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Frau Regine seufzte leise in sich hinein. Sie that das nie, wenn ihr Emerich an den Dirigentenpult trat und mit dem Taktstock aufklopfte, oder seine Geige unter das rundliche Kinn schob und den Bogen zum ersten Strich hob – sie wußte: die Symphonie würde meisterlich dirigiert, tadellos heruntergespielt werden; kein leisestes Piano auf dem untersten Ende der E-Saite mißglücken. Nicht, daß sie im stande gewesen wäre, es zu beurteilen! oder auch nur den mindesten Anspruch auf Kritik gemacht hätte! Ihre Zuversicht ruhte einmal auf dem festen Grunde des unbedingten Glaubens an das Genie ihres Emerich, und das andere Mal auf dem tosenden, nicht enden wollenden Applaus, den jede seiner Leistungen unweigerlich entfesselte.

Nur wenn ihr geliebtes Genie sich zu einer seiner Tischreden erhob, die für ihn einen anlockenden Zauber hatten, dem er blindlings folgen mußte, dann seufzte Frau Regine, leise zwar in sich hinein, aber sie seufzte.

Denn hier wußte sie nicht minder gewiß, daß er von dem einen in ein völlig anderes geraten, zuletzt die Pointe nicht finden und zum Schluß irgend etwas oder irgend wen hochleben lassen würde, an das oder an den, als er zu reden anhub, seine Seele nicht gedacht hatte.

Freilich heute abend und in diesem Augenblick konnte er sich der Pflicht zu reden nicht wohl entziehen; konnte den prachtvollen Toast, den Freund Arnold in dem bei ihm gewohnten, melodisch dahinrauschenden Strom der Rede auf sie, das Geburtstagskind, bereits vor einer halben Stunde ausgebracht hatte, nicht länger unerwidert lassen.

In dem Moment aber, als Emerich, nachdem er dreimal in streng abgemessenen Intervallen an das Glas geklopft, sich von seinem Stuhl aufrichtete und Frau Regine seufzte, waren sich auch zwei Augenpaare über den Tisch herüber in einem verständnisinnigen, halb lachenden, halb verzweifelten Blick begegnet: Astrids und Stellas. Sie hätten darauf schwören können, daß jetzt einer jener ihnen fürchterlichen, von Astrid »historische« benannten Toaste folgen würde, in denen Emerich in Erinnerungen schwelgte, die für alle andern, außer für ihn, von zweifelhaftem Interesse waren, um dann auf den gegenwärtigen Stand der Dinge zu sprechen zu kommen, was sehr interessant gewesen wäre, nur daß es noch ein gut Teil peinlicher als interessant zu sein pflegte. Und so rollte denn das Progamm in der gefürchteten Weise ab. Als Introduktion bekam die kleine Gesellschaft zu hören, was ein jeder – mit Ausnahme etwa des jungen Malers Willibald und des noch jüngeren Dichters Alfred – längst wußte.

Er, der Redner, und seine beiden hier anwesenden Busenfreunde Arnold und Eilhardt waren nicht nur gleicherweise Kinder dieser guten alten Stadt, sondern in demselben Stadtviertel geboren; in derselben Kirche an einem und demselben Sonntage getauft; in derselben Klippschule in die Geheimnisse des Abc und des Einmaleins eingeweiht. Um dann in demselben Gymnasium in denselben Klassen zu sitzen, Arnold freilich immer auf der ersten Bank, während er und Eilhardt auf einer der letzten sich behaglicher fühlten. So behaglich, daß, als sie die Quarta mit Mühe und Not absolviert hatten, der verständige Direktor den respektiven Vätern riet, die Jungen aus der gelehrten Schule zu nehmen, wohin sie ein für allemal nicht gehörten, und sie ein ehrbares Handwerk lernen zu lassen. Das hatte den Vätern eingeleuchtet als ehrbaren Handwerkern, die sie selber waren; und Eilhardt war seines Vaters, des Stubenmalers, Lehrling geworden, wie er seines, des Paukenschlägers in dem Orchester des Vorstadttheaters; während Arnold, der Küstersohn, Schulprämien auf Schulprämien häufte, summa – oder hieß es summo? – cum laude sein Abiturientenexamen machte und nach Leipzig, wo man ihm ein Stipendium ausgemittelt hatte, auf die Universität zog. Um dieselbe Zeit, als auch sie in die weite Welt gingen: Eilhardt, bei dem sich inzwischen aus dem Stubenmaler ein Kunstmaler entpuppt hatte – ebenfalls mit einem Stipendium – nach Italien; er, der sich mittlerweile zur ersten Sologeige hinaufgefiedelt, nach Wien an die kaiserliche Oper. Nun lange, lange Jahre der Trennung, bis sie, die als Jünglinge ausgezogen waren, zur Vaterstadt heimkehrten als gereifte Männer, welche es in ihrer Wissenschaft oder Kunst immerhin zu etwas gebracht hatten: Arnold zum Professor der deutschen Litteratur an dem Polytechnikum, Eilhardt zum Direktor der Malerakademie, er zum ditto des Konservatoriums.

Als Emerich so weit gekommen war, machte er eine kleine Kunstpause, die er dazu benutzte, einen tüchtigen Schluck Sekt zu nehmen und umherzulächeln mit dem unverkennbaren Ausdruck innerlichster Befriedigung über seine oratorische Leistung. Es war auch wirklich bis hierher alles überraschend gut gegangen; einige Episoden hätten kürzer sein können und das Detail war manchmal etwas zu üppig ins Kraut geschossen; aber, mochte man die Form bemängeln, an der Sache selbst ließ sich nichts aussetzen, außer daß sie niemand etwas Neues gebracht hatte.

Dies alles wohl erwogen, hatte Regine, während ihr genialer Emerich behaglich sein Glas leerte, alle Ursache, erleichtert aufzuatmen: war doch die Hälfte glücklich überstanden! Aber auch Astrid und Stella wußten, weshalb sie hier abermals einander in die Augen blickten, die nicht einmal mehr humoristisch zwinkerten: es kam des Weges zweite Hälfte: nicht weiter über ein glattes Meer, auf dem sich das Schifflein des Redners behaglich schaukeln mochte, nein! über eines, das von spitzigen Klippen starrte und in welchem Abgründe klafften, die deshalb nicht minder bodenlos waren, weil besagtes Schifflein über sie ahnungslos dahinglitt.

Und doch war der Uebergang zu dem zweiten Teil nicht so uneben; man hätte ihn fast geistreich nennen können.

»Bis zu dieser unserer Wiedervereinigung nach der bösen Trennung schier endlosen Jahren,« fuhr Emerich fort, »darf man ohne Ueberhebung sagen: wir drei Freunde verdankten unsere Erfolge, nächst Gottes gnädigem Beistand, dem eigenen Talente, dem eigenen Fleiße, ohne welchen letzteren freilich auch das größte Talent null und nichtig ist. Von da ab aber hat Fortuna selbst unsere Sache in die starken Hände genommen. Schon unsere Wiedervereinigung würde ich einen Glücksfall allerersten Ranges nennen müssen, wenn er nicht von einem alsbald darauf folgenden in tiefen Schatten gestellt würde: dem, daß wir drei, von denen jeder sein vierzigstes Jahr hinter sich hatte, drei gleich junge, schöne, liebwerte Mädchen fanden, willig, uns aus dem leidigen Junggesellenstande zu erlösen und zu der Würde von Ehemännern zu erheben, ja, ich möchte sagen: in den Himmel der Ehe zu entrücken. Einen Himmel, dem Gottes Güte bereits auf Erden eine Stätte bereitet hat. Denn, wenn jemals, so hat sich hier das alte schöne Wort bewährt, daß die Ehen im Himmel geschlossen werden. Nur des Himmels Schluß kann es gewesen sein, der dem ausgezeichneten Literarhistoriker, Schriftsteller und Dichter eine geniale Dichterin; dem hochberühmten Maler eine geniale Malerin zur Gesellin gab. Und wenn er mir, dem Musiker, eine Gefährtin zuteilte, die von sich behauptet, daß sie nicht Mozart von Beethoven unterscheiden könne, so muß ich das letztere Manko freilich zugeben; aber nicht mit Leidwesen. Denn jene Musik, von der Shakespeare sagt, daß jeder gute Mensch sie in sich selbst habe, – die besitzt sie im eminenten Sinne: die Musik einer Seele, deren Harmonie durch keinen Mißklang jemals getrübt wird.

Fühle ich mich nun so und darf mich den Freunden an Glück ebenbürtig fühlen, habe ich vielleicht noch eines vor ihnen voraus als der Bekenner einer Kunst, welche, wie der Ocean der Vater alles Gewässers auf Erden, so die große Mutter aller Künste füglich genannt werden muß: die Mutter, von der sie alle geboren sind und zu der sie alle wieder zurückstreben, wie in dem Wald verlaufene Kinder zu dem Elternhaus. Etwas der Art haben die kunstsinnigen Menschen aller Zeiten wohl geahnt; aber die träumende Ahnung zur wundersamsten Wirklichkeit zu machen, ist ihm vorbehalten gewesen, der die verschmachtenden Wurzeln der Poesie und Malerei aus dem unerschöpflichen Bronnen der unendlichen Melodie tränkte und so das Kunstwerk der Gegenwart schuf, das auch das für alle Zukunft bleiben wird: der unsterbliche Meister von Bayreuth, der Michelangelo der Musik: Richard Wagner! Und zu seinen Ehren bitte ich meine lieben Freunde und Gäste die Kelchgläser zu füllen und zu leeren unter dem Ruf: Richard Wagner lebe hoch!«

Wie verschiedenartig die Empfindungen sein mochten, welche der Toast in den Gemütern der Zuhörer erweckt hatte, in dem aufatmenden Gefühl der Freude, daß er endlich zu Ende war, begegneten sich alle. So durfte der Redner mit dem Erfolge wohl zufrieden sein: Gläserklingen, lächelnde Gesichter; keines glückseliger lächelnd als das seiner geliebten Regine, deren Urteil über seine oratorischen Leistungen für ihn ausschlaggebend war, ja, für die er eigentlich immer allein sprach, ahnungslos der Ängste, welche die Gute während seiner Reden ausstand.

Nun aber wollte zu seinem Bedauern die Gesellschaft, nachdem sie sich einmal vom Tisch erhoben, nicht wieder Platz nehmen: es sei spät geworden und der Nachhauseweg weit. Beides ließ sich nicht in Abrede stellen: ein Uhr war vorüber, und die beiden bescheidenen Villen, welche sich die Freunde Arnold und Eilhardt nachbarlich auf gemeinschaftliche Kosten erbaut hatten, lagen weit ab vom Centrum am äußersten Ende einer lang sich streckenden Vorstadt. So währte es denn kaum noch ein Viertelstündchen, und die freundlichen Gastgeber waren wieder allein.

Das erste, was Emerich that, als sich die Thür hinter den Gästen geschlossen, war, seine Regine zu umarmen und zu erklären, daß dies der glücklichste Tag seines Lebens sei – eine Versicherung, welche, in Anbetracht ihrer fast täglichen Wiederholung, ein skeptischeres Gemüt als das Regines hätte stutzig machen können. Sie aber lächelte ihr Genie nur zärtlich an und erwiderte: »Ja, Emerich, wir sind glückliche Menschen. Es fehlt nur noch eines.«

»Ach was!« sagte Emerich. »Alles kann man nicht haben: Arnold und Astrid haben auch keine. Und dann: wenn wir welche hätten, um diese Stunde wären sie doch jedenfalls in den Betten und wir beide gerade so allein, wie wir jetzt sind. Und höre, Regi, was ich fragen wollte, wie fandest du meinen Toast? Aber aufrichtig, Schatz! aufrichtig!«

»Du hast wundervoll gesprochen.«

»Nicht wahr? Ich hatte, ehrlich gesagt, auch ganz das Gefühl. Und dann der Schluß! Na, dir darf ich es ja gestehen: ich wollte ursprünglich die beiden Freunde und die Freundschaft im allgemeinen leben lassen. Ich weiß nicht, wie ich dann auf Wagner kam. Aber mir deucht: es machte sich brillant.«

»Ganz großartig!«

»Siehst du! siehst du! Ich sage ja: ich hätte in unseren Landtag gemußt, womöglich in den Reichstag nach Berlin. Arnold spricht auch recht gut; aber man weiß immer gleich im Anfang, worauf er hinaus will. Das ist nicht das Rechte. Meinst du nicht?«

»Gewiß. Keiner darf ahnen, welches der Schlußaccord sein wird.«

»Schlußaccord! Bravo! bravissimo! Und da behauptet die kleine Frau, sie sei nicht musikalisch! Lächerlich!«

* * *

Der Maler Willibald und der Dichter Alfred wohnten nicht in der Vorstadt. Aber die Sommernacht war so schön; nach der langen Sitzung bei den schweren Weinen ein Spaziergang so großes Bedürfnis – ob die Herrschaften verstatteten, daß man sie noch ein Stückchen begleite?

Die Herrschaften waren aber nur noch Astrid und Stella, da ihre Männer bereits eine gute Strecke voraus waren; und die Damen hatten nichts dagegen. So bot denn Willibald Stella den Arm, der bereitwillig angenommen wurde. Desgleichen Alfred Astrid, nur daß Astrid dankend ablehnte: sie gehe nicht gerne untergefaßt. Alfred war es zufrieden: eine Dame, die einen halben Kopf größer ist, als man selbst, führt sich immer schlecht.

Man hatte bald die Vorstadt erreicht, wo die Schönheit der Sommernacht eigentlich erst zur Geltung kam. Ein beinahe voller Mond goß von dem wolkenlosen Himmel ein mildklares Licht herab, in welchem hier der Giebel, dort die ganze Fassade einer Villa hell heraustraten aus dem bläulichen Schatten, der unter den hochstämmigen Bäumen, zwischen den dichten Bosketts dämmerte. Kein Lüftchen regte sich; kein Laut außer dann und wann eine verschlafene Vogelstimme, die alsbald wieder schwieg. Der Promenadenweg an den Eisengittern der Vorgärten hin war völlig verlassen; in der geisterhaften Stille hätte man leise sprechen müssen, auch wenn das, was gesprochen wurde, nicht, wie es hier der Fall, nur für den bestimmt war, mit dem und zu dem man sprach.

»Wie steht es mit der Reise nach Paris, gnädige Frau?« sagte Willibald, der mit Stella das letzte Paar bildete. »Hat der Herr Professor endlich klein beigegeben?«

»Er denkt nicht daran,« erwiderte Stella, »weniger als je.«

»Aber er macht sich zum Mörder Ihres wundervollen Talents!«

»Sagen Sie das einem, der an das wundervolle Talent überhaupt nicht glaubt!«

»Das ist unmöglich, gnädige Frau. Wie verrannt – Sie verzeihen mir das harte Wort! – Ihr Herr Gemahl in seine sogenannte Klassizität ist – Ihr Talent zu leugnen ist einfach eine Sünde gegen den heiligen Geist – der Kunst, meine ich.«

Stella lachte: »Als ob Sie überhaupt an einen anderen glaubten!«

»Da haben Sie freilich recht; aber einer ist auch genug. Und mein Jammer ist, daß Sie an diesen einen nicht glauben und aus dem Glauben den Mut zu einem raschen Entschlusse schöpfen.«

»Zu welchem?«

»Durchzubrennen! Einfach durchzubrennen!«

»Sie sind nicht recht gescheit: eine verheiratete Frau und Mutter von zwei Kindern!«

»Und wenn es sechs wären! In Paris, und nur in Paris, können Sie Ihr Ziel erreichen und werden, was zu werden Sie geboren sind. Ich spreche aus Erfahrung. Was war ich, als ich vor vier Jahren dorthin ging? Der Schüler Ihres Gemahls, das heißt: eine Raupe, die von Leinwand zu Leinwand kroch, jede mit einem grauem Gespinst überziehend, das sich für Kunst ausgab, während es doch nichts war als elendeste Schablonenarbeit, an Wert nicht höher als die Pinselei des ehrenwerten Stubenraphael, von dem unser Wirt vorhin in seinem schauerlichen Toaste so pietätvoll sprach. Eine Woche, nur eine Woche in Paris, und die Schuppen fielen mir von den Augen. Als hätte sie unser Herrgott gestern erst erschaffen, stand die Welt vor mir in Farben von einer Frische, einer Leuchtkraft, wie ich sie in meinen glänzendsten Träumen nicht gesehen! Und nun Sie, die das alles längst schon geträumt – was sage ich – aus diesen Träumen Wirklichkeiten zu machen versucht, bereits gemacht, nur noch einen Schritt haben, das höchste Ziel zu erreichen, und diesen einen Schritt nicht thun wollen – ich verstehe es nicht – ich könnte darüber rasend –«

»Verzeihen Sie!« sagte Stella; »ich möchte ein wenig allein gehen.«

Ihr Herz hatte, je länger der junge Mann sprach, immer heftiger zu klopfen begonnen. Sie mußte fürchten, daß er, der ihren Arm und mit dem Arm sie selbst immer näher an sich zog, ihre Erregung merkte und dann sicher in einer mehr für ihn schmeichelhaften als ihr selbst liebsamen Weise deutete.

»Ich habe Sie gekränkt, gnädige Frau,« sagte er, nun einen halben Schritt von ihr entfernt, neben ihr herschreitend.

»Wodurch?« erwiderte sie. »Kann es jemand kränken, wenn ein anderer, ohne jeden egoistischen Nebengedanken, seine Ueberzeugung ausspricht? Daß Sie sich für mein Talent, für meine künstlerische Zukunft ehrlich interessieren, daran kann ich ja gar nicht zweifeln. Und ich würde auch in Paris sicher Ihres Rates, Ihrer Hilfe nicht entbehren.«

»Aber selbstverständlich!« erwiderte er lebhaft. »Sie wissen, ich bin nur hier, um meine Bilder bei der Ausstellungskommission durchzudrücken, was, wie Sie wissen, gar kein leichtes Geschäft war. Aber damit bin ich jetzt fertig, und sonst hält mich nichts auf der Welt hier. Im Gegenteil! schon seit einer Woche stehe ich jeden Tag auf dem Sprunge. Und wenn nun gar Sie – Sie –«

»Lassen Sie uns etwas rascher gehen! Die anderen müssen meinen, wir hätten uns wunder welche Geheimnisse mitzuteilen. – Astrid, lauf doch nicht so!«

Astrid und ihr Begleiter standen still, die Nachzügler herankommen zu lassen: Alfred sehr unwillig über die Störung, Astrid froh, ein Gespräch abbrechen zu können, das zuletzt denn doch eine bedenkliche Wendung genommen hatte.

Auch hier war es der junge Mann gewesen, der, nachdem man eine Zeit lang schweigend nebeneinander hingegangen war, die Unterhaltung begann:

»Darf ich fragen, gnädige Frau, ob Sie Ihrem Herrn Gemahl meine Gedichte gegeben haben?«

»Sie verlangten es.«

»Er hat sie gelesen?«

»Gewiß, da ich ihn darum bat.«

»Und sein Urteil?«

»Wollen Sie es wörtlich haben?«

»Gerade das.«

»Goethe und Schiller können sich glücklich preisen, dies nicht mehr erlebt zu haben.«

»Als ob ich es nicht gewußt hätte!«

»Weshalb mich dann in die Verlegenheit setzen?«

»Ich will es Ihnen sagen. Sie hatten die Güte, meine Gedichte ausgezeichnet zu finden; Sie nannten sie sogar bewundernswert. Von Ihren eigenen Sachen: Ihrem prachtvollen letzten Roman sogar, denken Sie gering und behaupten, in Zweifel zu sein, ob das verwerfende Urteil des Herrn Professors nicht doch das richtige sei. Jetzt ist dieser Zweifel gehoben; jetzt kann Ihnen sein Urteil nicht mehr gelten, als das des Patriarchen im Nathan: Der Jude wird verbrannt. Jetzt kämpfen Sie nicht mehr für Ihre Person; jetzt kämpfen Sie für die Sache. Für seine Person darf man Konzessionen machen; für die Sache – niemals!«

»Was verstehen Sie unter der Sache?«

»Wie sonderbar Sie fragen! Unsere Sache, die Sache von uns jungen Leuten allen, die wir nicht ersticken wollen in dem verrottenden Sumpf des alten Schlendrians, wie er sich in der Poesie und in jedweder Kunst breit macht; die wir keinen Respekt mehr haben vor Scheinwerten, seien sie auf dem gelehrten Markt noch so hoch normiert, sondern sie umsetzen wollen in wahre Werte. Und es für schimpflich halten, den verstaubten und zermürbten Hausrat unserer Väter hinüberzuschleppen in das neue Jahrhundert. Das wäre Ihre Sache nicht auch?«

»Ja, ja! Aber sprechen Sie bitte nicht so laut!« Und Astrid deutete auf die Gestalten ihres Gatten und seines Freundes, die etwa fünfzig Schritte vor ihnen wandelten, bald im Schattendunkel, bald in hellem Mondlicht.

»Ihre Sache,« fuhr der junge Mann fort, jetzt seine scharfe Stimme vorsichtig dämpfend, »ist es sogar früher gewesen als die meine. Ich kasteiete noch auf der Universität jahrelang mein Gewissen, weil mir mittlerweile denn doch schon einige Zweifel gekommen waren an der allein seligmachenden Kraft der sogenannten Klassiker alter und neuer Zeit, als Sie, wie Sie mir erzählt haben, bereits mit dem ganzen Trödel gründlich aufgeräumt hatten. Freilich, Sie waren in zweifacher Beziehung besser daran als ich: man knebelt Sinn und Verstand der Mädchen ja auch, aber doch nicht ganz so brutal wie bei uns Jungen. Sodann: Sie sind eine Dänin –«

»Nur von Mutterseite.«

»Und tranken so mit der Muttermilch die Liebe zur Natur: zu dem, was ist; und den Haß gegen die Unnatur: gegen das, was nur so thut, als ob es etwas sei. Sie wuchsen nicht auf unter der grauenhaften ästhetischen Depression des Goethe-Schiller-Fetischismus. Wenn nicht an Ihrer Wiege, so doch um den Schauplatz Ihrer Mädchenspiele standen die lebensvollen Gestalten eines Ibsen, Björnson, Arne Garborg. Sie haben mir erzählt, wie Sie mit Dostojewskis Raskolnikow auf Ihr Kämmerlein geschlichen sind, um beim spärlichen Licht Ihres Lämpchens die wundersamste und zugleich wahrste aller Geschichten zu lesen.«

»Es waren schöne Zeiten,« sagte Astrid leise vor sich hin.

»Und sie können wieder kommen, werden wieder kommen, warten ja nur auf Sie. Nur auf den Moment, wo Sie mit einem Ruck die Fesseln brechen, in die sich Ihre freigeborene Seele niemals hätte schlagen lassen sollen; nur schlagen lassen konnte, weil Sie sich selbst vergessen hatten und was Sie sich schuldig waren. O, gnädige Frau, wenn ich etwas über Sie vermöchte; wenn der Genius, der mir über die Schulter blickte, als ich meine Gedichte schrieb, und dessen Antlitz Ihre himmlisch schönen, geliebten Züge trug –«

»Still!« flüsterte Astrid mit fliegendem Atem. »Sie sind dicht hinter uns. Und kein Wort mehr! Nein, nein! Nicht heute und nie wieder – nie!«

Die junge Frau hatte sich auf den Zuruf Stellas, der hinter ihnen ertönte, rasch gewandt.

»Wir laufen gar nicht; nur ihr kriecht wie die Schnecken. – Arnold!«

»Eilhardt!« sekundierte Stella, die jetzt mit Willibald herangekommen war.

Die beiden Rufe klangen beklommen, fast ängstlich. Kein Wunder, daß die voranschreitenden Gatten sie nicht hörten.

Freilich auch nicht gehört haben würden, hätten die Damen lauter gerufen. Man konnte, wenn auch Arnolds stattliche Gestalt sich ruhig weiter bewegte, aus des bedeutend kleineren und schmächtigeren Eilhardts lebhaften Gestikulationen leichtlich abnehmen, daß es sich in ihrem Gespräch nicht um gleichgültige Dinge handelte.

»Dann verstehe ich schließlich nicht, weshalb du sie geheiratet hast!« rief Eilhardt.

»Nach deinen eben gehörten Jeremiaden hätte ich mindestens das Recht, die Frage, die in deinem Ausruf liegt, zurückgegeben,« erwiderte Arnold.

»Jeremiaden, lieber Freund, scheint mir denn doch ein etwas starker Ausdruck für die Sorge, die ich mir um Stellas künstlerische Zukunft mit Fug und Recht mache. Das – ich meine: unsere allerdings in letzter Zeit unbequem lebhaft hervortretenden und sich äußernden Meinungsverschiedenheiten in künstlerischen Dingen – das hat mit unserem ehelichen Leben – unserer Liebe, wenn du willst – schlechterdings nichts zu thun – schlechterdings nichts. Während ich aus deinen Reden in der That schließen muß –«

»Ich habe, soviel ich mich erinnere, auch nicht ein Wort geäußert, das dich zu einem Schluß berechtigte, der für Astrid und mich so wenig schmeichelhaft ist.«

»Dann freilich habe ich dich völlig mißverstanden.«

»Es scheint so.«

Die beiden Männer machten schweigend ein paar lange Schritte. Plötzlich blieb Eilhardt stehen.

»Höre, Arnold!«

»Was?«

»Es war ein reichlich alberner Toast, den unser guter Emerich da vorhin verbrochen hat. Ich pfeife auf seine unendliche Melodie. Unendliche Melodie! unendlicher Unsinn! Der liebe Gott mag sich in unendlichen Melodien wiegen; wir armen Teufel von menschlichen Künstlern müssen heilfroh sein, wenn wir eine – eine zur Zeit meine ich – fertig kriegen, ohne daß uns der Atem darüber ausgeht. Aber das wollte ich nicht sagen. Womit fing ich doch an?«

»Mit Emerichs Toast.«

»Ja so! Ich wollte sagen, in einem hatte er doch recht. Wir – ich spreche jetzt nur von uns beiden – sind Freunde von den ersten Hosen an – geschworene Freunde auf Tod und Leben. Da ist es denn gar nicht schön von uns, als alte Knaben, die wir nun geworden sind, miteinander Versteckens zu spielen, wie wir es eben gethan haben.«

»Ich wüßte nicht, daß ich –«

»Laß mich aussprechen! Wie darf ich von dir Offenheit erwarten, wenn ich mit der Wahrheit hinter dem Berge halte? dir einreden möchte, daß ich mich kreuzwohl in meiner ehelichen Haut fühle, während – na, in Kuckucks Namen, wirst du mich nun endlich verstanden haben?«

»Ich habe dich von Anfang an verstanden,« sagte Arnold dumpf.

»Na also!«

Wieder machten die Freunde ein paar Schritte schweigsam, bis Eilhardt, diesmal ohne stehen zu bleiben, mit einem tiefen Seufzer abermals begann:

»Es ist unbegreiflich! Wesen, sie beide, wie für uns geschaffen! Unsere Lieblingsschülerinnen! Stella, die ich mir herangebildet, überhaupt erst zu etwas gemacht habe! Deine Frau, die an dir hinaufsah wie zu einem der ewigen Götter! Und jetzt! Du weißt – vielmehr: du weißt nicht – du bist ja schon seit Wochen nicht in meinem Atelier in der Akademie gewesen –«

»Ich stak so tief in der Arbeit –«

»Natürlich. Also ich habe von den vier großen idealen Landschaften für das Hamburger Museum – ich erzählte dir davon –«

»Ich erinnere mich –«

»Die Kartons zu dem Frühling und Sommer fertig. Stella war während meiner Arbeit gelegentlich ab- und zugegangen, wenn sie gerade einmal in der Stadt zu thun hatte, ohne ein Sterbenswort zu sagen. Heute vormittag, ich hatte eben den letzten Strich an dem Sommer gemacht, kommt sie wieder herein – notabene: nur einer Wirtschaftsfrage wegen. Ich antworte. Sie will zur Thür hinaus, ohne einen Blick auf meine Kartons geworfen zu haben. Das ging mir denn doch über den Spaß. ›Nun?‹ sage ich. ›Was?‹ sagt sie. ›Wie findest du es?‹ Sie dreht den Kopf halb um, sieht sich die Geschichte den tausendsten Teil einer Sekunde an und sagt, über die Schulter, so zwischen Thür und Angel, weißt du: ›Frühling und Sommer – sehr schön! Hüte dich nur vor dem dritten!‹ ›Vor welchem dritten?‹ ›Davor, daß die Langeweile bleibt!‹ Und 'raus ist sie. Was sagst du dazu?«

» Solamen miseris –« murmelte Arnold.

»Was ist das?«

»Ein Wort Vergils: Leidgenossen gehabt zu haben, sei ein Trost im Leiden.«

»Kurioser Trost das! Oder hättest du eine ähnliche Erfahrung gemacht?«

Arnold kämpfte mit seinem Stolz, ob er dem Freunde gestehen solle, daß er vor einigen Tagen nicht nur Aehnliches, sondern das Gleiche erfahren, wenn es nicht noch schlimmer und herzkränkender war. Er hatte Astrid eine Novelle, an der er längere Zeit gearbeitet und welche er eben beendet hatte, übergeben mit der Bitte, sie zu lesen und ihm ihr Urteil zu sagen. Nach ein paar Stunden, die er in gespannter Erwartung zugebracht, war sie in sein Zimmer gekommen, hatte das Manuskript neben ihm auf den Arbeitstisch gelegt und sich schweigend wieder entfernen wollen, genau so, wie Stella aus Eilhardts Atelier. Und genau wie Eilhardt hatte er gefragt: »Nun?« Und genau so wie Stella – zwischen Thür und Angel – sie geantwortet: »Lobe ich deine Novelle, lüge ich; tadle ich sie, ärgerst du dich; lügen kann ich nicht; ärgern will ich dich nicht. Also schweige ich.« – Und damit war sie zum Zimmer hinausgewesen.

Arnolds Herz krampfte sich zusammen, während mit Blitzesschnelle die Erinnerung der peinlichen Scene durch seine Seele fuhr. Und in Stellas Anspielung auf Schillers Wort über die Minnesänger war doch wenigstens Witz; überdies: so ganz unrecht hatte sie nicht; während Astrids Antwort, abgesehen von der Grausamkeit, nichts enthielt als bare, kahle Ungerechtigkeit. Und eine solche Demütigung sollte er eingestehen? Nimmermehr! Indessen das Solamen miseris, das ihm wider Willen entschlüpft war, wollte erklärt sein.

»Wie man es nehmen will,« erwiderte er mit gespieltem Gleichmut. »Ich habe mich allerdings daran gewöhnen müssen, aus Astrids Mund – im Gegensatz zu früher – über meine Produktionen hin und wieder ein zweifelndes, vielleicht gar tadelndes Wort zu hören. Woraus ich aber nur den Schluß ziehe, daß sie mit meinen größeren dichterischen Zwecken nicht in demselben Maße gewachsen ist.«

»Sehr bequem!« brummte Eilhardt.

»Bitte: nur in der Ordnung. In der Dichtkunst giebt es sehr verschiedene Höhengrade, und man kann von niemand verlangen und erwarten, er werde, oder vermöge höher zu steigen, als seine Kräfte ihn tragen.«

»So klar wie zwei mal zwei vier. Uebrigens tout comme chez nous,« brummte Eilhardt.

»Nicht so ganz, jedenfalls nicht hinsichtlich der Kritik, um die es sich doch hier in erster Linie handelt. Die Poesie lebt und webt in dem Unsichtbaren; in einer Welt von Gedanken und Empfindungen, die sich nur dem Denken, dem Gefühl erschließt; in Bildern, die nur des Geistes Auge sieht. Können Denken und Fühlen nicht mehr mit, ist es auch mit dem geistigen Schauen vorbei. Das ist Astrids Fall gegenüber meinen letzten poetischen Produktionen. Die Malerei lebt im Sichtbaren, vom Sichtbaren. Was da zu sehen ist, kann jedes wohlorganisierte Auge sehen und – beurteilen. Eure Kunst hat, so zu sagen, keine Geheimnisse. Wenn also deine Frau –«

»Nun wird's Tag!« rief Eilhardt. »Donner und Hagel! Ich hätte nicht geglaubt, aus deinem Munde so ein – so einen – na! ich kann den parlamentarischen Ausdruck – Keine Geheimnisse? die Malerei? tausend hat sie, hunderttausend so viele, daß man immer von neuem schwindelig wird, wenn man davor steht. Aber du sagst das ja auch nur, um mich zu ärgern.«

»Wüßte nicht, aus welchem Grunde.«

»Weil du recht gut weißt, daß ich auf die Schriftstellerei deiner Frau keineswegs so hochmütig herabsehe wie du.«

»Genau so, wie ich die Malerei deiner Frau besser zu würdigen weiß als du.«

»Nur daß ich in meinem Urteil hinsichtlich des Talentes deiner Frau keineswegs allein stehe.«

»Gerade so, wie ich in dem hinsichtlich des Talentes der deinigen.«

»Ich habe meiner Frau noch nie ein großes Talent abgesprochen!« rief Eilhardt heftig.

»Dasselbe kann ich vice versa von mir mit gutem Gewissen sagen,« erwiderte Arnold.

»Aber Stella ist auf einen falschen Weg geraten – einen niederträchtig falschen Weg.«

»Gerade wie Astrid,« gab Arnold zurück.

»Und der damit enden wird, daß ihr Talent vor die Hühner geht.«

»Ich trage mich mit der schwersten Sorge für Astrids schriftstellerische Zukunft.«

»Ein wahres Glück, daß der Mensch, der Willibald, nach Paris zurück will.«

»Du hältst seinen Einfluß auf Stella für schädlich?«

»Unbedingt. Der Mensch hat ja ein fabelhaftes Talent; aber verrückt, verrückt, verrückt!«

»Ganz wie Alfred.«

»Und zu denken, daß wir in beiden unsere eifrigsten Jünger sahen!«

»Gerade wie in unseren Frauen unsere hoffnungsvollsten Schülerinnen!«

»Man könnte rappelig darüber werden.«

»Es ist sehr traurig.«

Die beiden Freunde standen an den dicht nebeneinander befindlichen niederen eisernen Gitterthüren zu den kleinen Vorgärtchen ihrer unter einem gemeinschaftlichen Dach ruhenden kleinen Häuser; hatten beide gleichzeitig die Schlüssel hervorgeholt und waren zu gleicher Zeit mit dem Aufschließen fertig geworden. Jetzt zum erstenmal sahen sie sich nach den anderen um, die, nun zu einer Gruppe vereint, den mondbeschienenen Promenadenweg langsam heraufkamen.

» Avanti! avanti!« rief Eilhardt ungeduldig.

Und dann, sich wieder zu dem Freunde wendend, der gesenkten Hauptes drei Schritte von ihm vor der aufgeschlossenen Thür stand, leise, verlegen lächelnd: »Höre, Arnold!«

»Was?«

»Differenzen in der Kunstanschauung und der Technik und so weiter – die haben doch mit der Liebe absolut nichts zu thun. Meinst du nicht auch?«

Arnold hob den Kopf: »Dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen, ist die Quintessenz wahrer Freundschaft, sagt Sallust.«

»Ach, was verstand der alte Kerl davon! Ueberdies: hier handelt es sich nicht um die Freundschaft, sondern um die Liebe.«

»Freundschaft ist der Liebe bester Teil.«

»Weißt du, Alter: In dem Punkte denke ich anders. – Na, kommt ihr endlich?«

»Wenn ihr so rennt!« sagte Stella.

»Die Damen sind ganz außer Atem,« sagte Willibald, Stella einen Kragen, den er für sie getragen hatte, zurückgebend.

Eilhardt bemerkte von der Atemlosigkeit nichts. Wohl aber fiel ihm auf, daß die beiden Frauen und ebenso ihre Begleiter kreidig bleich aussahen mit einem leisen Stich ins Bläuliche. Zweifellos Wirkung des hellen Mondscheins. Dann aber mußte er in der »Zaubernacht«, die er für die Ausstellung bestimmt hatte, die Gesichter und Leiber der Elfen, welche über der Waldwiese im Reigen schwebten, entschieden heller machen. Sehr fatal! Die Bilder mußten übermorgen mittag spätestens eingeliefert sein, und die Uebermalung von einem halben Dutzend Gestalten war keine Kleinigkeit. Aber ehe er sich wieder »die braune Sauce« vorrücken ließ –

»Gute Nacht allerseits!« rief er, Stella hastig durch die Gitterthür schiebend, die er klirrend ins Schloß warf.

»Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Die beiden Ehepaare waren in ihren Häusern verschwunden; Willibald und Alfred traten den Rückweg zur Stadt an.

* * *

Es war ein langer Weg, der dadurch nicht kürzer wurde, daß keiner der jungen Leute ein Wort sprach, bis sie mit Hilfe eines späten Pferdebahnwagens, den sie auf der Hauptstraße der Vorstadt glücklicherweise antrafen, zum Platz am Dom gelangten, wo sie sich trennen mußten; Willibald hatte Atelier und Wohnung drüben in der Neustadt, Alfred hauste hier, nahe bei seiner Redaktion, in einer der engen Querstraßen.

Sie standen auf dem Pflaster, reichten einander die Hände und hatten bereits mit einem: »Gute Nacht!« – »Schlafen Sie wohl!« eine halbe Wendung zum Gehen gemacht, als Alfred sagte: »Das heißt: eigentlich könnten wir doch noch ein Glas Bier zusammen trinken.«

»Mir recht,« sagte Willibald. »Wo?«

»Das neue Café auf der Terrasse ist jedenfalls noch auf.«

»Meinetwegen.«

»Vorausgesetzt, daß Sie in der angenehmen Lage sind, für mich bezahlen zu können. Ich habe heute abend mein letztes Markstück als Trinkgeld und eben meinen letzten Nickel in der Pferdebahn ausgegeben.«

»Ich bin in der angenehmen Lage.«

» Dunque: andiamo!«

Ein paar Minuten später saßen sie in der Veranda des Café an einer geschützten Stelle, vor sich den breiten dunklen Strom, über welchen von den Lichtern der Brücke lange rötliche Streifen zu ihnen herüberzitterten. Der Mond war schon so weit nach Westen gerückt, daß sie ihn hinter sich hatten und nur seinen Wiederschein auf den hellen Wänden der langgestreckten Gebäude drüben am Ufer sahen. Ein verspäteter, Dampfer kam den Fluß herabgeschaufelt. Er mußte, eine heimkehrende Vergnügungsgesellschaft an Bord haben: Verdeck und Masten waren mit bunten Lampions ausgeputzt, zwischen und unter denen sich festlich gekleidete Menschen bewegten.

»Könnte man das nun malen?« sagte Alfred, mit einer Handbewegung über das nächtliche Bild hin, das sich vor ihnen breitete.

»Heute kann man alles malen, muß es können,« erwiderte Willibald. »Daß man es muß und kann, ist ja eben die Signatur des Impressionismus, unter dessen Zeichen wir augenblicklich stehen.«

»Wie lange wird der Augenblick dauern?«

»Wer kann's wissen? So viel ist sicher: in die Scheinkunst, die der brave Eilhardt mit heißem Bemühen treibt, werden wir nicht wieder zurückfallen. Die ist abgethan für immer – sacredié

»Wie die Sorte Poesie, die der wackere Arnold in seinen Gedichten und Novellen verzapft. Prost!«

»Prost!«

Die jungen Männer thaten einen tiefen Trunk aus den Seideln, die der Kellner eben vor sie hingestellt hatte, und rauchten eine Weile schweigend. Der Dampfer hatte an dem Quai angelegt; ein Teil der Vergnügungsfahrer – Damen und Herren – waren die Terrasse heraufgekommen, das vorhin beinahe leere Café mit plaudernden, lachenden Gruppen dicht besetzend.

»Die Leutchen haben sich entschieden besser amüsiert als wir uns heute abend,« sagte Alfred verdrossen.

»Ich weiß nicht,« erwiderte Willibald; »ich bin auf meine Kosten gekommen. Sie freilich –«

»Was meinen Sie?« fragte Alfred, den Kopf hebend und den Freund mit einem ärgerlichen Blick ansehend.

» Mon dieu, rien du tout!« erwiderte Willibald in gleichgültigem Ton, die Asche von seiner Cigarrette abschnellend. »Will sagen: gar nichts, wenn Sie mein offenes Geständnis beleidigt, daß ich Sie um Ihre flirtation mit der Arnold nicht ausschweifend beneide.«

»Und doch sollten Sie, als Maler, von Rechts wegen zu den Bewunderern ihrer Schönheit gehören.«

»Gebe zu: der alte Goethe würde davor Kopf gestanden sein: Juno Ludovisi und so weiter! Nein, mon cher, darüber sind wir denn doch jetzt, Gott sei Dank, hinaus. Sie etwa nicht?«

»Wenn ich ehrlich sein soll –«

»Ausnahmsweise –«

»Sparen Sie Ihre Sarkasmen! In einem Glashause wirft man nicht mit Steinen. Und das, in dem Sie wohnen, ist durchsichtig genug. Was gilt die Wette: die Eilhardt ist Ihnen nicht eine Linie höher ans Herz gewachsen, als mir die Arnold.«

»Verloren! Ich bin einen guten halben Kopf größer als Stella, während Sie um ebensoviel –«

»Sie wissen recht gut, was ich meine.«

»Natürlich weiß ich es, mais que voulez-vous? Wenn man unterwegs ist, nimmt man mit, was sich am Wege findet. Ich will nur noch die Eröffnung der Ausstellung abwarten und meinen Triumph über die Hammelherde hier einheimsen – dann geht's wieder nach Paris.«

»Mit Frau Stella?«

»Sie sind nicht recht gescheit.«

»Möglich. Aber ich erfreue mich sehr scharfer Ohren, und vorhin unterwegs erhoben sie Ihre süße Stimme ein paarmal so laut –«

»Daß Sie den Mut zu der zwanzigsten Liebeserklärung Ihres Lebens fanden.«

»Warum gerade zur zwanzigsten?«

»Langt es nicht?«

»Mein Gott, dergleichen zählt man doch nicht;« erwiderte der Dichter, an dem spärlichen blonden Schnurrbärtchen zupfend. »Uebrigens für eine junge schöne Frau immer noch der beste Trost in ihren Herzensnöten.«

»Sehr wahr! Nur daß es kein ganz ungefährliches Metier ist. Es sollen Fälle vorkommen, wo die Trostbedürftige den Tröster beim Wort nimmt.«

»Das wäre –«

»Des Teufels. Amen. Wir trinken doch noch ein Glas? Kellner!«

Frisches Bier war gebracht; die Freunde rauchten und tranken ein paar Minuten nachdenklich.

»Es ist eigentlich sehr wunderlich,« begann Alfred von neuem.

»Was?« entgegnete der Künstler, sich eine neue Cigarette anzündend.

»Sie erinnern sich, als ich vor vier Jahren hierherkam, hatte Eilhardt eben geheiratet. Sie waren, auf dem Sprunge nach Paris, nur noch hier geblieben, die Hochzeit mitzumachen. Sie schwärmten für die junge Frau, Ihre Mitschülerin; aber auch für den Professor, Ihren Lehrer. Sie sagten: das ist doch einmal eine Ehe nach dem Herzen Gottes! Bei Gott, das haben Sie gesagt! Ich weiß genau noch, wann und wo. Es fiel mir heute abend ein, als der Mann der unendlichen Melodie mit der ihm eigenen Bruststimme der Ueberzeugung das eheliche Glück der Freunde sang, und Sie mir einen Ihrer gräßlichen ironischen Blicke zuwarfen.«

»Der nur der scheinheiligen Miene galt, mit der Sie zuhörten.«

»Das beiseite. Mir, als Psychologen, geht die Sache wirklich im Kopf herum. Ich schätze in Ihnen einen scharfen Beobachter.«

»Sehr gütig.«

»Und der, wenn man ihm glauben darf, so viele Liaisons –«

»Bitte! keine Revanche!«

»Gehabt hat, daß er einige Erfahrung auf diesem Gebiet gesammelt haben muß.«

»Mit denen ich nicht zurückhalten will,« sagte der Künstler, seinen Henriquatre Oberlippen-Kinn-Bart. streichelnd. »Damit aber der Respekt, den Sie vor meiner Weisheit haben, oder zu haben vorgeben, ins Ungemessene wachse, muß ich den zu lösenden Knoten erst noch etwas fester schürzen. Also passen Sie auf! Die beiden heirateten sich vor vier Jahren, weil sie einander so ähnlich waren, und sie stehen jetzt auf dem Punkte, sich zu trennen – aus genau demselben Grunde.«

»Ich finde keine Spur von Aehnlichkeit!« sagte Alfred.

»Weil Sie nicht tiefer sehen! Die einzige Differenz, die ich Ihnen zugestehe, ist die der Jahre: er war vierzig, als sie heirateten, sie knapp zwanzig. Das spielt aber gar keine Rolle. Au contraire! ich möchte sagen: es ist im allgemeinen nur eine Garantie mehr für die Solidität der betreffenden Ehe. Aber im übrigen! Sind nicht beide die leichtlebigsten, lachlustigsten Menschen von der Welt? nicht jeden Augenblick bereit, auf den allergrößten Unsinn einzugehen? völlig gleich unfähig, ein steifstellig regelrechtes Leben zu führen? beide nicht, wie die Kinder, die nach allem, was glänzt, die Hände ausstrecken? Hände, durch deren Finger, wenn sie ausnahmsweise was haben, das Geld wie Quecksilber läuft? Lieber Freund, solche Aehnlichkeit mit einem anderen, wenn man mit dem anderen verheiratet ist – c'est plus fort que nous, das hält kein Mensch aus. Das fällt furchtbar auf die Nerven; wirkt grauenhaft, wie Doppelgängerei. Begreifen Sie das?«

»Sehr gut. Aber –«

»Lassen sie mich ausreden! Sie wollen sagen: aber was den Leutchen vor vier Jahren Zuckerbrot war, kann ihnen doch nicht auf einmal wie Galle schmecken. Auf einmal gewiß nicht; desto sicherer peu à peu, im Laufe der Zeit, vielleicht nicht einmal einer so gar langen. Ich war ja fern von Madrid, während die Geschichte spielte; dennoch mache ich mich anheimisch, die einzelnen Phasen der Metamorphose zu schildern, als wäre ich beständig zugegen gewesen. Apropos, ein ausgezeichnetes Thema für einen Romancier, das ich Ihnen dringend empfehle! Also zuerst närrische Freude an dem Spiegelbilde, das alle Faxen und Grimassen genau so macht, wie man selber. Was das amüsant ist! Immer vorher zu wissen, was der andere denkt, in der nächsten Sekunde sagen wird! Weil man selbst es denkt, selbst zu sagen in Begriff ist! A tempo zu lachen, a tempo zu weinen! Welch ein Zuwachs zu der eigenen Existenz! Die reine Verdoppelung! Dahinrollen in einem Wagen, dessen Gummiräder jeden Stoß abfangen! Bis – ja! bis man in all der Molligkeit sanft einschläft. Es soll Eheleute geben, die das ganz gut vertragen und bis an ihr seliges Ende so weiter schlafen. Mein braver Professor ist vielleicht von der Sorte; Frau Stella schuf die Natur aus anderem Stoff – Gott sei Dank! Für sie kam der Augenblick des Erwachens; der Augenblick, wo sie sich darauf besann, daß sie denn doch etwas für sich selbst bedeute, doch etwas mehr als ein Echo ihres Mannes sei, und ebensowenig ein Echo zum Mann haben wolle. Dies war die differenzierende Krisis. Wie sie zum faßlichen Ausdruck bringen für sich selbst und für die anderen – welches zweite Item in diesem Falle eine fast noch größere Rolle spielt als das erste? Sehr einfach: der Schlag mußte da geführt werden, wo er den Gegner – denn zu dem war der brave Gatte mittlerweile avanciert – am tödlichsten traf: auf dem Gebiete der gemeinschaftlichen Kunst. Hier waren die Gefolgschaft, die Abhängigkeit, die Sklaverei der sogenannten Seelengemeinschaft am größten gewesen – hier mußte die Revolution ausbrechen. Hatte sie vorher Landschaften gepinselt à la Rottmann, Preller, Schirmer Carl Rottmann (1797-1850), deutscher Landschaftsmaler; Friedrich Preller (der Ältere; 1804-1878), Maler, Radierer und ab 1844 Professor an der Fürstlichen freien Zeichenschule in Weimar; Philipp Schirmer (1810-1871), deutscher Landschafts- und Porträtmaler der Düsseldorfer Schule. e tutti quanti, wie der wackere Eilhardt; und war es ihr Triumph gewesen, daß man die beiderseitigen Platitüden kaum noch unterscheiden konnte, mußte sie sich jetzt auf Genre und Porträt werfen. Und so war ihr nicht minder plötzlich die Bedeutung des Freilichtes aufgegangen, und daß die Malerei noch andere Zwecke habe, als den Philister in seinem faulen Frieden mit sich selbst und der Welt zu bestärken. Sehen Sie, das ist die Geschichte von Stellas künstlerischer Emancipation, nebenbei mutatis mutandis von tausend Frauenemancipationen. Und wenn ich bedenke, wie wenig, wie eigentlich gar keine Gelegenheit sie hier gehabt hat, ein anständiges Bild zu sehen; nie einen Schritt nach Paris hineingethan; die kolossalen Werke von Millet, Rousseau, Bastien Lepage Jean-François Millet (1814-75), französischer Maler des Realismus; Henri Rousseau (1844-1910), autodidaktischer französischer Maler, dessen Stil dem Postimpressionismus und der Naiven Kunst zugeordnet wird; Jules Bastien-Lepage (1848-1884), französischer Maler des Naturalismus. und all der göttlichen Kerle nur von Hörensagen, oder höchstens aus schlechten Stichen oder noch schlechteren Photographien kennt und es doch auf eigene Hand immerhin so weit gebracht hat – da muß ich sagen: Hut ab vor der kleinen energischen Person! Sie wird es weiter bringen als Marie Baskirtscheff Marie Bashkirtseff (1858/60-1884) russische Malerin des Naturalismus, deren Gemälde in Frankreich entstanden sind. Die postume Edition ihres Tagebuchs 1887 avancierte zu einem Kultbuch ihrer Frauengeneration. Sie starb an Tuberkolose. es je gebracht hätte – trotz alledem.«

»Wer ist das: Marie Baskirtscheff?«

»Ein Engel in Menschengestalt, den die neidischen Götter wieder für sich haben wollten. Sie müssen ihr ›Journal‹ lesen. Es ist eben herausgekommen. Im Augenblick hat es Stella. Sie soll es Ihnen geben, wenn sie damit durch ist. Aber Sie haben mir für den prachtvollen Romanstoff, den ich Ihnen gratis gegeben habe, noch nicht einmal gedankt.«

»Leider kannte ich ihn schon.«

»Das wäre!«

»Und hätte Ihnen die Geschichte ebenso gut erzählen können, nur daß personae dramatis bei mir Professor Arnold und Frau Astrid heißen, und der Kampf nicht um die Malerei, sondern um die Litteratur entbrannt ist.«

»Hm!« sagte Willibald. »Habe mir etwas derart gedacht; aber während der Zeit hier mit meinen eigenen Angelegenheiten ein bißchen viel zu thun gehabt. Also auch in dem Quartier! Freilich: die beiden Menagen sind unter einem Dach! dergleichen brennt durch die Feuermauer. Na, dann knöpfen Sie sich auf und erzählen alles ab ovo! Sie wissen, ich habe Frau Astrid erst jetzt kennen gelernt.«

»Kam ja auch, als Sie schon ein Jahr oder so fort waren.«

»Aus Dänemark?«

»Ja, aus Kopenhagen. Ihr Vater ist ein Deutscher, der sich da angesiedelt hat – Schiffsbauer, Reeder – etwas derart – klotzig reich, nehme ich an. Ihre Mutter war eine Dänin – ist ziemlich früh gestorben. Der Vater hat zum zweitenmal geheiratet – wieder eine Dänin. Scheint kein besonderes Einvernehmen zwischen den beiden Damen – will sagen: Astrid, die inzwischen erwachsen war, und der jungen Stiefmutter – geherrscht zu haben –«

»Kommt vor,« schaltete Willibald ein.

»Der Vater, ein Schwächling, –«

» Va sans dire –«

»Unter dem Pantoffel der Frau – kurz: sie hatte es satt; und da sie völlig unabhängig war –«

»Schöne Sache, das! Durch die Mutter?«

»Die in einer guten Assiette gewesen sein muß, und deren einziges Kind sie war. – Aber, Willibald, wenn Sie mich beständig unterbrechen –«

»Eine schlechte Gewohnheit! Verzeihen Sie! soll nicht wieder geschehen. Bitte, fahren Sie fort!«

»Sie haben mich ganz aus dem Text gebracht. Wie weit war ich eigentlich?«

»Bis zum Durchbrennen von Frau Astrid.«

»Richtig. Und ein eigentliches Durchbrennen war es auch: eines schönen Morgens war sie aus dem Hause verschwunden über Hamburg, Berlin hierher.«

»Die Unglückliche! Pardon! ich soll Sie nicht unterbrechen! Nur wenn ein Mensch das grenzenlose Pech hat, hierher verschlagen zu werden –«

»Zu wem sagen Sie das! Habe ich doch während dieser vier Jahre xmal da unten am Quai gestanden und ernsthaft überlegt, ob es nicht angezeigt sei, ins Wasser zu gehen, bevor man völlig blödsinnig wird. Ah! Ich konnte und kann von mir mit Ovid sagen: Barbarus hic ego sum, quia non intelligor ulli

»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß jetzt Sie es sind, der von der Geschichte abschweift?«

»Bitte! das ist keine Abschweifung: in dem schauderhaften Gefühl dieser luftleeren Einsamkeit und Vereinsamung haben Sie und ich uns gefunden.«

»Natürlich: les beaux esprits – Aber wie war die junge Dame gerade hierher geraten?«

»Sie hatte hier zur Zeit eine Tante mütterlicherseits wohnen, die aus Petersburg, wo sie für gewöhnlich lebte und jetzt wieder lebt, hierher gekommen war, Deutsch zu lernen. Sie wissen, daß Ausländer massenhaft zu demselben Zwecke hier sind.«

»Und mit langen Ohren den gräßlichsten Jargon einsaugen, der gesprochen wird, soweit die deutsche Zunge klingt. Kam Fräulein Astrid in derselben löblichen Absicht?«

»Nein. Auch der Besuch der Tante war nur Nebenzweck. Der eigentliche war – Sie raten es nicht!«

»Den genialsten Vertreter der jüngsten Schule in Deutschland kennen zu lernen?«

»So konnte man mich damals noch nicht nennen, und von dem wenigen, was ich publiziert, hatte sie kein Wort gelesen. Dafür – Sie werden lachen! – schwärmte sie für Arnold, dessen Bonbon-Gedichte sie auswendig konnte, dessen Rührbrei-Novellen sie sogar ins Dänische übersetzt hatte. Wie das möglich gewesen, trotzdem sie mit der großartigen skandinavischen Litteratur, so zu sagen, aufgewachsen – mir ist es unbegreiflich; und sie begreift es nachträglich auch nicht mehr; meint: der schöne Stil, die glänzende Diktion. Möglich: so was imponiert ja den Ausländern, die vorläufig den Körper einer fremden Litteratur für die Seele nehmen. Kurz und gut: sie wollte ihn persönlich kennen lernen. Das ließ sich sehr leicht ausführen. Sie wissen – oder wissen auch nicht – Arnold hielt damals, wie in jedem Winter, eine Reihe von Vorlesungen über deutsche Litteratur vor einem Publikum von Herren und Damen. Alles, was in diesem Nest auf Bildung Anspruch macht, war da: der Adel, der Hof selbst, – tout le monde. Sie haben ihn heute abend sprechen hören. Das war doch nur eine schwache Probe. Er braucht, wie alle diese pathetischen Menschen, viel Wind in seine Segel und tiefes Fahrwasser. Dann kann man was zu hören bekommen – vollendete Perioden, wissen Sie, sich hebend, senkend, wie atlantische Wogen. Und auch was zu sehen, wenn er sich voll aufrichtet und, den Kopf zurückwerfend –«

»Er ist in der That ein auffallend schöner Mensch.«

»Ganz in dem Genre von Astrid, die Sie vorhin nicht schön fanden.«

»Davon später. Bitte, fahren Sie fort!«

»In einer der ersten Reihen saß sie, immer auf demselben Fleck. Sie war mir gleich in der ersten Vorlesung aufgefallen, und ich hatte es so einzurichten gewußt, daß ich in den folgenden stets an der Wand in einem Seitengange, nur ein paar Schritte von ihr entfernt, zu stehen kam und sie genau beobachten konnte.«

»Kann mir denken: love's labour lost

»Für damals. Kunststück, wenn sie mich überhaupt nicht sah, keinen Blick von ihm wandte – die reine Hypnose! Gegenseitig – natürlich. Von der dritten Vorlesung an durch alle folgenden sprach er nur noch für sie. Meinte jedesmal: jetzt wird er nicht mit ›Meine Damen und Herren‹, sondern mit: ›Meine Teuerste, Geliebteste, Einzigste‹ oder dergleichen anfangen. Gab böses Blut, das. Waren doch die Frauenzimmer ohne Ausnahme in den ›schönen Mann‹ bis über die Ohren verschossen. Und nun wollte der Zufall, daß er an einem der nächsten Abende auf die Promessi sposi »Die Brautleute«, auch »Die Verlobten«; historischer Roman des italienischen Autors Alessandro Manzoni (1827/1840–1842), das erste Beispiel des modernen italienischen Romans und nach Dantes »Göttlicher Komödie« das bedeutendste Werk der klassischen italienischen Literatur. zu sprechen kommen mußte. Hätten das Getuschle und Gekicher hören sollen! Glaubte, ein paar der jungen Damen würden hinter ihren Taschentüchern ersticken. Das hat den Ausschlag gegeben. Zwei Tage später schickten sie die Verlobungsanzeigen herum. Frau Astrid versteht keinen Spaß.«

»Dann würde ich mir auch keinen mit ihr machen.«

»Wer sagt Ihnen, daß ich das thue?«

»Auf einmal? Auch gut! Das heißt: um so schlimmer für Sie, wenn es Ihnen Ernst ist. Warum? Weil Sie selber keinen Spaß zu goutieren wissen, wie Ihre beleidigte Miene eben beweist. Revenons à moutons! Wann wurde denn bei Frau Astrid der Oppositions-Bacillus lebendig?«

»Knapp ein Jahr nach der Verheiratung. Da gab sie mir eine Novelle zu lesen – das diametrale Gegenteil von dem, was sie bis dahin hier und da in diversen journalistischen Kleinkinderbewahrungsanstalten sich geleistet – unter einem fremden Namen übrigens –«

»Weshalb das?«

»Er wollte von ihrer Schriftstellerei nichts wissen.«

»Der Esel!«

»Und hatte nur unter dieser Bedingung seine obrigkeitliche Erlaubnis gegeben.«

»Heilige Marie Baskirtscheff! das wäre so was für dich gewesen! Also die neue Novelle? Aus einem anderen Ton? Wie?«

»Ich hätte darauf schwören mögen, daß sie sie nicht geschrieben. Stil, Diktion – alles anders – toto genere. Und das Sujet! Donnerwetter! Unsereiner hätte das nicht gewagt.«

»Kenne das. Wenn diese korrekten Damen erst die Kappe vom Kopf haben, werfen sie sie auch gleich über die höchsten Dächer. Der Herr Professor war außer sich? Natürlich!«

»Natürlich. Aber es ging nicht so schnell. Ich bat sie, die Tollheit nicht drucken zu lassen. Da kam ich schön an. Dann hatte ich ein Kreuz und Elend, die Sache unterzubringen, bis ein neues Journal auftauchte, das in seiner ersten Nummer mit ganz was Pikantem debutieren wollte. Daß Arnold, als er dahinter kam, nicht der Schlag gerührt hat, wundert mich noch heute.«

»Für Sie kann das auch keine beneidenswerte Situation gewesen sein.«

»War nicht so schlimm. Der Professor wußte nicht – und weiß noch heute nicht –, daß ich die Hand im Spiel gehabt hatte und habe. Jetzt ist das übrigens leichte Arbeit: ich werde ihre Sachen mit Kußhand los.«

»Aber die Pseudonymität hat doch in diesem Klatschnest nicht lange vorhalten können?«

»Hat sie auch nicht. Man steckt eben den Kopf in den Sand; der Professor am tiefsten. Und damit ist es nun auch zu Ende. Sie will durchaus ihre nächste Arbeit unter ihrem wirklichen Namen herausgeben.«

»Das kann ja ganz amüsant werden. Nun, Alfred, sagen Sie mir nur noch eines, bevor uns der Kellner die letzte Flamme ausdreht: Sie waren doch, soviel ich weiß, auch nicht immer so weit links wie heute?«

»Mein Gott, es muß doch jeder erst einmal die Kinderschuhe austreten! Sie haben auch nicht mit dem Impressionismus angefangen.«

»Freilich. Ohne Lehrgeld geht es nicht. Glücklicherweise erkauft man sich damit das Recht, die Lehrer hinterher prügeln zu dürfen. – Kellner!«

Sie verließen, nun die letzten, das Lokal. Als sie die Freitreppe von der Terrasse langsam hinabstiegen, sagte Alfred, stehen bleibend:

»Wissen Sie, daß wir über die Hauptsache eigentlich gar nicht gesprochen haben?«

»Welche Hauptsache?«

»Die Frauen.«

»Ich dächte, wir hätten über nichts weiter geredet.«

»Sagen Sie aufrichtig, Willibald, finden Sie Astrid wirklich nicht schön?«

»Gott, ja! wenn es Sie beruhigt. Aber kommen Sie weiter! Es zieht hier teufelmäßig.«

An der Brücke trennten sie sich.

»Ein sentimentaler Narr! – Konfuser Kopf!« murmelte Willibald, sich gegen den Nachtwind, der ihm vom Flusse entgegenwehte, den Hut fester in die Stirn drückend und den Ueberzieher zuknöpfend. »Möchte darauf schwören, er hat noch keine Liaison gehabt, die über die Biermamsellsphäre hinausging. Der wird sich an dem Eisberg Astrid noch gehörig die Finger verbrennen!«

Alfred war auf dem Platze stehen geblieben, den Mond beobachtend, der als rotglühende Kugel über dem Zwinger hing, den phantastischen Dom, das prachtvolle Theater mit seinem mystischen Licht überdämmernd. Er fühlte sich lyrisch angehaucht und flüsterte mit heroischen Gestikulationen vor sich hin:

»Der Mond, der schwindet; die beiden Tempels in denen man falschen Göttern opfert! Und hier auf dem einsamen dunklen Platze ich, der Poet, in dessen Herzen die Sonne aufgeht, erstrahlend im dreifachen Glanz der wahren Religion, der wahren Kunst, der wahren Liebe! – Großartig! In freien Rhythmen natürlich und ohne Reimzopf! Ah, Astrid!«

Er hatte in seiner Exstase den Hut abgenommen und strich sich über das kurzgeschorene rötliche Haar. Ein Windstoß, der um den Dom fuhr, ließ ihn den Hut wieder aufsetzen und an den Ueberzieher denken, den er zu Hause gelassen, weil er ihm nicht mehr elegant genug war. Das erinnerte ihn dann an das leere Portemonnaie.

»Mir schon recht! Warum bin ich nicht Maler geworden! Mit meinem Talent! Für alles – alles! Dieser Willibald! Schwimmt in Geld! Ein gräßlich arroganter Mensch! diese öde Prahlerei mit Verhältnissen, die er im Leben nicht gehabt! Hoffe, Frau Stella läßt ihn schließlich gründlichst abfallen!«

* * *

Astrid trat aus der Hinterthür ihres Hauses und blickte, auf der Schwelle stehend und mit der Hand die Augen gegen die Frühvormittagssonne schützend, seitwärts in das Eilhardtsche Nachbargärtchen. Sie konnte es in seiner ganzen dürftigen Ausdehnung übersehen: schied es doch nur eine niedrige Hecke von ihrem Gärtchen. Es war niemand darin.

»Desto besser,« murmelte Astrid. »Ich hätte mich am Ende zu Konfidenzen verleiten lassen, die mich hinterher gereuten. Ach! ich bin in einer Stimmung!«

Die junge Frau stieg die paar Stufen hinab zu dem kleinen runden Rasenplatz, in dessen Mitte ein zwei Fuß hoher Springbrunnen seinen strohhalmdicken Strahl in ein steinernes Becken von einem Meter Durchmesser fallen ließ. In dem Wasser schwammen ein paar fingerlange Goldfischchen.

»Puppenkram!« murmelte sie. »Wie habe ich das nur so lange ertragen können!«

Von dem Springbrünnlein warf sie einen düsteren Blick über die im Schmuck ihrer Blumen prangenden Beete. Sie und Arnold hatten eigenhändig diese Beete angelegt, diese Blumen gepflanzt, diese schmalen Wege zwischen den Beeten mit Kies bestreut. Dann hatten sie am Abend in der Laube da gesessen, die erst eine werden sollte und werden würde, wenn der wilde Wein, der sträflich langsam wuchs, sie mit den breiten Blättern überschattete. Und Hand in Hand geschmiegt. Und einander angelächelt, wenn nebenan Stella ihr Erstgeborenes in den Schlaf sang mit einer Stimme, die Tote hätte erwecken können.

Wie so innig hatte sie sich damals ein Kind gewünscht! Wie bitter das Lächeln jetzt, als sie daran dachte, daß, wenn es zum ärgsten kam, diese Fessel wenigstens sie nicht halten würde?

Wenn es dazu kam? Worauf wartete sie noch? Was sollte noch geschehen? Nach heute morgen!

Den Blick gesenkt, die schweren Brauen dicht zusammengezogen, die vollen Lippen eng aufeinander gepreßt, schritt sie an der Hinterseite des Gärtchens auf und ab in dem Schatten, den die Rückwand des Nachbarhauses über den Weg warf. Lange Zeit. Bis sie aus ihrem bösen Geträume das Zetergeschrei eines von Stellas Kindern riß, in welches denn auch alsbald das des zweiten kräftig einfiel.

»Unerträglich!« murmelte Astrid. »Nicht einen Augenblick ist man davor sicher. Und sie natürlich wieder über alle Berge. Eine polnische Wirtschaft.«

Die Kinder schrien weiter. Drüben hörte offenbar niemand auf sie. Wie gewöhnlich! Wenn sie Ruhe haben wollte, mußte sie sie sich schon selber schaffen.

Sie klinkte das hölzerne Gitterthürchen auf, das durch die Ligusterhecke führte, und schritt sofort auf das Stück zerfetzten Teppichs zu, welches zwischen zwei verbogenen Stangen ausgespannt war und den Kindern ein schattiges Plätzchen bereiten sollte. Das anderthalbjährige Gretelchen war von dem Deckchen, auf das man sie ursprünglich gesetzt haben mochte, heruntergerutscht und lag hilflos im Sande daneben auf dem Bauch, aus Leibeskräften zeternd, was den dreijährigen Hans so erschreckt zu haben schien, daß er von seinem Schemel auf den Rücken gefallen war und, mit den Beinen strampelnd, jämmerlich zu dem erbarmungslosen blauen Himmel hinaufheulte. So wenig vergnüglich Astrid zu Mute war, über den komischen Anblick mußte sie doch lachen. Sie richtete die Kinder auf, die sich alsbald beruhigten, und rief mit ihrer kräftigen Stimme nach Stellas Mädchen, das denn auch alsbald in der Hausthür erschien; die Frau Professor von nebenan erblickend, ihr mürrisches Gesicht glättete und mit geheuchelter teilnahmvoller Eile herbeikam.

»Sie könnten auch besser auf die Kinder achten, wenn die Frau ausgegangen ist.«

»Gott, Frau Professor, ich hatte im Hause zu thun. Die Kinder spielten hier so ruhig. Die gnädige Frau hätte es auch wohl hören können. Sie muß da sein.«

Und Luise, die niedergekniet war und mit ihrer Schürze Gretelchens rinnende Nase geputzt hatte, deutete nach dem Gartenhäuschen in der Ecke, das während der Sommermonate Stella als Atelier benutzte.

Dann hatte sie das Kleinste auf den Arm, den Jungen an der Hand genommen und war mit ihnen, die schlafen sollten, ins Haus gegangen.

In dem Augenblicke erschien Stella in der Thür des Gartenhäuschens, ein Buch in der Hand, zwischen dessen Blätter sie den Finger gesteckt hatte.

Sie war noch im Morgenrock; das dunkle krause Haar starrte ihr nach allen Seiten um den Kopf.

»Du hier?« rief sie. Wo sind denn die Gören? Ich hörte sie doch noch eben schreien – deucht mir.«

Und sie starrte verwundert mit den großen schwarzen Augen auf dem Platz herum.

»Du hast ganz recht gehört,« erwiderte Astrid trocken und wandte sich, in ihren Garten zurückzukehren. Stella kam hinter ihr hergelaufen.

»Ja, Schatz, was hast du denn? Ich freue mich so, dich zu sehen. Und du bist so kurz angebunden. Das ist gar nicht zum Entzücken.«

»Ich bin ein wenig verstimmt. Du mußt mich entschuldigen.«

»So kommst du nicht weg. Ich habe dir eine Welt zu sagen.«

»Ich hätte dir auch einiges zu sagen. Ich denke, wir versparen das auf ein andermal.«

»Ach so! ich soll Schelte kriegen. Na, kriegen thu ich sie doch. Dann lieber gleich. Aber hier draußen kann man sich ja den Sonnenstich holen. Komm herein! Ich wollte dir, so wie so, was zeigen.«

»Ich denke, du hast alles auf die Ausstellung geschickt?«

»Habe ich. Bis auf das Letzte, Beste. Es geht morgen fort – der äußerste Termin, weißt du. Willibald sagt: er kann es machen, daß es auch noch einen Tag oder so später angenommen wird. Wie findest du es?«

Astrid war ihr nun doch halb wider Willen gefolgt. Mitten in dem schmucklosen Raum, dessen eine Wand beinahe ganz von einem, in der unteren Hälfte verhängten Fenster eingenommen war, stand auf einer Staffelei das lebensgroße Porträt Willibalds, fertig, oder doch bis auf ein weniges; sprechend ähnlich. Das feine, bleiche Gesicht mit dem dunklen, sorgfältig nach unten zugespitzten Vollbart; die etwas verschleierten grauen Augen, die so scharf zu blicken wußten; die Andeutung eines spöttischen Lächelns auf den vollen, sinnlichen Lippen – der künstlerische Verismus schien nicht weiter getrieben werden zu können.

»Wie findest du es?« wiederholte Stella mit einiger Ungeduld, das Buch, das sie in der Hand gehabt hatte, auf den Tisch zwischen Farbentuben, Palette und Pinsel legend.

»Ich finde,« erwiderte Astrid, »du hast den Leuten schon so viel Stoff gegeben, über dich und den Herrn da zu reden, daß du nun wohl genug daran haben könntest.«

»Du kannst ihn eben nicht leiden,« sagte Stella schmollend.

»Ich gestehe es ganz offen. Aber darauf kommt es nicht an. Viel wichtiger scheint mir, daß du im Begriff bist, dich in den Herrn ernstlich zu verlieben, wenn du es nicht schon gethan hast.«

Stella hatte sich quer auf den einzigen Stuhl gekauert, der außer dem Malschemel in dem Atelier eine Sitzgelegenheit bot, und blickte mit den lachenden Augen zu der stattlichen Freundin in die Höhe.

»Seit wann bist du denn unter die Philister gegangen, Schatz?«

»Du weißt sehr wohl, daß ich über diese Dinge mindestens so frei denke wie du.«

»Ob du so denkst! Ich bin ja nur deine gelehrige Schülerin! Ich folge ja nur deinem Beispiel!«

»Meinem Beispiel? Ich glaube, du bist nicht gescheit. Meine Beziehungen zu Alfred sind rein geschäftlicher Natur.«

»Ganz mein Fall mit dem ›Herrn‹ da. Er korrigiert mir meine Bilder, wie du dir deine Manuskripte von Alfred korrigieren läßt; sorgt dafür, daß meine Sachen in die Ausstellung kommen, wie der andere, daß deine gedruckt werden; im übrigen lasse ich mir von ihm in allen Ehren den Hof machen, wie du dir von Signor Alfredo. Die Rechnung stimmt. Gelt?«

»Nein, sie stimmt nicht!« rief Astrid, die mit großen Schritten in dem kleinen Raum hin und her gegangen war, vor der zu ihr aufblinzelnden Freundin mit verschränkten Armen stehen bleibend – »in keinem Punkte! Alfred setzt mir höchstens in meine Arbeiten ein paar Kommata oder Semikolon, die ich nebenbei sehr überflüssig finde; in den Druckangelegenheiten ist er einfach mein Mandatar; und daß er mir je auch nur im mindesten gefährlich – lächerlich! positiv lächerlich! Daran glaubst du doch selbst nicht.«

»Natürlich! Die schöne Frau Professor Arnold und das – Kirschkerngesicht!«

»Kirschkerngesicht, oder nicht! Er ist wenigstens ein grundehrlicher Mensch. Und das ist mehr, als man von gewissen Leuten sagen kann. Er läuft nicht in der Stadt herum und macht sich über seinen ehemaligen Lehrer lustig.«

»War etwa dein Mann Alfreds ehemaliger Lehrer nicht?«

»Arnold war eine Zeit lang sein bewundertes Vorbild; sein Lehrer nie. Er hat seine ästhetischen Prinzipien geändert. Das ist eine Sache für sich. Das erkennt auch Arnold an.«

»Weil er viel zu stolz ist, sich über den Abfall eines so unbedeutenden Nachbeters zu echauffieren.«

»Wie Eilhardt viel zu gutmütig, die Schlange von sich zu schleudern, die er an seinem Busen gewärmt hat. Wirklich, Stella, du solltest dich schämen! Ein so liebenswürdiger, vertrauensseliger Mann! Und der so leicht glücklich zu machen wäre! So kinderleicht!«

»Machst du etwa deinen Mann glücklich?«

»Das ist etwas anderes.«

»Ich wüßte doch nicht.«

»Ganz etwas anderes. Eilhardt läßt dich gewähren, legt dir wenigstens keine Hindernisse in den Weg. Arnold hemmt mich auf Tritt und Schritt, knebelt mich, erstickt mich. Ich will es nicht; ich kann es nicht länger tragen. Jedes Tier setzt sich zur Wehr, wenn es ihm ans Leben geht.«

»Weißt du was?« sagte Stella, Astrid, die wieder im Gemache umherlief, mit den Augen verfolgend. »Ich will dir einen Vorschlag zur Güte machen. Laß du mir Arnold; ich trete dir dafür Eilhardt ab! So ist uns allen geholfen.«

»Unsinn!«

»Gar kein Unsinn. Mich wird Arnold weder knebeln, noch ersticken. Weshalb sollte er? Von der Malerei versteht er gerade so viel, wie ich von seinem Kram – das heißt: absolut nichts – rien du toutniente. Meine Sachen gefallen ihm sogar. Das will nichts sagen, weil er eben nichts davon versteht; aber jedenfalls werden wir beide, er und ich, dadurch nicht unglücklicher werden. Nun Eilhardt und du –«

»Höre auf!«

»Gieb Achtung! Die Sache wird immer amüsanter. Eilhardt und du! Können zwei Menschen besser füreinander passen? Mein Naturalismus ist ihm ein Greuel. Na, Schatz, was du nach der Seite leistest – ich möchte es nicht auf dem Gewissen haben; aber er goutiert es: er findet es halt a bissel verrückt; aber famos geistreich. Er läßt dich schreiben, was du willst; du ihn malen, was er will. Da könnt ihr, ohne zu karambolieren, tausend Meilen weit nebeneinander hergehen, – genau so, wie ich und Arnold.«

»Und deine Kinder?«

»Siehst du, du fängst schon an, der Idee Geschmack abzugewinnen. Die Kinder! Du hast mir ja wiederholt mehr als angedeutet: ich sei eigentlich nicht wert, welche zu haben. Hast ganz recht, Schatz: ich weiß wirklich nicht, was ich mit ihnen anfangen soll. Ich bedaure das, um ihrethalben: sie fahren, glaube ich, nicht besonders gut dabei. Einen großen Vorwurf kann ich mir nicht daraus machen. Man muß eben zu allem Talent haben; auch zum Kinderpäppeln. Ich habe entschieden keines. Du hast es – in hohem Maße, bin ich überzeugt. Bei dir werden die Kinder hundertmal besser aufgehoben sein als bei mir. Er auch. Er liebt seinen Komfort – alle Männer thun es. Ich kann ihm keinen schaffen. Ich kann nicht wirtschaften. Wirtschaften ist mir ein Greuel. Dir nicht. Bei mir ist alles Kraut und Rüben; bei dir, wie aus dem Ei geschält. Ich selbst? Was hat er von mir kleinen, ruscheligen, saloppen, schwarzen Person! Du! du! mit deiner majestätischen, prachtvollen Gestalt! deinem Teint, wie Milch und Blut! deinem goldenen Haar, das dir, so lang, wie du bist, bis über die Hüften fällt! Ich habe oft genug gesehen, wie seine Blicke an dir hangen, als wollten sie dich einsaugen – noch gestern abend, während Emerich über die unendliche Melodie kein Ende finden konnte. Und zu denken, daß der Mensch mich mal geliebt hat! ich ihn mal geliebt habe! daß –«

Sie kam nicht weiter, schluchzte ein paarmal tief, krampfte die Hände auf die Stuhllehne, die Stirn auf die Hände drückend, daß das schwarze krause Haar in wirren Strähnen vornüber fiel, und brach in leidenschaftliches Weinen aus.

Es war so plötzlich gekommen, das eifrige Geplauder so jäh durchbrechend – Astrid war für einen Moment erschrocken. Dann schürzte ein spöttisches Lächeln ihre Lippen. Sie trat an die Weinende heran, legte ihr die Hand auf den Kopf und sagte:

»Beruhige dich, Kind! Mit euch beiden hat es keine Gefahr. Er läuft dir nicht fort, und in deinen Adern ist kein Tropfen Nora-Blut. Zwischen dir und Eilhardt wäre eine Scene, wie sie vor einer halben Stunde zwischen mir und Arnold stattgefunden hat, unmöglich.«

»Eine Scene?« rief Stella, schnell den Kopf hebend und zu Astrid mit Augen aufblickend, die jetzt von Thränen und Neugier zugleich glänzten.

»So eine gegen Schluß des dritten Aktes, wenn die Katastrophe hereinbricht,« entgegnete Astrid.

»Aber so erzähle doch!«

Astrid hatte sich auf den Schemel vor der Staffelei gesetzt, die Ellbogen auf die Knie gestemmt und die Hände gegen die Schläfen gedrückt.

»Es ist nicht viel zu erzählen,« sagte sie mit einer Stimme, die jetzt dumpf und ein wenig heiser klang. »Katastrophen-Scenen müssen kurz sein, wenn sie wirken sollen. Mein letzter Roman –«

»Weiß! Sind tolle Sachen drin.«

»Gerade deshalb hatte ich ihm das Manuskript zu lesen gegeben, als er mich darum bat – ausnahmsweise. Er sagte: ›geistreich, wie immer; aber drucken, wenn du mich lieb hast, läßt du das nicht.‹ Ich: ›es geht ja auf den fremden Namen, zu dem du mich gezwungen hast.‹ Er: ›wenn auch! dies verträgt selbst der fremde Name nicht.‹ Ich: ,‹u hast mich meinen Weg bis jetzt allein gehen lassen; ich denke, ich werde ihn auch weiter allein zu finden wissen.‹ Das war vor vier Monaten etwa. Ich gab das Manuskript an Alfred. Er sollte mir einen Verleger schaffen. Ich bekümmere mich grundsätzlich um diese mechanischen Dinge nicht. Alfred hatte diesmal einige Mühe. Ein paar, die meine Sachen gebracht hatten, lehnten ab: dies sei ihnen zu stark. Endlich fand sich doch einer – in Berlin. Die Feigheit der Menschen hatte mich gereizt; ich wollte das Buch jetzt nicht nur gedruckt sehen; es sollte auch unter meinem Namen erscheinen. Der Verleger fand das ganz in der Ordnung; es sei ihm sogar sehr viel lieber. Warum? weiß ich nicht. Alfred wußte es auch nicht. Er hat, wie gesagt, alles besorgt. Heute morgen ein expresses Billet von ihm: der Verleger habe ihm geschrieben, das Buch sei fertig; er freue sich, mitteilen zu können, daß die Bestellungen selbst über sein Erwarten reichlich eingegangen seien. Die Versendung, auch der Recensionsexemplare, habe bereits tags vorher stattgefunden. Die Freiexemplare für den Autor und die für ihn, Alfred, bestimmten seien ebenfalls bereits unterwegs und würden wohl mit seinem, des Verlegers, Brief zugleich eintreffen. Bis jetzt habe ich noch keine erhalten, schrieb Alfred. Vielleicht Sie? – Nun, ich hatte auch noch keine. Aber du begreifst, ich durfte jetzt keinen Augenblick länger Arnold gegenüber ein Geheimnis aus einer Sache machen, die ein paar Stunden später alle Welt wissen würde. Ich ging zu ihm. Er wollte eben ins Kolleg. Ich sagte ihm: so und so. Er wurde sehr blaß, und dann stand auf seiner Stirn eine rote Wolke, wie immer, wenn er so recht zornig ist. Ich dachte: jetzt bricht der Sturm los, und freute mich darauf, wenn mir auch das Herz furchtbar klopfte. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Nichts davon. Er nahm sein Kollegienheft vom Schreibtisch und sagte, während er langsam die Handschuhe anzog, ruhig und kalt, wie der Großinquisitor im Carlos: ›Also, Astrid Arnold! Meinen Sie nicht –‹«

»Er wird du gesagt haben!« rief Stella.

»Nein! er sagte Sie und Madame: ›Meinen Sie nicht, Madame, daß es für uns die höchste Zeit ist, darüber nachzudenken, ob wir nicht eine große Thorheit begingen, als wir unsere Namen in eine so enge Verbindung brachten?‹ Dann hatte er seinen Hut genommen, machte mir eine Verbeugung, ging zum Zimmer hinaus und –«

»Ballerte die Thür zu!« rief Stella enthusiastisch.

»Machte sie so ruhig zu, wie immer.«

»Gleichviel! Dies ist der Anfang des Endes! ist das Ende!«

Stella war aufgesprungen und lief jetzt mit ihren kleinen Schritten in dem Gemach hin und her, wie vorhin Astrid mit ihren großen. »Ja, das Ende! Muß es sein! Er ist nicht wie der Waschlappen von Mann in Nora. Ich habe keinen Tropfen Nora-Blut in den Adern, sagst du. Ich wollte, mir wäre passiert, was dir passiert ist; ich wollte dir beweisen, wie sehr du dich irrst. Die moderne Europäerin ist keine indianische Squaw. Sie hat das Recht, über sich selbst zu bestimmen. Sie ist wie Marie Baskirtscheff – sie ist Marie Baskirtscheff. Marie Baskirtscheff ist die europäische Frau von heute. Das mußt du lesen! Willibald hat es von Paris mitgebracht. Da liegt es. Du kannst es kriegen, wenn ich damit zu Ende bin. Ich habe nur noch zwanzig oder dreißig Seiten. Großartig, sage ich dir! Phänomenal! Eine kolossal reiche Russin! trägt kein Kostüm unter zweitausend Francs! wäscht sich nur in Parfums! Und sitzt Tag für Tag, vom Morgen bis zum Abend in den dumpfigen Ateliers Schulter an Schulter mit den ärmsten Frauenzimmern, die ihr die schönen Augen vor Neid auskratzen möchten. Natürlich: so reich, so genial! Die letzte Geliebte von Bastien Lepage! Wie er ihr letzter Geliebter! Ach! Paris! Paris! So was kommt nur in Paris vor! Höre nur diese Stelle! Ich habe mir die Augen darüber aus dem Kopfe geweint.« Sie hatte das Buch ergriffen, hastig darin blätternd. »Ich kann es nicht finden – es paßt Wort für Wort auf deine Situation – gleichviel! – es ist alles prachtvoll, grenzenlos genial! Und ein Temperament, ein Charakter – großartig! Sie weiß eigentlich nie, was sie will. Will sie aber was, setzt sie es durch; darauf kann man sich verlassen. In und an diesem göttlichen Buche habe ich eigentlich erst mich selbst entdeckt; habe ich – was giebt's?«

Astrid hatte, während Stella sich so in immer leidenschaftlicherer Weise austobte, vom Hause drüben Stimmen gehört. Die Unruhe, die in ihr selbst wühlte, hatte sie von dem Sessel auf getrieben an das Atelierfenster, in dessen Vorhang ein Loch war, groß genug, um bequem hindurchzusehen. Jetzt wandte sie sich mit Lebhaftigkeit um:

»Es ist Alfred. Luise hat ihn hierher geschickt.«

»Um Himmels willen!« rief Stella. »Was will denn der von mir? Ich kann mich so nicht sehen lassen! Thu mir die Liebe und fertige ihn ab! Nimm ihn mit in deinen Garten! Wenn er wirklich zu mir gewollt hat – ich hätte nur noch eine Minute zu thun – käme im Augenblick –«

Auf dem Kies draußen knirschte es bereits dicht vor der Thür.

»Schnell! ich bitte dich.«

Astrid verließ das Atelier so eilig, daß Alfred, der eben an die Thür pochen wollte, einen Schritt zurückprallte.

* * *

»Verzeihung, gnädige Frau, wenn ich störe. Hatte bereits bei Ihnen angefragt, dann hier; man wies mich – ich bin in einer Aufregung –«

Alfred sah in der That sehr erregt aus. Sein kleines Gesicht war blaß bis in die Lippen; der Atem ging so schnell, daß er Mühe hatte, die Worte hervorzubringen; seine Kleidung selbst war entschieden weniger sorgfältig als sonst: das Hemd, mit einem kräftigen Rotweinfleck, offenbar von gestern; an der ausgeschnittenen hellen Weste der oberste Knopf nicht geknöpft; in der Eile, mit der er von Hause fortgestürzt sein mußte, hatte er sich sogar in den Handschuhen vergriffen, von denen der linke ein sehr lichtes, der rechte ein ebenso dunkles Mäusegrau zeigte.

Astrid hatte sofort diese Kleinigkeiten bemerkt. Sie mußte gestern abend von Sinnen gewesen sein, daß sie sich von dem »Kirschkerngesicht« beinahe eine Liebeserklärung machen ließ.

»Es scheint so,« sagte sie. »Weshalb?«

Der unfreundliche Blick, mit welchem die angebetete Frau seine Begrüßung erwidert hatte, und der herbe Ton, in dem sie die paar Worte sagte, ließen Alfred die üble Lage, in der er sich wußte, nur noch schwerer empfinden.

»Ich bin wirklich in Verzweiflung,« stotterte er. »Und wenn ich mir noch sagen muß, daß eine größere Aufmerksamkeit meinerseits – aber, wer hätte auch denken können –«

»Was in Himmels Namen?« rief Astrid ungeduldig. »So kommen Sie doch endlich mit der Sprache heraus! Ist das ein Buch, was Sie da in den Händen drehen?«

»Freilich, gnädige Frau: Ihr Roman.«

»Ah!«

Seltsamerweise hatte Astrid in ihrer bösen Laune für den Moment gar nicht an ihr Buch gedacht. Nun war es da! Nun mochte der Entscheidungskampf beginnen! Sie war nicht, wie die Marie Baskirtscheff, die nie wußte, was sie wollte! Sie wußte es stets!

Dennoch hatte die unerwartet-erwartete Nachricht sie so durchzuckt, daß sie mit der Hand nach dem Herzen gegriffen hatte und einen Augenblick stehen geblieben war. Nur einen Augenblick.

»Mein Roman,« sagte sie, sofort wieder weiterschreitend, in gleichgültigem Ton. »Sie haben ihn mir ja für heute angekündigt. Ich freue mich sehr darauf. Geben Sie her!«

Sie streckte die Hand aus. Alfred hielt das eingewickelte Buch krampfhaft fest.

»Aber so geben Sie doch!«

Alfred blickte scheu um sich, während sie, jetzt bereits in dem Arnoldschen Garten, auf das Haus zuschritten.

»Es wäre mir lieb,« stotterte er, »wenn wir Ihrem Herrn Gemahl nicht gerade jetzt – vielleicht in der Laube –«

»Nehmen Sie mir's nicht übel,« sagte Astrid mit einem Versuch zu lachen, der nicht recht gelingen wollte; »ich hätte Sie doch für ein bißchen mutiger gehalten. Was riskieren denn Sie? Mein Mann hat keine Ahnung, daß Sie es gewesen sind, der den Druck besorgt hat. Uebrigens weiß er seit heute morgen, daß mein richtiger Name auf dem Titel steht. Geben Sie!«

»Wenn wir in die Laube –«

»Meinetwegen! Nun aber geben Sie!«

Sie waren in die Laube getreten an den länglichen viereckigen Tisch, um den auf drei Seiten schmale Bänke liefen. Astrid hatte mit Händen, die trotz alledem sichtbar zitterten, die gelbbraune Papierhülle abgerissen.

»Ah!« sagte sie, »hätte nicht gedacht, daß er so stark werden würde. Auch der Einband gefällt mir – englischer Geschmack, den ich sehr –«

Während sie nur für den biegsamen Deckel Interesse zu haben schien, hatte sie doch das Titelblatt aufzuschlagen gewußt. Ihre Miene nahm einen starren Ausdruck an. Sie blickte mit Augen, die aus dem Kopf zu treten schienen, auf Alfred, dann wieder in das Buch, dann wieder auf Alfred.

»Was bedeutet dieser schlechte Witz?« fragte sie mit rauher Stimme.

»Wenn es weiter nichts wäre,« rief Alfred kläglich, »der Verleger sich nur mit diesem einen Exemplar einen immerhin unziemlichen Scherz erlaubt hätte! Aber alle die sechs Exemplare, die er mir geschickt hat! Und so nun gewiß auch die anderen – die ganze Auflage –«

Astrid stierte noch immer auf das Titelblatt. Es wurde nicht anders; blieb – in Lettern, deren Kraft und Größe sie verhöhnen zu wollen schienen – immer dasselbe Fürchterliche: Wenn Frauen Mut hätten. Roman. Von Astolf Arnold.

»Das ist eine Infamie!«

Sie hatte es laut gerufen und das Buch auf den Tisch geschleudert, so heftig, daß es vom Tisch auf die Erde fiel.

Alfred hob es auf und begann mechanisch einen argen Knick auszuglätten, den der Einband bei dem heftigen Wurf davongetragen.

»So reden Sie doch!« rief Astrid. »So verteidigen Sie sich doch!«

»Verehrte Frau –«

»Nennen Sie mich nicht ›verehrte Frau‹, nachdem Sie mir das angethan haben!«

»Mein Gott, was soll ich sagen! Ich bin ja selbst in heller Verzweiflung. Ich habe ja keine Ahnung – ich kann höchstens versuchen, zu erklären –«

»Ich bin sehr begierig!«

Astrid hatte sich auf die Bank gesetzt, die Arme unter dem Busen verschränkend und Alfred mit wildzornigen Blicken anfunkelnd, der seinerseits die Augen nicht zu der ungnädigen Herrin zu erheben wagte und in seiner grenzenlosen Verlegenheit an dem zerknickten Deckel weiter glättete.

»Versuchen zu erklären,« wiederholte er. »Ist es mir doch selbst – Sie erinnern sich: wir hatten auch von Berlin zuerst ein Refus, wenigstens keine unbedingte Zusage. Jaromir schrieb: er wisse, daß die Sachen von ›Excelsior‹ gern gelesen würden, und er sei bekanntermaßen ein Anhänger und Protektor – diese Herren thun ja immer, als machten sie die Litteratur – der freien, ja, der freiesten Richtung; aber hier müsse er doch Anstand nehmen und so weiter. Sie waren – mit Fug und Recht – ungehalten und sagten: Nun soll es nicht nur gedruckt, nun soll es mit meinem Namen gedruckt werden. Ich schrieb an Jaromir: mein Mandant werde sich zu den von ihm vorgeschlagenen Aenderungen in keinem Falle herbeilassen. Nur zu einer, die für ihn sogar eine conditio sine qua non: daß der bisherige nom de plume dem wahren Namen Platz mache: Astrid Arnold. Er umgehend: wenn dies der Fall, nehme er den Roman, wie er gehe und stehe, mit dem größten Vergnügen. Wir haben damals beide uns die Köpfe zerbrochen, was der Mann damit meine? Ich wollte anfragen. Sie verboten es: das sei seine Sache. Gut. Ich bekam die Korrekturbogen – Sie haben sie gesehen: es stand auf allen, wie es ja auch nur in der Ordnung war, bloß der Hauptname: Arnold und der Titel. Heute nun –«

»Aber das erklärt doch nichts, rein gar nichts!« rief Astrid heftig. »Wie kann aus Astrid Astolf werden?«

»Wenn ich das wüßte!« sagte Alfred, ratlos vor sich hinstarrend. »Ich schreibe ja freilich eine etwas nervöse, schwer lesbare Hand – unsere Setzer klagen immer schrecklich darüber – und wenn ich gar den Namen Astrid –«

Er hob schüchtern die Augen und ließ sie schnell wieder sinken. Der Blick, der dem seinen begegnet war, sagte nur zu deutlich, daß Zeit und Ort für eine Schmeichelei nicht übler gewählt werden konnten.

»Ich meine: wenn ich den Namen Astrid – er ist für uns Deutsche so ungewöhnlich – ich selbst hatte ihn vorher nie gehört, nie gedruckt oder gar geschrieben gesehen. Wir dürfen wohl annehmen, daß für Herrn Jaromir dasselbe zutrifft; er aus einem ihm völlig fremden ausländischen Vornamen den auch nicht landläufigen, ihm aber jedenfalls bekannten ›Astolf‹ herausgelesen hat.«

»Das klingt denn doch sehr unwahrscheinlich«, sagte Astrid.

Die größere Ruhe, in der sie sprach, richtete Alfreds geknickten Mut wieder etwas auf.

»Gewiß thut es das,« sagte er, »aber ich finde keine andere Erklärung.«

»Wußte denn Herr Jaromir nicht, daß er es mit einer Dame zu thun hatte?«

»So wenig, wie Ihre beiden früheren Verleger, für die ›Excelsior‹ ein Herr war, der nicht genannt sein wollte. Ich nannte Sie immer nur: der Autor – mit Ihrer speciellen Einwilligung; auf Ihren ausdrücklichen Wunsch sogar –«

»Immerhin,« unterbrach ihn Astrid, mit den Fingern der Rechten nervös auf der Tischplatte trommelnd; »er soll mich für einen Mann gehalten, Astolf für Astrid gelesen haben, so unglaublich es klingt. Unmöglich ist und bleibt, daß er nur einen Augenblick angenommen hat, der Verfasser dieses meines Romans sei identisch mit einem Schriftsteller, der einen so großen Ruf hat, wie mein Gatte. Einen Ruf dazu, der in einer so völlig anderen Richtung liegt.«

»Unmöglich doch wohl gerade nicht,« erwiderte Alfred, dem das gewohnte Selbstvertrauen mit jeder Minute stärker zurückkam. »Der Ruf Ihres Herrn Gemahls war nie so bedeutend, wie er selbst und seine Freunde vielleicht glauben, und ist in den letzten Jahren noch recht erheblich zusammengeschrumpft aus Gründen, die für uns beide plausibel genug sind. Sie kennen die Verleger nicht. Diese Herren lesen in der Regel schrecklich wenig, halten sich einfach an den Namen. Gelesen hat er wahrscheinlich von Ihrem Herrn Gemahl nie ein Wort; nur der Name – als eines immerhin anerkannten und in gewissen Kreisen wohl accreditierten Roman- und Novellendichters – ist ihm geläufig gewesen. Deshalb das ›größte Vergnügen‹, mit dem er plötzlich den Roman nahm. Wie er sich nun zusammengereimt hat, daß – verzeihen Sie, gnädige Frau: wir sind ja unter uns – der Weihnachtstisch-Poet, für den die Primaner und die Backfische schwärmen, ein so gewaltiges Buch wie ›Wenn Frauen Mut hätten‹ plötzlich habe schreiben können – ja, das weiß ich nicht. Aber bei einem Verleger ist vieles möglich. Vielleicht hat er gedacht: aus dem Saulus sei im Handumdrehen ein Paulus geworden – so etwas kommt ja vor – ist in diesen Tagen wiederholt vorgekommen. So etwas ist doch sehr interessant, lockt die Leute; damit kann man ungeheure Reklame machen.«

»Aber,« rief Astrid, »da waren noch immer meine früheren Excelsior-Sachen. Herr Jaromir mag auch sie nicht gelesen, aber von ihnen gehört muß er haben. Wie hätte er sonst davon als von etwas Bekanntem sprechen können? Das ist doch ein Umstand, der Ihre ganze Saulus-Paulus Hypothese völlig unhaltbar macht.«

»Es ist ein dunkler Punkt,« sagte Alfred, sich die Nasenspitze reibend. »Ich kann nur wiederholen: die Herren Verleger sind wunderliche Heilige. Lassen Sie mich an meiner Hypothese noch ein wenig weiter spinnen. Herr Jaromir hat sich gesagt – undenkbar ist das nicht –: Aha! Saulus ist schon früher und im Grunde seines Herzens stets ein Paulus gewesen; hat es aber nicht eingestehen wollen oder dürfen; dennoch, oder gerade deshalb seinem naturalistischen Herzen Luft machen müssen – incognito selbstverständlich, unter angenommenem Namen – ballons d'essai, ob die Luft noch immer nicht rein ist, man noch immer nicht den großen Aufstieg wagen darf – Probepfeile – wie Sie es nennen wollen. Endlich ist es so weit. Er wirft die Excelsior-Maske ab und zeigt sein wahres Gesicht. Sehen Sie, verehrte, gnädige Frau, jetzt müssen Sie selber lachen.«

Astrid hatte wirklich laut aufgelacht, war aber im nächsten Moment wieder ernst geworden. »Es ist ja auch furchtbar komisch,« sagte sie, »nur daß es noch viel tragischer als komisch.«

Sie strich sich über die Stirn.

»Die Sache muß aus der Welt,« rief sie aufstehend. »Ich werde meinem Manne die nötige Erklärung geben. Sie schreiben sofort Herrn Jaromir den wahren Sachverhalt!«

»Das will ich gewiß thun, wenn Sie es befehlen,« erwiderte Alfred, der sich nun ebenfalls erhoben hatte. »Nur fürchte ich, offen gestanden, aus der Welt ist die Sache damit nicht. Jaromir schreibt mir: es sind vierhundertfünfzig Exemplare fest und über sechshundert à condition versandt. Dazu nicht weniger als vierzig Recensionsexemplare an alle größeren Zeitungen und wichtigeren Litteratur-Journale. Heute schon, jedenfalls in den nächsten Tagen wird das Buch in aller Welt Händen sein.«

»So muß Herr Jaromir es zurückfordern.«

»Das ist unmöglich, verehrte Frau.«

»Es muß möglich sein,« rief Astrid, mit dem Fuße stampfend.

Alfred zuckte die Achseln. »Die à condition vielleicht, die fest und bar schon sehr schwer – abgeschlossene Händel – wie soll man die rückgängig machen? Und nun vollends die Exemplare, die bereits in das Publikum, in die Hände von Privaten gelangt sind! Wie will man die wiederbekommen? Wir stehen da vor der reinen Quadratur des Zirkels.«

In dem Augenblick erschien in dem Eingange der Laube das Dienstmädchen Auguste.

»Frau Professor, ein großes Postpaket – aus Berlin – Bücher, sagt der Postbote. Ich habe es auf dem Herrn sein Zimmer gelegt.«

»Es ist gut,« sagte Astrid.

Auguste war wieder gegangen; Astrid und Alfred blickten einander ratlos an.

»Die Exemplare für meinen Mann,« murmelte Astrid.

»Zweifellos,« sagte Alfred dumpf. »Jaromir hatte mir noch geschrieben, er werde sich beehren, dem Herrn Autor, der doch nun wohl aus seiner Zurückhaltung heraustreten wolle, zwölf direkt zu übersenden.«

»Und in einer Stunde kommt er aus dem Kolleg zurück,« murmelte Astrid.

»Es ist sehr fatal,« sagte Alfred dumpf. »Was gedenken Sie zu thun?«

»Ja, was jetzt thun? was jetzt thun?« rief Astrid.

In Thränen ausbrechend, hatte sie sich mit dem Oberkörper über den Tisch gebeugt, das Gesicht zwischen die Arme gedrückt, die Arme so weit vorgestreckt, daß die krampfhaft gefalteten Hände bis zu Alfred hinüberreichten.

Alfreds' Herz floß über. Er konnte nun einmal keinen Menschen weinen sehen, ohne gerührt zu werden. Und hier weinte ein schönes Weib, das er – er mochte die Sache ansehen, wie er wollte – durch seine Fahrlässigkeit in diese verzweifelte Lage gebracht. Es gab nur eines, was er als Mann und Dichter thun konnte, wollte, mußte: seine beiden Hände sanft auf die zuckenden schönen weißen Hände legen; und wenn sie dann – doch wohl sicher – den Kopf hob, ihr in die herrlichen weinenden Augen mit Gounods Gretchen sagen: »Ich liebe dich so inniglich – bin ganz dein eigen – will sterben für dich.«

Er hatte beide Hände zu dem präliminarischen sanften Druck erhoben und ließ sie erschrocken wieder unter den Tisch sinken. Ein heller und ein dunkler Handschuh – der helle sogar keineswegs mehr besonders sauber und längst ausrangiert – welcher Satan hatte ihm den Streich gespielt? Es war unmöglich. Wieder einmal war Fortuna zu ihm herangeschwebt. Und in dem Moment, wo er sie an der Haarlocke ergreifen wollte –

Ein ehrenvoller Rückzug – es blieb keine Wahl.

»Gnädige Frau,« sagte er, sich erhebend und die Linke mit dem hellen mäusegrauen auf den Rücken legend, »es kommen im Menschenleben Augenblicke – furchtbare. Wollte ich ausdrücken, was in diesem durch meine Seele flutet – vergebens würde ich nach Worten ringen. Wenn hier eine Schuld vorliegt – ich sehe keine: nur ein schändliches Spiel des Zufalls – aber andere mögen und werden vermutlich darüber anders denken – ich nehme sie auf mich voll und ganz. Will der Herr Professor von mir Genugthuung fordern – er weiß mich zu finden. Leben Sie wohl!«

Schon bei den ersten Worten dieser Rede hatte Astrid sich auf ihrem Sitz in die Höhe gerichtet. Trotz der hellen Verzweiflung, in welcher sie sich befand, der junge Mann that ihr leid. Er hatte eine greuliche Dummheit begangen; aber daß er es ehrlich meinte, daran konnte sie nicht zweifeln. Und daß er es weiter ehrlich mit ihr meinen und ihr zu Diensten sein würde, wo und wie er konnte. Ein treuer Freund – sie hatte niemals im Leben einen nötiger gehabt als eben jetzt.

»Ich danke Ihnen,« sagte sie. »Ich bin nicht gewohnt, andere für mich eintreten zu lassen, wenn eine wirkliche Gefahr droht.«

Sie hatte ihm die Hand gereicht. Er hätte sie so gern geküßt. Unwillkürlich war er mit dem hellen Ausrangierten nach vorn gefahren, und zum zweitenmal flatterte Fortunas Stirnlocke an ihm vorüber.

»Leben Sie wohl!« wiederholte er mit erstickter Stimme, und war zur Laube hinaus.

Astrid stand noch mehrere Minuten unbeweglich in dumpfem Brüten. Dann atmete sie auf, nahm das Buch vom Tisch und schritt langsam über die schmalen Gartenpfade dem Hause zu, die schweren Augenbrauen dicht zusammengezogen, die vollen Lippen aufeinandergepreßt.

Ihr Entschluß war gefaßt.

* * *

Eben als Astrid und Alfred drüben in die Laube getreten waren, erschien Willibald in der Hinterthür des Eilhardtschen Hauses, blieb einen Moment auf der Schwelle stehen, sah noch eben die beiden hinter den Blättern des wilden Weins verschwinden, lächelte spöttisch, stieg die drei Stufen herab und schritt quer über den wüsten Gartenplatz auf das Atelier zu. Im Hause war ihm niemand begegnet. Weshalb auch? Den Weg kannte er gut genug; und daß Stella um diese Stunde in ihrem Atelier zu sein pflegte, wußte er ebenfalls.

Auf sein Pochen an der Thür wurde nicht geantwortet. Dumm, wenn sie nicht da war! Man mußte eben sehen. Diskretion ist Ehrensache, aber einen Lebensberuf aus ihr machen, darf man nicht. Also!

In dem Augenblicke, als er die Thür öffnete, trat Stella aus dem kleinen Nebenraum, der ihr als Toilettenzimmer diente. Willibald lief mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

»Sind Sie nun vollends verrückt geworden?« rief Stella lachend, mit einem Schritt rückwärts.

»Ein Wunder wäre es nicht,« erwiderte Willibald, ohne eine Miene zu verziehen. »Sie sehen mal wieder zum Verrücktwerden reizend aus.«

»Sind Ihnen Astrid und Ihr Freund Alfred nicht begegnet? Ich glaube, er wollte zu mir. Wenigstens war er schon vor der Thür. Astrid hat ihn abgefangen.«

»Und hat den Gefangenen in ihre Laube verschleppt, aus der sie hoffentlich nicht so bald wieder ans Tageslicht kommen. Ich habe die wichtigsten Dinge mit Ihnen zu besprechen.«

»Das merkte man aus Ihrer Entrée.«

»Im Ernst, schöne Freundin: verteufelt wichtige Dinge und verteufelt unangenehme dazu – Sapristi!«

Er war vor die Staffelei getreten und ließ die Blicke über sein Konterfei gleiten.

» Mais c'est merveilleux! Vraiment! Un chef d'?uvre! Parole d'artiste! Und solche Esel! solche horriblen Esel! – Diesen Schatten müssen Sie noch ein wenig vertiefen.«

»Und dies hier gefällt mir auch noch nicht,« sagte Stella, an ihn herantretend und auf eine Partie der Stirn über dem rechten Auge deutend.

»Na, das geht! das geht! Die zauberhafte Schönheit des Originals zu erreichen, dürfen Sie freilich nicht hoffen. Aber wir sehen ja wohl auch weniger auf Schönheit als auf –«

»Sittsames Betragen,« sagte Stella, den Arm, den er um ihre Hüfte legen wollte, zurückschiebend.

»Pardon! Ich wollte Sie nur stützen in dem sehr wahrscheinlichen Fall, daß Sie ohnmächtig werden, wenn Sie hören, was ich Ihnen zu sagen habe.«

»Lassen wir es darauf ankommen!«

»Ich habe Sie gewarnt. Also! Nehmen Sie alle Kraft zusammen und seien Sie größer als das Schicksal: Ihre Bilder sind refüsiert!«

»Alle drei?«

»Und wären's dreißig gewesen. Im dicken Bauch der Dummheit haben noch mehr Platz.«

»Aber das ist schändlich!« rief Stella, jetzt, nachdem sie den ersten Schrecken bemeistert hatte, in voller Empörung.

»Ob es das ist!«

»Auch von Ihnen. Noch gestern abend haben Sie mir gesagt: die Annahme sei sicher.«

»Verzeihung: so gut wie sicher. Und durfte es sagen, da ich es aus dem Mund von Käsebier hatte, dem die übrigen Hammel in der Jury notorisch stets gehorsam nachspringen. Wie konnte ich auch zweifeln, da meine Sachen angenommen waren, die allerdings ein gut Teil zahmer sind als Ihre.«

»In der Malerei nicht.«

»Mag sein: nicht in der Malerei, aber in den Sujets. Ich sagte Ihnen gleich: die drei Kinderleichen mit der sich im Todeskampf windenden Mutter, während der blaue Kohlendunst –«

»Sie rühmten die packende Wahrheit –«

»Thue ich noch, werde es immer thun. Aber die vérité, die vérité vraie – das ist ja das rote Tuch für diese Ochsen. Uebrigens – man muß selbst gegen Ochsen gerecht sein: der Kampf hat lange geschwankt. Man hatte die definitive Entscheidung über Ihre Bilder bis heute – bis zum äußersten Termin also – hinausgeschoben. Man ist sich furchtbar in die Perücken geraten. Käsebier hat für Sie plaidiert; Nußbaum, Vischer und, ich glaube, auch Teller – vergebens! Man hat sie niedergestimmt, und der Unsinn hat wieder einmal gesiegt.«

»Und Eilhardt duldet die Schmach, die man seiner Frau anthut!« rief Stella, mit heftigen Schritten hin und her gehend.

Willibald lächelte höhnisch.

»Der Herr Professor! Freilich! Er hat sich klug salviert! da Sie partout ausstellen wollten, könne er selbstverständlich nicht Mitglied der Jury sein! Nun, er braucht die Jury so wenig wie die Hängekommission: vor seiner goldenen Medaille springen die Thüren der Ausstellung auf, und man beeilt sich, dem großen Manne die besten Plätze zu offerieren. Und daß er seinen Einfluß für Sie geltend machen sollte – ja, meine Allerschönste, das können Sie billigerweise doch kaum verlangen: wenn einem der Feind von allen Seiten ins Land dringt, soll man ihm da noch die Heerstraßen ebnen? Das wäre der reine Selbstmord; und der Herr Professor hat – aus guten Gründen – sein Leben viel zu lieb.«

»Ja, das hat er!« rief Stella in tragischem Ton.

» Que voulez-vous! Er hat eben nicht Ihre Tiefe. Oberflächliche Menschen nehmen es immer leicht mit dem Leben und mit der Kunst. Hat er je das mindeste Verständnis – ich will gar nicht von Ihrem Können sprechen – aber auch nur für Ihr Wollen gezeigt?«

»Und nun wird er vollends triumphieren!«

»Wenigstens raufte er sich nicht die Haare aus, als ich ihm mitteilte, was Ihnen passiert ist.«

»Sie haben ihn gesprochen?«

»Ich komme eben von ihm. War in der Ausstellung, nach meinen Bildern zu sehen – hängen natürlich miserabel; – sprach Käsebier; hörte, was geschehen; ging sofort nach der Akademie, direkt zu dem Professor ins Atelier. ›Nun, lieber Freund, was bringen Sie?‹ – ›Man hat soeben die Bilder Ihrer Frau refüsiert.‹ – ›Haben Sie es anders erwartet?‹ – ›Ob ich es habe!‹ – ›Ich nicht.‹ – ›Möglich, aber ich sehe in diesem Refus einen Schlag ins Gesicht der ganzen neuen Richtung, den ich, als ihr Vertreter, sehr lebhaft fühle und nicht dulden werde. Ich werde meine Bilder zurückziehen.‹ – ›Das geht nicht; das ist gegen die Statuten.‹ – ›Weshalb hat man sie angenommen und denen Ihrer Frau das Permesso verweigert?‹ – ›Weil Sie, trotz alledem, ein Künstler sind und meine Frau erst einer werden soll.‹«

»Hat er das gesagt?« rief Stella mit flammenden Wangen und funkelnden Augen.

»Mit der ruhigsten Miene von der Welt, während er sich eine frische Cigarette ansteckte. Apropos! darf ich eine rauchen?«

»Da steht das Feuerzeug.«

»Und rauchen Sie auch eine! Es giebt kein besseres Mittel gegen agitierte Nerven! Bitte!«

Er hatte ihr sein Etui angeboten und zu Feuer verhelfen. Stella that ein paar Züge. Plötzlich warf sie die Cigarette weg und brach in leidenschaftliches Weinen aus.

Willibald rauchte nachdenklich weiter, während seine Blicke auf sie geheftet waren und er im Geist die feinen Linien ihres Körpers nachzeichnete, wie sie da vor ihm saß mit seitwärts gebogenem Oberkörper, das Gesicht tief in die auf der Stuhllehne verschränkten Arme drückend.

»Es ist Unsinn,« sagte er bei sich, »und kann nur wieder zu Unsinn führen. Mais c'est plus fort que moi.«

Er ließ die Cigarette auf den Boden gleiten, erhob sich von dem Sessel, trat an sie heran und legte die Hand leicht auf ihr schwarzes Haar.

»Stella –«

Ein nur noch heftigeres Schluchzen war ihre Antwort.

Er nahm die Hand von ihrem Kopf, stützte sie auf eine freie Ecke der Stuhllehne und sagte, sich über die Weinende beugend, leise sprechend, dicht an ihrem Ohr: »Geliebte Stella, ich liebe Sie, ich bete Sie an – habe Sie geliebt und angebetet schon, als ich vor vier Jahren von hier nach Paris ging. Sie! Was konnte der junge, namenlose Schüler Ihnen sein? Sie hatten ja Ihre Wahl getroffen. Eine große, glückliche Wahl, dachte ich damals. Und habe es während der ganzen Zeit gedacht. Und Sie weiter geliebt in dem Seine-Babel, das mir nicht gefährlich werden konnte. Trug ich doch Ihr Bild im Herzen! Dein Bild, mein geliebtes Mädchen! Die ich nun nach Jahren wiederfinde: ein geniales, unglückliches Weib, um so unglücklicher, je genialer es ist. Unverstanden in ihrer Genialität. Selbst von ihm, der sich ihr Gatte nennt. Ich aber, ich verstehe dich; ich bewundere dich, liebe dich. Und bin kein hilfloser Knabe mehr; bin ein Mann, der seinen Mann steht, auch als Künstler. Und der stark genug ist, dich aus diesem Elend, in dem du über kurz oder lang untergehen wirst, zu retten, wenn du dich retten lassen willst. Willst du, geliebtes Weib? Willst du?«

Eine Antwort kam nicht; aber der schlanke Leib wurde nicht mehr so heftig vom Weinen geschüttelt und das Schluchzen war leiser geworden. Das war ein gutes Zeichen. Und nun hatte er sich so tief in den »Unsinn« hineingeredet! Und ein Mann bleibt da doch nicht auf halbem Wege stehen!

Während er seinem Flüstern einen noch leidenschaftlicheren Ausdruck zu geben versuchte, was ihm nach seiner Meinung überraschend gut zu gelingen schien, fuhr er fort:

»Hier kannst du nicht mehr bleiben – nach diesem schändlichen Affront nicht mehr. Du bist es dir, du bist es unserer Kunst schuldig. Da liegt das Buch der Baskirtscheff. Glaubst du, sie würde sich in einer solchen Lage auch nur einen Augenblick besonnen haben? Als ich das Buch las – ich habe immerfort dabei an dich gedacht. Du warst meine Marie; ich war dein Bastien!«

Das Schluchzen hatte aufgehört; nach Willibalds Erfahrung mußte jetzt die Entscheidung kommen. Er ließ sich auf beide Knie nieder, indem er zugleich, ohne Heftigkeit, die Arme um ihren schlanken Leib legte.

»Stella, ich liebe dich! Entflieh mit mir und sei –«

Das wollte er doch lieber ungesagt sein lassen; das konnte doch später zu Unzuträglichkeiten führen.

Er drückte sein Gesicht tiefer in die Falten ihres Kleides und flehte:

»Nur ein Wort, Stella! Nur einen Blick!«

Sie hatte das Gesicht, das noch immer in ihren Armen auf der Stuhllehne lag, gehoben und wandte sich, ihm beide Hände auf die Schultern legend:

»Willibald!«

»Stel–«

Er brachte das Wort nicht fertig vor einem konvulsivischen Hustenanfall, der ihn von den Knien empor in eine Ecke des Ateliers trieb, wo er das eilig aus der Brusttasche gerissene Tuch vor den Mund hielt, fast in den Mund stopfte – immerfort hustend, als sei er am Ersticken.

Wie scheinbar natürlich das alles war – Stella hatte die Empfindung: es ging nicht mit rechten Dingen zu. In seine Augen, als er zu ihr aufblickte, war plötzlich ein Zwinkern gekommen, als hätte er etwas besonders Komisches gesehen. In ihrem Gesicht?

Mit einem Schritt war sie an dem Tisch; hatte den Handspiegel, der da zwischen ihren Malsachen lag, ergriffen, hineingeblickt, einen leisen Schreckensschrei ausgestoßen, den Spiegel wieder auf den Tisch geworfen und war in ihr Toilettenkämmerchen gestürzt, die Thür hinter sich zuriegelnd.

»Da haben wir die Bescherung,« sagte Willibald für sich, das Tuch vom Munde nehmend. »Donnerwetter, sah sie aus! Warum streicht sie auch die Pinsel immer auf dem Aermel ab! Die reine Symphonie in rot und blau! Zum Schreien! Ob sie wohl wiederkommt?«

Er war vor das Porträt getreten.

»Wirklich famos – alles noch ein bißchen roh, aber doch ein riesiges Talent! Die Ochsen! Die Kamele! Wenn man ihnen einen Streich – und dem Farbenduseladim – recht wär's ihm schon – eine Art von Entschädigung für das unterbrochene Opferfest – ja, so geht's! Kann's wenigstens gehen.«

Ein schadenfrohes Lächeln zuckte um seine Lippen.

In dem Kabinett wurde der Riegel zurückgeschoben. Stella trat herein. Ein starker Terpentingeruch ging von ihr aus, der für Willibald, als er mit ausgestreckten Händen auf sie zukam, keiner Erklärung bedurfte.

»Verzeihung, schönste Frau! Aber unter Kameraden, wissen Sie –«

»Es muß furchtbar komisch ausgesehen haben –«

»Da Sie selbst meine Verteidigung übernehmen –«

»Sie hätten freilich etwas anderes verdient.«

»Ich gelobe Reue und Buße –«

»Besserung wäre mir lieber –«

»Nach der Seite kann ich leider nichts versprechen–«

»Dann machen Sie wenigstens, daß Sie wegkommen.«

»Sofort, wenn Sie mir erlauben, das Bild da mitzunehmen.«

»Wozu?«

»Zum Andenken an diese Stunde.«

»Ich dächte, wir beide thäten besser, sie schleunigst zu vergessen.«

»Dann im Ernst: ich will es für Paris haben – samt den übrigen.«

»Das nennen Sie Ernst?«

»Wollen Sie etwa keine Revanche?«

»Ja, ja, ich will! ich will! blutige Revanche!«

»Sie soll Ihnen werden,« sagte Willibald, das Bild von der Staffelei herabnehmend.

»Es ist ja noch nicht einmal fertig.«

»Ich brauche es gerade so, wie es ist.«

»Aber das eilt doch nicht.«

» Chi lo sa! Jedenfalls habe ich einen Wagen vor der Thür und so die beste Transportgelegenheit. Erlauben Sie!«

Er hatte aus einer Ecke, in der allerlei Kram übereinandergetürmt war, einen großen Baumwollfetzen genommen, den er sorgsam um das Bild schlug.

»So! – Und wenn wir uns hier nicht wiedersehen sollten – a rivederci in Paris!«

Er hatte ihr die Hand gereicht. Ihre Hand zitterte ein wenig.

»Geliebte Stella! Die Farbe auf der Leinwand hat uns zusammengeführt. Soll ein bißchen davon, das sich in Ihr reizendes Gesicht verirrt hat, uns trennen? Seien Sie vernünftig! Werfen Sie den Krempel hier von sich! Kommen Sie mit!«

»Sie sind positiv toll.«

»Vielleicht denken Sie morgen oder übermorgen anders darüber. Dann sagen Sie mir ein Wort! Sie sollen sich um nichts zu bekümmern brauchen. Ich besorge alles und jedes – Billet inklusive. Sie haben schlechterdings nichts nötig, als mich den Tag wissen zu lassen und pünktlich auf dem Bahnhof zu sein. Der einzige Zug, der schlank durchgeht, ist abends zehn. Solche Züge gehen immer um zehn.«

»Sie scheinen viel Erfahrung darin zu haben.«

»Danke! So la la; oberflächlich; eben nur fürs Haus. Noch eins! Sie werden dicht verschleiert kommen – schwarz natürlich! das ist de rigueur. Aber es kaprizieren sich vielleicht mehrere Damen gerade auf den Zug, und Irrungen in solchem Fall enden nicht immer als Komödie, oder können doch bedenkliche Umstände und Kosten verursachen, bis die Auswechselung erfolgt ist. Also, bitte, lassen Sie aus der linken Hand ein weißes Taschentuch herabhängen! Das ist ganz unverfänglich und doch, konsequent durchgeführt, völlig genügend. Wollen Sie?«

»Ich wollte nur, ich könnte Ihnen so böse sein, wie Sie es verdienen.«

»Das kommt auf dasselbe heraus. Also: abgemacht! Auf Wiedersehen!«

Er hatte mit einem kräftigen Druck ihre Hand losgelassen und war zum Atelier hinaus.

Stella blickte auf die Thür, die sich hinter ihm geschlossen hatte.

»Eilhardts Gesicht, wenn er liest: lebe wohl! ich bin auf dem Wege nach Paris! – Das allein wäre den Spaß wert. – Pah! es ist ja alles dummes Zeug. Aber das Bild hätte ich ihm nicht geben sollen.«

Sie eilte an das Fenster und schlug den Vorhang zurück.

Willibald war bereits im Hause verschwunden.

* * *

Als der Maler mit seiner offenen Droschke – auf dem Sitze sich gegenüber das verschleierte Bild – aus der Seitengasse, in der die Villen der Freunde lagen, in die Hauptstraße bog, sah er auf dem Fußwege eine kleine Gestalt eilig schreiten.

»He! Alfred! Kommen Sie! Ich nehme Sie mit in die Stadt.«

Er hatte halten lassen, Alfred sich zu ihm gesetzt; der Kutscher trieb das Pferd wieder an.

Willibald hatte das Bild, das ins Rutschen gekommen war, wieder festgestellt und wandte sich zu Alfred.

»Donnerwetter, Freund, aber sehen Sie aus! Was ist Ihnen passiert?«

»Wie finden Sie das?« rief Alfred, beide Hände von sich streckend.

»Was?«

»Bemerken Sie denn nichts?«

»Daß Sie es heute morgen etwas eilig gehabt und in der Wahl Ihrer Handschuhe nicht glücklich gewesen sind.«

»Nicht glücklich! Jawohl! Wenn darüber das Glück eines – nein! zweier Menschen zerbrochen ist, wie –«

»Sagen wir: das von Edenhall. »Das Glück von Edenhall« (1834), Ballade von Ludwig Uhland: Bei einem Fest fordert der junge Lord von Edenhall sein Glück heraus, indem er mit dem aus Kristall gefertigten Trinkglas, das »Glück von Edenhall« heißt und das Familienglück verbürgt (einst ein Feengeschenk), kraftvoll anstößt. Es zersplittert, und sofort bemächtigen sich die heimlich eingestiegenen Feinde des Schlosses; der junge Lord fällt, in der Hand das zerbrochene Glück. Warum nicht? In solchen Momenten spielt man immer va banque gegen den Zufall, der bekanntlich stark im Volteschlagen ist. Mir ist eben, vermutlich in einer ähnlichen Situation, etwas noch viel Tolleres begegnet, das merkwürdigerweise auch ins koloristische Fach schlägt.«

»Pfui Teufel!« rief Alfred, sich mit krampfhafter Hast die Handschuhe abreißend und sie zum Wagen hinauswerfend.

»Das ist recht!« sagte Willibald. »Das erleichtert das Gemüt. Nun stecken Sie sich noch eine Cigarette an und erzählen Sie – ›damit wir beide es wissen‹, wie Mutter Thetis zu dem weinenden Heldensöhnchen sagt. Homer, Ilias, Erstes Buch, V. 362f.«

Wirklich stand Alfred das Wasser in den Augen, und er hatte, während er dem Freunde »die fürchterliche Situation, in der er sich befand« ohne Rückhalt klar zu legen suchte, wiederholt Mühe, die offenen Thränen zurückzuhalten. Willibald, wie sehr er sich auch innerlich über den »Nihilisten« amüsierte, der bei jeder Gelegenheit mit seinem »vereisten« Herzen prahlte, hörte, ohne eine Miene zu verziehen, aufmerksam zu, während der tolle Einfall, welcher ihm in Stellas Atelier gekommen war, für ihn immer greifbarere Gestalt annahm.

Alfred hatte seine Beichte beendet.

» Très bien!« sagte Willibald. »Sie haben, Ihrer Natur nach, die Sache von der tragischen Seite gesehen, an der es ja auch nicht fehlt. Mir müssen Sie schon verstatten, mich an die komische zu halten, die Ihnen entgangen ist. Aber, bedenken Sie doch! Da geht von einem Jamben-Stelzer, Perioden-Drechsler, Dutzendgefühle-Verschleißer ein frisch-frohes Buch neuesten Stiles in die Welt, das er nicht geschrieben hat, von dem jede Zeile ihm das Haar zu Berge sträubt. Sie werden sagen: der Spaß kann nicht lange dauern. Gleichviel! Spaß ist Spaß und – Rache ist süß. Soviel für Sie. Nun für mich. Hier das Bild! – rühren Sie nicht daran, sonst fällt es um! – mein Porträt, das leibhaftige Konterfei von Eilhardts abtrünnigstem Schüler, gemalt von der Hand seiner süßen kleinen, tapferen Renegatin von Frau. Wenn wir das auf die Ausstellung brächten unter seinem heiligen Namen, auf den hierorts alle Esel schwören!«

»Aber das wird unmöglich sein.«

»Gar nicht, wenn Sie mir helfen wollen.«

»Mit Vergnügen – das heißt –«

»Wollen Sie, oder nicht?«

»Gewiß! Aber wie? wie denn?«

»Der Katalog der Ausstellung wird in Ihrer Offizin gedruckt?«

»Freilich! ich selbst besorge die Korrektur. Professor Käsebier hatte mich darum gebeten. Eine gräßliche Schererei. Nun ist zum Ueberfluß noch ein ›Anhang‹ nötig geworden. Er sollte heute morgen gesetzt werden. War eben auf dem Wege nach der Druckerei.«

»Welche Nummer?«

»Einundzwanzig.«

»Kutscher! Käsekeilchengasse einundzwanzig!«

»Was haben Sie nur vor?«

»Ich sage es Ihnen an Ort und Stelle.«

* * *

In der am Sonntag eröffneten Kunstausstellung fand man stets dichte Gruppen vor einem Bilde, das in einem der größeren Nebensäle an vorzüglicher Stelle hing. Der Knäuel wurde manchmal so dicht, daß neu Herzutretende sich auf die Zehen stellen mußten, wenn sie das merkwürdige Werk sehen wollten.

»Sagen Sie,« begann Doktor Mädler von der höheren Töchterschule zu Professor Bimstein von der Kunstakademie, den er plötzlich neben sich bemerkte; »sagen Sie mir, Verehrtester, was bedeutet dieses Sammelsurium von schmutzigen blauen, grauen Farben, worin sich einige rote Kleckse befinden?«

»Das Porträt des Malers W. – soll heißen: Willibald – von meinem Kollegen Friedrich Eilhardt,« erwiderte der Professor nicht ohne einen Anflug von Hohn.

»So steht im Anhang des Katalogs unter Nummer 861,« sagte der Doktor. »Aber das meine ich nicht. Ich meine, wie kann unser Eilhardt sich zu einer solchen – darf ich sagen: Schmiererei? hergeben? und wie kann Ihre Jury so etwas durchgehen lassen?«

»Respekt vor der großen goldenen Medaille, wenn ich bitten darf!«

»Ich respektiere gewiß jedes Verdienst und bin stets ein Anhänger, mehr noch: Bewunderer Eilhardts gewesen. Aber dies! Ist es denn wahr und wahrhaftig von ihm?«

»Jedenfalls hängt es hier seit vier Tagen, ohne daß er es abgeleugnet hätte. Ueberdies, sein ehemaliger Schüler Willibald hat es eigenhändig am Sonnabend Abend hierhergebracht, direkt aus seines alten Meisters Atelier.«

»So ist nicht daran zu zweifeln. Aber welch grauenhafte Verirrung! Welch tiefer Fall! welch schnöde Verleugnung der heiligen Ideale, zu denen der Mann trotz seines fahrigen Wesens, das mir stets anstößig war, sich noch immer ausnahmlos bekannt hat! Mein Gott, es wird einem humanen Gemüt so schwer, dergleichen Ungeheuerlichkeiten für effektive, bare, plumpe Wirklichkeit zu nehmen. Ist denn keine andere Erklärung denkbar? Kann er sich nicht einen – immerhin bedenklichen und unzarten, aber doch wohlgemeinten Scherz erlaubt haben?«

»Einen Scherz? Wie meinen Sie?«

»Ich habe vorhin im Saal B – wenn ich nicht irre – drei oder vier Bilder eben seines Schülers Willibald gesehen, von denen ich gleichfalls nicht weiß, wie die Jury sie hat zulassen können.«

»Durch meine Schuld nicht,« rief Professor Bimstein eifrig. »Ich habe mir fast den Mund dagegen wund gesprochen. Aber Käsebier, Nußbaum, Vischer – Teller nicht zu vergessen – diese Schwachmatici, diese Mantelträger, diese Liebediener hatten es mit der Duldsamkeit, der Liberalität: man dürfe keinen Mißbrauch mit der Macht treiben; die neue Richtung, die junge Schule nicht vergewaltigen; müsse sie zu Wort kommen lassen, und was des abominabeln Unsinns mehr war. Wir anderen Vernünftigen konnten froh sein, daß wir uns wenigstens mit den Sudeleien von Eilhardts Frau nicht auch noch zu prostituieren brauchten.«

»So, so!« sagte Doktor Mädler, sich die Nasenspitze reibend: »Eilhardts Frau – die kleine Stella Erbach, Tochter des verstorbenen Ober-Justizrates – das ist nun wieder meine Schülerin: ein naseweises, vorlautes Ding, aber recht begabt – So, so! Und die hat sich auch aufs Malen gelegt? Ja, ja! ich hörte davon.«

»Wie sollten Sie nicht! Hat sie doch sogar schon wiederholt ausgestellt: im Verein der Künstlerinnen und dergleichen. Mit Erfolg, mein Bester! mit Erfolg! Prinzessin Amalgunde hat im vorigen Herbst eines von ihren Schauerstücken gekauft. Die Sache macht Propaganda, sage ich Ihnen. Macht Propaganda.«

»Sehen Sie, Verehrtester – aber lassen Sie uns da auf dem runden Diwan Platz nehmen – es plaudert sich so besser – und das Stehen greift mich etwas an – sehen Sie, das ist es, was ich meinte: die Sache macht Propaganda – das ist nun einmal die leidige Natur des Unkrautes – schießt auf in Samen – erstickt die fruchtbaren Aehren. Eilhardt – mein Gott, er ist ja ein konfuser Kopf – aber sollte er das weniger deutlich sehen als wir? weniger schmerzlich empfinden? Ich möchte sagen: um so deutlicher, schmerzlicher, wenn er seine junge Frau auf einem Wege findet, den er verabscheut? ihn das Unglück, das diese Neuerer anrichten, bis an den häuslichen Herd verfolgt? Da sollte ihn der Unwille nicht übermannt, er sich nicht gesagt haben: jetzt will ich dir, verblendetes Weib; will ich euch Lärmern und Friedensstörern zeigen, wohin euer Treiben führt? Es kann nicht anders sein. Je länger ich darüber nachdenke, mir die Qualen vergegenwärtige, die der Aermste erduldet haben muß und erduldet, um so sicherer ist mein Schluß: es muß so sein. Und daß er sich gerade den ärgsten Schächer, seinen verräterischen Schüler ausgesucht und – so zu sagen – in effigie an den Pranger gestellt hat – das ist doch ein Zug, den ich geradezu genial nennen möchte.«

Doktor Mädler nahm eine Prise, die er während seiner letzten Rede zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten, und bot die kleine goldene Dose dem Professor.

»Prischen gefällig?«

Der Professor schüttelte fast unwillig den Kopf und erwiderte mit nur mühsam unterdrückter Erregung:

»Alles ganz gut und schön, nur daß ich leider anderer Meinung bin, nach meinen Beobachtungen sein muß. Sie, lieber Doktor, Sie können von Ihrem Katheder aus diese Beobachtungen nicht wohl machen; uns Künstlern, die wir tagtäglich durch die Ateliers laufen, mit dem Publikum in fortwährender enger Berührung sind, drängen sie sich auf Tritt und Schritt auf. Das Unglück hat schon viel größere Dimensionen angenommen, als Sie anzunehmen scheinen. Dieser Pöbelgeist, der alles, was bisher für ehrwürdig galt, umstürzen und auf den Kopf stellen möchte – ja, wenn er bloß in den windigen Gehirnen der jungen Leute spukte! oder nur die unteren Klassen ergriffen hätte, in die ja jetzt der leibhaftige Teufel gefahren zu sein scheint! So steht die Sache aber leider Gottes nicht. Leute, die längst die Kinderschuhe ausgetreten haben, womöglich schon graue Haare im Bart, sind von dem Schwindel angesteckt; und ich deutete Ihnen bereits vorhin an, bis in wie hohe Kreise hinauf die Verblendung reicht. Ist es doch schon so weit gekommen, daß man uns ältere Künstler nicht mehr offen zu loben wagt. Von flottem Verkaufen unserer Bilder, wie früher, ist längst keine Rede mehr. Ich kenne Kollegen – Namen will ich nicht nennen –, die zehn, zwanzig Bilder auf den verschiedenen Ausstellungen, oft in den obskursten Nestern – umherirren haben, damit das arme herumgestoßene Zeug zuletzt auf einer Auktion für einen Spottpreis losgeschlagen wird. Und dabei muß man Gott danken, daß man's los ist und sich vor Frau und Kindern nicht die Augen aus dem Kopf zu schämen braucht, wenn es einem nach Jahren wieder in die Bude schneit. Ja, Verehrter, heutzutage geht die Kunst mehr als je nach Brot. Na, und sein bißchen Renommee möchte man doch auch von Zeit zu Zeit wieder auffrischen! Fleckt's nicht mehr mit den alten reinlichen Farben, mischt man ein bißchen Schmutz dazu. So bleibt man in der Mode, respektive kommt in die Mode – wie Sie wollen.«

Professor Bimstein lächelte höhnisch in seinen graumelierten Bart; Doktor Mädler legte ihm die Hand aufs Knie und flüsterte, sich vorsichtig umblickend:

»Um Himmels willen, mein Bester, lassen Sie das niemand hören! das heißt: ich habe mir im stillen auch so meine Gedanken – Aber wollen Sie wirklich sagen –«

»Ich will gar nichts sagen,« unterbrach ihn der Professor ärgerlich. »Ich weiß nur, daß Eilhardt, wenn er unter guten Freunden ist, für die Schule von Fontainebleau eine Lanze einlegt; Manet, Millet, Bastien Levage und die sonstigen französischen Schwindler gelten läßt; von dem enormen Talent des Sudelküchenjungen Willibald radotiert; sogar seine Frau, die gar nichts kann, rein gar nichts und im Leben niemals etwas können wird, einen Most nennt, der – und so weiter. Na, Verehrtester, so was färbt ab; und wer sich nicht geniert, Pech anzufassen – Haben Sie seine ›Zaubernacht‹ im ersten Saal gesehen? Ist Ihnen dabei nichts aufgefallen? Freilich, so was sieht nur unsereiner. Dann bitte, achten Sie einmal darauf, in welchem greulichen Kontrast die in der Luft schwebenden Elfen mit der ganzen übrigen Beleuchtung stehen: dem grüngoldigen Dämmer auf den Baumwipfeln, den tiefen Schatten zwischen den Stämmen, dem mattblauen Nachthimmel, durch dessen schwefelgelb umränderte Wolken der blinkende Mond segelt. Alles sehr stimmungsvoll, ein echter alter Eilhardt. Vergangenen Freitag komme ich zu ihm ins Atelier. – Er pinselt an der ›Zaubernacht‹ herum. – ›Freundchen,‹ sage ich, ›Hand von der Butter! Das Bild ist fertig. Du kannst nur noch was dran verderben.‹ – ›Meinst du nicht‹, sagt er, ›daß die Nixenleiber zu gelb, zu opak sind?‹ Und pinselt weiter. – ›Unsinn,‹ sage ich, ›du willst doch Mondscheineffekt.‹ – ›Eben deshalb,‹ sagt er; ›ich habe noch erst diese Nacht mich überzeugt: wenn der Mond voll und klar auf menschliche Epidermis scheint, giebt es eine weiße, kreidige Farbe; eigentlich das Gegenteil von Farbe. Ueberhaupt bin ich mit dem Bilde gar nicht mehr zufrieden: es ist alles zu dick und undurchsichtig, kein Ambiante, wie Correggio es nennt.‹ – ›Na,‹ sage ich, ›dann wünsche viel Glück,‹ und mache die Thür hinter mir zu.«

»Bravissimo!« sagte neben den Herren eine tiefe Stimme, die dem R in dem Worte mehr Geltung lieh, als ihm vielleicht zukam.

»Ah, Herr Direktor! Freue mich!« sagte Doktor Mädler, dem stattlichen Manne die Hand reichend.

»Wie komme ich zu der Ehre Ihres Bravissimo?« fragte Professor Bimstein. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Sie kennen die Anekdote von Friedrich Wilhelm dem Vierten von Preußen?« sagte der Direktor, sich zu den Herren setzend. »Eines Abends trat er nach dem zweiten Akt irgend einer fürchterlichen Jambentragödie aus seiner Loge auf das Foyer und fand seinen Kammerdiener eingeschlafen, den Kopf an der Wand. – ›Der Kerl hat gelauscht,‹ lachte der witzige Monarch. Nun, meine Herren, gelauscht, habe ich nicht; aber da ich, nur durch diesen Aufbau getrennt, unmittelbar hinter Ihnen auf dem Diwan saß, auch nicht verhindern können, daß ich mit meinen leisen Schauspielerohren jedes Wort Ihrer Unterhaltung vernahm. Und, meine Herren, mir geht es, wie der Prinzessin im Tasso:

Ich höre gern dem Streit der Klugen zu;
Wenn um die Kräfte, die des Menschen Brust
So freundlich und so fürchterlich bewegen,
Mit Grazie die Rednerlippe spielt.

Nihilominus tamen – ja, ja, Doktorchen, auch ich darf von mir sagen:

Daß ich die Alten nicht hinter mir ließ, die Schule zu hüten –

dennoch hätte ich, froh der kostbaren Beute, bescheidentlich ein stilles exit gemacht, wäre ich mir nicht bewußt gewesen, zu dem Thema, welches die Herren behandelt haben, einen exquisiten Beitrag liefern zu können.«

»Was ist es?« fragte Doktor Mädler eifrig.

»Dann schießen Sie los,« sagte der Professor.

»Wollen mir die Herren verstatten, zwischen Ihnen zu sitzen,« flüsterte der Direktor; »mein Organ ist etwas sonor, und ich möchte nicht gern – so! Danke verbindlichst! Haben die Herren den neuesten Roman von Arnold gelesen: Wenn Frauen Mut hätten?«

»Ich lese grundsätzlich keine neueren Romane,« sagte Doktor Mädler mit einem bösen Lächeln.

»Ich komme selten dazu,« sagte Professor Bimstein.

»Aber meine Herren, meine Herren!« rief der Direktor leise, die mit neuen rehfarbenen Glacés bedeckten Hände in sanfter Beschwörung erhebend; »nehmen Sie mir es nicht übel: zwei Männer, wie Sie, die an der Tête der Phalanx marschieren – das heißt: ich habe es auch nicht gelesen – ein geplagter königlicher Schauspieldirektor – das ist wie Sisyphus: immer wieder den Stein wälzend, der immer wieder zur Tiefe rollt. Aber meine Frau – armes, liebes Weib! seit sie von den Brettern hat scheiden müssen – ein unersetzlicher Verlust für sie und für die Welt – ihr ewig geschäftiger Geist – sie liest jetzt Romane, die ihr, der ans Zimmer und – wie so oft! an das Bett Gefesselten das Leben, das sie einst mit vollen Zügen genoß – Pah! werden wir nicht sentimental! – Sehen Sie, meine Herren, so bleibe ich, ohne selbst zu lesen, durch sie, die mir alles mitteilt, völlig au courant auch in der erzählenden Litteratur. Nun muß ich bemerken: meine gute Frau liest alles – alles: Tolstoi, Maupassant, Dostojewski, Flaubert, Zola, Bourget – wer kann alle die Namen behalten! – und, wie sich bei einer Dame, die denn doch so manchen Blick hinter die Kulissen geworfen hat, von selbst versteht: ohne falsche Prüderie – mein Gott! für den Reinen ist eben alles rein – mit einem Worte: es muß schon, so zu sagen, stark kommen, alle Grenzen überschreiten, wenn meine Frau daran Anstoß nehmen soll. Gut. Gestern abend komme ich aus dem Theater nach Haus und finde sie aufgeregt, als hätte sie selbst, anstatt der Bastel – die nebenbei gar nichts kann, als meine Frau jämmerlich kopieren – eben die Emilia gespielt. – ›Was ist dir, liebes Weib?‹ – ›O, dieses Buch! dieses Buch!‹ – ›Was für ein Buch?‹ – Meine Herren, ich will mich kurz fassen: da hat also Arnold, unser gefeierter Arnold, den manche auch ›den Schönen‹ nennen, der bis jetzt nur Jambendramen schrieb, die man dreimal und nie wieder bringen konnte, und – nach der Versicherung meiner Frau – Romane, die jede Mutter ihrer Tochter getrost in die Hand geben durfte, einen verbrochen, der – immer nach Aussage meiner, wie gesagt, nichts weniger als altjüngferlichen Gattin – alles übertrifft, was Franzosen, Russen, tutti quanti in dem Genre geleistet haben.«

»Dem lasciven, meinen Sie doch? natürlich!« sagte Doktor Mädler mit dem eigentümlichen Lächeln jemandes, der von der besprochenen Angelegenheit mehr weiß, als die Sprechenden selbst.

»Nicht so eigentlich,« erwiderte der Direktor; »das heißt, es sollen auch starke Sachen nach der Seite vorkommen; aber nicht gerade lasciv, eher von einer verblüffenden – ich kann den Ausdruck nicht gleich finden – die Herren werden mich schon verstehen. Nein, was meine Frau so entsetzt hatte, war eben jene – jetzt hab ich's! – Unverfrorenheit, mit der hier auf Dinge, Personen, Situationen losgegangen wird. Als ob man plötzlich unter Menschen geraten wäre, für die der Luxus der Kleidung noch erst erfunden werden soll, sagt meine Frau. Daß das Buch von Jammer und Elend nur so trieft; die Geschichte zumeist nur in Proletarierkreisen spielt; und wenn ein Mensch aus anderer Sphäre auftritt, er voraussichtlich ein Schurke ist, bedarf nach dem bereits Gesagten kaum der Erwähnung. Nun, wie finden die Herren das?«

»Ich finde,« sagte Professor Bimstein, »es ist ganz genau die Armeleutemalerei, mit der man das Publicum elendet, in den Roman übertragen.«

»Aber mein Lieber, Einziger, Bester,« rief der Direktor, »das wollte ich ja eben festlegen! Dazu habe ich Ihnen doch das alles erzählt! Uebrigens, wenn Sie glauben, daß unter diesem Greuel nur die Malerei und etwa noch der Roman zu leiden hat, so irren Sie. Bei uns auf dem Theater steht die Sache noch viel schlimmer. Sie glauben ja gar nicht, welche Zumutungen diese Herren Dichter jetzt an uns stellen. Ich danke Gott jeden Tag, daß ich Direktor eines königlichen Schauspieles bin und unter einem Intendanten arbeite, dem diese rohen Attentate auf Bildung, Sitte und Geschmack gerade ein solcher Horreur sind wie mir. So kommt es, daß wir hier wenig – so gut wie nichts – von diesen Abscheulichkeiten zu sehen bekommen. Aber gehen Sie einmal nach Berlin – da können Sie was erleben!«

»Und das nennt sich Reichshauptstadt,« sagte Doktor Mädler höhnisch. »Aber bleiben wir bei der Sache, vielmehr bei der Person! Ich frage wieder: wie ist dies möglich? Möglich, daß ein bis dahin reinlicher Dichter, ein Litteraturprofessor, ein Mann der guten Gesellschaft, zu dessen öffentlichen Vorlesungen unsere ganze Aristokratie in hellen Haufen strömt, sich so weit vergessen, so schamlos bloßstellen kann!«

»Und ich sage, wie in Eilhardts Fall: Großmannssucht! Furcht, wenn man im alten soliden Geleise bleibt, unter den Schlitten zu kommen,« brummte der Professor.

»Wie wär's mit dem alten: cherchez la femme?« meinte der Theatermann bedeutungsvoll lächelnd. »Nach meiner Praxis, wenn mal wieder einer einen dummen Streich macht, stimmt das immer.«

Der Direktor hielt dafür, daß es mit einem so hervorragend geistreichen Wort ein schöner Abgang sei. Er erhob sich von dem Diwan, reckte sich in den Hüften und strich eine doch mögliche Falte in seinem hellfarbenen Beinkleid glatt, um dann die seidenen Aufschläge seines schwarzen Rockes zurückzuklappen. Hut und Stock in der linken Hand, machte er eine seiner berühmten Verbeugungen.

»Wir gehen mit!« riefen Doktor Mädler und Professor Bimstein aus einem Munde.

»Sehr obligiert!« sagte der Direktor mit graziösem Lächeln, und in sich hinein ärgerlich: »Die Sorte verdirbt einem doch immer die schönsten Nuancen.«

Die Herren verließen die Ausstellung, in der sich – jetzt dicht vor Feierabend – nur noch wenige Besucher umtrieben. Mitten auf der Terrassentreppe, die sie hinabzusteigen hatten, blieb Doktor Mädler plötzlich stehen:

»Meine Herren!«

Die beiden anderen wandten sich. Da sie bereits eine Stufe tiefer standen, hatte der Doktor den Vorteil zu ihnen hinabzusprechen:

»Meine Herren! Wir haben danach den Ursachen zweier Erscheinungen geforscht, welche in diesen Tagen, schreckhaft für alle Gutgesinnten, sich manifestiert haben. Selbstüberschätzung, buhlerisches Bemühen um die Gunst der Menge, selbst der Frauen Manneskraft unterwühlender Einfluß wurde genannt. Meine Herren! Wenn erst einmal ein Gewitter am Himmel steht, ist es eine Frage des Zufalls, wo der Blitz einschlägt. Wir aber leben in dem eklen Brodem, der aus der vergifteten Volksseele allerorten atembeklemmend aufsteigt. Diese vergiftete Volksseele, sie ist es, die wir verantwortlich machen müssen für die Ausschreitung der Einzelnen. Denn wenn selbst bis dahin unbescholtene Männer, – will sagen: Männer, die man wenigstens bis dahin für unbescholten hielt – wie –«

Doktor Mädler brach jäh ab: die beiden, auf die er eben namentlich exemplifizieren wollte, kamen die Treppe herauf, linker Hand, nur wenige Schritte entfernt. Auch seine Zuhörer hatten die Uebelthäter gesehen. Und alle drei blickten, wie auf Kommando, starr nach rechts, wo ein Dampfer, der just die Brücke passierte, seinen unheimlichen Warnungsruf erschallen ließ.

* * *

Als Eilhardt und Arnold, der eine von der Akademie, der andere aus dem Polytechnikum kommend, auf dem Platz am Dom in der Nähe der Terrassentreppe zusammentrafen, hatten beide gleichzeitig gestutzt, um dann, ebenso, mit einem Gefühl der Beschämung, die Hände gegeneinander auszustrecken.

»Wie geht's, alter Junge?«

»Und dir?«

»Weißt du, daß wir uns seit dem Abend bei Emerich nicht wieder gesehen haben?«

»Ob ich es weiß! Aber ich habe wie ein Einsiedler gelebt. Diese schändliche Geschichte mit dem Buche –«

»Na, und ich! Die greuliche Affaire mit dem Bilde –«

»In der ich dich nicht begreife.«

»So wenig, wie ich dich in der deinen.«

»Ja, wenn es bloß die meine wäre!«

»An dem Karren, vor den ich gespannt bin, ziehe ich auch nicht allein.«

»Darüber ließe sich viel sagen.«

»Das weiß Gott!«

»Wo wolltest du hin?«

»In das Restaurant oben. Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen.«

»Ganz mein Fall.«

»Wirst du nicht zu Hause erwartet?«

»Nein.«

»Kurios! ich auch nicht! Das heißt: kurios ist es eigentlich gar nicht. In einer solch vermaledeiten Situation –«

»Sie kann nicht schlimmer sein als die meine.«

»Vielleicht doch. Meine ist der Art, daß ich sie nicht länger ertragen kann.«

»Und ich bin au bout de mes forces

»Aber für mich steht es fest: ich mache ein Ende damit.«

»Das ist auch bei mir beschlossene Sache.«

»Nicht möglich!«

»Du wirst es morgen sehen.«

»Morgen? Zu morgen habe ich ebenfalls eine Ueberraschung in petto

Die Freunde blickten sich in die Augen.

»Was hast du vor, Eilhardt?«

»Willst du mir dann sagen, was du vorhast?«

»Ein Mann, ein Wort. Ich überlegte eben, ob es nicht doch meine Pflicht sei, dich ins Vertrauen zu ziehen.«

»Seit drei Tagen trage ich mich dir gegenüber mit demselben Gedanken. Ich fürchtete nur immer, du würdest es mir ausreden wollen.«

»Das steht nicht zu befürchten, wie es scheint.«

»Also gehen wir hinauf! Ich habe einen kannibalischen Hunger!«

»Beneidenswerter Mensch!«

»Ach was! Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.«

Sie stiegen die Treppe hinauf. Als sie an der Gruppe des Doktor Mädler und seiner Zuhörer vorüberkamen, berührte Eilhardt Arnolds Arm.

»Die sprechen über uns.«

»Warum sie nicht, wenn es die ganze Stadt thut! Doktor Mädler ist nebenbei mein erbitterter Feind wegen des Zulaufs, den ich in meinen Vorlesungen habe. Eine schändliche Kritik über – tranchons le mot! – Astrids Roman in der ,Tagespost' kann nur von ihm sein.«

»Wie eine in der ›Kunsthalle‹ über – mein Gott, weshalb dir gegenüber Versteckens damit spielen! – Stellas Bild nur von Bimstein.«

»Und der wackere Direktor hat mir heute morgen meinen Heinrich den Vierten zurückgeschickt: der Stoff sei doch schon zu oft behandelt! Nachdem er es vorher von wahrhaft Schillerschem Geist erfüllt fand!«

»Canaillen! niederträchtiges Heuchlerpack – einer wie der andere. Herr Gott, wenn man die Bande los sein könnte! Und wär's auch nur für ein paar Monate!«

»Am liebsten doch wohl für immer.«

In dem Restaurant war bald ein stiller Eckplatz gefunden. Sie hätten über dem Diner des Tages, das sie sich servieren ließen, und einer Flasche Rüdesheimer, die Eilhardt beordert hatte, völlig ungestört ihre Angelegenheiten besprechen können. Dazu kam es vorerst nicht. Eilhardt schlang die trefflichen Speisen hastig hinunter, als hätte er tagelang gefastet, und trank dazu ein Glas über das andere; Arnold schien an jedem einzelnen Bissen zu würgen; auch nippte er nur an dem Wein, war aber nicht mitteilsamer als der andere. Das Wenige sogar, was sie sprachen, betraf ganz gleichgültige Dinge. Jeder sagte sich, daß der da ihm gegenüber sein bester Freund sei, bereit, für ihn durch Feuer und Wasser zu gehen; er selbst ja auch sich anheischig gemacht habe, zu sprechen, und ihm, wenn er gesprochen, voraussichtlich leichter ums Herz sein würde. Aber die Last war so schwer! Wenn sie einmal im Rollen, das erste Wort heraus war, mocht's eher gehen. Nur wie es finden?

»Eine Flasche Burgunder – von Ihrem ältesten!« schrie plötzlich Eilhardt den Kellner so heftig an, daß der erschrockene junge Mensch einen Schritt zurückfuhr. Und dann zu Arnold, der ihn verwundert anblickte: »Du solltest doch wissen, daß ich eine angewachsene Moseszunge habe, die bei dem wässerigen Zeug nicht locker wird. Natürlich, ein bißchen Rücksicht auf einen alten Freund nehmen, ihm mal eine Hand reichen, wenn er nicht über den Graben kann – das liegt nicht drin. Möchte wohl wissen, weshalb wir uns hier eigentlich gegenübersitzen? Dem lieben Herrgott die Zeit zu stehlen? Wie die Katzen um den heißen Brei herumzugehen?«

»Ich versichere dich, Eilhardt –«

»Jawohl! jetzt, wo ich mich montiert habe, in Rage bin, jetzt, wo ich sprechen kann – nun möchtest du's. Nein, lieber Junge, daraus wird nichts. Ein für allemal nichts. Jetzt komme ich.«

Der Kellner brachte die Flasche in ihrer Korbwiege, die er vorsichtig vor Eilhardt hinstellte.

»So ist's recht,« sagte Eilhardt; »Chambertin, Achtzehnhundertsiebziger, Originalabzug – Du bist ein braver Junge! So! Und nun, bitte, laß uns ungestört! Wir können jetzt ohne dich fertig werden.«

Er hatte von dem dunkelroten Wein die dünnen Gläser gefüllt: »Prost, alter Sohn! Heute abend zehn Uhr bin ich auf dem Wege nach Paris.«

»Prost! darf ich dich begleiten?«

Eilhardt riß seine Augen auf. »Du auch?«

»Ich dachte eigentlich an Berlin,« erwiderte Arnold mit schwermütigem Lächeln, »oder Wien. Aber es ist ganz gleich. Und wenn dir, wie gesagt, meine Begleitung recht ist –«

»Ob sie mir recht ist! Das ist ja großartig. Das hätte ich mir nicht träumen lassen. Freilich, nach deinen desperaten Andeutungen von vorhin – Aber nun mußt du mir auch ganz reinen Wein einschenken. Du und Astrid, ihr habt euch –«

»Nein, Alter: Du hast dir zuerst das Wort ausbedungen.«

»Natürlich! Rauscheblatt, geh' du voran!« sagte Eilhardt ärgerlich. »Na, meinetwegen. Den Ausschlag hat diese vertrackte Geschichte mit dem Bilde gegeben. Sie schwört, sie hat keine Ahnung davon gehabt, daß es auf die Ausstellung kommen würde. Willibald, sagt sie, habe es ihr aus dem Atelier fortgeholt, um es mit ihren anderen Sachen nach Paris zu nehmen. Schön! Ich lange mir also meinen Musjö. Jawohl! um den zu fassen, muß man höllisch früh aufstehen. Wie soll er erklären, was ihm selber unerklärlich ist! Allerdings hat er das Bild zuerst nur für Paris haben wollen. Dann, als er es in seinem Atelier bei besserem Licht genauer studiert, ist es ihm so gut erschienen, daß er in richtige Wut geraten und bei sich gesagt hat: dies müssen sie nehmen!«

»Sie hätten die anderen meiner Meinung nach auch nehmen müssen,« sagte Arnold.

»Wenn du reden willst, so kann ich ja schweigen,« murrte Eilhardt, einen tiefen Schluck aus seinem Glase nehmend.

»Aber, Eilhardt –«

»Ach was! Ich habe so schon Mühe, die Geschichte zusammenzubringen. Also, bitte, unterbrich mich wenigstens nicht wieder! Wo war ich? Richtig! Er sagte sich: das müssen sie nehmen. Und hin mit dem Bilde, zu dem er gerade einen passenden Rahmen gehabt hat, nach der Ausstellung. Das heißt: darüber ist es doch mittlerweile Abend geworden. In der Ausstellung ein Tohu-Wabohu von Tischlern, Tapezierern, Reinmachweibern – sie haben dann noch die ganze Nacht bis zum Sonntag gearbeitet. Von uns – von uns Künstlern, meine ich – ist nur noch Bimstein da. Willibald behauptet, er habe laut und deutlich gesagt: das Bild sei von Frau Professor Eilhardt; Bimstein: er habe verstanden: Herrn Professor Eilhardt; giebt aber zu, daß er sich bei all dem Geklopfe und Gehämmere verhört haben könne. Sich auf eine lange Unterredung einzulassen, sei ihm auch nicht möglich gewesen, er habe mit dem Arrangement den Kopf gerade voll genug gehabt. Allerdings sei ihm in dem Halbdunkel das Bild ein bißchen wunderlich vorgekommen, aber da meine Sachen die Jury nicht zu passieren brauchten – kurz: so ist es in die Ausstellung gekommen.«

»Und wie in den Katalog?« fragte Arnold.

»Ja, das ist ein dunkler Punkt,« erwiderte Eilhardt, sich in dem struppigen Bart krauend. »Willibald behauptet, er habe nun sofort einen Boten in die Druckerei des ›Tageblattes‹ geschickt mit einem Zettel, auf dem er Alfred, den er in der Redaktion wußte, gebeten, die betreffende Notiz, wenn irgend möglich, noch in den Katalog zu bringen. Ob er undeutlich geschrieben, ob Alfred aus ›Stella Eilhardt‹, oder was da gestanden haben mag, meinen Namen herausgelesen hat – das kann nicht mehr konstatiert werden: der Zettel ist verschwunden. Na, das ist ja auch schließlich Nebensache. Alles in allem ist die Geschichte doch äußerst wahrscheinlich. Meinst du nicht?«

»Wenigstens kommen unwahrscheinlichere Dinge alle Tage vor,« erwiderte Arnold.

Er war im stillen anderer Ansicht. Daß Willibald, der doch mit diesen Dingen sehr genau Bescheid wußte, auch nur einen Augenblick für möglich gehalten haben solle, ein Bild seiner Klientin, nachdem ihre übrigen refüsiert, könne so im Handumdrehen – noch dazu von einem einzelnen Mitglied der Jury – angenommen werden – credat Judæus Apella! Horaz' Satiren (I, 5, 100): Das glaube der (leichtgläubige) Jude Apella! d.h. Das glaube, wer mag. Aber wenn Eilhardt es nun glauben wollte? betrogen sein wollte?

In dieser Vermutung wurde er bestärkt, als Eilhardt nach einer kleinen Pause plötzlich fragte: »Hast du das Bild gesehen?« Und dann, ohne eine Antwort abzuwarten, alsbald fortfuhr: »Das Bild ist nämlich gut; man kann's sogar ausgezeichnet nennen. Du mußt dich freilich – besonders mit deinen scharfen Augen – nicht unmittelbar davorstellen. Da siehst du nur Kleckse: graue, blaue, rote. Aber wenn du in die nötige Entfernung trittst – Und unsereiner, der nur auf die Mache sieht und weiß, was das heißt, so auf eine gewollte Wirkung hin losarbeiten zu können – mit dieser Kühnheit, dieser Sicherheit – Alter, ich sage dir: da kriegt man unwillkürlich einen heidenmäßigen Respekt vor solchem donnermäßigen Können. Und freut sich im stillen, daß das Bild auf der Ausstellung ist, auf der es von Banalitäten wimmelt, über die man weder lachen noch weinen kann.«

»Sehr wohl,« sagte Arnold, »nur daß du leider nicht der Vater des Bildes bist.«

»Genau – beinahe wörtlich genau dasselbe, was ich zu Stella gesagt habe!« rief Eilhardt.

»Und was antwortete sie, wenn ich fragen darf?«

»Etwas französisches von › recherche‹, oder dergleichen.«

» La recherche de la paternité est interdite

»Das wird es gewesen sein.«

»Sehr wahrscheinlich. Schade nur, daß die liebe Neugier sich zu dieser löblichen Diskretion nicht bekennt und – wie man mir wenigstens sagt – die seltsamsten Glossen über die Sache macht.«

»So! so! thut man das! thut man das!«

Von Eilhardts Gesicht war die Lustigkeit, die es zur Schau getragen, wie weggewischt. Er trank hastig sein Glas leer; schenkte es sich wieder voll mit einer Hand, die ein wenig zitterte, hob es von neuem, setzte es aber alsbald auf den Tisch zurück, um sich mit beiden Händen an die Schläfen zu greifen und so, den Kopf zwischen den Händen, die Ellbogen gestützt, in dumpfem Tone, mehr zu sich selbst als zu dem Freunde sprechend, zu sagen: »Das ist es! das ist es! Man macht Glossen – seltsamste Glossen – wie sollte man nicht? – Und man wird den wirklichen Vater bald genug herausgebracht haben. Weißt du, wer das ist?« Er hatte plötzlich das Gesicht gehoben, die Augenlider waren rot, wie von verhaltenem Weinen: »Willibald ist es! Sein Fleisch, sein Blut! Auffassung – Farbenskala – Pinselführung– alles! Als ob es von ihm wäre! Und hat nicht einen Strich daran gethan, das weiß ich bestimmt. Nun frage ich dich: wie muß sich eine Menschenseele in eine andere hineingedacht haben, wenn so etwas möglich ist? Kann das geschehen, ohne daß die eine ganz in der anderen aufgeht? Zwei Seelen und ein Gedanke, zwei Herzen – Ja, siehst du! so was bleibt nicht in den Seelen – Künstlerseelen, meine ich. So was geht in die Herzen, wer weiß: kommt aus dem Herzen und von da in die Fingerspitzen. Na, Arnold, wir sind ja von demselben Jahrgang; aber dir sieht man deine vierzig und einige nicht an, und warst und bist noch immer ein schöner Kerl. Ich mit meinen Mongolenaugen und der Vivatnase und dem Schlitzmaul, das ich vergeblich hinter einem Ruprechtbart zu verbergen suche! Er, der Schlingel, ist jung, alle Schlingel pflegen es zu sein, und wie Kinder schmecken, muß man Kirschen und Sperlinge – wollte sagen: wie Sperlinge schmecken, muß man Kinder und Kirschen – hol's der Geier! – wirst's schon wissen, hast mir ja immer die Regel-de-tri-Exempel Regel Detri: In alten Rechenbüchern die Bezeichnung für »Dreisatz«. Abkürzung der lat. Worte regula de tribus terminis, d. h. Regel von 3 Gliedern. Wegen ihrer Bedeutung für das allgemeine Leben und für die Wissenschaften als die goldne Regel bezeichnet. ausgerechnet –«

Er that wieder einen mächtigen Zug und fuhr in demselben düsteren Tone fort: »Hübsch ist der Bengel auch, verdammt hübsch mit seinen glitzernden braunen frechen Augen in dem blassen, blasierten Gesicht, dem der jetschwarze kurzgeschorene Bart so gut steht, als hätte Rembrandt oder Van Dyck den ganzen famosen Schwerenöter gemalt – müßte selbst kein Künstler sein, wenn ich das leugnen wollte! Und zu reden weiß er auch und mit den Frauenzimmern umzugehen – so was lernt sich in Paris. Stella! Es weiß ja keiner so gut wie ich, wie liebenswürdig Stella sein kann, notabene: wenn sie will. Hier hat sie es gewollt, gegen ihn hat sie es gewollt. Die beiden sind einig, sage ich dir – in allen Ehren bis jetzt, will ich zu ihrer Ehre annehmen, aber einig sind sie. Ich habe es längst geahnt, und wenn jetzt die Geschichte mit dem Bilde herauskommt, seinem Porträt, das sie gemalt, nach seinem Recept, und er auf die Kunstausstellung gebracht hat, per fas oder nefas, Auf erlaubte oder unerlaubte Weise. heißt es ja wohl, na, dann ist die Katz zum Loche heraus. Das fühlt sie so gut wie ich, und darum ihr recherche und so weiter. Und darum meine Feigheit, der ich das Bild da ruhig hängen und die Leute Glossen über mich machen lasse und die niederträchtigsten Kritiken über mich schreiben, anstatt hinzutreten und zu sagen: Hole euch alle der Henker! das Bild hat ja meine Frau gemalt! – Kellner! Kellner! Passen Sie doch gefälligst ein bißchen auf, junger Mensch! Seit einer Viertelstunde habe ich nur noch Bodensatz im Glase. Eine von derselben!«

Der Kellner mußte die Eventualität vorausgesehen haben: die andere Flasche war sofort zur Stelle. Eilhardt schenkte in die frischen Gläser.

»Und deshalb willst du nun fort?« sagte Arnold so vor sich hin.

»Deshalb muß ich fort. Seit vier Tagen habe ich mit Stella kein Sterbenswort gesprochen. Ich kann den Jammer nicht länger mit ansehen. Mögen sie sich dann heiraten und glücklich sein. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Punktum!«

»Die Kinder?«

»Die nehme ich natürlich, wenn alles so weit arrangiert ist.«

»Und warum willst du gerade nach Paris, wohin man sich doch sehr wahrscheinlich zunächst wenden wird?«

»Sehr wahrscheinlich. Aber ich will auch nicht eben lange dableiben. Nur so lange, bis ich gesehen habe, was die Kerls da eigentlich treiben. Unsereiner muß sich von Zeit zu Zeit ein bißchen auffrischen, auslüften – weißt du. Das wird meinen ›vier Jahreszeiten‹ zu gute kommen, die ich für Hamburg –« Er brach jäh ab und sah nach der Uhr. »Der Tausend! schon acht! und um zehn geht der Zug! Wenn du wirklich mit willst – hast du dir denn die Sache nach allen Seiten überlegt?«

»Nach allen.«

»Na, dann schieß los! Obgleich ich viel Neues kaum zu hören bekommen werde.«

»Kaum. Meine Lage gleicht der deinen in sonderbarster Weise. Nur daß zwischen mir und Astrid kein Wesen in Fleisch und Blut steht, wie zwischen dir und Stella, sondern nur ein Princip.«

»Als ob wir damit nicht auch aufwarten könnten!«

»Mag sein. Es ist vielleicht nur nicht so starr, so schroff, so unüberwindlich. Das mußte über kurz oder lang zum Bruch führen. Es bedurfte nur einer besonderen Veranlassung. Die ist jetzt da. Wie das tragikomische Quiproquo auf dem Titel von Astrids Buche zu stande gekommen – damit will ich dich verschonen. Nur so viel: ich habe mich überzeugt – was ich ja auch a priori vorher wußte –: Astrid ist völlig schuldlos. Ebenso hat Alfred, der ihr Mandatar bei dem Verleger gewesen ist, bona fide gehandelt. Es hat nun einmal sein sollen: die Gelegenheitsursache, die niemals ausbleibt, wenn eine tödliche Krankheit gründlich vorbereitet ist. Jeder Draußenstehende würde sagen: die Sache ist ja höchst einfach. Um sie aus der Welt zu bringen, bedarf es doch nur der Erklärung deinerseits: das Buch habe nicht ich, das hat meine Frau geschrieben; oder, umgekehrt, seitens der Frau: das hat nicht mein Mann, das habe ich verfaßt. Diese Erklärung ist obligatorisch – gewiß, und sie wird abgegeben werden. Nur daß es so furchtbar schwer ist, sie abzugeben. Geschieden sind wir längst, Astrid und ich: es giebt keine schlimmere Scheidung als die der Gedanken. Aber sie öffentlich auszusprechen – vor aller Welt! Astrid muß das in ihrer Weise auch empfinden: sie drängt mich nicht. Ich meine, es wird weniger peinlich für sie und mich sein, wenn wir – müssen wir die schnöde Welt zum Zeugen unseres Unglücks machen – nicht mehr in derselben Stadt, unter demselben Dache leben. Und darum fort, fort, fort von hier!«

Arnold trank hastig sein Glas leer; Eilhardt füllte es sogleich wieder.

»Na,« sagte er, »da säßen wir ja glücklich in derselben Patsche. Geschieht uns schon recht. Was hatten wir alten Kerls die jungen Mädels zu heiraten! Erstens. Und zweitens, wenn schon, so hätten wir wieder jung werden sollen, wenigstens in unseren Arbeiten. Sag mal, Alter, du hast Astrids Buch gelesen. Wie ist es denn nun eigentlich?«

»Ich möchte es und ich könnte es nicht geschrieben haben,« sagte Arnold dumpf; »aber ein bedeutendes Buch ist und bleibt es.«

»Hast du es ihr gesagt?«

»Hast du Stella gesagt, wie gut du ihr Bild findest?«

»Hab's nicht fertig gebracht. Dachte, sie glaubt's doch nicht und meint, du willst dich nur wieder bei ihr einschmeicheln.«

»Genau das, was mich gegen Astrid stumm gemacht hat.«

»Weiß sie, daß du fort willst?«

»Wüßte sie's, ich bin überzeugt, sie wäre selbst nicht mehr hier. Ich habe sichere Anzeichen, daß sie sich mit einer heimlichen Flucht trägt.«

»Aus ganz demselben Grunde will ich bei Stella das Prävenire spielen. Mein Koffer steht schon seit Montag gepackt auf meinem Zimmer in der Akademie.«

»Wie meiner im Polytechnikum.«

»Hast du um Urlaub nachgesucht?«

» Rite. Und er ist mir umgehend mit Grazie in infinitum bewilligt.«

»Mir hat Excellenz Glück zur Reise gewünscht, und ich möge mich mit der Rückkehr nicht beeilen.«

»Dann trink aus und laß uns gehen!«

»In dem Augenblick, wo ich komme?« rief eine überlaute Stimme.

Sie wandten sich erschrocken. Vor ihnen stand Emerich im Frack und weißer, weit über sein behagliches Bäuchlein ausgeschnittener Weste, den hellen Sommerüberzieher auf dem Arm, das glattrasierte, volle Gesicht von der fröhlichsten Weinlaune gerötet.

»Nein, ihr Gesindel,« rief er weiter, Hut, Stock und Ueberzieher dem herbeieilenden Kellner gebend, und sich zwischen den Freunden an den Tisch setzend, »daraus wird nichts. Ihr denkt, während unsereiner sich bei einer musikalischen Privatmatinée von zwölf bis zwei abrackern und dann zur Seite des freundlichen Gastgebers – nebenbei Graf Finkenberg – vier oder fünf Stunden lang anfeiern und Reden halten muß – Kinder, ich habe eine Rede gehalten! – von Humor strotzend, sage ich euch – ganz toll! Weiß der Teufel, weshalb sich die Frauenzimmer – besonders gegen den Schluß – krampfhaft die Augen wischten! Aber, Kinder, was trinkt ihr denn eigentlich? Chambertin? Chambertin ist gut. Sekt ist besser. – Kellner! Eine Röderer – carte blanche – Kellertemperatur, wie gewöhnlich! – Kinder, geliebte Kinder, dies ist zu famos! Habe meine Alte nach Hause geschickt – müßte noch ein bißchen frische Luft schöpfen – und nun finde ich diese Strolche, diese – Ja, aber, Leute, wie seht denn ihr aus? Als wären euch alle Felle – ja so! Na, das ist doch nicht so schlimm. Du malst ein anderes Bild, Eilhardt, du schreibst ein anderes Buch, Arnold – und die Sache ist vergeben und vergessen. Vivat Champagner und schöne Mädchen! Hier! Stoßt an! trinkt aus!«

Es wurde ein förmliches Bacchanal, für Emerich nur die Fortsetzung des, von dem er kam, für die beiden anderen ein Lethe ihrer schweren Kümmernis. Arnolds große Augen leuchteten, während er Schillers »In unsrer Brust sind unsers Schicksals Sterne« in prächtigen Worten periphrasierte; Emerich versicherte strahlend, wenn er Arnold reden höre, so sei das für ihn wie ein herrliches Stück von Wagners unendlicher Melodie; Eilhardt, der anfangs der lauteste gewesen war, wurde allgemach stiller, schließlich sentimental und rührselig. Mit vor Wehmut zitternder Stimme fing er an »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus« zu intonieren, was unter den übrigen Gästen des sehr exklusiven Lokals ein berechtigtes Staunen erregte und ihm eine scharfe Reprimande Emerichs zuzog, weil er F statt Fis gesungen habe. Dann schien er sich »in einem kühlen Grunde« zu verlieren, wo jemand gewohnt haben sollte, der ihm Treu versprochen und einen Ring dabei gegeben, um besagte Treue zu brechen, worauf dann auch »das Ringlein entzwei gesprungen« war. Als er dann, Thränen in den Augen, zu nicht näher bezeichneten »drei Gesellen« kam, die »ein fein Kollegium« hatten, hielt Arnold, der Emerichs Mienen immer erstaunter werden sah, es für angezeigt, bevor Eilhardt das ganze Geheimnis ausplauderte, mit einem Teil der Wahrheit nicht länger hinter dem Berge zu halten.

Eilhardt und er hätten einen Geniestreich vor, wollten sich die Welt einmal wieder ohne ihre Frauen ansehen. Da sie von diesen zu einem so frevelhaften Beginnen zweifellos die obligate Erlaubnis nicht erhalten haben würden, hätten sie beschlossen, vor der Hand französischen Abschied zu nehmen unter Vorbehalt aufklärender Telegramme, von einer der nächsten Stationen an die verlassenen Ariadnen abzusenden.

Hier fiel ihm Eilhardt, der inzwischen wieder sehr still und nachdenklich geworden war, ins Wort, um Emerich feierlich zu beschwören, kein Spielverderber zu sein, und selbst seiner Regine, wenn er jetzt nach Hause komme, kein Sterbenswörtchen davon zu sagen, daß Arnold und er heute abend zehn Uhr nach Paris wollten, sich dort ins Meer der Vergessenheit zu stürzen.

Emerich fand die Idee großartig, genial. Er würde sofort von der Partie sein, nur daß er fürchte, bis zehn Uhr nicht fertig zu werden. Ob denn die Sache nicht bis morgen Zeit habe?

»Das hieße sie fallen lassen,« erwiderte Arnold.

»Kannst ja nachkommen, alter Sohn,« tröstete ihn Eilhardt. »Bist ja bei deiner Regine vor Einspruch sicher.«

»Das Leben zwischen mir und ihr ist eine unendliche Melodie,« versicherte Emerich in heller Begeisterung.

»Dann also: Gott befohlen!« sagte Arnold. »Es ist neun Uhr, wir haben keine Minute zu verlieren.«

»Ihr schreibt mir spätestens von Paris?«

»Verlaß dich darauf!«

Man stand, während die letzten Worte gewechselt wurden, bereits vor dem Restaurant – Eilhardt, wie Arnold nicht ohne einige Sorge bemerkte, auf ein wenig schwankenden Beinen. Aber er wußte aus Erfahrung, daß des Freundes kraftvolle Natur ihm leichtlich auch über einen schwereren Rausch weghalf.

Besonders mit Hilfe eines Abendwindes, wie er jetzt erfrischend vom Strom herüberwehte.

* * *

Um eben diese Zeit saß Astrid in ihrem Zimmer an dem Schreibtisch, auf dem die Studierlampe brannte und ein angefangener Brief lag:

»Lieber Arnold. Ich kann dies Leben nicht länger ertragen. Ich –«

So weit war sie vor einer Stunde schon gewesen. Die nächsten Worte sollten lauten: »verlasse dich.« Aber sie wollten nicht aus der Feder, die schon zwanzigmal eingetaucht und ebenso oft trocken geworden war.

Ein abermaliger Versuch brachte kein besseres Resultat.

»Ich wußte bis heute nicht, daß ich ein Feigling bin,« murmelte die junge Frau, warf zornig die Feder hin, schob den Sessel zurück und begann mit heftigen Schritten in dem kleinen Gemach auf und ab zu gehen.

Ein Geräusch vor der Thür nach dem Korridor machte sie jäh stillstehen. Nun ein leises Klopfen, das von einem heftigen Pochen ihres Herzens beantwortet wurde. Konnte er es sein? »Nun denn!« sagte sie durch die zusammengeklemmten Zähne. Die Hände, die sie gegen die hämmernden Schläfen gedrückt hatte, sanken herab.

» Entrez!« rief sie mit der Kraft ihrer sonoren Stimme und lächelte bitter, daß ihr gerade jetzt das Fremdwort über die Lippen kommen mußte.

»Du?«

»Ja, ich!« rief Stella, ins Zimmer huschend, um sich ihr an die Brust zu werfen und in hysterisches Weinen auszubrechen.

»Was soll das heißen!« sagte Astrid, die Arme, die sie umklammert hielten, schier unsanft lösend. »Du weißt, wie zuwider mir dergleichen ist. Komm! sei vernünftig! setze dich da! Und laß das kindische Schluchzen! Es macht mich nervös.«

Sie hatte Stella in einen Fauteuil gedrückt, der neben ihrem Arbeitstisch stand, und das Briefblatt in die Schreibmappe gelegt, nicht so schnell, daß Stella mit ihren scharfen Augen die einzige Zeile, die es enthielt, nicht hätte lesen können.

»Also auch du!« flüsterte sie. »Auch du kannst dies Leben nicht länger ertragen!«

»Kommst du seit vier Tagen zum erstenmal zu mir, um hier zu spionieren!« rief Astrid bis in die weiße Stirn errötend und heftig mit dem Fuße stampfend.

»Ach, mein Gott! mein Gott!« wimmerte Stella, »sei doch nur nicht so schrecklich böse! Habe doch Mitleid mit meinem Unglück, wie ich mit deinem!«

»Ich brauche dein Mitleid nicht! Nicht deines und keines anderen Menschen!«

»So brauche ich deines! Deinen Rat, deine Hilfe, ohne die ich verloren bin! Sieh dies! Bitte, bitte, lies!«

Sie hatte ein Briefblättchen aus der Tasche genommen, das sie mit zitternder Hand entfaltete und Astrid in die widerstrebenden Finger schob.

»Muß es sein?« fragte Astrid, die starken Brauen unwillig zusammenziehend.

»Ich flehe dich darum an. Vor zwei Stunden – durch die Stadtpost – expreß!«

Astrid las:

 

»Teure Frau! Seit der Bildgeschichte hängt der Himmel in dieser Stadt hoffnungsloser Idioten unbehaglich schwer über mir. Ich bedarf dringend einer Luftveränderung und fahre heute abend mit dem bewußten Zehnuhrzuge in Begleitung Ihrer drei zurückgewiesenen Quadri nach Paris (Rue d3 Richelieu 17 au 4ième).

Darf ich Sie daran erinnern, was Sie mir in Marie Baskirtscheffs uns beiden heiligem Namen zugesagt haben? Muß ich Sie daran mahnen, was Sie dem Genius unserer Kunst schuldig sind? Sie lassen hier nichts zurück, was Ihnen das göttliche Paris nicht tausend- und tausendfach ersetzen könnte. Von mir spreche ich nicht. Die Asra machen nicht viel Worte. Nur eines für alle: werden Sie nur gerettet, will gern für Sie sterben

Ihr Sklave W.

P. S. Vergessen Sie das weiße Taschentuch in der herabhängenden linken Hand nicht!«

 

»So,« sagte Astrid, mit verächtlichem Lächeln das Blatt wieder zusammenfaltend und an Stella zurückgebend. »Und du bist verloren, wenn ich dich nicht rette? Wovor? Oder muß ich fragen: vor wem? Vor einem Menschen, der einer anständigen Frau das zu schreiben wagt?«

»Du kannst ja auch dies Leben nicht länger –«

»Ich muß dringend bitten, unsere beiden Angelegenheiten nicht zu konfundieren. Zwischen mir und Arnold steht, wie ich ihm das letzte Mal sagte, daß ich ihn überhaupt gesprochen habe: ein Princip. Begreifst du? ein Princip! Und nicht eine mit seinen weißen Zähnen, seinem schwarzen Bart, seinen kleinen Füßen und Händen kokettierende Zierpuppe, unwert, deinem prächtigen Gatten die Schuhriemen zu lösen.«

»Er ist ein größerer Künstler als Eilhardt.«

»Und wäre er ein zehnmal größerer – was übrigens noch zu beweisen stünde –, du hast in erster Linie den guten, edlen, liebenswerten Mann geheiratet und in zweiter – die aber weit dahinter kommt – den Künstler. Was hat der Mann gethan, als dich auf Händen tragen, solange ihr verheiratet seid? Immer bereit mit einem gütigen, versöhnenden Wort, wenn deine Laune – und du bist sehr launenhaft, mein Kind – mit dir durchging. Stets über deine wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten – und sie sind sehr groß, mein Kind – beide Augen fest zudrückend. Ich kann dir sagen: tausend andere Männer hätten das nicht gethan; dich nicht, so, wie er, auf Gummirädern durchs Leben kutschieren lassen. Das für den Mann, den Gatten. Und nun der Künstler! Du sagst, der andere ist größer als er. Ich vermute nebenbei: der Schwerpunkt liegt für dich nicht da, sondern in dem Umstand, daß er fünfzehn Jahre oder so weniger zählt als dein Mann. Aber er sei der größere. Ja, mein Kind, wenn das entscheidet, dann mache dich nur bereit, auf die Wanderschaft zu gehen: zu dem großen Künstler wird sich immer noch einer finden, der ihn überragt. Und dann, liebes Kind, mit der Künstlergröße – das ist ein gar seltsames Ding. Jede Zeit hält ihre Künstler für die größten. Warum? Weil sie der Zeit schmeicheln; ihr genau das sagen und geben, was sie hören und haben will. Die Zeit, in der der Künstler lebt – das ist das Entscheidende. Ist sie gut und groß und schön, ist es auch der Künstler. Glaubt sie an Ideale, thut es auch der Künstler; sucht sie auszuprägen in Worten, Farben oder Tönen und wirft seine verkörperten Träume, wie Schiller sagt, schweigend hinaus in die unendliche Zeit. Hat sie den Glauben an Ideale verloren; will überhaupt nichts mehr glauben, nur wissen, verstehen, begreifen, mit Händen greifen, dann wird auch die Kunst handgreiflich, wie der ungebildete Mensch, der, wenn er einem anderen etwas demonstrieren will, ihn an Schulter, Armen und Händen packen muß.«

Astrid, die, während sie so immer lebhafter, leidenschaftlicher sprach, im Boudoir auf und ab geschritten war, blieb vor dem Pfeilerspiegel in der Ecke stehen, blickte ein paar Sekunden starr auf ihr Bild, wandte sich und fuhr, wieder hin und her gehend, in einem Tone fort, der sich vergebens Mühe gab, gelassen zu klingen: »Man ist, wie man ist; und findet sich für gewöhnlich so, wie man ist, ganz leidlich, vielleicht sogar schön. Das hat die Natur weise eingerichtet: wer ertrüge wohl sonst das Leben! Dann aber kommen doch Momente, wo man sich, so zu sagen, über die Schulter in dem Spiegel sieht mit Augen, die nicht unsere Augen sind. Dann wird man gewahr, daß etwas, weil es zu glänzen scheint, noch lange kein Gold zu sein braucht; und ein anderes, weil es seinen Glanz eingebüßt, darum nicht weniger echtes, lauteres Gold ist. Mir sind in diesen Tagen solche Momente oft und oft gekommen. Mein Roman – denn ich habe ihn geschrieben, daß du's weißt, und nicht mein Mann – ich glaubte, die Welt, wie sie heute geht und steht, aus dem Spiegel gestohlen zu haben, und habe es vielleicht gethan. Gut. Wie aber ist diese Welt? Klein, dürftig, mesquin; den Blick niederwärts gewandt, wie ein Bettler, der nach einem verlorenen Pfennig späht; wie ein Lumpensammler, der in dem Kehricht nach seiner häßlichen Ware wühlt – allüberall die hohle Verzweiflung des Gefangenen, der auf die nackten Wände seines Kerkers stiert. Mich schauderte, als ich diese Welt in meinem Buche sah. Ich konnte nicht sagen: das ist nicht wahr! Nein! es war die Wahrheit, die nackte Wahrheit: la vérité vraie. Aber ich fragte mich: ist es euer: des Dichters, des Künstlers Aufgabe und Beruf, sie so zu schildern? Wem thut ihr damit einen Gefallen? Den paar Satten vielleicht, die der Zufall über die allgemeine Misere hinausgehoben hat, und die sich mit pharisäischem Schmunzeln den vollen Magen streicheln: Gott sei Dank, daß ich nicht bin wie die armen Schächer! Aber die Armen! Die Armen und Elenden! Was soll, was ist ihnen die Kunst, wenn sie nicht spricht, wie der Heiland: Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! ich will euch erquicken. Und sie erquickt wahr und wahrhaftig; ihnen, und wäre es nur für Stunden, für Minuten nur, eine Welt vorzaubernd, in der sie ihr schweres Erdenleid vergessen; an ihres Geistes Auge gesteigerte Gestalten vorüberführend, die ihnen sagen: es lebt im Menschen etwas – ein Hohes, Erhabenes, das ihm kein feindlichster Gott rauben kann; das mächtiger ist als selbst das ewige Schicksal. Und handelt es sich doch auch mit Nichten nur um die Armen und Elenden. Versuche dir eine Welt vorzustellen, für die Achill und Hektor, der Zeus von Otrikoli, die Venus von Milo; Raphaels und Leonardos Wunder; Don Quixote, Hamlet, Faust, Wallenstein, Tasso, Iphigenie – alle die Götterkinder, die nie und nirgends gelebt haben, von keinem Menschenhirn geträumt, keiner Künstlerhand geformt, keiner Dichterphantasie gestaltet wären – wie bettelarm würde das Leben auch der vom Glück zumeist Begünstigten sein! wie so völlig unwert, gelebt zu werden!«

Sie war an das geschlossene Fenster getreten, vor dessen Scheiben der Abendwind die Blätter des wilden Weines spielend hob und senkte; starrte ein Weilchen in das Dunkel; wandte sich wieder in das Zimmer, blieb aber am Fensterbrett gelehnt stehen, und sprach so weiter mit gedämpfter Stimme, während die Augen fast geschlossen waren und die Arme schlaff an dem Körper herabhingen: »Ich habe seine Bücher wieder gelesen. Es können nicht alle zu den Gewaltigen gehören, deren Schritt, die spätgeborenen Enkel erschütternd, durch die marmornen Hallen der Zeit dröhnt – zu ihnen gehört er nicht. Nein. Aber welch helle Freude an allem, was gut und schön ist! Welch herzliches Verlangen, diese Freude in dem Busen der Leser zu entfachen! Welch edler Zorn gegen das Schlechte und Gemeine! Welch inniges Mitleid noch mit dem Gefallenen, dem man so gern Mahadöh In Goethes Ballade »Der Gott und die Bajadere« will Mahadöh (ein Beiname Shivas) die Menschen erneut prüfen und trifft auf eine schöne Bajadere, die sich ihm hingibt und erstmals wirkliche Liebe fühlt. Am nächsten Morgen stellt Mahadöh sich tot; die Tänzerin ist bereit, sich mit ihm verbrennen zu lassen. Sie springt ins Feuer, der Gott hebt sich aus den Flammen und schwebt mit ihr in den Himmel empor. sein möchte, ihn mit feurigen Armen zum Himmel emporzuheben!«

Sie hatte jetzt selbst die Arme hoch erhoben; die großen blauen Augen, in denen ein wundersames Licht leuchtete, waren aufwärts gerichtet, so daß die Pupillen zur Hälfte von den oberen Lidern bedeckt waren.

Stella durchrieselte es kalt. War Astrid wahnsinnig geworden? Oder stand doch auf dem Punkte es zu werden?

Sie flog aus ihrem Sessel auf die herrliche Gestalt am Fenster zu, sie mit beiden Armen umklammernd.

»Astrid! Um Gottes willen, erwache! Komm wieder zu dir!«

»Ja, ja!« sagte Astrid.

Die Arme hatten sich gesenkt; sie wischte sich mit beiden Händen über Stirn und Augen.

»Ganz recht! ganz recht! du zeigtest mir einen Brief – ich sollte dir irgend worin helfen. Ich will es gern, wenn ich kann. Was ist es? Aber du mußt dich beeilen. Ich bin sehr pressiert.« Sie hatte nach der Pendule auf dem Kaminsims geblickt. »Nur noch eine Stunde,« murmelte sie.

»Astrid, um Himmels willen! was hast du vor? Du bist im Reiseanzug – unten auf dem Flur stand ein Koffer – deine Auguste sah so verstört aus –«

»Das dumme Ding! Ein kleiner Ausflug – nach Petersburg zu meiner Tante – ich weiß nicht –«

»Ein kleiner Ausflug? Petersburg?«

»Oder was es ist. Es ist ganz gleich. Wenn man nicht bleiben kann, wo man ist, geht man eben wo anders hin.«

»Du? du? nach allem, was du mir eben gesagt hast?«

»Ich weiß nicht, was ich gesagt habe. Wenn es dir geholfen hat – um so besser. Mir ist nicht zu helfen. O ja, im Kopf – da reimt sich's leicht zusammen: wie die Herzen, die sich einst in Liebe fanden, getrennt wurden durch die Geister, die in Feindschaft gerieten; bis sie erkannten, daß diese Feindschaft ein thörichtes Mißverständnis war; und sich jubelnd umarmen; und in der Umarmung der Geister die Herzen wieder aufflammen zu neuer, tausendfach größerer, heiliger Liebe. – Das kann man sich alles leicht denken. Und es zu denken, ist so süß – so süß! Aber in der Wirklichkeit – Ich bitte dich: laß mich allein! Ich habe keine Minute mehr zu verlieren.«

»Ich kann dich so nicht verlassen,« rief Stella, die Freundin umklammernd. »Ich hatte ja dasselbe vor, wie du – schon seit Tagen – war ja jetzt nur gekommen, dir lebewohl zu sagen, und du möchtest dich meiner Kinder annehmen. Du hast mich gerettet. Ich kann dich nicht in dein Verderben rennen lassen.«

Während Stella, schluchzend, Astrid zu halten suchte; Astrid, mit ihren Thränen kämpfend, sich loszuwinden strebte, erschallten plötzlich vom Vorflur her die Stimme Augustes und eine andere Frauenstimme. Die Thür wurde aufgerissen, und herein stürzte Regine, atemlos, rufend: »Gott sei Dank, daß ich euch gleich beide treffe! Wißt ihr denn, daß eure Männer fort wollen – nach Paris? Nein? Also wirklich! Emerich war so angesäuselt – ich meinte, er schwatze Unsinn, bis mir ein Licht aufging! Habe ihn, wie er war, nach dem Bahnhof geschickt. Sie sind ja schon auf dem Bahnhof – sicher auf dem Wege dahin. Schnell! schnell! Ich habe einen Wagen unten. Gieb Stella ein Tuch, oder so was! Nur macht! macht schnell!«

»Du weißt ja gar nicht, um was es sich handelt!« sagte Astrid zögernd.

»Ist mir auch ganz gleich,« rief Regine. »Uebrigens weiß ich es ganz gut. Und daß, wenn ihr eure Männer jetzt abreisen laßt, ihr sie in diesem Leben nicht wieder zu sehen kriegt.«

»Astrid!« rief Stella, die gerungenen Hände flehend, zu Astrid erhebend.

»Kommt!« sagte Astrid.

* * *

Auf dem Hauptbahnhof der Altstadt ging es heute abend besonders lebhaft zu. Zwei große Züge sollten beinahe zu gleicher Zeit abgelassen werden: der eine, zehn Minuten vor zehn, direkt nach Norden; der andere, um zehn, ebenso nach Westen. Der Nordzug hielt unter der Halle; der andere, parallel mit ihm auf einem Geleise, zu dem man einen breiten Perron überschreiten mußte, unbetretbar, bis der erstere sich in Bewegung gesetzt hatte. So drängten sich denn für den Augenblick die Passagiere beider Züge auf dem Hallenperron durcheinander. Dazwischen eilige Beamte, hastige Gepäckträger, haushoch mit Koffern und Poststücken beladene Wagen; Männer, die Zeitungen, Jungen, die Bier und warme Würste ausriefen – man schob und wurde geschoben und wunderte sich, wenn man sein eigenes Wort verstand.

Zwei junge Männer, beide in Reisekostüm, waren in dem Gedränge plötzlich aufeinander gestoßen. »Alfred!«

»Willibald! Wohin?«

»Nach Paris. Wohin sonst? Ich suchte Sie heute nachmittag auf Ihrer Redaktion auf, Ihnen adieu zu sagen. Hörte zu meinem Erstaunen, Sie hätten Ihre Stelle aufgegeben; wollten nach Berlin übersiedeln. Ist das wahr?«

»Ja. Das heißt – ich weiß nicht – bin noch nicht fest entschlossen. Habe vorläufig nur ein Billet bis Leipzig – mit meiner Kasse, wissen Sie – und dann – ich erwarte noch jemand – entschuldigen Sie mich!«

Er war vom Perron nach der großen Vorhalle gestürzt.

»Gott sei Dank, daß ich ihn los bin!« sagte Willibald für sich. »Der hätte uns gerade noch gefehlt! Wenn sie aber jetzt nicht bald kommt – sie hat ja kaum noch Zeit, ein Billet zu lösen. Am Ende doch besser, ich nehme gleich noch eins für sie –«

Er begab sich jetzt ebenfalls eilig in die Halle zurück. Der Zufall wollte, daß er an dem Billetschalter sofort ankommen konnte.

»Bitte noch ein Billet Paris, erste Klasse!«

Das Geschäft war in einer Minute abgewickelt. Eben als er aus der engen Barriere heraustrat und das zweite Billetbuch zu dem anderen in die Brusttasche steckte, legte sich eine hastige Hand auf seinen Arm.

»He, Willibald!«

»Ah! Herr Professor Emerich!«

»Haben Sie unsere Freunde nicht gesehen?«

»Wen?«

»Eilhardt und Arnold. Sie wollen mit dem Zuge – nach Paris – ich muß doch einmal draußen –«

Der korpulente Mann war mit kleinen schnellen Schritten davongeeilt.

»Er ist betrunken,« sagte Willibald, ihm nachblickend, fast laut. »Oder verrückt. Oder – Donnerwetter, wenn sie Lunte gerochen hätten – Und Arnold auch? Das bedeutet also –«

Auf dem Perron, wohin er sich schleunigst zurückbegeben, prallte er mit Alfred zusammen.

»Alfred, Sie warten auf Frau Astrid! Leugnen Sie nicht!«

»Allerdings! Sie schrieb mir heute nachmittag – bat, ich möchte ihr bei der Abreise ein wenig behilflich – Aber es scheint –«

»Einsteigen! einstei–gen!« riefen die Schaffner.

»Machen Sie, daß Sie in Ihr Coupé kommen, Alfred! Sonst geht der Zug ohne Sie. Großgeschrieben. Daß er ohne sie – klein geschrieben – geht, darauf können Sie jedes beliebige Quantum Gift nehmen.«

»Aber, mein Gott –«

»Ich vermute, er meint es in diesem Falle sehr gut mit Ihnen. Adieu! Grüßen Sie die Berliner akademischen und sonstigen Perücken!«

Er hatte den kleinen Mann die Trittstufen hinauf in ein Coupé geschoben. Der Zug puffte zur Halle hinaus; hinter ihm weg drängte das Publikum über die frei gewordenen Schienen nach dem zweiten Perron zu dem längst bereit stehenden Zuge.

Als Willibald, scharf nach rechts und links spähend, über diesen Perron auf die Wagen zuschritt, sah er Emerich abermals, lebhaft gestikulierend auf zwei Herren einsprechend, die im Reiseanzug waren, Taschen und Plaids in der Hand trugen: Eilhardt und Arnold!

»Also wirklich!« brummte Willibald. »Fehlt nur noch, daß die zu mir ins Coupé kommen. Wenn jetzt nun die Kleine auf der Bildfläche erscheint, bin ich mit meinem Latein zu Ende. Himmlische Mächte, da ist sie!«

Es war wirklich Stella, aber nicht in dem vorgeschriebenen schwarzen Anzug mit obligatem Schleier, das weiße Spitzentaschentuch in der herabhängenden Linken, sondern in ihrem gewöhnlichen, wie es Willibald schien, noch besonders übelgewählten Kostüm, beide Arme mit den unbehandschuhten Händen weit von sich streckend, fast laufenden Schrittes auf die Gruppe der drei Freunde zueilend, zweien Damen voraus, die wenig langsamer hinter ihr herkamen: die rundliche Frau Emerich und Astrids Walkürengestalt.

»Na!« sagte Willibald, »da wäre ja denn die ganze Compagnie hübsch beisammen. Das reine Rütli! Sauve qui peut!«

Er war, ohne zu fragen oder zu wählen, in ein Coupé erster Klasse gesprungen, das mit ihm eine alte, furchtbar häßliche, wie es schien, englische Dame mit einer jungen, bildhübschen Begleiterin teilte; hatte seine Sachen auf den nächsten Sitz geworfen und sich an das offene Fenster gestellt. In dem Moment setzte sich auch der Zug in Bewegung. Sehr langsam. Da sein Wagen einer der letzten war, dauerte es einige Zeit, bis er die Stelle des Perrons passierte, wo er vorhin die Gruppe der Freunde gesehen. Voilà! Jetzt nur durch die drei Damen vervollständigt, von denen Stella ihrem Gatten an die Brust gesunken ist, Astrid beide Hände Arnolds gefaßt hält und Regine ihres genialen Emerich verschobene weiße Krawatte zurechtzupft.

» Shut the windows, please!« sagte eine jugendliche Stimme hinter ihm.

» With the greatest pleasure,« erwiderte Willibald, dem erhaltenen Befehle Folge leistend. Und dann sich wendend, der hübschen Miß keck in die großen blauen Augen sehend: » The world is all a fleeting show, says Thomas Moore. Think, he is right. Do you not?«

Die großen blauen Augen lächelten. » O yes – sometimes.«

» That's what I wanted to say.«

Die Unterhaltung, an welcher sich jetzt auch die alte Dame lebhaft beteiligte, war im besten Gange. Nach zehn Minuten hatte Willibald bei sich festgestellt, daß er in so angenehmer Gesellschaft noch nie gereist und für das unbenutzte Billet nach Paris reichlich entschädigt sei.

* * *

»Ich denke, das wird genügen.«

Doktor Mädler faltete die nur auf einer Seite beschriebenen Blätter zusammen, steckte sie in die Brusttasche und sah nach der Uhr.

»Für morgen ist es nun doch zu spät. Schade! Vielleicht auch ganz gut: übermorgen Sonntag. Da haben die Leute Zeit zum Lesen. Ich kenne einige, denen werden die Augen dabei übergehen.«

»Sie machen ja ein recht vergnügtes Gesicht, Doktor, bei diesen schlechten Zeiten!« sagte Professor Bimstein, der, auf dem Wege zum Klublokal des Künstlervereins im Hintergrunde des Kaffeegartens, den Doktor an einem der Tischchen allein hatte sitzen sehen und zu ihm getreten war.

»Sieh da, Professor! Setzen Sie sich zu mir! Nach gethaner Arbeit ist gut ruhen.«

»Meine soll eigentlich erst angehen, und ein verdammtes Stück Arbeit dazu. Na, eine Viertelstunde oder so habe ich noch Zeit. – Kellner! Ein Töpfchen! Und, hören Sie, Kellner, sind schon viele da? Professor Käsebier?«

»Hab ihn nicht gesehen, Herr Professor.«

»Teller?«

»Auch nicht. Waren meistenteils jüngere Herren.«

»Es ist gut.«

»Aber, Verehrtester, Sie scheinen mir in einer recht üblen Laune,« sagte Doktor Mädler.

»Da soll der Teufel in guter sein,« erwiderte der Professor, einen Schluck aus dem Seidel thuend, welchen der Kellner inzwischen vor ihn hingestellt hatte. »Sie hören ja: die Alten drücken sich, die Jungen werden zu Hauf da sein. Hab's mir gedacht. Feiges Volk!«

»Um was handelt es sich denn, Bester?«

»Eine Vorbesprechung zur Wahl eines ersten Vorsitzenden.«

»An Stelle von Eilhardt?«

»Der eine Wiederwahl abgelehnt hat. Er wolle die Ellbogen frei haben!«

Der Professor lachte höhnisch, Doktor Mädler lächelte boshaft: »Ich dächte, die hätte er bereits frei genug: seine Professur niedergelegt, sein Meisteratelier aufgegeben.«

»Niedergelegt! aufgegeben! Sagen wir: niederlegen müssen! aufgeben müssen! Was blieb ihm denn nach dem Skandal im vorigen Jahre anderes übrig! Erst öffentlich erklären, daß das Schandporträt nicht von ihm, sondern von seiner lieben Frau und nur durch eine unerhörte Fahrlässigkeit der Hängekommission – an deren Spitze ich stand, Verehrtester, ich! – unter seinem Namen auf die Ausstellung gekommen sei. Gut! Die Erklärung, abgesehen von dem schändlichen Ausfall auf mich, war seine Schuldigkeit, seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Aber seitdem! seitdem! Mit fliegenden Fahnen ist er in das Lager der Neuerer übergegangen. Treibt's beinah noch toller als seine Frau, von der man zu ihrer Ehre sagen muß, daß sie ein bißchen eingeschwenkt hat, was immerhin anzuerkennen ist nach dem skandalös großen Erfolg ihres Bildes hier und ihrer anderen in Paris auf der von dem schuftigen Willibald arrangierten Separatausstellung. Der Mensch hatte die Frechheit, mir die Blätter zuzuschicken: Figaro – Petit Journal – ich sage Ihnen: ein Tamtam, als ob es sich um einen Velasquez oder Murillo redivivus handelte! Aber das ist es: diese Menschen arbeiten nicht mit dem Pinsel wie andere ehrliche Künstler! Mit dem Maulwerk arbeiten sie, Marktschreier und Charlatane, die sie sind. Sie haben ja die ganze Presse für sich. In jedem Käseblättchen wird ihr Ruhm ausgestreut von Jungen, die ebenso grün sind wie sie. Wir halten natürlich das Maul! Wir können ja ohne Sang und Klang unter den Schlitten kommen!«

» A qui le dites-vous?« sagte Doktor Mädler mit sauersüßem Lächeln. »Steht es denn in der Litteratur anders?«

»Um so schimpflicher für euch, wenn es nicht besser steht!« rief der Professor heftig. »Ihr solltet doch die Waffen zu führen wissen. Warum thut ihr es nicht? Gründet auch Journale, in denen ihr eure Leute durch dick und dünn lobt und die anderen, die Gelbschnäbel, rupft, daß die Federn davon fliegen!«

»Sie haben gut reden,« sagte der Doktor. »Eure ältere und alte Garde, das ist noch immer ein ganz stattliches Corps, vor dem man Respekt haben muß. Da sind Menzel, Gude, Knaus in Berlin; hier Sie selbst –«

»Bitte, bitte! Aber so ganz reduziert seid ihr doch auch nicht. Da ist –«

»Weiß! weiß! Sie werden mir da ein paar Namen nennen, die vor dreißig oder mehr Jahren einen ganz guten Klang hatten. Nur daß sie heute nicht mehr ziehen – nicht mehr ziehen, lieber Freund! Und solche Halbtalente, wie unser berühmter Arnold –«

»Sie können ihn nun einmal nicht leiden –«

»Ich würde mich in meinem Urteil durch persönliche Empfindungen niemals beeinflussen lassen. Auch spreche ich ihm Talent bis zu einem gewissen Grade nicht ab. Was mich gegen ihn aufbringt, ist seine bodenlose Charakterlosigkeit.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie ich das meine? Aber, lieber Freund, denken Sie doch an die Geschichte im vorigen Sommer: ›Wenn Frauen Mut hätten!‹ Jawohl! wenn Männer nur welchen hätten!«

»Aber er hat doch erklärt, daß das Buch von seiner Frau sei!«

»Dazu gehörte nicht viel. Das lag für jeden vom Metier auf der Hand. Aber weiter! Alle Welt erwartete, er würde nach dem Skandal, wenn nicht die Stadt verlassen, so doch mindestens seine Stelle am Polytechnikum niederlegen, und ganz gewiß nicht die Stirn haben, für den Winter abermals Vorlesungen anzukündigen. Er bleibt in seiner Stelle – der er nebenbei gar nicht gewachsen ist –; er hält seine greulichen Vorlesungen. Wer sitzt in der ersten Reihe? Seine Frau! Von der sich jeder honette Mensch hätte scheiden lassen nach einem so fürchterlichen Affront!«

»Freilich. Aber noch schlimmer finde ich es doch, daß Eilhardt und seine Frau –

»Kommen Sie mir nicht mit Eilhardt und seiner Frau!« unterbrach ihn der Doktor, heftig. »Sie war schon auf der Schulbank ein Grasaff und Nichtsnutz und er zeitlebens ein hitzköpfiger, excentrischer Mensch, der wenigstens nie für einen Charakter posiert hat. Aber Arnold! der Cato! der Mann von Eisen! der Mann der strikten moralischen Observanz! Zum Tausend, Herr! Entweder man hat Grundsätze, oder man hat keine. Hat man keine, so ist das freilich schlimm; aber nicht so schlimm, als welche zu haben, um sie zu verleugnen. Sie kennen die ›Novellen von Astolf und Astrid Arnold‹, die in diesen Tagen herausgekommen sind?«

»Nein! Ich denke, Doktor, Sie selbst lesen keine neuen –«

»Als Regel. Bei guten Bekannten macht man schon einmal eine Ausnahme.«

»Nun, und?«

»In einem und demselben Bande! Sechs Novellen, immer umschichtig eine von ihm, dann wieder eine von ihr!«

»Jeder in seinem Genre?«

»In seinem alten Genre. Nun stellen Sie sich vor, Bester: hier die alte Goethesche Schule mit ihren zarten Konturen; ihrer über Gute und Böse mildlächelnden Ironie; ihrem horreur vor dem Gemeinen und Häßlichen; ihrer durchsichtigen Sprache; ihren Perioden, die Zeit haben, in harmonischer Gliederung tönend zu verrollen. Dort die neue: derb zufahrend, mit plumper Faust Menschen und Dinge packend; ohne Scheu vor dem Schmutz, den sie gierig aufwühlt; in der Sucht, wahr zu erscheinen, die fortströmende Rede in naturalistische Brocken zerkrümelnd. Und – es klingt wie Blasphemie – als Motto des Buches das Lessingsche: ›Nur muß der eine nicht den andern mäkeln. Nur muß der Knorr den Knubben hübsch vertragen.‹ Ich erlaube mir, diese Sorte von Verträglichkeit verächtlich zu finden. Ich sage noch einmal: entweder hat man Grundsätze oder man hat keine. Hat man welche, soll man an ihnen festhalten. Darum sind es Grundsätze. Habe ich recht? oder habe ich unrecht?«

»Gewiß haben Sie recht, zehnmal recht. Hören Sie, Doktor, das müssen Sie dem aufgeblasenen Kerl zu schmecken geben.«

»Werde ich.«

»Bravo! So ein gesalzenes Feuilleton in der ›Tagespost‹! unterzeichnet: X. Y. Wie?«

»Wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Morgen?«

»In der Sonntagsnummer.«

»Das trifft sich gut. In der ›Kunsthalle‹ werden Sie übermorgen einen Artikel finden, den sich Herr Professor Eilhardt und Compagnie auch nicht an den Spiegel stecken werden.«

»Unterzeichnet: Tz?«

»Möglich.«

Die beiden Herren blinzelten einander in die Augen.

»Für mich ist Vorsicht geboten,« sagte der Doktor, »beschuldigt man mich doch, daß ich Arnolds Stelle am Polytechnikum ambitioniere. Lächerlich!«

»Und mich, daß ich Eilhardt den Hamburger Auftrag weggeschnappt habe. Absurd! Ich werde jetzt in die Sitzung gehen und dafür plaidieren, daß er wieder gewählt werden müsse, er möge wollen, oder nicht.«

»Und ich eine Gratulationsdepesche an Arnolds Frau aufgeben. Ihr Geburtstag ist heute. Sein Busenfreund Emerich sagte es mir im Vorübergehen. Kellner! Zahlen!«

* * *

In der Laube des Arnoldschen Gartens saßen die drei Freundespaare schon seit mehreren Stunden beim festlichen Mahle.

Es war nicht gerade »ein Ocean von Platz,« wie Emerich behauptete, der für seine Person den weitaus größten in Anspruch nahm; das machte das Beisammensein nur noch traulicher. Auch ließ der laue Abendwind, der durch die breiten Blätter des wilden Weins hauchte, die Enge des Raumes nicht empfinden. Dazu leuchtete der volle Mond von dem Eilhardtschen Gatter her so hell in die Laube herein, daß man der Lampen hatte entbehren können, bis jetzt – beim Nachtisch – Auguste ein umschleiertes Windlicht brachte für die Cigarren der Herren und für Stellas Cigarette.

Das muntere Gespräch hatte sich um die verschiedensten Gegenstände bewegt, um keinen beharrlicher, als um das Programm einer neuen litterarisch-artistischen Monatsschrift, die vom Oktober des Jahres an in Berlin und Paris zugleich deutsch und französisch erscheinen sollte; von Alfred, Willibald und einem namhaften Pariser Schriftsteller als Herausgebern gezeichnet und den Freunden heute morgen zugegangen war – an Arnold und Astrid, Eilhardt und Stella mit der dringenden Bitte um fleißige Mitarbeiterschaft.

Der seltsame Titel »Pantarhei,« welchen die Herausgeber für ihr Unternehmen gewählt, hatte Arnold den anderen erst erklären müssen: das Wortungetüm berge einen Scherz, denn es sei die – grammatikalisch nebenbei unzulässige – Kontraktion zweier griechischer Worte » panta,« und » rhei«, welche bedeuteten: »alles fließt«, oder umschrieben: »alles ist in ewigem Fluß« – das Schiboleth einer der ältesten griechischen Philosophenschulen, deren Anhänger sich deshalb »die Fließenden« nannten.

»Uebrigens,« fuhr Arnold fort, »steckt in dem Scherz ein tieferer Sinn, als die Herausgeber wohl selbst ahnen, oder Wort haben möchten. Sie versprechen freilich einen unerbittlichen Krieg führen zu wollen gegen alle Principienreiterei, auf welchem Gebiete der Kunst und Litteratur es auch sei. Denn es sei alles in beständigem Fluß, in fortwährender Wandlung, wie man beispielsweise an der Malerei sehen könne, für welche die knappe Zeit eines Menschenalters genügt habe, um sie aus den Banden des Klassicismus und den Nebeln der Romantik zum Naturalismus zu führen, über dessen gesunden, aber rauhen Boden wieder der sänftigend ausgleichende Hauch des Impressionismus habe wehen müssen, der abermals keinesfalls das letzte Wort sei. Mutatis mutandis gelte das nicht weniger von der Dichtkunst. So bleibe dem Künstler, dem Dichter nur eines: frank und frei herauszusagen, was er in der Seele habe. Das Was sei die Hauptsache; das Wie kommt erst in zweiter Linie. Je größer, machtvoller das Was, desto besser natürlich. Aber auch das Kleinere und Kleinste müsse und wolle man gelten lassen, wenn es sich über seinen seelischen Ursprung, legitimieren könne.«

Arnolds prächtige Augen überglänzten den kleinen Kreis; mit erhobener Stimme sprach er weiter:

»Nun, meine Freunde, ich lasse mich durch die schönen Worte nicht täuschen. Ich weiß sehr wohl, wie dies alles im Sinne der jungen Leute gemeint und die Freiheit, die sie predigen, nur eine für sie ist, nicht für uns andere, die sie nach wie vor verdammen und verhöhnen werden. Dennoch werde ich ihr Programm unterschreiben, denn von dem ewigen Wandel und Wechsel der menschlichen Dinge bin ich überzeugter als sie, die sich auf der höchsten Höhe angekommen wähnen, wie verschämt sie sich auch gebärden, ahnungslos, daß auch über sie – ach! und vielleicht wie bald! – die Folge zur Tagesordnung übergehen wird. Und nur eines unverrückbar bleibt: die leuchtende Centralsonne des Universums, die Liebe, von der jede gute That im Leben und in der Kunst ein verzitternder Strahl ist.«

»Hört! hört!« rief Eilhardt begeistert.

»Meine Lieben!« sagte Emerich mit seiner sonorsten Stimme, indem er sich zugleich erhob.

Alle sahen mit lachenden Augen zu ihm auf, ausgenommen Regine, die, in den Schoß blickend, leise seufzte. Sie hatte ja gewußt, daß es kommen mußte, und sich nur gewundert, daß es noch immer nicht kam. Gebe nur der Himmel, daß er heute bei der Sache bleibt!

»Meine Lieben,« sagte Emerich noch einmal, nachdem er sich überzeugt, daß die hundert Musiker seines Orchesters atemlos auf den Wink des Taktstockes warteten, – »es will mir scheinen, als hättet ihr – ich meine dich, Freund Eilhardt, und besonders dich, Freund Arnold – jetzt gerade genug gefachsimpelt, von sothanem Recht des Deutschen den legitimen ausschweifenden Gebrauch machend und dabei natürlich das Einzige übersehend, was uns not thut; vielmehr die Einzige, Unvergleichliche –«

»Bravo!« rief Eilhardt.

Der Redner warf ihm einen strafenden Blick zu, wie einem Geiger, der zu früh eingesetzt hat, und fuhr fort:

»– zu deren Feier wir hier in fröhlichem Thun vereint sind. Ich hätte aber vielmehr sagen sollen: Gebrauch machend von dem Recht des Litterators, des Malers, die, eingeschlossen in die engen Schranken ihrer respektiven Künste, freilich nicht den weltweiten Blick haben, welcher einzig und allein den Jüngern jener Kunst der Künste eignet, deren herrlichstes Loblied Shakespeare gesungen hat: ›Der Mensch, der nicht Musik hat in sich selbst‹ »Der Kaufmann von Venedig«, Fünfter Akt, Erste Szene. – O, großer Shakespeare –«

Hier seufzte Regine abermals, sehr leise, und doch vernehmlich für des Redners empfindliche Ohren, der sich mit mildem Lächeln zu ihr hinüberbeugte und im Tone des Schauspielers, der »beiseite« spricht, sagte:

»Ich werde sogleich zur Sache kommen.«

Und dann, mit wieder erhobener Stimme:

»Schwan vom Avon! mächtigster Symphoniker, in einem Atem zu nennen mit Bach und Händel und Beethoven, die dennoch alle kleiner sind als du, bis er kam, der letzte, größte, der Magier von Bayreuth, – Dioskuren ihr beide, die ihr Hand in Hand durch alle kommenden Jahrtausende wallen werdet!«

Hier nahm der Redner einen großen Schluck aus seinem Sektglase, um dann mit einem triumphierenden Blick über die kleine Gesellschaft also weiter zu sprechen:

»Darum aber muß ich unsre wackern jungen Freunde höchlich preisen. Bescheiden, wie sie immer sind, ich sie wenigstens immer gefunden – wenn schon Freund Arnold, der in der Sache wohl ein wenig Partei ist, vom Gegenteil überzeugt scheint – haben sie an die Stirn ihres Unternehmens nicht das große Wort schreiben wollen, das des Meisters ist und des Meisters bleiben muß. Aber ist euch Kurzsichtigen denn gar nicht beigefallen, daß ›Alles fließt‹ und ›unendliche Melodie‹ nur zwei Ausdrücke für die identische Sache sind? Wahrlich, mich durchschauert's. Mich durchschauert's, denken zu dürfen, daß vor grauen Jahrtausenden sinnige Menschen bereits die unendliche Melodie geahnt haben und – in dem dunklen Gefühl, auf ihrer ewigen Welle dahinzuwogen – sich ›die Fließenden‹ nannten. Ja, meine Lieben, Fließende sind wir alle; wollen, können nichts anderes sein! In diesem Sinne erheben wir unsere Gläser und –«

»Astrid lebe hoch!« rief Eilhardts kräftige Stimme.

Von Emerichs Gesicht war das rosige Triumphlächeln jäh verschwunden, wenn er auch lauter als alle in das Hoch eingestimmt hatte.

Nun, sich mit den anderen wieder setzend, blickte er mit reumütigen Augen auf Regine.

Sie aber bog sich zwischen den beiden Blumenkörben zu ihm hinüber und flüsterte, nur ihrem geliebten Genie vernehmlich:

»Schadet nicht, Emerich! Du hast wundervoll gesprochen!«



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