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X.

S ven hatte umsonst die Arme nach der Enteilenden ausgestreckt. Wie ein Traumbild, schnell, ungreifbar, war sie entschwunden. Und wie ein Traum war ihm auch, was er in diesen letzten Minuten erlebt hatte. Er geliebt – geliebt von der Frau, die ihm wie eine Göttin, hoch und herrlich, unerreichbar fern erschienen war; das Siegel, womit sie ihr Bekenntniß geheiligt, noch heiß auf seiner Stirn fühlend – wie hatte er dies verdient? Ja, hatte er ein so hohes Glück nur erstrebt, gewollt? Hatte er sie nicht aus dem wogenden Meere, auf welchem das Schiff ihres Glückes trieb, retten wollen in den schirmenden Hafen? Und sah er sie jetzt nicht weiter als je von dem Ziele der Ruhe, der Sicherheit und des Friedens entfernt? Ging nicht Benno's Prophezeiung schon in Erfüllung? War er nicht dem Räuber gleich, der sich, den köstlichen Schatz zu stehlen, in ein von dem Besitzer verlassenes Haus geschlichen hat? …

Er blickte verstört um sich. Die Stille in dem Gemache beängstigte ihn; er horchte auf das Tiktak der Uhr und auf die Regentropfen, die gegen die Fenster schlugen …

Würde Mrs. Durham wieder kommen? – Er hatte ihr so viel zu sagen – so viel! Er wollte ihr sagen, daß er kein Glück für sich erstrebe, welches sie mit Thränen und Reue, mit Opfern aller Art bezahlen müßte; daß er sie liebe, ja! innig, heiß liebe, daß der Gedanke, von ihr wieder geliebt zu werden, ihn mit Seligkeit erfülle – mit unendlicher Seligkeit, und doch auch wieder mit einer Wehmuth, einer Trauer, wie sie das Herz bedrückt, wenn wir um ein Ideal, an dem wir mit gläubiger Seele hingen, betrogen sind. – Er wollte ihr sagen – was nicht alles? – eine Welt – eine Welt, die ihm doch selbst ein halbes Chaos war.

Er hatte sich auf einen der Stühle geworfen und den fieberheißen Kopf auf die Hand gestützt. Er hatte vergessen, wo er war; vergessen, daß es schicklich und gerathen für ihn sei, sich jetzt zu entfernen, daß der Dienerschaft sein Bleiben auffallen müsse …

So mochte er wol eine Viertelstunde gesessen haben, als er durch einen Schritt im Nebenzimmer aus seiner Träumerei aufgeschreckt wurde. Er hoffte, es werde Cornelie sein, und das Blut drängte sich zu seinem Herzen – noch einen Augenblick und – nicht Cornelie, sondern ihr Gatte trat in das Zimmer.

» Good evening, Sir! How do you do?« sagte Mr. Durham, indem er an Sven vorbeigehend, ohne ihm, wie gewöhnlich, die Hand zu bieten, sich mit dem Rücken an den Kamin stellte, obgleich noch kein Feuer darin brannte.

»Ich danke, gut, und Sie?« erwiederte Sven, ohne ganz genau zu wissen, was er sagte.

» Thank you, very well!« sagte Mr. Durham.

Eine Pause trat ein, die von Seiten Sven's eine nicht wenig verlegene war. Seine Ehrlichkeit empörte sich gegen diesen freundschaftlichen Verkehr mit einem Manne, der, wenn er eine Ahnung der Wahrheit gehabt hätte, aus einem ganz andern Tone mit ihm gesprochen haben würde. Er fühlte sich recht klein und erbärmlich in dieser Maske des Heuchlers, die er zum ersten Male in seinem Leben trug. Er warf einen prüfenden Blick auf Mr. Durham; es war ihm, als ob er auf dem Gesichte des Mannes sein Urtheil lesen müßte. Aber Mr. Durham's Antlitz war so ruhig und kalt, wie immer, vielleicht um eine Schattirung blasser wie sonst; indessen mochte das auch nur an der Beleuchtung liegen. Mr. Durham hatte noch immer seinen Platz in der halbdunkeln Ecke des Zimmers vor dem leeren Kamine nicht verändert.

» Where is Mrs. Durham?« fragte er plötzlich.

»Sie war noch eben hier,« erwiederte Sven, und die Worte blieben ihm fast in der Kehle stecken.

» Oh, so!« sagte Mr. Durham.

Wiederum eine Pause.

»Ich glaube, wir werden heute Abend allein bleiben,« begann Sven von neuem.

» Seems so!« sagte Mr. Durham.

Abermals hörte man nichts als das Tiktak der Uhr und das Pochen der Regentropfen auf den Fensterscheiben.

»Wie steht's mit unserer Segelpartie?« fing Sven, dem diese einsilbige Unterhaltung nachgerade unerträglich wurde, zum dritten Male an. »Haben Sie sich nach einem Boote umgesehen?«

» Oh yes; ich habe heute ein sehr schönes gekauft; nicht übermäßig groß, but strong and swift. I shall call it Mermaid. Very nice name, is it not?« erwiederte Mr. Durham, wie er es oft that, englisch und deutsch durcheinander sprechend.

» Mermaid?« sagte Sven; »o gewiß ein hübscher und passender Name. Wir sollten es heute einweihen. Es ist richtiges Nixenwetter.«

Sven hatte das in einem Tone gesagt, der scherzhaft sein sollte, und war deshalb nicht wenig verwundert, als Mr. Durham nach einer kleinen Pause so ruhig wie immer sagte:

» Well! shall we go

»Wohin?«

»Sagten Sie nicht, wir wollten die Mermaid heute Abend einweihen?«

In diesem Augenblicke rüttelte der Wind heftiger wie zuvor an den Jalousien vor den Fenstern; die Thür, die auf die Terrasse führte, sprang auf.

»An Wind wird es jedenfalls nicht fehlen;« sagte Sven, noch immer es für unmöglich haltend, Mr. Durham könne im Ernste sprechen.

» Well,« sagte Mr. Durham, den Kragen seines Rockes in die Höhe schlagend, » then let us go.«

Er zog die Klingel und sagte zu dem eintretenden Diener:

» Mr. Tissow's great coat and hat!«

»Also ist es wirklich ihr Ernst?« sagte Sven.

» Why not?« erwiederte Mr. Durham, bedächtig seinen Rock zuknöpfend. »Wenn ich nicht irre, hatten Sie sich gerade einen stürmischen Tag gewünscht. Sie können nicht leicht einen passenderen finden.«

Der Diener brachte Sven's Sachen.

»Ich stehe zu Diensten,« sagte Sven.

Sven wußte jetzt, daß Mr. Durham in der That nicht scherzte; er wußte, daß Mr. Durham die eben stattgehabte Scene beobachtet hatte und daß er jetzt, so oder so, Rechenschaft fordern werde, Genugthuung für die ihm widerfahrene Schmach. Svens Herz pochte, aber nicht vor Furcht, sondern von jener erwartungsvollen Ungeduld, mit welcher der Muthige einer Entscheidung entgegengeht, die unvermeidlich ist. Er war entschlossen, dem Manne, gegen den er jetzt grimmigen Haß empfand, komme, was da wolle, in keinem Punkte nachzugeben; wenn es sein müßte, auf Tod und Leben mit ihm zu kämpfen.

Diese Gedanken durchzuckten sein Hirn, während er im düstern Schweigen Mr. Durham die Treppe der Terrasse hinab, wenige Schritte am Ufer entlang bis zu einem Orte folgte, wo eine kleine Einbucht eine Art von Hafen bildete.

Hier lagen stets mehre Boote, die von Fischern an Ruder- und Segellustige vermiethet wurden. Als sie sich den Booten näherten, rief sie ein Mann, der bei denselben Wache hielt, an.

»Ich bin es;« sagte Mr. Durham.

»Ah, so! was wollen sie so spät, Mister?«

»Mein neues Boot. Wir wollen noch eine Stunde segeln.«

»Was?« sagte der Mann; »heute Abend? es ist ja ein wahres Teufelswetter, Mister.«

»Gerade deshalb;« erwiederte Mr. Durham.

»Es ist heute Abend gefährlich zu segeln, Mister.«

»Gerade deshalb.«

Mr. Durham war in das Boot gestiegen – ein winziges Boot, das drei, höchstens vier Personen fassen konnte – hatte den kleinen Mastbaum in der Mitte aufgerichtet, das Segel zum Aufziehen zurecht gelegt –

» All right?« sagte Mr. Durham.

Sven war schon im Boot und hatte eine Stange ergriffen, um das Fahrzeug vom Ufer zu entfernen.

Das leichte Boot gehorchte willig dem Druck; Mr. Durham zog das Segel auf; das Fahrzeug neigte sich auf die Seite und schoß über die Wellen dahin.

»Na, so ein verrücktes Chor ist mir denn doch auch noch nicht vorgekommen;« sagte der Schiffer, ihnen nachschauend, »der Eine ist noch immer toller, wie der Andere. I nu! mir kann es gleich sein; das Boot ist bezahlt und gut bezahlt; wenn sie partout ersaufen wollen – es hat ja Jeder sein besonderes Vergnügen, wie der Teufel sagte, als er sich in die Nesseln setzte. Prrr! was das heute kalt ist, wie im November!«

Und der Mann nahm einen tüchtigen Schluck aus seiner Branntweinflasche, hüllte sich dichter in seine wollene Jacke und kroch wieder in die Kajüte, aus der ihn Mr. Durham und Sven aufgescheucht hatten.

Unterdessen hatten diese, seitdem sie das Ufer verlassen das unheimliche Schweigen noch immer nicht gebrochen. Mr. Durham saß am Steuer und hatte zugleich die Segelleine in der Hand; Sven saß vorn im Boot. Die Dunkelheit brach so schnell herein, daß es in wenigen Minuten beinahe Nacht wurde; immer drohender wälzten sich die schwarzen Wolkenmassen über den Himmel, immer schmaler wurde der schmale schmutzigrothe Streifen, der, als sie vom Lande stießen, den westlichen Horizont umsäumt hatte. Der Wind wehte nicht regelmäßig. Einmal ließ er so gänzlich nach, daß das Segel an den Mast klappte, das andere Mal brach er wieder mit solcher Heftigkeit hervor, daß das Boot sich tief auf die Seite neigte und mit unheimlicher Geschwindigkeit durch die siedenden Wasser schoß. In solchen Augenblicken fiel auch der Regen manchmal ziemlich dicht und vermehrte das Schauerliche der Situation. Da der Wind gerade gegen den Strom wehte, so wühlte er tief das Wasser auf, das sich in reichlichem Sprühregen über das kleine Fahrzeug ergoß, während es, wie ein ungeduldiger Renner, in kurzen, heftigen Sprüngen in die krausen Wellen stampfte. Die Achter, die in der Stadt hier und da schon angezündet waren, verschwanden in dem Maße, daß man sich von ihr entfernte, mehr und mehr. Das dunkle, niedrige Ufer war oft durch den sprühenden Regen gänzlich verhüllt – man hätte glauben können, auf offenem Meere sich zu befinden.

Plötzlich brach der Sturm mit neuer fürchterlicher Wuth herein. Das leichte Boot neigte sich auf die Seite und war in einem Nu halb mit Wasser gefüllt.

»Wir ertrinken, bei Gott!« rief Sven, indem er sich mit einer unwillkürlichen Bewegung aus dem Vordertheile des Bootes nach dem Platze am Steuer stürzte.

»Zurück;« rief Mr. Durham mit starker gebieterischer Stimme; »meinen Sie, Knabe, ich wüßte nicht, was ich thue? ein Druck meiner Hand und das Fahrzeug kehrt das Oberste zu unterst! das wird demnächst vielleicht geschehen; aber zuvor wünsche ich noch ein paar Worte mit Ihnen zu reden. Also sitzen Sie still und hören Sie mich an!«

Sven schämte sich der Regung von Todesfurcht, die ihn für einen Moment seiner Fassung beraubt hatte. Er ließ sich wieder auf seinem Platze nieder und sprach so ruhig, als er vermochte:

»Was haben Sie mir zu sagen?«

»Nur dies,« erwiederte der Engländer; »daß Sie an mir gehandelt haben, wie ein Bube. Ich habe Ihnen die Gastfreundschaft meines Hauses geboten, Sie haben diese Freundschaft angenommen und während Sie lächelten und meine Hand drückten, haßten Sie mich und triumphirten heimlich über meine Blindheit und meine Schwäche. Ich hätte Ihnen mein Vermögen, das Leben meines Weibes, meiner Kinder anvertrauen können und Sie haben mir bewiesen, daß man bei Ihnen und Ihresgleichen Treue vergeblich sucht. Wissen Sie, Herr, was man in meiner Sprache einen Gentleman nennt, und was die Quintessenz eines Gentleman ist? Ehre, Wahrheit. Ihr Deutsche habt den Namen sowenig, wie die Sache.«

Sven's Blut kochte, als sein Gegner so Beleidigung auf Beleidigung häufte. Daran zu denken, wie tödtlich er selbst den Mann gekränkt hatte, vermochte er in diesem Augenblicke nicht. Er hätte sich auf ihn stürzen, ihn mit den Händen erwürgen mögen; aber dann hätte er ihm nicht sagen können, was zu sagen ihm das Herz abdrückte.

»Sind Sie zu Ende?« rief er in wilder Hast, »nun denn, so hören Sie auch mich! Ich schleudre Ihnen jedes beleidigende Wort, das Sie mir gesagt haben, in die Zähne zurück! Sie wagen von Verrath, von Treubruch zu sprechen, den ich an Ihnen begangen haben soll? Ich habe die Gastfreundschaft verletzt! wohl! wie haben denn aber Sie gegen ein armes Mädchen gehandelt, das Ihnen in Ihr Haus folgte, vertrauend, daß Sie ihr Vater und Bruder und Gatte sein würden? Sie wollte nichts als Liebe – etwas Andres verlangt kein edles Weib – aber das war das Einzige, das Sie nicht zu geben hatten! Liebe! was weiß ein herzloser, kalter Egoist, wie Sie, von Liebe! Was haben Sie aus dem kostbaren Pfand gemacht, das in ihre plumpe, schnöde Hand gelegt wurde? aus dem weichherzigen, hochsinnigen Mädchen ein innerlich gebrochenes Weib, das sich an seinem Stolz festklammern muß, um nicht zu versinken. Ich habe Ihnen geraubt, was Sie niemals besessen haben, zu besitzen niemals würdig waren. Ich habe es Ihnen geraubt und ich freue mich dessen! Was hilft es Ihnen, daß Sie, erbärmlicher Prahler mit Ehre und Treue, mich treulos hierher gelockt haben, damit ich ertrinke, wie ein Hund! lebend oder todt ist die Herrliche doch mein, und Sie haben sie verloren, ob Sie nun leben oder sterben.«

Während Sven der Leidenschaft, die in seinem Herzen hämmerte und in seinen Schläfen pochte, diese halb wahnsinnigen Worte lieh, bemerkte er nicht, wie das Boot vor dem Sturm her mitten in den Fluß und in das Fahrwasser trieb, hörte er nicht, wie ein Brausen, das schon seit einigen Minuten durch die plätschernden Wellen und den klatschenden Regen dumpf herübergetönt, immer näher und näher kam; sah er nicht, wie ein rothes Auge durch den Nebel starrte; nicht, wie eine dunkle gewaltige Masse aus dem Nebel auftauchte und in fürchterlicher Eile auf sie zuschoß, bis der Donner der in das Wasser peitschenden Räder des zu Thal sausenden Dampfers ihn aus seinem Wahnsinn aufschreckte und das rothe Feuerauge des Ungeheuers höhnisch auf ihn niederstarrte.

»Steuern Sie rechts, um Gotteswillen, steuern Sie rechts!« rief er aufspringend und auf Mr. Durham losstürzend.

»Wozu?« sagte Mr. Durham. »Ich habe sie verloren, ob ich nun lebe oder sterbe; aber Sie, Sie sollen sie auch nicht haben.«

Und damit drückte er das Ruder auf die Seite, daß das leichte Boot unmittelbar in die Welle flog, welche der Dampfer im nächsten Augenblicke durchschneiden mußte. Und jetzt war das Ungeheuer da. Ein Stoß, ein Krach, ein wilder Schrei – Stop! das Grausen der von den nun still stehenden Rädern aufgewühlten Wellen – eine an dem schwimmenden Sven vorüberschießende dunkle Masse – ein Strick, der von Bord, auf gut Glück, hinabgeworfen wird, und ihm in die Hand fällt, die sich krampfhaft um das Werkzeug der Rettung schließt – kräftige Arme, die ihn an der pfeilschnell herabgelassenen Schiffstreppe in Empfang nehmen – und dann eine tiefe Vergessenheit, die sich wohlthätig über die durch den Graus der letzten Scenen bis zum Wahnsinn überreizte Seele breitet.



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