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Drittes Kapitel

1

Schnell erzählt ist die karge Lebensgeschichte Robert Blums, des Kassiers der 12. Sektion.

Blums Obmann, Spannmeyer, liebte es, ihn öfters an die Namensvetterschaft mit dem bekannten 48er Revolutionär zu erinnern, und wurde an Stammtischabenden nicht müde, ihm die bekannte Volksballade zuzusingen.

»Am Brandenburger Tor, die Hand am Rücken festgebunden, tritt Robert Blum mit festem Schritt hervor...« Aber das war krasser Hohn: Unseren Robert Blum hatte die Natur nicht zum Helden bestimmt. Sie hatte ihm einen kleinen Körperwuchs gegeben und leicht schielende Augen von der grauweißlichen Tönung blinder Pferdeaugen – so kurzsichtig, daß er schon als Kind mit Brillen versehen werden mußte. Doch seine braunen Kopf- und Barthaare wuchsen reichlich und fielen auch im Alter nicht aus. Er pflegte sie sorgfältig in Form einer genauen Scheitelfrisur, eines Fliegenbärtchens unter der Nase und eines immer gutgekämmten kleinen Knebelbarts. In bescheidenen Grenzen waren seine geistigen Fähigkeiten gut ausgebildet. Das heißt, er war ein zuverlässiger Rechner, auch Kopfrechner. Überhaupt war er hurtig im Erfassen geistiger Kombinationen, wenn sie sich nur im Rahmen seines kleinen Alltags bewegten. Phantasie besaß er keine. Seine Handschrift war kalligraphisch einwandfrei. Er hielt auf Sauberkeit, Pünktlichkeit, Ordnung in jeder Hinsicht. Wenn auch seine besten Fertigkeiten durch Schreib- und Rechenmaschine längst überholt waren, so stellte er doch nicht einen anachronistischen Einzelfall dar, sondern es liefen Hunderttausende seinesgleichen in Wien herum, die durch nichts höher hervorragten. Warum war gerade er so besonders schüchtern? Warum bedrückte ihn die ständige Angst, er könne plötzlich und unvermutet in den Vordergrund irgendeiner Situation geschoben werden? Oder gar eine Entscheidung zu fällen haben? Warum bewegte er sich, von allen geliebt und sogar geschätzt, so zaghaft durch das Getriebe unserer Sektion? Weil er sich für einen Pechvogel hielt, dazu für einen ganz ausgepichten, der auch anderen Pech bringt. Tatsächlich hatte es auf sein Selbstbewußtsein viele schwere Schläge gehagelt. – Er war von Beruf und Neigung kaufmännischer Angestellter. Seine Fähigkeiten dazu waren genügende. Doch sein Aussehen hatte ihm geschadet. Nicht so, daß er keinen Posten gefunden hätte, im Gegenteil, er fand sie mit Leichtigkeit. Aber etwas in seinem Äußeren bewirkte, daß er vor allem bei solchen Kaufleuten aufgenommen wurde, deren Geschäft sich dem Bankrott näherte. Trotz sorgfältigster Körper- und Kleiderpflege sah er nämlich, besonders in seiner Jünglingszeit, keineswegs als das aus, was man einen »prima Burschen« nannte. Sondern er war auf den ersten Blick als zweitklassig zu erkennen. Es gibt Waren, die ihren Verwendungszweck gut erfüllen, zuverlässige, solide Waren, die aber mit einem kleinen Materialfehler behaftet sind, mit einem winzigen Brandfleck etwa oder einem Webfehler. Die sind billiger zu haben und werden von sparsamen Käufern erworben. Eine solche Ware von IIA-Qualität war Blum sein Leblang gewesen. Schon in der Jugend seiner Häßlichkeit wegen schüchtern, hatte er sich unermüdlich den Arbeitgebern vorgestellt. Die blühenden Firmen hatten sich 24 Stunden Bedenkzeit erbeten. (Wenn nichts Besseres nachkommt, nehmen wir den da, er ist ja so übel nicht.) Die anderen aber betrachteten ihn mit Wohlwollen. Er paßte gut zu ihrem soliden, jedoch schon schäbig gewordenem Mobiliar. Ich muß sparen, dachte der Kaufmann, gerade das ist die Art von Personal, auf die ich mich umstellen muß. Außerdem – wenn man dem einmal das Gehalt schuldig bleibt, sagtet nicht muh. Das ist einer, der für die Firma hungert, wenn's soweit kommt.

Wer solche Berechnungen anstellt, ist aber meist schon dem Konkurs verfallen. Und als Bestand der Konkursmasse wanderte Blum von einer Firma zur anderen. Wo er aber eintrat, dort traten mit ihm Zerfall und Bankrott ein. Von seiner Perspektive aus war es ein bleiernes, bedrückendes Verhängnis. Doch wenn man auch seinen Fall nüchtern betrachtet, wenn man für eine derartige Verkettung des Menschen mit einer Reihe von Ereignissen, für eine Verkettung also, zwar seiner Natur, nicht aber seinem Willen zufolge eintritt, um nur irgendein abgrenzendes Wort zu finden, das Wort »dämonisch« wählt; und wenn man zugeben will, daß der Verlauf eines Menschenlebens irgend etwas beweisen kann, so war das kleine Dasein dieses ordnungsliebenden, ehrlichen, lebenswilligen Blum dämonisch mit Unordnung, Betrug und Untergang verbunden. – Endlich geriet er mit seinen vorzüglichen Zeugnissen in eine großmächtige Speditionsfirma. Dort brachte er's zum zweiten Buchhalter. Dann – 1931 – brach das Unternehmen in der Wirtschaftskrise zusammen. – Entmutigt, überdies schon zu alt, um nennenswerte Chancen zu haben, zog er sich ins Privatleben zurück, wozu ihm die winzige Rente seiner Frau die Möglichkeit gab. Diesen Schritt tat er nicht gern. Was jetzt begann, war alles eher denn ein Ruhestand zu nennen. Denn sein Privatleben war in besonderer Weise vom Schicksal verfolgt. Im Beruf hatte er immerhin Aussichten gehabt, mit Beharrlichkeit und etwas gutem Glück das Schicksal zu besiegen; hier aber schlug es ganz anders zu: unfair. Schamlos nützte es die Überlegenheit aus, die es besaß, völlig unberechenbare Hiebe führen zu können. Blum hatte bis zu seinem 30. Lebensjahre nur selten Frauen besessen, und sie waren wenig begehrenswert gewesen. Dann fand er eine recht hübsche, solide, vernünftige. Er heiratete sie. Sie brachte in die Ehe eine bescheidene Mitgift und überraschend viel Leidenschaftlichkeit. Dann wollte Gott (hätte Blum gesagt, wenn er kein Freidenker gewesen wäre), daß sie krank wurde. Was fehlte ihr? Alles und nichts. Der Krankenkassenarzt wußte mit seiner Kunst nichts anzufangen. Nicht einmal von der Schlaflosigkeit heilte er sie. Sie ging zu Bett, litt und klagte über hunderterlei, wollte eines Morgens nicht aufstehen, blieb auch am nächsten Tag liegen und lag jahrelang und immer noch. Gleich zu Anfang dieser unverständlichen Krankheit nistete sich die Schwägerin in Blums Wohnung ein. Sie haßte ihn, er wußte genau, warum. Sie pflegte die Frau und wurde darüber zur alten Jungfer. Kranke und Pflegerin wetteiferten, um Blum zu quälen. Am besten gelang es ihnen mittels der ewigen Geldsorgen des Schwagers Willy. Das war ein Schauspieler. Ein Lump, der immer Geld brauchte. Ob die zwei Weiber diesen Willy eigentlich gerne hatten oder nicht, fand Blum nie heraus. Jedenfalls machten sie ihm, sobald ein Bettelbrief von Willy kam, die Wohnung zur Hölle; und es roch nicht gut in der Wohnung. Das Schlafzimmerfenster mußte immer geschlossen bleiben, weil die Frau es nicht anders vertrug. Die aber verließ kaum ihr Zimmer. Und die Verbindungstür zur Wohnstube, wo er seine Sprechstunden als Fürsorgerat abhielt, die Verbindungstür mußte immer offen sein. Sonst ging das Gejammer los. Manchmal drohte die Schwägerin auch gefährlich. Manchmal waren Willys Briefe von der Art, wie man sie in den Gerichtssaalberichten erwähnt findet. In Erpressungsprozessen, in Mordprozessen ...

Dies alles hatte schon in Friedenszeiten begonnen, hatte den Weltkrieg überstanden und dauerte nun 20 Jahre. Es näherte sich keinem sichtbaren Ende. Es war kein großes Drama. Es war überhaupt nichts Großes, nichts Ernstes. Der ganze Bezirk wußte davon und lachte, lachte darüber seit urewigen Zeiten. Manche fanden die ganze Geschichte einfach unappetitlich. – Blum aber hörte nicht auf, Genauigkeit, Ruhe und Ordnung zu lieben. Er war seit 29 Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.

2

Am 4. März, gegen 7 Uhr abends, machte Blum sich auf den Weg in die Sektion. Mit Aktentasche, Brille, graumeliertem Bärtchen, schlaffem Bäuchlein sah er aus wie ein subalterner Staatsbeamter. Das nahende Alter, die Sorgen und die Referentenfunktion hatten seinem Äußeren eine bescheidene Würde verliehen. – Blum dachte: »Gott sei Dank, daß jetzt Schluß ist mit allen diesen Geschichten wegen dem Eisenbahnerstreik und mit dem Wirbel daraufhin, gestern und vorgestern. Jetzt wird man wieder ruhig an die Parteiarbeit gehen können. Gut, daß der Spannmeyer den Sektionsabend auf ½ 8 angesetzt hat. Die Vertrauensmänner, nachher, werden sicherlich ihre 2 Stunden brauchen. Ich werde beantragen, daß der Punkt ›Kassabericht‹ gleich als zweiter Punkt drankommt. Ja, das werde ich tun, und wenn man die ganze Tagesordnung umstellen müßte! Die neuen Sprengelkassiere, die wir da von der Jungfront gekriegt haben, arbeiten miserabel. Das muß endlich einmal festgestellt werden. Ich werde mir kein Blatt vor den Mund nehmen. Ich nicht! Ich hab mich mein Leb' lang nicht so viel um Politik gekümmert wie diese Herrschaften, die's noch feucht hinter den Ohren haben. Das sollen sie gefälligst den verantwortlichen Genossen überlassen. In ihren Sprengein häufen sich die Rückstände an, und ich hab die Verantwortung. Das werd' ich auch gerad so heraus sagen. Allerdings – der Leitartikel heute war ziemlich scharf. Diese Maßregelungen bei den Eisenbahnern – das ist auch allerhand. Und von ›Rädelsführern‹ wird gesprochen – als ob wir unter Taaffe und Badeni leben würden. Das hat ihnen die ›Arbeiter-Zeitung‹ sehr treffend hineingesagt. 4% – das macht von 200 Schilling – 8 Schilling! Wofür werden die Leute eigentlich gemaßregelt, möchte man direkt fragen, wo doch im Gegenteil die Direktion Gesetz und Recht gebrochen hat. Ordnung muß sein. Rädelsführer – wie kann man so ein Wort heutzutage überhaupt in den Mund nehmen? Na, heute ist ja, Gott sei Dank, Parlamentssitzung, und da wird die ganze Angelegenheit erledigt, und ich werde gleich jetzt bei der Vertrauensmännersitzung ein paar wichtige Fragen anschneiden können. Es geht absolut nicht, daß man solche Genossen, die seit 1 Jahr keinen Beitrag zahlen, noch immer in den Listen mitschleppt. Entweder – oder! Das ist mein Prinzip; Ordnung muß sein. Ich habe die Verantwortung. Zum Glück besitze ich in den Kassafragen genügend Autorität ...«

Und er begann, sich für sein festes Auftreten innerlich vorzubereiten. Übrigens nahm in normalen Zeiten die Politik in seinen Gedanken keinen solchen Raum ein wie nun die Fragen des Eisenbahnerstreiks – meistens gar keinen. Er las zwar jeden Morgen sorgfältig die »Arbeiter-Zeitung«, aber so, wie die meisten guten Katholiken ihr Abendgebet sprechen: mit einer kleinen Weile Geduld und ein klein bißchen Andacht war die Sache jedesmal ordnungsgemäß erledigt. In Diskussionen über Sanierung, Faschismus, Parteitaktik und dergleichen mengte er sich nie ein, und er wurde nie hineingezogen. Alle wußten, daß er ein völlig unpolitischer Mensch war. Öffentlich ergriff er das Wort nur zu seinen Kassaberichten.

Als er den Hof des Gemeindehauses durchschritten und den Vorraum des Sektionslokals betreten hatte, stürzte der Obmann Spannmeyer, am ganzen Körper zitternd, auf ihn zu und zog ihn beiseite.

»Hör zu, Blümchen«, stammelte er, »'s is was Z'widres passiert, ganz was Z'widres.«

Blum geriet sofort in größere Aufregung als der andere. Eben kam er von einer unbeschreiblichen häuslichen Szene. Wenn nicht einmal hier Ruhe war, wo dann in aller Welt? Zum Glück besaß er hier Macht genug, um Ordnung zu schaffen; oder wenigstens, um ein Wörtlein mitzureden. Nur sollte Spannmeyer um Himmels willen von ihm keine Rede vom Podium herab verlangen. Nur das nicht. Vor Schreck und Courage stockte ihm das Blut. Er legte die Aktenmappe auf einen Sessel und machte sich bereit. »Na?« Spannmeyer warf machtlos die fleischigen Arme auseinander: »Der Hadina macht schon wieder Spomponadeln. Er will den Kartenverkauf fürs Bildungsvereinskränzchen nicht übernehmen.« – Sofort begann das Hirn des Kassiers zu arbeiten. »Hast du ihm schon gesagt, daß er bei der nächsten Vertrauensmännerwahl zum dritten Obmann g'wählt wird?«

»Hundertmal! Er glaubt's net. Er sagt, daß wir's absichtlich g'macht haben, daß in die letzten 5 Jahr' immer was dazwischenkommen is. Er sagt, er will si' net fürs Ideal aufopfern, wann er keine Anerkennung net find't. Er will, wir sollen ihm gleich heut nach 'm Sektionsabend wählen.«

»Das ist doch lächerlich!« empörte sich Blum. »Wo wir eine solche Tagesordnung haben! Außerdem ist er doch immer besoffen. Sieht er das nicht selber ein, daß wir einen Bsuff net zum dritten Obmann wählen können?« – Der erste Obmann seufzte. »Meistens sieht er es eh ein; heut justament net.« Blum strich sich nachdenklich den Knebelbart. »Hör zu, es gibt da nur einen Ausweg.« – In diesem Moment steckte jemand den Kopf zur Tür herein: »Genosse Spannmeyer, der Referent is da. –«

»Also nachher sagst mir's«, winkte Spannmeyer ab. Sie begaben sich in den Vortragsraum. Der Besuch war gut: ungefähr 150 Personen. Eine kleine Sektion wie die zwölfte konnte damit sehr zufrieden sein. Bei Lichtbildervorträgen und heiteren Abenden kamen sogar bis 350, so daß man in den großen Saal übersiedeln mußte. Daß aber ein so wenig »reißerisches« Vortragsthema wie das diesmalige so viele hergelockt hatte, wunderte Blum. Dann begriff er: Das machten die erregten Zeiten; die Menschen rückten um die Partei zusammen, wollten von ihr hören ... Unser Sektionslokal war ein freundlicher, nicht allzu großer Saal. Erst vor kurzem waren wir aus den alten, düsteren Räumlichkeiten übersiedelt. Hier waren die Wände hellbraun, die Türen weiß getrieben, die Fenster kleiner als in alten Gebäuden, jedoch günstig angelegt. Alles war blitzblank und funkelnagelneu. Mit einem Wort, uns beherbergte ein jüngst erbautes Gemeindehaus. Die Möbel hatten wir von drüben mitgenommen, auch die altgediente Rednertribüne. An ihr hatte dazumal öfters Schuhmeier gesprochen; manchmal Victor Adler. Seine Büste war selbstverständlich nicht vergessen worden. Sie wurde in der linken Ecke hinter dem Podium auf einem Wandbrett aufgestellt. Die »Kinderfreunde«, die sich in der Benützung des Saales mit uns teilten, befestigten ihre bunten Wandzeitungen an die Mauer. Die Abstinenzler ihre Sprüchlein. Der Schachklub »Neue Welt« seine Turniertabellen. Spannmeyer, genau hinter seinem Vorsitzendenplatz, also in Nachbarschaft der Victor-Adler-Büste, ein anderes Exemplar jenes allegorischen Bildes der nackten Freiheit, das auch im Gasthaus »Zur Republik« hing. (»I bin halt ein Selchermeister«, scherzte er, »i hab' die mollerten Weiber gern, wo ein appetitlicher Schinken dran is.« Er war aber kein Selchermeister, wiewohl er so aussah, sondern ein pensionierter Krankenpfleger. Überhaupt waren im Sektionsverband die Pensionisten in der Mehrzahl.)

Das Sektionsgebiet umfaßte ungefähr zur Hälfte einen kleinbürgerlichen Rayon des Bezirks und zur andern Hälfte ein rein proletarisches Viertel, das, seit jeher im Anblick leicht abgrenzbar, sich eng an jene etwas »nobleren« Häuserblöcke genistet hatte. (Ausgesprochen reiche Leute, Luxusläden, Privatautos und dergleichen gibt es im ganzen Bezirk wenige. Nur zur Sommerszeit beziehen Reiche ein halbes Hundert Villen, ganz draußen an der Bezirks- und Stadtgrenze.) Die fleißigeren Besucher in unserer Sektion waren aus irgendeinem Grund immer die Kleingewerbetreibenden, die Handelsangestellten, die Beamten gewesen. An diesem Abend sah Blum mit Staunen eine geschlossene Gruppe von etwa zwanzig, zum Großteil unbekannten Eisenbahnern, unter ihnen Gellert. Sie waren in Uniform und augenscheinlich geradewegs vom Bahnhof gekommen. Blum teilte die gegen Gellert herrschende Animosität. Jetzt dachte er: »Da schau her; hat ein paar Kollegen hergebracht. Daß der sich auch einmal nützlich macht.« Dann streifte sein Blick zu einer anderen, deutlich abgegrenzten Gruppe. Die Jugend, dachte er, und zwar, aus schon bekannten Gründen, ohne besonderes Wohlwollen. Die Jugend scharte sich neben der Eingangstür, saß auf Fensterbrettern, Tischen und teilweise auch auf Sesseln. In der Nähe der Tür hielt sich die Jugend erstens darum auf, weil es immer einige unter ihr gab, die sich während der Vorträge unauffällig entfernten, zweitens, weil sie sich als Fraktion fühlte und als solche immer die Möglichkeit haben wollte, den Saal für dringliche Besprechungen zu verlassen oder gar einen demonstrativen Exodus zu organisieren. – Sonst gab es keine scharf geschiedenen Gruppen. Solche, die sich immer wieder schwatzend um die Funktionäre herumscharten, zerfielen nach kurzer Zeit, weil die meisten Funktionäre nicht lange stillstanden, sondern wie geschäftig summende Bienen nach kurzer Rast abschwärmten. Mit einem Wort, es herrschte das normale Leben einer regen kleinen Sektion, die nicht schlief. Hadina war nicht zu sehen; Blum suchte einen Sitz in der letzten Sesselreihe auf. Unterwegs sammelte er bescheiden kleine Anzeichen seiner Beliebtheit: den gönnerhaften Gruß eines gigantischen Gaswerkarbeiters, dessen Schnurrbart so prachtvoll aufgezwirbelt war, als wäre der Herr Meister sein Leblang auf dem Wege, sich für die Jubilarenrubrik des »Kleinen Blattes« fotographieren zu lassen; das weltgewandte »Servus, Servus« eines eleganten Herren Modenkommis; das respektvolle »Freundschaft« eines blassen, jungen Arbeitslosen, eines Musterknaben unter den Sprengelkassieren, den Blum jener Jugend als Beispiel vorzuhalten pflegte; den freundschaftlichen Fauststoß des Straßenbahners und Boxmeisters im Sportklub »Heros« – Nowarka; das mütterliche Kopfnicken eines alten Weibleins, das er nicht mit Namen kannte und die aussah, als käme sie jedesmal direkt von der Kirche in die Sektion; einen Händedruck da und dort. Auch machte die Fürsorgerätin Wolff ihm vom anderen Ende des Saales geheimnisvolle, quadratische Fingerzeichen durch die Luft. Das konnte aber nichts Ernstes bedeuten. Sie tat's nur so – um sich wichtig zu machen.

Er nahm Platz. Im gleichen Augenblick gab Spannmeyer, wuchtig aufragend hinter Karaffe und Wasserglas, ein diskretes Glockenzeichen. Langsam ebbte der Lärm ab, die Geschäftigsten mußten sich setzen. Blum war jetzt guter Laune. Kein Zweifel, sein Plan würde Erfolg haben; Spannmeyer sollte ihm zum Schein den Kartenverkauf für das Kränzchen übertragen. Dann würde Hadina weich werden wie Butter und am nächsten Morgen – – Flüsternd erklärte er die Sache in großen Zügen dem neben ihm sitzenden Bildungsreferenten Pollak. – Pollak, ein abgebauter Bankbeamter und Kriegsinvalide, blickte sieghaft auf. »Zweifellos«, flüsterte er zurück, »er nimmt's mit Handkuß an. Das ist die Lösung des Gordischen Knotens. Wir werden ihn in die Knie zwingen.«

Neues Glockenzeichen. Völlige Stille.

»Genossinnen und Genossen, ich eröffne den heutigen Sektionsabend und begrüße den Referenten, Genossen Doktor Steinbach, aufs herzlichste. Genossinnen und Genossen, es werden bald siebenzig Jahre sein, daß Karl Marx, der Begründer des Sozialismus, gestorben ist. Der Genosse Doktor Steinbach wird heute zu uns über das Thema sprechen: Karl Marx, sein Leben und seine Persönlichkeit. Ich bitte Genossen Referenten, das Wort zu ergreifen zu seinen Ausführungen.«

Blum rückte sich zurecht. Wenn es erlaubt ist, im Zusammenhang mit ihm noch einen kleinen kirchlichen Vergleich zu wählen: Er schickte sich an, vor Beginn der ernsten Arbeit eine Messe zu hören, und hoffte, sie möchte erbaulich und weihevoll ausfallen.

So wie dies alles um ihn herum verlief, verlief es in Ordnung. Er liebte den Raum und die Menschen darin. Er liebte auch den widerspenstigen Hadina und die durch ihn verursachten Aufregungen. All die trauliche Geschäftigkeit rollte in einem wohlbefestigten Geleise von Tagesordnungen, Geschäftsordnungen, Statuten ab. Hier hatte er seine Pflichten, seine Verantwortung. Und mehr: Er wußte, daß er nicht allein stand, nicht im Vordergrund des Daseins, nicht Aug in Aug dem Schicksal ausgesetzt. Weder als Mensch allein noch allein mit seiner Sektion. Sondern sie war eingeordnet in die Bezirksorganisation, der Bezirk in die Stadtorganisation, die Stadt in die Landesorganisation. Er war einer von 700 000. Nicht verloren unter ihnen, sondern gesichert. Er konnte überzeugt sein: Tue ich nur meine Pflicht, dann wird dies alles immer so weiter gehen. Er drehte das Rad der Geschichte – stolzes Bewußtsein! Aber er drehte es nicht allein, bewahre, er war eingefügt in eine gigantische Maschinerie von 1000 Verbindungsrädern und -rädchen, in einen gewaltigen, in einen präzise funktionierenden Apparat. Welche Geborgenheit!

Hätte man ihn gefragt: Wofür lebst du, Blum?, dann hätte er lange keine Antwort gefunden. So restlos war er mit seinem kleinen Leben in diesem großen aufgegangen, so ganz naturgegeben schien ihm schon diese Welt. Wofür lebst du? Man kann doch nicht gut antworten: »Ich lebe fürs Leben?« Der Referent (einer der weniger Beliebten aus dem Stab der Bildungszentrale; mit seinen erst am Hinterkopf beginnenden und sich tief im Nacken kräuselnden Haaren sah er irgendwie nach »Künstler« aus) begann seinen Vortrag mit einem kleinen dialektischen Aphorismus: »Genossinnen und Genossen, liebe Freunde! Marx war kein Wissenschaftler. Marx war kein Revolutionär. Marx war ein revolutionärer Wissenschaftler ...«

3

Während des Vortrags stellte Spannmeyer alle Zeichen der Aufmerksamkeit zur Schau. Er neigte lauschend den Kopf, legte hie und da die Hand ans Ohr, veränderte bei manchen plötzlichen rhetorischen Wendungen sozusagen rhythmisch seine Körperlage usw. Er tat alles, ohne auch nur einen Moment zuzuhören. Dies ist das ungeschriebene Recht der Vorsitzenden. Im äußeren Verhalten müssen sie beispielgebend wirken. Daß sie dem Referat folgen, wenn sie andere Sorgen haben, erwartet niemand von ihnen. Nicht zuzuhören haben sie, sondern vorzusitzen.

An gewissen stimmlichen Betonungen des Redners sowie an aufgefangenen Satzfetzen merkte sein geübtes Ohr etwa nach 1 Stunden, daß man sich dem Schluß näherte. Als es zum Beifallklatschen kam, war er der erste. Dann erhob er sich zur rituellen Formel: »Ich danke dem Genossen Referenten für seine ausgezeichneten Ausführungen. Wünscht jemand zu den Ausführungen des Referenten das Wort? Da dies nicht der Fall ist, schließe ich die heutige –«

Hier merkte er, daß dies aber doch der Fall war. Er nahm es ohne Begeisterung zur Kenntnis; auch das wird ihm jeder Vorsitzende nachfühlen können. Vergessen wir nicht, daß noch eine langwierige Vertrauensmännersitzung bevorstand. »Bitte sehr, Genosse! Sie haben sich zum Wort gemeldet –«

Ein Eisenbahner trat hinter die Tribüne, ein hagerer dunkler Mensch, sauber rasiert, mit Brillantinscheitel, offenbar ein Schaffner. Wenigen bekannt, erwies er sich sogleich als schlechter Redner. Er kam aus dem Betrieb, wo man seit dem 1. März vor zahllosen kleinen Intrigen, versteckten und offenen Drohungen, boshaften Zehetner-Schikanen, wirren Hoffnungen und Befürchtungen nicht mehr ein und aus wußte. All die höllischen Kleinigkeiten zusammenzufassen; den Genossen verständlich zu machen, daß solche Bagatellen in ihrer Gesamtheit einen sehr ernsten, sehr gefährlichen Gewerkschaftskampf ausmachen; Hilfe für diesen Kampf zu fordern – das fiel dem unbeholfenen Sprecher schwer. Außerdem ging es um sein tägliches Brot. Und er wußte nicht mit Sicherheit, ob es schicklich wäre, gerade jetzt davon zu reden, wo man doch eben so viele erhabene Worte über Karl Marx, sein Leben und seine Persönlichkeit, zu hören bekommen hatte. »Genossen! Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Frage lenken, nämlich, was unser Bundesbahner in diesen Tagen in große Erregung und auch Befürchtungen, Genossen also – gebracht hat. Wie ja allen Genossen bekannt ist, haben wir einen Streik hinter uns, wo wir uns sozusagen an die Spitze für den Kampf für die Koalitionsfreiheit gestellt haben für das gesamte österreichische Proletariat. Jetzt müssen wir sehen, Genossen, daß eine Welle von Strafmaßnahmen auf uns herunterhageln tut, indem im Betrieb Listen herumgehen, wer mitgestreikt hat. Ja oder nein – solche Methoden von der Direktion, Genossen, gar nicht zu reden von den Strafpensionierungen –« Er redete mühsam, schwang lange die Nachsilben nach, um Worte zu suchen, geriet in ein recht armseliges Pathos. Erst, als er auf die parlamentarische Seite zu sprechen kam, fand er sich besser zurecht. Allem Anschein nach, so erklärte er, würden die bürgerlichen Parteien keineswegs für die Zurückziehung der Strafmaßnahmen stimmen. Also könnte das Parlament die Eisenbahner nicht schützen. Man müßte sich fragen, was in diesem Fall zu tun wäre ... Spannmeyer ließ ihn noch einige Minuten weitermachen. Dann bemerkte er höflich: »Genosse, also net wahr, ich muß Sie leider aufmerksam machen, daß das Thema der Diskussion ›Karl Marx‹ heißt.« Der Schaffner geriet sofort in Verwirrung. Er stotterte noch einen Satz zu Ende, wurde plötzlich rot bis an die Haarwurzel und verließ die Tribüne. Ordnungshalber wollte der Vorsitzende sich noch einmal nach Wortmeldungen erkundigen.

Bevor er's tun konnte, stand schon Gellert neben ihm.

Über die nun folgende, sehr heftige Szene wurde später im Bezirk viel gestritten. Die Eisenbahner behaupteten schlechtweg, Spannmeyer hätte sie gehindert, über ihre Schwierigkeiten zu sprechen. Spannmeyer verantwortete sich mit seinen Vorsitzendenpflichten. Tatsächlich verhielt er sich damals korrekt. Wenn ein Antrag auf Abänderung der Tagesordnung angenommen wäre, hätte er Gellert nicht die geringsten Schwierigkeiten gemacht. Ein solcher Antrag wurde auch angeblich von Erich Weigel gestellt, ging aber im allgemeinen Tohuwabohu unter, wobei gerade Weigels Leute am meisten Lärm machten. Jemand wollte auch gehört haben, wie irgendein SAJler dem Antragsteller zurief: »Wir pfeifen auf die Tagesordnung!« Überdies wäre der Antrag überwiegend niedergestimmt worden, denn man war teils der Meinung, daß es sich hier um eine reine Gewerkschaftsfrage handelte, teils überhaupt über das taktlose Auftreten Gellerts empört. Wirklich trug er eine Heftigkeit, ja Verzweiflung zur Schau, die sogar die Eisenbahner befremdete. Spannmeyers Versuche, ihn zu unterbrechen, wiederholten sich mehrmals in der denkbar freundlichsten Weise. Gellert überschrie diese Bemerkungen, als befände er sich in einer gegnerischen Versammlung. Der Referent legte sich vermittelnd ein. Die spätere Meinung der meisten zu dem ganzen, peinlichen Vorfall war die, daß man niemandem die Schuld geben könnte, weil in jeder anderen Sektion die Sache sich ähnlich abgespielt hätte, wenn auch vielleicht in höflicheren Formen. – Wer diese durchbrach, war zweifellos Gellert. Er war für Gewerkschaftsfragen nicht kompetent und zeigte sich bereit, das Thema »Karl Marx« für abgeschlossen zu erklären. »Wenn die Genossen andere, wichtigere Angelegenheiten zu besprechen haben ...« Vielleicht verspürte er eine gewisse Enttäuschung, wie jeder Referent, der sehen muß, daß man auf seinen Vortrag nicht eingeht: Habe ich nicht interessant gesprochen? Bin ich heute nicht in Form gewesen? Vielleicht zeichnete sich diese Enttäuschung sichtbar auf seiner Miene ab. Wer konnte ihm einen Vorwurf daraus machen? Oder ihm gar die Schuld geben, auch wenn gerade diese Bemerkung es war, die Spannmeyer seinerseits in Rage brachte? »Nein, Genosse Steinbach«, rief er aus, »soweit sind wir Gott sei Dank noch nicht!« Er, als routinierter Vorsitzender, war jetzt in seinem Ehrgefühl getroffen. Er wurde energisch. Gellert noch lauter und ärgerlicher, so daß er sich zu dem folgenden Ausruf hinreißen ließ: »Wozu sitzt ihr überhaupt zusamm', wenn euch der Vormarsch des Faschismus net interessiert?«

Schon vorher hatten ihn immer unwilligere Zwischenrufe unterbrochen. Jetzt fühlten sich alle beleidigt. Es prasselte los:

»Oho!«

»Geh hörst, was der sich erlaubt!«

»Halt's z'samm! Zieg oab!«

»Fahr ab, Kommunist!«

»Wer spricht hier vom Kommunisten?« fuhr Weigel auf.

»Gemeine Verleumdung!« schrien die Jugendlichen.

Einige Sekunden lang übertönte die feierliche Stimme eines alten Straßenbahners den Krawall: »Genossen, es ist eine Schande, im Moment, wo sich drüben im Reich das Schicksal der Arbeiterklasse entscheiden tut –« Gellert drosch mit der Faust auf den Tisch: »Grad in diesem Moment müssen wir verstehen, daß der Streik –«

»Zur Tagesordnung!!!«, und das Chaos war wieder auf dem Höhepunkt. (Nur die Eisenbahner schwiegen verlegen. Langsam begann sich in ihnen das festzusetzen, welches ein knappes Jahr später ihr Verhalten entschied. Es setzte sich unter großen Widerständen fest. Kein Vorwurf treffe sie.)

Das Ende des Lärms wurde unfreiwillig vom Referenten herbeigeführt. Er machte nämlich den Vorschlag, man möge dem Thema »Eisenbahnerstreik und Maßregelungen« einfach den nächsten Vortragsabend widmen. Ohne dies sei die Frage nachmittags im Parlament bereinigt worden. Und während der Bildungsreferent Pollak schon dazwischenrief, die Sektion sei nicht das Forum für solche Angelegenheiten, und Gellert zur allgemeinen Entrüstung losschrie, kein Parlament könne helfen, wenn ein Streik verloren wäre – stand plötzlich eine neue Gestalt auf dem Podium. Es war ein bei uns organisierter Advokat, ein gewisser Doktor Rosen, ein älterer Mensch schon. Im Durcheinander hatte sich um ihn eine Gruppe geschart, der er etwas berichtete. Dann war er »gehoben und geschoben« unvermutet auf der Tribüne gelandet.

»Ruhe!« schrie jemand. »Der Herr Doktor hat eine Neuigkeit!«

Im langsam abflauenden Geschrei machte sich der alte Rosen nun folgendermaßen verständlich. Weil man vom Parlament redet: Er sei nachmittags dort gewesen; ein merkwürdiger Zwischenfall, eher ernsten Charakters, habe sich ereignet. Als man auf sozialdemokratischen Antrag über die Zurückziehung der »Eisenbahnermaßregelungen« abstimmte, habe ein roter Abgeordneter irrtümlich zwei Stimmzettel auf seinen Namen abgegeben. Dafür ein Fraktionskollege – gar keinen. Obgleich dies also in der Stimmenzahl auf das gleiche hinauslief, habe die Rechte Krawall geschlagen. »Es ging«, scherzte Doktor Rosen lächelnd, »fast so laut zu wie jetzt bei uns.« Renner habe demonstrativ den Vorsitz niedergelegt.

»Bravo!« schrie ein Jungfrontler dazwischen.

Hierauf aber habe, fuhr Rose fort, der zweite Vorsitzende, der Christlich soziale Buresch, ebenso gehandelt. Und der dritte, der Großdeutsche Straffner, ditto. So sei das Parlament also plötzlich ohne Vorsitzenden dagestanden. Und sei in Verwirrung und Unentschlossenheit offenbar, ohne daß jemand mehr die Befugnis gehabt hätte, die Sitzung zu schließen und eine neue einzuberufen, auseinandergegangen.

Als Rosen schloß, sahen alle instinktiv auf den Referenten. Ich erinnere mich genau an die Miene dieses Doktor Steinbach im erwartungsvollen Gemurmel. Er war blaß und ein wenig geschmeichelt. Um irgend etwas zu sagen, sagte er belehrend: »Ja, Genossen, das ist allerdings der erste derartige Fall in der Geschichte des europäischen und amerikanischen Parlamentarismus.«


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