ein paarmal im Rausch an dem Bett, an welchem er die Wache halten wollte, eingeschlafen war und kaum wieder hatte geweckt werden können. Jetzt schien er sich heimlich für die ausgestandene Entbehrung schadlos zu halten. Seine blutunterlaufenen Augen, seine lallende Zunge bezeugten es. Wieviel der Gram um seine verlorene Isabel dazu beitrug und beigetragen hatte, den Ärmsten in diese Tiefe des Verderbens zu ziehen, wer mochte es ermessen? Justus allein wußte, welcher Liebe dies arme einfältige Herz fähig war, und konnte ahnen, was es um seine Liebe für das schöne undankbare Kind gelitten hatte. Nicht mehr litt. Er war zu stumpf geworden. Bereits hatte ihm ein Adjunkt beigegeben werden müssen, da er seine geistlichen Pflichten nicht mehr zu erfüllen vermochte, und, nachdem ein höherer Geistlicher zur Revision dagewesen, war von Breslau das Dekret gekommen, daß der Pfarrer Szonsalla zu Ostern von seinem Amte suspendiert sei.

Ich habe es längst kommen sehen, sagte er in einem lichteren Augenblicke zu Justus; mich wundert nur, daß sie so lange gewartet haben. Gott sei gedankt, daß sie nicht mehr hier und Zeugin meiner Schande ist! Nur um Dich armen Jungen thut es mir leid. Ich hatte es gut mit Dir im Sinne. Du glaubst mir es, und wirst mir nicht über das Grab hinaus zürnen, daß ich mein Wort nicht habe halten können. Ach, mein lieber Sohn, der Geist ist ja wohl willig; aber das Fleisch! Das ist so schwach, so schwach! Ach, Justus, und wie sehr habe ich das Kind geliebt! Und, Justus, wenn sie uns auch verlassen hat, verlasse Du sie nicht! Wer weiß, wie es noch einmal an ihr heimgesucht wird! Dann stehe Du zu ihr, und Gottes reichster Segen über Dich!

Dabei hatte er Justus umarmt und an seiner Brust geweint wie ein Kind.

Und wie eines Kindes war der Ausdruck seiner Züge, als man ihn am nächsten Morgen tot im Bett fand. Der Tod hatte die Verwüstung von seinem Antlitz weggewischt; es war schön und edel, wie es aus den Händen der Natur hervorgegangen war.

Ein Schlagfluß! sagte der alte Arzt. Und, fügte er hinzu, er selbst hätte sich nichts Besseres wünschen können.


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