Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In der Tat, Exzellenz, wenn Ihr seliger Herr Gemahl nichts anderes in diesem superben Buchwald geschaffen hätte, als diesen Pavillon auf dem waldigen Parkhange hier, es würde schon dieses genügen, um seinem unvergleichlichen Geschmacke und feinstem Natursinne ein würdiges Denkmal zu setzen.«
Bei diesen Worten verneigte sich Landrat Graf Matuschka, der auch im langschößigen, braunen Gesellschaftsfrack mit biedermeierisch hohem Kumtkragen den Garde-Kürassier nicht verleugnen konnte, verbindlich gegen seine Gastgeberin, die verwitwete Gräfin und Exministerin Reden.
Er stellte dabei im stillen fest, daß der schon länger als zwanzig Jahre verstorbene Begründer des oberschlesischen Bergbaus nicht bloß durch seine Buchwalder Parkschöpfung einen erlesenen Geschmack bewiesen habe, sondern auch durch seine späte Vermählung mit dieser geborenen Freiin von Riedesel. Denn die nun schon dreiundsechzigjährige Frau ließ in ihrer zarten, feinen Gestalt mit den neckisch unter einer blütenweißen Haube hervorquellenden Löckchen auf eine Jugenderscheinung von jener Zierlichkeit schließen, wie sie das ausgehende Barock als Ideal der › grande dame‹ und Repräsentationsgattin hochschätzte.
»Ja, es ist feenhaft schön hier oben!« stimmte dem Landrat seine Gattin zu, die ihm an dem mäßig großen, runden Teetische gerade gegenüber saß. Sie flötete das ›feenhaft‹ in einem so stark süßlichen Tone, daß ihr zum Spott neigender Gatte unwillkürlich an die Giebelinschrift des tempelartigen Gebäudes denken mußte, in dem sie saßen.
» Conjugi dulcissimae!« stand da nämlich in großen Buchstaben angemalt. Und Graf Matuschka dachte eheketzerisch: »So süß, wie den Ton meiner behäbigen Anastasia hat sich der klassisch gebildete Reden ›die süßeste Gattin‹, der er diesen Pavillon widmete, sicher nicht gewünscht. Na überhaupt: ›der süßesten Gattin!‹ das ist reichlich süßlich und im Munde des preußischen Eisen- und Stahlbeherrschers eigentlich deplaciert. Aber freilich, wenn ein Fünfzigjähriger eine Siebenundzwanzigjährige heiratet, wird manches verständlich.
»Wissen Sie, meine liebe Frau Gräfin,« schnitt jetzt die sanfte und abgeklärte Stimme der Exministerin seinen kritischen Gedankenfaden durch, »wer schon vor Ihnen den Blick von diesem Tische aus feenhaft fand? Kein Geringerer, als unser seliger Gutsnachbar Gneisenau. Der Feldmarschall und seine Töchter kamen ja so oft von Erdmannsdorf her am Ameisenberge entlang zu mir spaziert. So saßen wir einmal, es war auch an einem warmen Augustabende wie der heutige, noch gegen halb zwölf Uhr hier oben, unter uns den dunklen Park. Drüben aber, vor dem sanft leuchtenden Himmel der hellen Nächte konnten wir deutlich die Umrisse des Gebirges erkennen. Im Schein der Lampen, die ich bringen ließ, leuchteten das pompejanische Rot der Pavillonwände und die bunten Blumengewinde des Frieses zwischen den Pilastern so wundervoll, daß der Feldmarschall das alles eben ›feenhaft‹ fand und ganz aufgeregt wurde über so viel Anmut, Schönheit und Größe. Nicht wahr, liebe Karoline, Du erinnerst Dich?«
Diese Frage richtete die Gräfin an ihre Schwester, die ihr gerade gegenüber an dem runden Tische saß und voll Rücksicht gegen die Gäste den Rücken der freien Landschaft zukehrte.
»Sehr genau erinnere ich mich, liebe Fritze!« antwortete die Gefragte, eine überzarte, kränklich aussehende alte Dame, der unzertrennliche ›Planet‹ der Gräfin, die man seit dem Tode des Gatten fast niemals ohne diese etwas jüngere Schwester sah.
»Der Tod des Feldmarschalls hat Sie wohl in noch engere Verbindung mit den Majestäten gebracht, als sie schon zu Lebzeiten Ihres Herrn Gemahls bestanden. Nicht wahr, Exzellenz?« fragte die Gräfin Matuschka, die in höchster Neugier darauf brannte, vielleicht bei dieser Gelegenheit von der Exministerin etwas Eingehenderes über den Berliner Hof zu erfahren. Galt doch ›die Reden‹ als erklärte Vertraute des Königs und geradezu als ›Freundin‹ des Kronprinzen, der einen wahrhaften Schwarm für die graziöse alte Frau haben sollte, deren etwas pietistische Frömmigkeit seiner mystisch-romantischen Richtung besonders sympathisch sei.
»Gewiß ist das geschehen,« gab die Gräfin zu, »als unser Allergnädigster König 1823 Erdmannsdorf von den Erben des Feldmarschalls kaufte. Es sind nun auch schon wieder fünf Jahre her seitdem.«
»Sagen Sie, Exzellenz,« forschte die Gräfin weiter, sich mit ihrem roten Gesicht gegen das blasse der Hausherrin hinneigend, »bringt es nicht doch auch manche gêne mit sich, einem königlichen und zwei prinzlichen Hofhaltungen so nahe benachbart zu sein? Denn zu den königlichen Herrschaften in Erdmannsdorf und zu den prinzlichen in Fischbach kommen doch noch die Radziwills auf dem Ruhberg hinzu. Von den fürstlich Reußschen Herrschaften in Neuhof und Stonsdorf schweige ich ganz: die sind ja mit Exzellenz verwandt. Aber die andern –«
Der Landrat rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her: die gute Anastasia vergaß mal wieder über ihrer Neugier alle Erziehung. Schon wollte er versuchen, ihr unter dem Tische hinweg mit dem Fuße ein deutliches Zeichen zur Zurückhaltung zu geben, da riß ihn aber die Hausfrau aus aller Sorge.
Heiter und gütig lächelnd sagte sie: »Ich kann Ihre Bedenken recht gut verstehen, liebe Frau Gräfin. Ich habe mir ähnliche gemacht, als Prinz Wilhelm 1822 Fischbach kaufte. Ich fürchtete, die Nähe eines solchen kleinen Hofhaltes könnte mir meine Witwenruhe arg stören und das geregelte Leben, das ich mir nach dem Tode meines lieben Mannes zur Verpflichtung gemacht hatte. Und wie viel Freude und Segen ist mir nachher und bis auf den heutigen Tag aus dem freundschaftlichen Verkehr erwachsen, dessen mich die höchsten Herrschaften gewürdigt haben!«
»Ich glaube nicht fehlzugehen,« bemerkte der Landrat, »wenn ich annehme, daß Exzellenz am meisten dadurch beglückt wurden, in Ihren gemeinnützigen Bestrebungen bei den höchsten und allerhöchsten Herrschaften tatkräftige Unterstützung zu finden. Ihre Flachsverteilungen an die armen Weber, Ihre Holz-, Kartoffel- und Brotverteilungen an die Hungernden, Ihre Sprechtage für die Kranken, an denen die Rat, Arzeneien und Kräuter erhalten, die Einrichtung der ›Pflege‹, dieses mustergültigen Alters- und Siechenhauses, das ich jüngst mit Bewunderung und Rührung besichtigte, Ihre –«
»Genug, genug des Rühmens, Herr Graf!« wehrte die Gräfin ab, und eine leise Röte schoß über ihre bleichen Züge bis unter die neckischen Löckchen hinauf. »Meine Bemühungen erweisen sich als nur gar zu unzulänglich! Aber darin haben Sie recht: wenn manches erreicht wurde, danke ich's vor allem dem Beistande der höchsten Herrschaften. Sie haben sich oft für meine Notleidenden als wahre Engel von Hilfsbereitschaft erwiesen. Manches wäre wohl noch leichter gegangen, wenn Ihr Herr Vorgänger im landrätlichen Amte mir förderlicher gewesen wäre. Aber, Gott sei's geklagt! er hat die persönliche Verstimmung gegen mich, an der ich mich unschuldig weiß, oft meine Schützlinge entgelten lassen. Gott gebe, daß sich nicht auch zwischen uns – «
»Aber, Exzellenz!« wehrte der Graf mit ehrlichem Unwillen ab. »Wie sollte das?«
»Nicht denkbar, Exzellenz!« mischte sich nun auch die Landrätin wieder ein. »Dazu hat mein Mann eine viel zu große Verehrung für Exzellenz. Ich möchte fast sagen: eine schwärmerische Verehrung.«
Karoline von Riedesel lächelte still vor sich hin und auf ihre blassen Hände hinab, die sie gefaltet im Schoß liegen hatte. Sie zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit dessen, was die Landrätin nicht ohne leisen Ärger hervorsprudelte. Nur zu oft hatte sie in ihrem stillen Planetendasein neben der geistesstarken Schwester beobachten können, wie groß deren Anziehungskraft gerade auf tatkräftige Männer war.
Der Landrat war bei der neuen ›Taktlosigkeit‹ seiner Anastasia fast zornrot angelaufen. Nun sagte er, nicht ohne leises Vibrieren in seiner volltönenden Stimme: »Mit der Verehrung hat es seine Richtigkeit, Exzellenz. Wenn ich auch meiner Frau das ›schwärmerische‹ streichen muß, weil es mir ganz und gar nicht liegt. Und ich habe nur den einen Wunsch, es möchte uns einmal eine recht schwierige Aufgabe zu gemeinsamer Lösung gestellt werden, meine gnädigste Gräfin. Es würde mir ein aufrichtiges Vergnügen bereiten, mit Ihnen Seite an Seite einer solchen Aufgabe Herr zu werden.«
»Eine recht schwierige Aufgabe?« fragte lächelnd die Gräfin. »Mir alten, kranken Frau ziemt's kaum noch, mich an schwierige Aufgaben zu machen.«
»Und wenn Gott Dir eine solche stellen würde, liebe Fritze?« fragte die Schwester leise.
»Ja, dann müßte sie freilich auch gelöst werden!« rief die Gräfin mit heiterem Gesicht. »Und würde es auch! Denn dann, ja dann würde er's ja auch an der Kraft nicht mangeln lassen.«
Sie schwieg und sah mit ihren sanften Augen wie traumverloren in die Landschaft hinaus, wo jetzt das Schauspiel des Sonnenunterganges sich vorbereitete.
Auch die Blicke der andern drei wandten sich ihm zu. Karoline von Riedesel war, teils um den köstlichen Anblick zu genießen, teils aus Rücksicht auf die andern, denen sie den Ausblick nicht versperren wollte, aufgestanden und lehnte nun seitwärts an einer der hohen dorischen Säulen, die das Balkenwerk des Tempelbaues trugen.
Von seiner luftigen Halle aus konnte man den ganzen vorderen Teil des großen Parkes überschauen und auf seine künstlerisch geschlossenen Baumgruppen hinblicken, die mit wahrem Raffinement zwischen dem ›Groß-Teiche‹ und dem ›Streuteiche‹ und noch ein paar kleineren Wasserflächen und zwischen köstlich grünen Wiesenplänen alle Schattierungen von Grün und Braun erprangen ließen. Allmählich zu lockerem Gehölz aufgelöst, verlor sich die Parkanlage in einer Wiesenlandschaft mit malerischen Gruppen schöner, freigewachsener Weiden gegen die dünne Häuserzeile eines Dörfchens hin, jenseit dessen – dank einer gefälligen Augentäuschung – scheinbar unmittelbar sich der Riesenwall des Gebirges aufbäumte. Die Domkuppel der ›Schwarzen Koppe‹, die königlich schlanken Pyramiden der ›Schneekoppe‹ und der ›Sturmhaube‹, getrennt durch die schroffen Felsenabstürze der Teichränder, samt dem zwischen ihnen in sanftem Schwunge sich wölbenden Kammrücken umfaßte das bewundernde Auge ohne Kopfwenden mit einem Blicke als ein geschlossenes Bild. Die schräg gegen die Bergflanken aufprallenden Strahlen der sinkenden Augustsonne umhüllten sie mit einem farbigen Lichtmantel, den alle Tinten durchstickten, die gebrochener Sonnenglanz auszugluten vermag. In den tiefen Schluchten des Melzergrundes und der beiden unsichtbar bleibenden Teiche aber nistete sich leise und ahnunggrauend die abendliche Dunkelheit ein als bestrickender Kontrast zu der bunten Lichtflut, die die Schroffen des Gebirgskammes umspülte.
Von links her, aus dem versteckt liegenden Wirtschaftshofe des Gutes, klang verhalten das trauliche Treiben eines zur Rüste gehenden Erntetages. Und wie ein heiteres Widerspiel zu diesen Arbeitsklängen scholl von rechts, vom Großteich her, der Jubel einiger Kinder, die auf einer bunten Gondel über die silbrig glänzende Wasserfläche hinglitten. Es waren ein paar von den Zieh- und Pflegekindern der Gräfin. Stets beherbergte sie einige in ihrem Schlosse, das mit seinem gebrochenen, grauen Schieferdache über den ockergelben Umfassungsmauern, vor allem aber mit seiner einladenden, breiten, malerischen Freitreppe durchs Grün gewaltiger Lindenkronen zu dem Pavillon heraufgrüßte. Schüchterner aber als das Schloß lugte ein paar hundert Schritte von ihm gegen den Streuteich hin durch das Wipfelgrün der ebenfalls ockergelbe Orangeriebau hindurch. Er schien, wie alles, alles, was rings von diesem luftigen Pavillonausguck zu erspähen war, nur da zu sein, damit es der wunderbare Park mit seinen grünen Kronen umhege, oder damit es ihm selber zum wirkungsvollen Hintergrunde oder zu schirmender Umfassung diene.
Der Landrat, dem diese künstlerische Geschlossenheit der wundervollen Gartenschöpfung früher noch niemals so lebhaft zum Bewußtsein gekommen war, stand nun, von ihr völlig benommen, ebenfalls von seinem Stuhle auf und lehnte, ganz ins Schauen versenkt, an einer anderen der hohen Säulen.
Die Gräfin aber dachte, indem sie, wie schon ungezählte Male, von diesem ihrem Lieblingsplatze aus das schöne Naturbild voll andächtiger Dankbarkeit genoß: »Eine große Aufgabe! Ja, mein Gott, wenn Du mir die noch schenken wolltest, da meine Sonne so nahe am Versinken ist, wie die da drüben über dem Gebirgskamme!« – – – –
In die atemlose Stille, mit der die vier Menschen im Pavillon das zauberhafte Zurrüstegehen des Sommertages betrachteten, erscholl plötzlich das leise Einschnappen der Tür, die der greise Diener an der Rückseite des Pavillons lautlos geöffnet hatte.
Wer zum ersten Male durch diese Tür den Tempelbau betrat, blieb wohl festgebannt in ihrem Rahmen stehen, wenn sich da so mit einem Schlage das wunderbare Park- und Gebirgsbild vor ihm entrollte.
Der Diener Kriegel war schon zu oft hier eingetreten, als daß das Bild noch seinen Zauber auf ihn hätte ausüben können. Und jetzt beschäftigte ihn auch viel zu sehr die Meldung, daß draußen ein königlicher Kurier stehe, der Schreiben an Ihre Exzellenz und an den Herrn Landrat, den er zu seiner Freude zufällig hier finde, abgeben solle.
Obwohl der alte Kriegel diese Meldung in musterhafter Schulung seiner Herrin gedämpften Tones zuraunte, riß sie doch alle Anwesenden zugleich aus ihrer tiefen Versenkung in das Naturschauspiel, und der Landrat sagte hastig: »Ein königlicher Kurier mit einem Schreiben an mich? Da steckt etwas besonderes Wichtiges dahinter!«
»Laß ihn eintreten!« befahl die Gräfin dem Diener, und in der nächsten Minute hielt sie gleich dem Landrat ein versiegeltes Schreiben hochdienstlichen Aussehens in der Hand.
»Ich denke, wir öffnen gleich!« wandte sie sich an den Landrat, nachdem sie Weisung gegeben hatte, den Kurier in der Schloßküche zu versorgen.
»Ich wollte eben um die Erlaubnis dazu bitten, Exzellenz!« erwiderte der Landrat, der bereits das Siegel seines Schreibens erbrochen hatte.
Hastig überflog er den Inhalt, während die Gräfin, mit ihrer langen Stiel-Lorgnette vor den blitzenden Augen, langsamer mit ihrem Schreiben zu Ende kam.
Aus dem Inhalt der Briefe war ersichtlich, daß es sich in beiden um dieselbe Angelegenheit handelte, und deshalb begegneten sich nun die Blicke der Gräfin und des Landrates in gleichem Erstaunen.
»Mir scheint, Exzellenz,« sagte dieser mit einem fast verlegenen Lächeln, »mein Wunsch einer gemeinsamen Aufgabe erfüllt sich überraschend schnell.«
»Ja wohl, Herr Landrat, so ist's!« bestätigte die Gräfin, und leiser fügte sie hinzu, ihres eigenen, eben erst ausgestoßenen Wunschseufzers gedenkend: »Herr, wie sind deine Wege und Ratschlüsse so wunderbar!«
Karoline von Riedesel und die Gräfin Matuschka hörten und sahen dem allen erstaunt zu, diese verzehrt von brennendster Neugier, jene mit der stillen Ergebenheit, die ihres Wesens tiefster Grundzug war.
Die Ministerin hatte das Erstaunen wohl bemerkt; deshalb wandte sie sich nun an die Damen: »Hören Sie nur, teuerste Frau Landrat und liebe Karoline, was Seine Majestät in dieser Kabinettsorder schreibt.«
Sie las: »Ich darf voraussetzen, daß Sie bereits Kenntnis davon haben, daß die evangelischen Bewohner des Zillertals im Tirolischen ihrer Religion wegen die Aufforderung auszuwandern von ihrer Regierung erhalten und Ich beschlossen habe, sie aufzunehmen. Schmiedeberg und seine Umgebung sind vorläufig zum Sitze der Auswandernden erkoren, und der Oberpräsident von Merckel ist jetzt damit beschäftigt, die Einrichtungen zu ihrer Aufnahme vorzubereiten. Er wird sich dazu auch Ihres Rates bedienen, und Ich bin bei Ihrer Mir längst bekannten schätzenswerten Gesinnung überzeugt, daß Sie sich gern der in ihrem Gewissen bedrängten Ankömmlinge annehmen und ein Werk zu unterstützen geneigt sein werden, das Gefühl und Religiosität in gleichem Maße in Anspruch nimmt. Lassen Sie sich diese Angelegenheit, die zu gleicher Zeit in einer entsprechenden Order dem Kreis-Landrat zu dienstlicher Förderung überschrieben wird, bestens empfohlen sein, und rechnen Sie dabei auf Meine anerkennende Dankbarkeit.
Friedrich Wilhelm.«
»Wie schmeichelhaft für Exzellenz, solches Vertrauen bei Seiner Majestät zu besitzen!« ließ sich etwas beklommen die Gräfin Matuschka vernehmen.
Die Gräfin Reden wies aber sanft das »schmeichelhaft« zurück mit dem Bemerken, ihr sei dies Vertrauen des Königs mehr beglückend als schmeichelhaft – wozu Schwester Karoline erfreut Beifall nickte –. Da bemerkte der Landrat voll Eifer: »Ganz ähnlich wie Ihre Kabinettsorder lauten die Weisungen, die dieses Schreiben an mich enthält. Es stammt von dem Herrn Oberpräsidenten. Er trifft schon übermorgen zur Regelung der Zillertaler Angelegenheit in Schmiedeberg ein und möchte tunlichst bald mit Ihnen, Exzellenz, mit dem Schmiedeberger Bürgermeister und mit mir eine Konferenz abhalten. Er schlägt dazu als Ort Schloß Buchwald vor, um Exzellenz nicht mit unnützen Fahrten zu bemühen.«
»Damit bin ich sehr einverstanden!« stimmte die Gräfin schnell zu. »Es ist mir ein lieber Gedanke, daß die ersten Beratungen über die Hilfeleistungen für diese Bedrängten in meinem Buchwald erfolgen sollen. Wie begierig bin ich, etwas Näheres über diese Auswanderung zu erfahren und über die ganze Glaubensbewegung, von der man ja hier und da in den letzten Jahren etwas las, aber doch niemals eine gründliche Aufklärung erhielt.«
So kam's zu einem schnellen Aufbruch der Gäste.
Die Schwestern saßen nach ihrem Weggehen stumm nebeneinander und blickten versonnen-grübelnd in den Abendhimmel, den immer tiefere Purpurfarben durchglühten.
Nach einer Weile sagte die Gräfin wie im Selbstgespräch: »Was erlebt dies Tal nicht alles! Hohe und Niedere ziehen ein! Nun kommen auch noch diese fremden, glaubensstarken Bauern. Welchen Segen können uns diese einfachen Leute mit ihrer bekannten Redlichkeit bringen!«
»Sicher, Fritze!« bestätigte die beifallbereite Schwester.
»Nur Eins, fürchte ich,« fuhr jene grübelnd fort, »wird dies Werk ungeheuer erschweren: das Einwurzeln der fremden Leute, die gewiß sehr bodenständig waren, in unser fremdes Erdreich. Werden nicht viele vor Heimweh nach ihrer schönen Bergheimat verschmachten?«
»Freilich, liebe Fritze, ist das zu befürchten!« stimmte die Schwester in gewohnter Weise zu. »Um so weiser von unserm guten Könige, sie gerade hier ansiedeln zu wollen, in dieser Ecke Preußens, die ihrer Tirolerheimat noch am ähnlichsten ist.«
»Da hast du allerdings sehr recht, liebe Karoline«, sagte die Gräfin aufatmend. »Und wenn viele Abende in unserm Tal dem heutigen an berauschender Schönheit gleichen, dann müßten wir, sollte ich meinen, auch des grimmigsten Heimwehs der lieben Einwanderer Herr werden.«
* * *
Zwei Tage später rollte in früher Vormittagstunde auf der leidlich guten Straße von Hirschberg nach Schmiedeberg eine Extrapost mit nur zwei Insassen dahin.
Es waren zwei ältere Herren, offenbar von ansehnlichem Beamtenrange.
Der jüngere, ein angehender Sechziger, verriet durch seinen hochgeschlossenen schwarzen Rock, mehr noch durch sein würdiges, glattrasiertes Gesicht den geistlichen Herrn. Vielleicht hätte ein besonders kundiger Forscher in der Art, wie der Würdenträger die Mundwinkel einkniff, und an dem stark regierlustigen Blicke der kalt-grauen Augen hinter der rundgläserigen Hornbrille ein Kennzeichen dafür finden können, daß dieser Berliner Oberkonsistorialrat und Hofprediger Dr. Strauß im Grunde ein Zwitterding darstelle. Denn als höherer Verwaltungsbeamter der Staatskirche, der er nun schon seit einem Dutzend Jahren war, hatte er schon stark, aber doch noch lange nicht völlig die geistliche Haut abgestreift, die ihn als Pastor einst ganz und gar umrüstete, damals, als er aus dem Wuppertal an den Berliner Dom berufen wurde, weil sich der Hof eine besonders ›erweckende‹ Wirksamkeit von ihm versprach. Und in der Tat war es ihm gelungen, einen neuen Ton ins geistliche Leben der Hof- und Domkreise zu bringen, und bei einer starken Betonung von Sünde und Versöhnung, Gnade und Glauben hatte er durch seine Gabe unmittelbaren seelsorgerischen Andringens auf der Kanzel, mehr noch aber bei Hausbesuchen großen Einfluß auf viele Gemüter erlangt. Im Laufe der Jahre aber, in denen er nun an der Leitung und Lenkung der preußischen Landeskirche mitwirkte, hatte er vorsichtig mit diesem seelsorgerischen Eifer abgerüstet. Nur dort betätigte er ihn noch mit voller Kraft, wo es sich wirklich lohnte, Herr über die Seelen zu sein. Sonst aber übte er eine staatsmännische Zurückhaltung in den eigentlich geistlichen Dingen bei aller schicklichen Betonung des geistlichen Charakters seiner hohen Beamtenstellung.
Und das machte ihn zur diplomatischen Verwendung sehr geeignet.
Diesen Umständen war's auch zuzuschreiben, daß ihn der König mit der zwar heiklen, aber doch auch sehr ehrenvollen und jedenfalls außerordentlich unterhaltsamen Zillertaler Mission betraut hatte.
Sie führte ihn auch, nachdem er ihretwegen bereits in Wien und Innsbruck tätig gewesen war, jetzt ins Riesengebirge und an die Seite des alten Oberpräsidenten der Provinz Schlesien, Exzellenz von Merckel.
Denn kein Geringerer als dieser für die Erhaltung Schlesiens bei der preußischen Krone so hochverdiente Mann war der imponierende Herr, der zur Rechten des Oberkonsistorialrates in der Extrapost saß, über seine zweiundsechzig Jahre hinaus ergraut.
Die beiden Herren hatten sich verabredungsgemäß in Hirschberg getroffen, und Exzellenz von Merckel benutzte nun die zwei Stunden Fahrt nach Schmiedeberg, um sich von dem Hofprediger genauer über die Zillertaler Angelegenheit unterrichten zu lassen, die er bisher nur aus den Akten kannte.
Solange der Postwagen über die Katzenköpfe des schlechten Hirschberger Pflasters rollte, war nicht recht an eine Unterhaltung zu denken. Der streng dreinblickende Oberpräsident knurrte etwas recht Verdrießliches in sich hinein, wenn der Wagen gar zu unfreundliche Stöße austeilte, und drückte dabei sein glattrasiertes Kinn tief in das blütenweiße Leinenjabot, das zwischen den breiten Klappen seines dunkelbraunen Reiserockes hervorquoll.
Jenseit des Schmiedeberger Tors, auf der freien Landstraße, milderte sich mit den Stößen seine Miene, und er ging sogleich daran, in kurzen, sehr klaren Sätzen dem Hofprediger darzulegen, was ihm von der Angelegenheit bereits bekannt war, die die beiden Herren in dieselbe Postkutsche gebracht hatte.
»Damit wir uns unnütze Wiederholungen sparen und bis zur Ankunft in Schmiedeberg ziemlich ins Klare miteinander kommen, Herr Hofprediger,« sagte er zu dem sich ehrerbietig verbeugenden Dr. Strauß, »lassen Sie mich, bitte, kurz zusammenfassen, was mir aus den Akten über diese – nun sagen wir: höchst unzeitgemäße Glaubensbewegung und -verfolgung bekannt ist. Sie scheint mir ein schwaches Nachwehen des Salzburger Gegenreformationssturmes zu sein, der zu Friedrich Wilhelms I. Zeiten an die 18 000 brauchbare Bürger zu uns nach Preußen herüberfegte.«
Der Hofprediger nickte zustimmend, nicht ohne Verwunderung über die schwungvolle Einkleidung der kirchenhistorischen Tatsachen durch den trockenen Verwaltungsbeamten, eine Einkleidung, die dem Konsistorialrat eine tiefere Teilnahme des äußerlich so unbeweglich erscheinenden alten Eisenbeißers für das Schicksal der Bedrängten zu verraten schien, das ihn mit jenem zusammengeführt hatte.
Der Oberpräsident fuhr nun ganz geschäftsmäßig fort: »Ich lasse es für unsere Maßnahmen als belanglos dahingestellt, auf welche Weise sich das lutherische Bekenntnis von Salzburg her ins Tiroler Zillertal verpflanzt haben mag. Ohne ersichtlichen besonderen Anstoß trat – wie mir scheint – die Bewegung im südlichen Zillertal zuerst ans Licht, indem eine Anzahl von der österlichen Beichte fernblieb und im Sommer 1826 zehn Männer verschiedenen Alters sich bei ihrem Ortspfarrer zu dem sechswöchigen Unterrichte meldeten, der nach den in Österreich geltenden Bestimmungen jeglichem Austritt aus der katholischen Kirche dort vorangehen muß. Dieses Anliegen aber wurde vom Klerus des Tals abgelehnt, und zwar mit Zustimmung der beiden zuständigen Bischöfe in Salzburg und Brixen, die sich sogleich in dieser Sache an das Kaiserliche Gubernium in Innsbruck wandten.«
»So ist's, Exzellenz!« bestätigte Dr. Strauß. »Ich habe selbst in Innsbruck Einsicht in die diesbezüglichen Akten nehmen dürfen und las die beweglichen Klagen des Fürst- und Erzbischofs von Salzburg, welch ›entsetzliches Ärgernis‹ ein protestantisches Bethaus und Schule in dem bisher so zuverlässig katholisch gesinnten Tirol sein würden. Auf die Gewährung dessen aber gingen die ersten Anträge und Bitten der Zillertaler ›Inklinanten‹ hinaus.«
Der Postwagen hatte während des Gespräches der beiden Herren in langsamer Fahrt die Höhe am schön bewaldeten Kavalierberge erklommen, und nun tat sich seinen Insassen mit einem Male der Ausblick auf die ganze Flucht des Gebirgswalles auf. Klar umrissen stand er in den dunklen Farben seines Wälderkleides ernst und trutzig da, von warmer Morgensonne überflutet. Sie konnte aber heitere Töne erst in dem wellig bewegten Vorlande wecken, wo zwischen Feldern und Wiesenbreiten buschige, spitze Bergkegel aufragten und bunte Dorfzeilen sich gegen den Gebirgskamm hin zwischen dichten Obstgärten hinaufzogen. Einige winzige Schneeflecken an den Teichrändern und in den Schneegruben leuchteten silbrig weiß aus dem Dunkel des Kammhanges und erinnerten den Hofprediger recht stark an den Anblick der Tiroler Berge, die er ja erst unlängst bewundert hatte. Dr. Strauß, der nicht gut einen Gemütseindruck auch unbesprochen lassen konnte, sagte etwas gedämpft: »Ein Bild voll Wucht und Schönheit, das sich uns da bietet. Und es erinnert mich ungemein an die imposante Umwandung des Inntals, nahe der Heimat der Flüchtlinge, um die wir uns zu bemühen haben. Und ich muß sagen: einen besseren Gedanken konnte Seine Majestät nicht fassen, als diese Älpler gerade hier, am Fuße dieses mächtigen Kammgebirges, ansiedeln zu wollen.«
Der Oberpräsident ließ darauf nur ein undeutliches Knurren hören, und der Hofprediger sah ihn deshalb einmal schnell von der Seite an: ihm schoß ein unklarer Verdacht durch den Sinn. Ehe er ihm aber näher nachgehen konnte, fragte der Alte:
»Und wie haben die Bauern ihren Dickkopf doch durchgesetzt?«
»Sehr mühsam, Exzellenz!« antwortete Dr. Strauß. »Sie erreichten zunächst eine Audienz beim hochseligen Kaiser.«
»Eine Audienz?« unterbrach ihn der Oberpräsident rasch. »Davon höre ich das erste Wort.«
»Es war,« fuhr Dr. Strauß nach dieser Unterbrechung fort, »gelegentlich einer Anwesenheit des Kaisers Franz in Innsbruck, die ins Jahr 1832 fällt, als auch einer Deputation der Zillertaler ›Häreten‹ die Gnade gewährt wurde, persönlich eine Bittschrift zu überreichen. Die Deputation bestand aus drei recht verschiedenartigen Männern: Johann Fleidl, Bartholomäus Heim und Christian Brugger. In ihrer kleidsamen Tiroler Tracht traten die drei Männer – ich habe das alles von einem Kaiserlichen Rate, der Augenzeuge der Audienz war – treuherzig und in einem naiven Selbstbewußtsein vor den leutseligen Kaiser.
Voll natürlichen Wohlwollens kam er ihnen im Audienzsaal der Burg entgegen, dessen Prunk die drei Bauern durchaus nicht in Verwirrung setzte, und las die von ihnen überreichte Bittschrift aufmerksam durch. Dann sah er die Bittsteller erst eine Weile der Reihe nach stumm an: den würdigen Heim mit seinem langen, weißen Patriarchenbarte, den bärenstarken Christian Brugger, dessen schwarzes, strähniges Haar etwas vorzeitig am Ergrauen war, und vor allen den Johann Fleidl. Er war erheblich jünger als die beiden andern, kaum dreißig Jahre alt, auch von schwächlicherem Körperbau als die beiden andern stattlichen Leute.
»Ja, wer stört Euch denn in Eurem Glauben?« fragte der Kaiser, auf die Bittschrift deutend.
»Die Geistlichkeit, Herr Kaiser!« antwortete Bartholomäus Heim als Ältester.
»Was glaubt Ihr denn?« forschte der Monarch weiter.
Die beiden älteren Deputierten sahen Johann Fleidl in leichter Verlegenheit an: so kurz und bündig sagen zu sollen, was sie glaubten, machte ihnen doch rechte Schwierigkeiten. Johann Fleidl verstand den Blick und ließ sich nun mit klarer, fester Stimme vernehmen: »Wir glauben das Wort der Heiligen Schrift nach den Grundsätzen der Augsburger Konfession.«
»So, so!« erwiderte der gute Kaiser Franz, dem diese Antwort wohl etwas stark nach Theologie schmeckte, und mit leiser Hilflosigkeit im Ton fragte er weiter: »Nicht wahr, Ihr glaubt an unsern Herrn Jesus Christus wie ich? In Italien gibt's leider Leute, die an keinen Christus glauben. Und das schmerzt mich.«
Das schlicht Menschliche mit dem leisen Anklange unfürstlicher Hilflosigkeit, das den Deputierten aus diesen kaiserlichen Worten entgegenklang, machte Johann Fleidl freudig sicher.
»Ja,« bekannte er mit natürlichster Offenheit und ohne jede Pose in Ton und Haltung, »wir glauben an Christum als an unsern Herrn und Heiland und alleinigen Seligmacher. Aber das wollen sie eben im Zillertal nicht leiden, daß wir so sagen.«
Der Kaiser hatte sich inzwischen zur nötigen fürstlichen Sicherheit zurückgefunden, und mit Haltung bemerkte er auf die knappe Anklage Fleidls: »Es ist den Katholiken nicht erlaubt, Euch zu beschweren und zu schimpfen, wie Ihr sie auch nicht schimpfen dürft. Früher hat man im Salzburgischen drüben die Lutherischen nicht gelitten; aber jetzt ist's nicht mehr so wie damals: ich zwinge niemanden in seinem Glauben. Aber wie seid Ihr denn dazu gekommen?«
Er hatte sich mit dieser Frage geradezu an Fleidl gewandt, so daß dieser sich nun auch zur Antwort gedrängt sah.
»Die Heilige Schrift ist bei uns so lange schon, daß man nicht weiß, wie lange«, erzählte er schlichthin. »Es sind bei uns Bibeln, die mehr als zweihundert Jahre zählen mögen. Mein Großvater ist achtundneunzig Jahre alt geworden und erst vor drei Jahren gestorben und hat die Schrift seit seiner Kindheit gelesen, und so mein Vater, und so ich, und so viele, denen von den Eltern die Lehre eingeprägt ist.«
»So, so!« sagte wieder nachdenklich der Kaiser. »Und nun wollt Ihr nicht bei der katholischen Lehre bleiben?«
»Wir können es nicht wegen unseres Gewissens!« antwortete Fleidl fest und sah dabei auffordernd den alten Heim an.
»Er hat recht!« bestätigte dieser, dem Blicke gehorchend. »Wir müßten sonst heucheln.«
Und der bärenstarke Brugger fügte hinzu: »So ist's, Herr Kaiser!«
Die so naiv angeredete Majestät sah mit sichtlichem Wohlgefallen die drei mutigen Bekenner an und sagte dann mit einem warmen Untertone gütigen Wohlwollens: »Nein, Ihr lieben Leut, heucheln sollt Ihr nicht! Das will ich nicht haben. Ich will sehen, was sich für Euch tun läßt!«
Und damit entließ er sie mit einem stummen Zeichen des Abtretens.«
»Sehr interessant, diese Episode!« sagte der Oberpräsident nach einer kurzen Pause auf die Erzählung des Hofpredigers. »Sehr interessant, aber für die kaiserlichen Behörden auch sehr unbequem. Denn ich kann mir denken, daß dieser unbestimmt-gütige Bescheid des Monarchen von den Bauern als eine direkte Zusage absolutester Glaubensfreiheit nach Hause getragen worden ist, der Bescheid der Behörden aber dazu in schroffen Gegensatz geraten sein wird.«
»So ist's, Exzellenz!« bestätigte der Hofprediger. »Die nächste Wirkung war ein gegenteiliges Majestätsgesuch der ständischen Vertreter des Unterinntals um Verweigerung jeglichen Zugeständnisses an die ›Akatholiken‹ des Zillertals. Die geistlichen Behörden des Tales forderten bereits die Außerlandesschaffung der Dissidenten.«
»Und das Gubernium?«
»Es wand sich noch jahrelang entschlußlos hin und her. Nachdem die Sache auch zweimal den Tiroler Landtag beschäftigt hatte, der sich fast durchweg auf die Seite der Bischöfe stellte. Erst im Januar 1836, also etwa zehn Jahre nach dem ersten öffentlichen Auftauchen dieser ›Häresie‹, erfolgte endlich eine ›Allerhöchste Entschließung‹, die kurz und klar das Schicksal der Inklinanten besiegelte: binnen vierzehn Tagen hätten sie sich beim Landgericht zu erklären, ob sie weiter als Glieder der katholischen Kirche gelten wollten. Die das verneinten, hätten Tirol zu verlassen, entweder auszuwandern oder ihr Domizil in andern Provinzen des kaiserlichen Staates zu suchen.«
Der Oberpräsident nickte einige Male langsam mit dem weißhaarigen Kopfe, als wolle er sagen: »Kenne ich und hab's nicht anders erwartet!«
»Und dies hat sich dann alles so ganz ohne Rumor abgewickelt?« fragte er.
»Vollkommen ohne Rumor, Exzellenz!« antwortete Dr. Strauß. »In großer Stille und mit höchst angemessener Würde vollzog sich alles. Schon drei Tage nach Publikation der Allerhöchsten Entschließung stellten sich mehr als hundert auf den Amtsstuben des Tales ein, um sich zur Auswanderung anzumelden. Und binnen acht Tagen waren's ihrer fast vierhundert. So haufenweise preßten sie sich in die Kanzleien herein, als gelte es, einen drückenden Alp abzuschütteln. Viele freilich kamen mit nassen und rotgeweinten Augen. Nicht nur Frauen, sondern auch junge Burschen und Mädchen, die wider den Willen ihrer Väter auszuwandern entschlossen waren.«
»Alle Achtung!« knurrte der Oberpräsident.
»Trotzdem atmete das ganze Gubernium auf, als Johann Fleidl einen Auswanderungspaß nach Preußen erbat, um bei unserm Könige eine Zuflucht für seine Glaubensgenossen zu erflehen.«
»Ganz recht!« knurrte der Oberpräsident. »Und nun sind wir die Beglückten.«
Der Hofprediger sah den Sprecher unsicher von der Seite an: er konnte nicht aus ihm klug werden.
»Nun – ja!« sagte er gedehnt. »Aber – abgesehen von allen andern Motiven! – die preußische Tradition mit der so trefflich ausgefallenen Aufnahme der Refugiés und der Salzburger erlaubte Majestät kaum eine andere Entscheidung. Die war übrigens schon gefaßt, ehe Fleidl in Aussicht stand. Die Regierung hatte bereits vorher in weiser Voraussicht dessen, was etwa kommen könnte, Erkundigungen eingezogen, und ich war bereits unterwegs nach Wien und Innsbruck, ehe Fleidl in Berlin eintraf.«
»Nun – und?« forschte der Oberpräsident weiter, jetzt sichtlich sehr gespannt.
»Der Empfang sowohl bei seiner Durchlaucht, dem Fürsten Metternich in Wien, als auch der im Innsbrucker Gubernium waren über alles Lob entgegenkommend. Und auch zu einer Zusammenkunft mit einer Abgesandtschaft der Zillertaler bot man willig die Hand, da ich's aus begreiflichen Gründen ablehnte, selbst ins Zillertal zu gehen, wo übrigens die Geistlichkeit schon einen entsetzlichen Schrecken vor mir hatte, weil man mich mit meinem gottessohnleugnerischen Namensvetter David Friedrich Strauß verwechselte.«
Der Oberpräsident lachte kurz und amüsiert auf.
»Diese Besprechung mit den Zillertalern«, fuhr Dr. Strauß fort, »war mir die interessanteste Begebenheit bei dieser im ganzen so hoch interessanten und lehrreichen Mission. Wenn ich Exzellenz darüber etwas näher unterrichten dürfte?«
»Bitte, bitte gehorsamst, Herr Oberkonsistorialrat!« erwiderte der Oberpräsident verbindlich.
»Es war am Tage vor meiner Abreise von Innsbruck. Ich hatte nur an zwei, drei Vertreter der Dissidenten gedacht und war deshalb zunächst nicht ganz angenehm überrascht, als nahezu ein Dutzend, meist reckenhafte Männer auf meinem mäßig großen Hotelzimmer erschienen.
Die Leutchen benahmen sich aber so gesittet und bescheiden, drückten sich willig auf Sofa und Stühlen eng aneinander und mäßigten ihre starken Stimmen bei der bald in lebhaften Fluß geratenen Unterhaltung so, daß mir's schließlich recht angenehm war, gleich eine größere Anzahl von ihnen kennen zu lernen.
Im Halbkreis rückten sie sich von selbst zwei Stuhlreihen um mich her zurecht, und ich merkte bald, daß die vier Männer, die in der vordersten dieser Reihen saßen, eine Art Deputationsführer abgeben sollten.
Es waren der starke Christian Brugger, der schon mit beim hochseligen Kaiser Franz gewesen war, ferner der sehr intelligent ausschauende Adam Egger, ferner Matthias Rahm, ein blaß und krank dasitzender Vierziger, und endlich der Schmied Johannes Hechenleitner, eine wahre Herkulesfigur.
Ich bestellte den Leuten einen freundlichen Gruß Seiner Majestät, die mich zur notwendigen Erkundung der besonderen Umstände dieser Glaubensbewegung ins Tirol gesandt habe, und sagte ihnen, daß ich zunächst einmal die Art der Bedrückungen zu erfahren wünschte, über die sie sich zu beklagen hätten, und wandte mich, um die Sache gleich auf konkrete Fälle hinauszuführen, an den herkulischen Schmied mit der Frage, ob ihm besondere Unbill widerfahren sei.
Eine schnell zustimmende Bewegung unter den andern bewies mir, daß ich mit meiner Frage gerade an den Richtigen gekommen sei.
Der Schmied sah mich erst eine Weile forschend unter seinen mächtigen Brauen hervor an – wie ein stachliges Dornengestrüpp beschatteten sie seine kindlich-gutmütigen Augen –, dann sagte er, einmal tief aufatmend, in einem treuherzigen Gemisch von Dialekt und Hochdeutsch, das ich hier auch wiederholen will, so gut ich's behalten konnte. Der Schmied erzählte:
› Schwere Unbill hab i derleiden g'mußt. Schau, Herr, i bin der Schmied Hechenleitner von Hippach und muß mir mein G'frett z'sammensuchen in den Dörfern am Ziller und den andern G'flüssen. Geh i da eines Tag's – zu Peter-Paul werden's drei Jahr! – auf Brubach am Zentschner mit fertigem G'schirr und haudre im Wirtshaus drin mit meiner Kundschaft. Geht da plötzli der Herr Kurat mit dem Allerheiligsten zu einem Versehgang draußen vorüber. Jetzt, wie die drei, vier Bauern um mi her den Meßner mit seinem Glöckli vor dem geistlichen Herrn her läuten hör'n, stürzen's alsbald wie g'stochen auf die Straß'n hinaus, weil's vor dem Allerheiligsten auf dem bloßen Erdboden knieen wöll'n, wie's bei den Katholischen halt so Sitte ist. – Am Fenster der Stub'n aber hockt die alte Mutter des Wirts und klagt und weimert, daß s' z'wegen ihrer Gicht nöt auch mit hinaus kann auf die Straß'n.‹
›Gehst nöt auch, Schmied Hannes, dem Fronleichnam schuld'ge Ehr' verweisen?‹ fragt sie.
›Hab ka Bedürfnis nöt, Wirtin' sag i dagegen. ›Mögen's die andern doch tun! Bei mir wär's scho halt Baalswerk, wann i's tät; denn i bin lutherisch. Und's gänge wider mei G'wissen.‹
›I weiß genau, Herr, daß i so und nöt anders g'sagt hab. Und was hat die alt' Vettel drauß g'macht? ›Schaut halt die Narren an, wie's hinausspringen zu ihrem Baalswerk!‹ hätt' i g'spottet. So hat sie's hernach vor dem Herrn Landrichter in Schwatz b'schwor'n g'habt. Mei Wort hat nichts nich gelten sollen. Und so bin i g'fangen eing'steckt word'n, erst eine Wochen in Zell und dann die dreizehn Wochen in Ratenberg. Erst mit allerhand Schelmen und Spitzbub'n z'sammen, als hätt' i g'plündert und g'sengt. Nachher hat seine Gnaden, der Herr Landrichter, mi kennen g'lernt und g'sehn, daß i kein Strauchdieb nöt bin, und hat mi in sein'm Haus und Garten umiwirtschaft'n lassen nach mein'm Vergnügen. I hab' mi aber vorher scho g'tröstet gehabt mit unsers Herrn und Heilands Wort: ›Selig seid Ihr, so Euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles von Euch, so sie daran lügen.«
Ich lobte den kindlichen Riesen ob solcher Gesinnung, zugleich erfreut, die Leutchen so bibelfest zu finden, und in offenherziger Gesprächigkeit kramten sie nun nacheinander ihre mannigfachen Bedrängnisse aus.
›Meinen Jüngsten‹, grollte der starke Brugger, ›hat mir der Dekan aus dem Hause holen lassen und in der katholischen Kirchen zu Zell ohne mein und meines Weibes Beisein getauft und katholische Paten dazu b'stellt. Der Bub' soll mir trotzdem ein rechtschaffen augsburgischer Christ werd'n. Und wenn sie mi auch mit Straf'n anhalten, ihn zum katholischen Schulmeister in die Unterweisung zu schicken. Er geht nun schon ins zehnte Jahr: aber i hab ihn noch nöt zur Kommunion gehen lassen und werd's auch nimma tun.‹
›Recht machst 's, Christian!‹ lobte hier Adam Egger diese Handlungsweise, und zu den jungen Leuten auf der hintern Stuhlreihe sich wendend, rief er: ›Steht mal auf, Ihr Burschen, den'n die Kuraten die christliche Trauung versagt hab'n!‹
Sogleich schnellten vier kraftvolle Menschen von ihren Stühlen empor.
›Da schau der fremde Herr Rat nur,‹ wandte sich Egger mit seinem klugen Gesicht zu mir hin, ›was für Bursche das sein! Wieviel Saft und Kraft hat das in Leib und Geäder! Und soll nöt heiraten, wenn's mannbar ist?! Ist's da zu verwundern, Herr, daß jetzt so arg viel uneheliche Kinderl'n im Zillertal Ärgernis schaffen?‹
›Sonst hab'n wir gute Freundschaft mit unsern Nachbar'n g'halten, Herr‹, nahm der starke Brugger nun wieder das Wort. ›Jetzt aber, jetzt machen's uns d' Dienstleut' aufsässig und d' Arbeitsleut', daß keiner mehr bei uns Dienst' und Geschäft' übernehmen will, auch nöt für Geld und gute Wort'.‹«
»Die übliche Methode!« knurrte der Oberpräsident in sich hinein, während der Hofprediger fortfuhr: »Ich wußte nun hinreichend Bescheid. Und wenn ich aus dieser Unterredung den Eindruck gewonnen hatte, daß diese religiös verfolgten Bauern keineswegs Engel seien, sondern zum Teil wohl rechte Kloben und Dickköpfe, die uns noch weidlich zu schaffen machen können –«
»Sehr richtig!« schaltete kurz der Oberpräsident ein.
»– so schien mir's doch andrerseits, daß ich ihre Aufnahme in den preußischen Staatsverband getrost empfehlen könnte.«
Hierzu gab der Oberpräsident kein Zeichen der Zustimmung. Dr. Strauß aber war noch zu sehr mit Befriedigung über seine eigene Erzählleistung erfüllt, um scharf auf die Geste des andern achten zu können. Deshalb fuhr er hastig fort: »Nun habe ich aber noch etwas erlebt, ein Nachspiel unserer Besprechung, das mir viel zu denken gibt.«
Der Oberpräsident sah fragend herum und ermunterte dadurch den Erzähler zur Fortsetzung.
»Die vier Männer,« sagte er, »die ich Exzellenz schon vorhin als die bezeichnete, die mir als Führer der andern erscheinen wollten, zögerten noch mit dem Weggehen, als die andern sich langsam gegenseitig zur Tür hinausdrängelten. Matthias Rahm schnappte sie hinter ihnen zu und trat dann rasch an mich heran.
›Herr,‹ stieß er halblaut hervor, ›wir hätten halt in Gott's Namen noch ein' wicht'ge Sach'!‹
›Ja, dös hätten wir!‹ bestätigte der starke Schmied, und die andern nickten zustimmend.
›Nun, so sprecht Euch ganz offen aus!‹ ermunterte ich die offenbar Zaghaften.
Da atmete der leidenschaftliche Rahm einmal tief auf, und dann sprudelte er schnell heraus:
›Wir sind nöt eini untereinand', wir lutherischen Zillertaler. Gott sei's g'klagt! Es sind zwei Parteien unter uns. Die ein' halten zum Fleidl, die andern zu seinem Widerpart, den Bartholomäus Heim. Fleidl möcht', daß wir ins Preußische auswandern. Heim aber will, daß wir in die Steiermark oder sonst in ein österreichisches Landl ziehn, wo man uns dulden und uns auch eine luth'rische Schul' und Kirch' bauen lassen will. Fleidl sagt, nur im Ausland, unter einem luth'rischen Könige können wir zur Ruh' kommen. Heim aber meint, wir dürften uns nöt vom Land Österreich trennen; denn das sei halt doch einmal unsre Heimat. Draußen im Reich werd' uns das Heimweh verzehr'n, und was er sonst noch all's z'sammen droht.‹
›Nun,‹ sagte ich beruhigend, ›vielleicht würde Euer Heim andrer Meinung werden, wenn er sich mal bei uns in Preußen umschauen möchte. Er hätte Johann Fleidl nach Berlin begleiten sollen.‹
›Das hab'n wir grad auch so g'dacht, Herr!‹ fiel mir da Rahm erfreut in die Rede. ›Deshalb hab'n wir unsre Guld'n z'sammengeschossen und den Bartholomäus und Michael Koland dem Johann Fleidl nach Preußen nachg'schickt. Michel Koland weiß noch nöt recht, auf wessen Part' er sich schlagen soll. So kann er halt nun das Zünglein sein, an dem der Johann und der Bartholomäus wie zwei Wäg'schalen ziehen. I bin fein g'spannt, auf wessen sein Seit' er sich neigen tut. Denn das ist wichti, Herr, weil der Michel bei uns einen großen Anhang hat.‹
›I denk' scho, der Fleidl behaltet recht!‹ warf der Schmied ein. ›Und der Bartholomäus laßt sein Widerpart fall'n.‹
›Ja, wenn nur der Ignatz nöt wär'!‹ erwiderte Matthias Rahm höchst bedenklich, und die andern drei nickten zustimmend.
Ich erkundigte mich nun, aufmerksam werdend, welche Bewandtnis es mit diesem Ignatz habe, und erfuhr folgende Sache, die in ihrer Romantik schlecht zu den prosaischen Bauern-Dickköpfen und zu dieser Glaubensbewegung passen will. Denn es ist eine regelrechte Liebes- und Eifersuchtsgeschichte.«
»Aha!« knurrte da der Oberpräsident. »Die hat uns noch ins ganze Bild gefehlt. Aber erzählen Sie.«
»Also,« kam Dr. Strauß lächelnd der kurzen Aufforderung nach, »dieser Ignatz ist der Sohn des alten Heim, ein angehender Dreißiger, und bewirbt sich heftig um die Gunst einer gewissen Sara Bagg, von der ich kein rechtes Bild habe, außer daß sie Matthias Rahm als ›blitzsauberes Dirndl‹ bezeichnete. Auch Johann Fleidl, der trotz seiner fünfunddreißig Jahre noch unbeweibt ist, soll ein Auge auf das Mädchen haben, das sich bis jetzt wohl noch für keinen der beiden entschieden hat. Meine Gewährsmänner meinten allerdings, sie neige wohl mehr dem ruhigeren und zuverlässigeren Fleidl zu, als dem Ignatz Heim, der ein unruhiger Feuerkopf zu sein scheint und wohl auch ein stark hinterhältiger Mensch. Er werde es sicher gern sehen, meinte Rahm, wenn Fleidl ins Preußische gehe. Denn vorläufig gehöre Kajetan Bagg, Saras Vater, zu denen, die sich nicht von Österreich trennen möchten. So sei Aussicht vorhanden, daß die Sara mit der Heim-Partei in die Steiermark wandere. Und dort hoffe Ignatz sicher auf ihr Ja-Wort. Der alte Heim aber sei bis über die Ohren in diesen Sohn vernarrt, wie's manchmal so gehe auch bei den verständigsten Männern. Wer weiß, ob ihn das nicht in seinem Widerpart gegen Fleidl bestärke, ohne daß er sich recht darüber klar sei. Denn zu einer absichtlichen Gegnerschaft wegen dieser Liebesgeschichte sei der alte Heim doch zu rechtschaffen und auch ein zu guter Lutheraner. Darin waren sich alle vier Männer einig. Und auch darin, daß diesem Antagonismus zwischen Fleidl und den Heims eine beträchtliche Bedeutung beizumessen sei. Auch in der Auswanderungsfrage! Ich glaube ja nun freilich, daß sie darin stark übertriebene Befürchtungen hegen. Immerhin –«
»Nun – erlauben Sie, Herr Hofprediger!« unterbrach hier der Oberpräsident den ganz erhitzten Erzähler. »Diese Spaltung erscheint mir doch mit all ihrem Drum und Dran sehr belangreich. Und daß da auch ein Unterrock dazwischen flattert, wie könnte das anders sein? Wo der Pflug religiöser Erregung die Gemüter aufreißt, hält sich Frau Venus immer dran mit ihrer Zwietrachtaussaat. Nun, vielleicht hängt da für uns ein unerwarteter Gewinn heraus und hält uns die ganze Geschichte vom Halse.«
Der Hofprediger starrte jetzt den Alten mit einem so sprachlosen und undiplomatischen Staunen an, daß dieser ironisch lächelte.
»Sie sind überrascht, Herr Oberkonsistorialrat,« sagte er mit scharfer Betonung, »mich so sprechen zu hören, vor Ihnen, der Sie als Mitglied der eigens gebildeten ›Immediatkommission für die Zillertaler Angelegenheit‹ hierher geeilt kommen, um die Aufnahme der Ausgewiesenen durch Gründung eines ›Orts-Komitees‹ einzuleiten.«
»Allerdings, Exzellenz, ich bin erstaunt!« gab Dr. Strauß zu.
»Nun, wissen Sie,« fuhr der Alte in demselben Tone fort, »ich, als Oberpräsident von Schlesien, muß wünschen, daß gar nichts aus der Einwanderung wird, vor allem nicht hierher. Denn ich ersehe mir nicht viel Gewinn davon. Wohl aber eine schwere Menge Verdruß. Hauptsächlich deshalb, weil bei Seiner Majestät offenbar der Plan besteht, die Zillertaler hier im Hirschberger Tal anzusiedeln, und die Exministerin Reden soll ja wohl die Seele des Orts-Komitees werden.«
»Allerdings, Exzellenz«, antwortete Dr. Strauß gedehnt. »Aber – –.«
»Kennen Sie sie?« unterbrach ihn der Alte rasch.
»Persönlich nicht!« erwiderte der Hofprediger. »Nur aus den begeisterten Schilderungen Ihrer Königlichen Hoheit, der Prinzeß Wilhelm, die ihr die Ehre schenkt, sie ihre ›teure Freundin‹ zu nennen. Sie ist ja wohl auch persona gratissima bei den Allerhöchsten Herrschaften und Freundin des Kronprinzen und deren vertrautester Verkehr in der Zeit des Erdmannsdorfer Sommeraufenthaltes der Herrschaften.«
»Und unter diesen Umständen können Sie sich das Zusammenarbeiten mit dieser Dame in einer so diffizilen Sache, wie's diese Zillertaler Affäre ist, erquicklich denken?«
Der Alte sah bei dieser Frage seinen Nachbar quer unter der Stirn hervor so vielsagend an, daß in dessen klugen Augen ein blitzartiges Verstehen jäh aufschoß.
»Na – ja – Exzellenz!« sagte er dann, sich gleichsam vorsichtig weiter tastend. »Allerdings! Diese Intimität mit den Allerhöchsten Herrschaften – die kann allerdings bei einer Angelegenheit, die so ganz und gar auf Allerhöchster persönlichster Initiative beruht – das kann allerdings unter Umständen rechte Unbequemlichkeiten geben.«
»Ob's das kann!« lachte grimmig der Oberpräsident heraus. »Das möchte aber schließlich noch sein. Schlimmer ist, daß die Gräfin in ihrer pietistischen Richtung, getreu ihrem geistlichen Lenker Goßner, einen Grundton in die ganze Sache bringen wird, der mir nun einmal in tiefster Seele widersteht.
Der Hofprediger horchte auf.
Pietismus?!
Und Goßner?!
Das waren allerdings Andeutungen, die ihn sehr stutzig machen mußten.
Es war ja noch nicht so sehr lange her, daß man ihn selber zu den ›Pietisten‹ gerechnet hatte.
Er sah diese Epoche seiner Entwicklung für abgeschlossen an und hatte wenig Neigung, in einer politisch-kirchlichen Angelegenheit Personen zu Mitarbeitern zu haben, die das Pietistische so zur Schau trugen, daß die Mitlebenden darin ihr auffälligstes Merkmal erblickten. Die Zillertaler Sache aber war ihm eine politisch-kirchliche Angelegenheit.
»Das wird doch nicht so sein, Exzellenz!« sagte er deshalb unsicher.
»Gewiß ist's so!« erwiderte der alte Merckel. »Verlassen Sie sich drauf! Und deshalb bin ich nicht frei von Besorgnis und Mißtrauen. Ich bin zwar nicht mehr der grüne, heißspornige Draufgänger meiner Hallenser Studienzeit, da ich als Senior meiner Landsmannschaft gegen den Möllerschen Pietismus vom Leder zog. Aber etwas von jener stürmischen Abneigung gegen alles Pietistische ist doch an mir kleben geblieben.«
»Sehr begreiflich, Exzellenz!« pflichtete der Hofprediger mit diplomatischer Farblosigkeit bei. »Aber worin äußert sich dieser – nun, hm, – Pietismus bei der Gräfin? Man hat sie mir doch als kluge und nüchtern-umsichtige Frau geschildert.«
»Nun – Eins für vieles!« erwiderte der Oberpräsident. »Sie hält seit Jahren täglich in ihrem Schlosse ›Stunden‹ ab. Und sie ist die Beschützerin des Pastors Feldner in Schreiberhau, der durch seine Pietistereien die Veranlassung gab, daß sich hier im Tale ein höchst rabiater ›Lichtverein‹ gebildet hat, der durch allerhand freigeistige Stänkereien Lärm über Lärm anzettelt.«
»Ja, das genügt allerdings!« stimmte der Hofprediger kleinlaut zu. »Und Exzellenz meinen, daß unter diesen Umständen das hiesige Arrangement mit den Zillertalern nicht glücklich getroffen wäre?«
»Allerdings meine ich das, Herr Hofprediger!« erwiderte der Oberpräsident, indem er den andern mit dem gebietenden Blicke ansah, vor dem man in allen Kanzleien und Ratszimmern des Oberpräsidiums zitterte. »Ich habe nichts gegen eine Aufnahme der Zillertaler in Preußen. Obwohl sich manches dagegen einwenden ließe. Von den Geldopfern will ich ganz schweigen. Die machen sich vielleicht in der Zukunft einmal reichlich bezahlt. Aber wir dürfen uns keiner Täuschung hingeben: es werden unter einer so großen Zahl von Leuten eine Menge unzuverlässiger, unzufriedener und widerhaariger Elemente stecken, die uns noch recht viel Scherereien bereiten können. Aber Preußen ist es seiner Tradition als führender protestantischer Staat Deutschlands schuldig, solche Sorgen auf sich zu nehmen. Nein, aufgenommen müssen sie schon werden! Meinethalben auch in Schlesien! Aber nur nicht gerade hier, wo – abgesehen von allem andern! – gar nicht einmal ein Bedürfnis zur Verstärkung der Bevölkerung vorliegt, wo's im Gegenteil Verlegenheiten mit ihrer Unterbringung setzen wird.«
Er schwieg, und auch Dr. Strauß sah stumm vor sich hin. Es war ihm anzumerken, daß er krampfhaft überlegte, wie hier am klügsten zu handeln sei.
Er durchschaute wohl, daß ihn der kluge, alte Diplomat auf seine Seite hinüberziehen wollte.
Und diese Seite war keine Reden-freundliche. Das erkannte er nun auch.
»Unter diesen Umständen«, sagte er nach einer langen Weile grübelnder Überlegung, »bin ich recht gespannt, welchen Eindruck ich bei unserer morgigen Besprechung erhalten, und zu welchen Entschließungen wir uns gedrängt sehen werden.«
»Ich ebenfalls, Herr Oberkonsistorialrat!« erwiderte kurz der Provinzgewaltige: er hatte längst die Gedanken des andern durchschaut.
* * *
Etwa um dieselbe Stunde, in der die Extrapost mit dem Oberpräsidenten und seinem Begleiter über das Schmiedeberger Pflaster polterte, trafen sich auf der Hirschberger Posthalterei drei reckenhafte Männer und marschierten nach kurzer Umfrage auf derselben Straße vorwärts, auf der vor wenigen Stunden der Oberpräsident und der Hofprediger dahinfuhren.
Sie erregten überall großes Aufsehen durch ihr fremdartiges Deutsch, besonders aber durch ihre bunte Tracht.
Sie trugen weiße, wollene Wadenstrümpfe, die ihre kräftigen, braunen Knie frei ließen, mit Schleifen gebunden, darüber Lederhosen mit grüner Baspel, dazu knallrote Westen unter graugrünen Lodenjoppen mit grünsamtnen Ärmelaufschlägen. Ihren Leib umspannte ein Ledergurt, der sich vorn schildartig verbreiterte und mit dem eingestickten Namen seines Trägers prangte. Am meisten aber fielen die breitkrempigen schwarzen Filzhüte mit hoher Spitze auf, an denen nach vorn eine starke goldene Troddel an einer gedrehten, dicken Kordel über den Krempenrand herunterbaumelte.
Da der ›Hirschberger Bote‹ durch eine kurze Notiz bereits auf die bevorstehende Ankunft einiger Hundert vertriebener Zillertaler in Schmiedeberg hingewiesen hatte, kamen die meisten, denen diese Männer begegneten, sogleich auf den Gedanken, das möchten wohl Vorläufer der Tiroler sein, die in einem schwer begreiflichen Glaubenseifer ihre schöne Bergheimat verlassen wollten.
Und diese Deutung war richtig.
Es waren Johann Fleidl und Bartholomäus Heim, die der Hofprediger schon in seinem Berichte von der Audienz bei Kaiser Franz dem Oberpräsidenten charakterisiert hatte, die nun mit Michael Koland, einem angehenden Fünfziger, Buchwald und Schmiedeberg zustrebten.
Dorthin hatte man Johann Fleidl in Berlin gewiesen und die beiden andern in Breslau, wohin sie Fleidl nachgereist waren, gleichsam im Auftrage der ganzen Gemeinde (wie dem Hofprediger schon in Innsbruck erzählt wurde), um sich zu überzeugen, ob ihr Widerstand gegen die Auswanderung nach Preußen berechtigt sei oder nicht.
In ihrer Ungeduld waren sie Fleidl bis Hirschberg entgegengefahren, auf gut Glück, weil sie aus einem ›expressen‹ Briefe von ihm wußten, daß er dort auf sie warten werde. Und nun sahen sie's alle drei als eine besondere Schickung an, daß sie fast zur selben Stunde, aus ganz entgegengesetzter Richtung kommend, mit ihm auf der Hirschberger Posthalterei zusammentrafen.
Wieviel hatte ihnen Fleidl zu berichten!
Obenan stand ihm seine Audienz bei König Friedrich Wilhelm III., der seine (Fleidls) selbstverfaßte Bittschrift so überaus gnädig ausgenommen, den Zillertalern jede mögliche Unterstützung verheißen, ihn (Fleidl) auch mit einem anständigen Reisegeld habe unterstützen lassen und ihn endlich nach Schmiedeberg gewiesen habe, wo bereits auf seinen Befehl ein Orts-Komitee gebildet werde, das für die erste Unterkunft der Auswanderer sorgen solle.
Ganz erfüllt von dem glutvollen Eifer, in den der sonst so ruhige, gelassene Mann geraten konnte, wenn sich's um seine Glaubensangelegenheiten handelte, berichtete Fleidl das alles den stumm zuhörenden Gefährten in seinem heimischen treuherzigen Dialekte, von dem freilich keiner der ihnen begegnenden Schlesier eine Silbe hätte verstehen können.
Die drei Tiroler wanderten dabei rüstig bergwärts, und je mehr sich ihnen hierbei der Blick in das lachende Hochtal öffnete, das der steile Hochgebirgswall so alpenartig umhegte, desto mehr schwellte Fleidls Herz ein freudiges Zutrauen, es werde sich gewiß in diesem schönen Gebirgswinkel, in dem er ihre künftige Heimat vermutete, leben lassen, ohne vom Heimweh nach den Tiroler Bergtälern ganz verzehrt zu werden.
Denn diese Furcht hatte an ihm in den letzten Tagen unablässig genagt während der langen Fahrt durch die öden Kiefernwälder der Brandenburger und niederschlesischen Heiden.
Und darin war sein Gefühl dem der beiden andern ähnlich gewesen. Als sie durch die Ebenen am Oderstrom fuhren, deren Fruchtbarkeit sie als Landwirte ja bestaunen mußten, hatte sich ihre Abneigung gegen Preußen als neue Heimat ständig gesteigert.
Wie sollten sie's ohne Berge aushalten im fremden Lande unter fremden Menschen, mit denen sie nicht einmal die Sprache recht verknüpfen wollte!
Denn überall sah man sie verwundert an, wenn sie den Mund auftaten, auch wenn sie sich bemühten, das reinste Deutsch zu sprechen, dessen sie fähig waren. Vom Dialekt der schlesischen Landleute, unter denen sie doch leben sollten, verstanden sie wieder so wenig, wie diese von ihrem Tirolisch.
Das alles konnte und mußte wohl die Herzen dieser Pioniere der bedrängten Zillertaler bedrücken, besonders wenn sie an ihre Frauen und Kinder dachten, die in so fremdartigen Boden einwurzeln sollten.
Jetzt aber atmeten auch Heim und Koland freier auf; denn was sie da aus dem lachenden und großzügigen Gebirgs- und Talbilde anhauchte, war echte und rechte Berg- und Alpenluft. Das duftete nach Heu- und Alpenwirtschaft schier wie daheim am Ziller und an seinen rauschenden Quell- und Nebenbächen, und zwischen diese saftfrischen Wiesengründe, auf die noch jetzt – im August – Schneeflecken zwischen grauen Karen herabblinzelten, zwischen all das konnte man sich wohl so schmucke Älplerhäuser gestellt denken, wie sie sie nun daheim im Stich lassen mußten.
»Ist's nöt grad schier, als wanderten wir von Schwatz auf Mayrhofen?« fragte fast jubelnd Fleidl seine Genossen, als sie von der Hochfläche ins Lomnitztal hinabbogen.
Und als sie an der Lomnitz weiter marschierten, die rauschend neben der Straße zu Tale schoß, sagte der alte Heim mit zögernder Anerkennung: »'s ist heili fast so, als hörte man den Ziller rauschen. Und grün ist das Flüßli da, auch fast so schön grün wie er an der Zeller Brucken.«
»Hast recht, Gaschschteiger Bachtal«, stimmte Michael Koland zu, den Alten mit seinem heimischen Spitznamen nennend. »Hast grad' recht, 's ist, als ob 's dahinten, wo sich die Berg g'rad vor uns z'sammenschieben, zum Brandberg aufiginge. Traun, hier könnt' man's am End' aushalten, wenn's sein müßt', ohne daß man am Heimweh dersticken tat. Aber gestern und all' die Tag' vorher, Bruder – na mir ist's halt ungut z' mut gewest.«
»Nun,« sagte Fleidl beruhigend, »das macht halt, weil Ihr so ganz allein hier im fremden Lande umireisen müßt. Wenn's halt in Gott's Namen nun zur Auswanderung kommt, alsdann wird Euch's Heimweh minder plagen. Denn Ihr habt ja dann Weib und Kinder um Euch. Da müßt' schon so ein Einschichtiger wie ich mehr Bang' haben.«
»Ja, warum bleibst' denn einschichtig, Winkel-Hansel?« erwiderte Koland. »Alt g'nug wärst zum Freien.«
»Das scho'!« gab Fleidl kurz zurück.
Kolands Anspielung berührte ihn peinlich, fast wie eine Gefahr.
Worauf wollte der Freund und Gefolgsmann der Heime hinaus?
Wollte man ihn, Fleidl, etwa zu einer Äußerung drängen über seine Pläne bezüglich der schwarzhaarigen Sara Bagg? Wollte man ihn ausholen über sein Verhältnis zu ihr? Hofften die beiden da, er werde ihnen klaren Wein einschenken, weil man in der Fremde gegen jeden Landsmann offenherzig und geschwätzig wird?
Nein, so leicht ließ sich Johannes Fleidl doch nicht ausholen!
»Wer nimmt so ein arm's Hascherl,« sagte er, diplomatisch lächelnd, »das halb Schuster und halb Bauer und gang gar nix ist? Und noch krank obendrein! Ihr wißt eh', daß mi die Gicht plagt seit der Soldatenzeit. Hab mir's vor Würzburg g'holt, da wir vier Wochen in Schnee und Dreck g'legen sind.«
»O, da gäb's schon Dirndln, die sich da dran nöt stoßen täten! Nöt wahr, Gaschschteiger Bachtal?« wandte sich Koland an den alten Heim, der unschlüssig mit den Schultern zuckte. »Da wär' die Marie Schieftl. I' wett', die macht sich kein gar nix aus Deiner Gichten. Die nimmt Di glei', wannst auch bloß halb Schuster und halb Bauer bist. Und die hat schöne Gulden, die macht 'nen Grundbesitzer aus Dir.«
Fleidl wehrte ab: Kolands täppische Art, ihn von Sara Bagg weg und auf eine andre Heiratsfährte zu locken, war gar zu durchsichtig.
»Nein,« schnitt er dieses Gesprächsthema kurz ab, »ans Freien ist all'weil bei mir nöt zu denken. Ihr wißt eh', daß i' mein'n Packen z' schleppen hab, auch ohne eigen Weib und Kind, für andre. Und deshalb, daß nöt immer noch mehr unter uns durch ihre Schwestern und Töchter zu solchen Lasten kommen, deshalb will i' auch helfen, herausz'kommen aus der Höll'n daheim am Ziller, so viel schön's auch sonst in unsern Tälern ist.«
Die beiden andern Männer nickten jetzt stumm zustimmend: sie wußten, was er meinte.
Auf seine Schwester spielte er an, der der Dekan die Erlaubnis zum Heiraten seit zehn Jahren versagte. Nun hatte sie schon das dritte uneheliche Kind von dem Manne, dem sie mit lodernder Leidenschaft angehörte, und der in ihr sein vor Gott angetrautes Weib sah, wenn ›der Pfaff‹ auch den Segen verweigerte.
Für sie und ihre Kinder sorgte Johannes Fleidl wie ein Vater und hatte sich deshalb bisher auch immer gescheut, schnell entschlossen Sara Baggs Geschick an das seine zu knüpfen; aber er war nicht gern erinnert an die wilde Ehe seiner Schwester, die sein sittliches Empfinden quälte, das weit feiner gestimmt war als das der andern Zillertaler, die so was gern auf die leichte Schulter nahmen.
So gab er auch jetzt der Unterhaltung eine andere Wendung, indem er die Rede auf die Gräfin Reden brachte, an die man ihn in Berlin vor allem gewiesen hatte.
»'s muß eine viel gute Frau sein, die Frau Ministers-Wittib,« sagte er. »So recht eine Mutter für die Armen und Bresthaften, scheint mir. Die vornehmen Leut' in Berlin haben sie alle über die Maßen gelobt. Sogar der gute König selber. ›Meine liebe Freundin, eine gütige und barmherzige und von Herzen fromme Frau‹ nannte er sie. Deshalb habe er ihr auch besonders die Sorge für uns Zillertaler ans Herz g'legt. Mi' verlangt's, Brüder, wie s' uns aufnehmen wird. Mi' scheint: recht freundli' wird 's zu uns sein.«
Heim und Koland äußerten Bedenken dagegen.
Was für Ursach' sollte die vornehme Gräfin und Königsfreundin haben, gegen so grobe Bauernklötz, wie sie seien, absonderlich freundlich zu tun?
So, von recht verschiedenartigen Gedanken beherrscht, schritten die drei dann schweigend weiter.
Es war in der Mittagstunde.
Die Sonne brannte heiß auf die helle Straße und auf die schwarzen, schweren Filzhüte der Tiroler, so daß den Männern der Schweiß übers Gesicht rann.
Deshalb hörten sie 's nicht ungern, daß ihnen von einer gesprächigen Erdmannsdorferin, der sie gerade beim ersten Erblicken des Schloßturmes begegneten, gesagt wurde, es sei nach Buchwald nur noch eine knappe Stunde.
Dem Rat dieser Frau folgend, verließen sie bei der nächsten Wegkreuzung die Landstraße und wandten sich auf einem Landwege scharf links gegen einen schön bewaldeten Berg. Sein Anblick und der Reiz der grünen Wiesenlandschaft, die sich am Fuße des allmählich nach rechts hin abfallenden Bergrückens am Eglitzflusse hindehnte, nahm sie stark gefangen und weckte wieder Erinnerungen an ihre Zillertaler Bergheimat und drängte zu Vergleichen mit ihr.
Jenseit des kleinen Flüßchens, dessen fremdartig klingenden Namen ihnen die Frau genannt hatte, bogen die Tiroler jetzt scharf rechts in den Wald ein und wanderten am Bache aufwärts im erquickenden Schatten schlanker Fichten auf weichen Polstern abgefallener Nadeln.
Die einschläfernd weiche, aber auch ermattende Stimmung eines echten Hundstagsnachmittags lag über dem Waldwege, zwischen dessen Stämmen die warme Sommerluft flimmernd brütete. Aber die drei Landleute empfanden weder dies noch die andern verschwiegenen Reize der Stunde: ihre innere Ungeduld drängte sie vorwärts, nun sie sich ihrem Ziele so nahe wußten.
Mit Überraschung bemerkten sie, daß der Waldweg nach etwa halbstündiger Wanderung sich in eine große Parklandschaft auflöste, in der prachtvoll gewachsene und kunstvoll abgerundete Baumgruppen große Wiesenpläne umhegten und gliederten, Wiesenpläne, die sich zwischen sanften Höhenrücken hin- und an solchen emporzogen.
Der Anblick eines großen Teiches brachte die Fremden auf den Gedanken, wie reizvoll eine Fahrt über die seeartige Fläche in einem der buntbemalten kleinen Nachen sein müßte, die sich an seinem Schilfgestade leise schaukelten.
Diese Vorstellung hatte sie noch nicht losgelassen, als sie beim Weiterschreiten zwischen den Parkwiesen schon den ›Pavillon‹ auf seiner steilen Waldlehne erblickten. Ohne Verständnis für die Reize dieses Tempelbaues im klassischen Stil, brachten sie es über ein gewisses ratloses Anstaunen der Wucht seiner Säulen nicht hinaus. Und außerdem lenkte nun schon das Schloß ihre Aufmerksamkeit auf sich, weil sie seine ockergelben Wände und sein silbergraues, hohes, gebrochenes Schieferdach bereits durch die Äste der Parkbäume schimmern sahen, die es an dieser Seite dicht umringten.
Einige Minuten später standen sie vor der Front mit den vielen freundlichen, grünen Fensterläden und dem malerischen Erkerturme an der rechten Ecke des Schloßbaues und bestaunten die hohe, breite, vornehme Freitreppe mit ihren schön verschnörkelten Sandsteinwangen und dem dunkel gebeizten Portal, dessen Schnitzwerk aber ihren ungeschulten Augen entging.
Mit einem gewissen Bangen stand Fleidl vor dieser Treppe, von der er nicht wußte, ob sie sie zu einer warmherzigen Aufnahme oder zu einem kühl abwägenden Empfange hinleiten werde. Einen solchen wünschten sich Heim und Koland fast in dem unklaren Gefühl, daß ein freundliches ›Willkommen!‹ in diesem vornehmen Hause sie in recht zwiespältige Ansichten stürzen könne.
Da tat sich plötzlich die Flügeltür droben auf, und Karoline von Riedesel trat auf die Terrasse heraus.
Einen Augenblick blieb sie befremdet stehen beim Anblick der drei buntgekleideten, athletischen Männer, die da so in einer Reihe aufgepflanzt am Fuß der Treppe standen. Dann aber lief schnell ein freudiges Verstehen über ihre blassen, welken Züge.
»Ach, Ihr seid gewiß Abgesandte unserer lieben Zillertaler!« rief sie mit freundlicher Stimme von oben herab. »Ihr seid uns schon angekündigt.«
Da wußten die Tiroler, daß ihrer kein kühler Empfang, sondern eine warmherzige Aufnahme wartete, und mit erleichtertem Aufatmen sah Fleidl die beiden andern glücklich an, die komisch verlegen lächelten.
Treuherzig schlugen aber auch sie dann in die ihnen dargebotenen zarten Hände des Edelfräuleins, das ihnen in seiner ganzen Erscheinung so neuartig und so weit abstehend von der kräftig-robusten Art ihrer arbeitsharten Frauen und Mädchen daheim erschien, daß Fleidl einen Augenblick meinte, es sei da eine überirdische Erscheinung auf unsichtbaren Fittichen die breite Treppe zu ihnen herabgeschwebt.
Karoline von Riedesel forderte nun die Männer, zu denen sie nur mit stark ins Genick gedrücktem Kopfe emporsehen konnte, auf, ihr ins Wiesenhaus zu folgen, wo sich ihre Schwester eben aufhalte, und zwanglos mit ihnen über ihre Reise nach Preußen und hierher plaudernd, geleitete sie sie durch einen andern Teil des Parkes zu einem einstöckigen Häuschen von der Bauart der ländlichen Anwesen, die die Männer unterwegs schon betrachtet hatten.
»Es trifft sich gut,« dachte Karoline bei sich, »daß die Fritze die bäuerlichen Fremden zuerst in diesem ehemaligen Bauernhause empfangen und sprechen kann. Das wird sie zutraulich machen.«
Der erste Eindruck, den Fleidl und seine Genossen davon hatten, daß sie die hochgeborene Gräfin in dieser Bauernhütte finden sollten, war mehr Befremden als ein solches Sich-angeheimelt-fühlen. Denn das ›Wiesenhaus‹ sah eben doch mit seinem Fachwerkunterbau und dem tief herabgezogenen Strohdach, mit den winzigen Fensterchen und der freistehenden Leiter, die neben der Haustür zur Hausbodenluke hinaufführte, wie jedes andere Bauernhaus ärmlicher Art aus. Erst als sie der zierlichen alten Dame in den mit Ziegeln gepflasterten Hausflur gefolgt und hinter ihr in das erste Zimmer links zu ebener Erde getreten waren, merkten die Männer, daß das doch kein ganz gewöhnliches Bauernhaus sei.
Das Zimmer, ein mäßig großer Raum mit mehreren kleinen Fenstern, bot einen reizvollen Blick auf eine Parkwiese und über sie hinweg bis zum glitzernden Spiegel des Großteiches. Die Balken der Holzwände glänzten in einem matten Ölfarbenanstrich, und auf diesem dunklen Hintergrunde hingen rundum an den Wänden in weißlackierten Rahmen hellbunte englische Stiche, Kindergruppen der verschiedensten Art darstellend. Deshalb wurde der Raum auch ›Kinderzimmer‹ genannt, und in ihm sah sich seine Besitzerin, der in ihrer Ehe mit dem so viel älteren Manne eigene Kinder leider versagt geblieben waren, von lieblichen Gestalten umgeben, wie sie sich ein Frauengemüt wohl als Mutterfreuden erträumt.
Wenn auch den biederen Tiroler Wadenstrümpflern wieder das Verständnis für die künstlerische Ausgestaltung des Raumes durch diese Bilder und durch seine geschmackvolle biedermeierische Ausstattung mit weißlackierten Möbeln abging, fühlten sie sich doch von seiner Traulichkeit angehaucht, und die zarte Frau mit dem duftigen Spitzenkragen über dem schwarzen Witwenkleide und den blonden Stirnlöckchen unter der schneeweißen Spitzenhaube, die da so eifrig schreibend an dem Fensterpulte saß, tat es ihnen gleich beim ersten Blick an, als sie sich mit freundlichem Lächeln zu ihnen herumwandte.
»Da bringe ich Dir die ersten Zillertaler, liebe Fritze!« rief Karoline von Riedesel (noch unter der Zimmertür) voll freudiger Ungeduld.
»Ist's möglich?« fragte erstaunt aufspringend die Gräfin und eilte auf die Männer zu, die – nun doch ein wenig befangen – an der Tür stehen blieben, und schüttelte jedem von ihnen männlich-kräftig die Hand zum Gruße. Und wenige Minuten später saßen sie im Halbkreis um sie und das zierliche, weißlackierte Schreibpult her, an dem die Gräfin mit Vorliebe ihre wichtigsten Briefe schrieb, weil sie in dem lauschigen und einsam gelegenen Wiesenhause am ungestörtesten war.
Während nun Karoline im benachbarten ›Vogelzimmer‹ lautlos mit den Teetassen des hier aufgestellten Meißener Services herumhantierte, das mit feinen schönen Vogelzeichnungen dem Zimmer den Namen gegeben hatte, brachte die Gräfin bald die drei Bauern aus dem Zillertal zum Reden und Erzählen.
Und da erfuhr die aufmerksam Lauschende buntgemischte Berichte über die religiösen Bedrängnisse und über die Plackereien im bürgerlichen Dasein, die es zuwege gebracht hatten, daß diese schwerfälligen Leute endlich nach jahrelang ertragenem Drucke der Heimat den Rücken kehren wollten, die sie liebten, wie sonst nichts auf der Welt.
Die drei Männer gerieten bei der Schilderung ihrer Drangsale in immer heißeren Eifer, und besonders aus Fleidl sprach ein ehrlicher, starker Zorn, als er von erbitternden Verunglimpfungen ihres Glaubens berichtete, die sie hatten erdulden müssen.
Die Gräfin betrachtete das Mienenspiel des Zillertalers mit erstaunter Teilnahme und bewunderte die tiefe Glut, die sich in seinen ehrlichen, braunen Augen entzündet hatte. Sie verliehen seinem Gesicht ein solches Maß von Durchgeistigung, wie man 's auf Bauerngesichtern wohl selten findet, und sie wunderte sich über diese Ausdrucksfähigkeit; denn sie hatte vorhin eben bei sich festgestellt, daß Fleidl mit seiner geraden Nase über dem breiten Kinn und mit dem kleinen, schwarzen Schnurrbarte über den blutvollen Lippen eigentlich ein typisches Tiroler Bauerngesicht trage.
»Was adelt einen Menschen und rückt ihn uns an die Seite, die wir uns einer bevorzugten Abstammung rühmen?« dachte sie. »Gewißlich die begeisterte Hingabe an eine große Sache. Und welche könnte größer sein, als die Sache Gottes, der diese schlichten Menschen Volk und Heimat opfern wollen?«
Nachdem die Gräfin so über die Herzensrichtung dieser fremden Leute klar geworden war, lenkte sie das Gespräch auf deren äußere Verhältnisse. Denn sie wollte gern auch wissen, in welcher Weise sie ihnen beistehen mußte, wenn sie nun demnächst mit ihren Leidensgefährten in Schmiedeberg eingewandert kämen.
Darüber aber war schwerer ein Bild zu gewinnen, als über jenes. Denn der alte Heim und Koland waren jetzt plötzlich ganz wortkarg. Es war kein klares Wort einer bestimmte Ansicht oder eines festen Planes über die Einwanderung aus ihnen herauszubringen. Nicht einmal Wünsche äußerten sie, die sich auf ihre Unterbringung oder Beschäftigung bezogen hätten.
Die Gräfin hielt das alles für Befangenheit und Ungeschicklichkeit. Sie konnte ja nicht ahnen, daß sie es hier mit einem heimlichen Widerstande zu tun hatte, den der freundliche Empfang zwar zunächst ein wenig zurückdrängte, keineswegs aber ganz beseitigte. Denn auch Fleidl hielt klug mit Wort und Blick zurück: er wußte, daß es hier galt, behutsam abzuwarten. –
Einige Stunden später, nachdem die Tiroler noch mit den Schwestern gemeinsam das einfache Abendbrot eingenommen und mit leichter Befangenheit auch an ihrer Seite inmitten der gräflichen Hausgemeinde die Abendgebetstunde bei Harmoniumspiel, Gesang und Schriftverlesung mit durchlebt hatten, saßen sie abgespannt auf dem Rande ihrer Betten in dem großen Gastzimmer des Schloßturmes, die Finger der starken Fäuste zwischen den Knien gefaltet.
Es dunkelte schon leise in dem einfach, aber behaglich eingerichteten Raume. Draußen aber war's fast taghell; denn der Vollmond stand hinter dem Schlosse in ungetrübtem Glanze und badete in seinem Lichte den Park und die lange Kette des Gebirges, das mit seinen oberen Hängen und mit seinen Kuppen und Domen hoch über die Baumwipfel emporragte.
Da trat Fleidl ans offene Fenster und sah in den Park hinab, wo zwischen den dicken Stämmen der künstlerisch verteilten Baumgruppen die Teichspiegel in silbrigem Lichte erschimmerten.
Zur Linken leuchtete die ockergelbe Wand des Orangeriegebäudes in seiner tiefschwarzen Tannenumhegung auf. Drüben am jenseitigen Ufer des nächstgelegenen Teiches erglänzte im Vollmondlichte die Lehne einer halbrunden Marmorbank, von der Fleidl vorhin gehört hatte, daß sie ›die Königsbank‹ genannt werde, weil sie ein Geschenk des Königs an die gräfliche Wirtin der Tiroler sei.
Welch' fremdartig anmutender Ausblick war das alles für den einfachen Handwerks- und Bauersmann aus der einsamen Almhütte, wo die Dürftigkeit seit der Urväter Zeiten aus allen Winkeln schielte, wenn es auch meist gelungen war, den eigentlichen Mangel von der Schwelle zu scheuchen!
Er kehrte sich zurück ins Zimmer und ließ seine Blicke durch den behaglich ausgestatteten Raum schweifen, der mit seinen Wandbildern und Bettbehängen, mit seinen Polstermöbeln und Fenstergardinen diesen bäurischen Schlafgästen als ein rechter Pracht-Schlafraum erscheinen mußte, wie sie ihn wohl gelegentlich einmal in phantastischen Märchenerzählungen hatten schildern hören.
Und etwas Märchenhaftes – das kam Fleidl zum Bewußtsein – hatte gegenwärtig ja überhaupt sein und seiner Wandergenossen Leben angenommen.
Welcher Unterschied zwischen den Ereignissen dieser letzten Wochen und dem armen Gleichmaß seiner früheren Jahre!
Da war zunächst die lange Reise aus dem Zillertal bis nach Berlin. Hunderte von Meilen im Postwagen mit allerhand fremdartigen, zum Teil recht abenteuerlichen Leuten zusammen!
Dann die Tage in der großen preußischen Hauptstadt, wo man ihn wie ein Wundertier angestaunt, von einem prächtig ausgestatteten Hause zum andern geschleift und nicht immer gerade sehr wohltuend und behutsam bis auf die Knochen ausgefragt hatte, manchmal in einer Art, daß es ihm vorkam, als wühlten diese zungenbehenden Menschen in seinem Gemüt herum, wie ein Lumpensammler mit seinem Stecken in einem Kehrichthaufen, ob nicht ein bunter Fetzen oder ein glitzernder Scherben aufzustöbern sei.
Und dann die Stunde am Königshofe, Angesicht vor Angesicht mit dem ernsten und doch so vertrauenerweckenden Monarchen, der so hochgewachsen dastand, daß selbst er, der reckenhafte Tiroler, einmal ausnahmsweise nicht zu seinem Gesprächswiderpart herab zusehen brauchte, sondern ihm geradeaus in die guten, blauen Augen schauen konnte, die so freundlich und zutraulich aus dem noch immer blühenden, schönen Mannesgesicht des Königs ihn anblickten. So freundlich anblickten, daß er, Fleidl, darüber ganz die kurz angebundene und abgerissene Ausdrucksweise des Herrschers überhört hatte, die ihn sonst vielleicht befangen gemacht hätte wie manchen andern, der dann hinterher in die Bezeichnung ›König Infinitiv‹ einstimmte, die dem gütigen Monarchen fade Witzlinge angehängt hatten.
Und nun war er, der Pantoffelmacher aus dem armseligen Pichel, mit seinen beiden, nicht viel weniger armseligen Landsleuten Gast einer reichen Gräfin und Ministerwitwe, die die Menschen ihrer Umgebung mit einem so fremdartigen ›Exzellenz‹-Titel anredeten, und die dabei doch so mütterlich-freundlich mit ihnen, den vertriebenen Bauersleuten, verkehrte, daß man vor ihrem gütigen Greisinnengesicht alle Scheu verlor.
Und nun sollten all die Hunderte, die daheim im fernen Zillertal bangen Herzens auf seine Heimkehr harrten, hierher verpflanzt werden und ebenfalls in dauernden Verkehr mit diesen menschenfreundlichen Schloßbewohnern treten!
Die Gräfin hatte es ja vorhin, nach der erbaulichen Abendandacht, ausgesprochen, wie sehr sie sich auf die Zeit freue, wo möglichst viele Zillertaler Männer, Frauen und Kinder ihre Gäste sein würden bei diesen ›Stunden‹ in dem schönen, großen, weißen Saale, von dem Fleidl beim ersten Anblick gedacht hatte, er könne eigentlich nur zur Behausung für fürstliche Gäste gebaut sein.
Gewiß: es lag ein märchenhafter Glanz über ihrem gegenwärtigen Leben und überstrahlte auch ihre Zukunft mit seinem Lichte!
Fast konnte man durch das alles geblendet werden gegen die Schwere der Hauptsache, die ihnen nun bevorstand: die Trennung von der alten Heimat.
Und konnte denn das, was jetzt mit so neuem, fremdem Schimmer lockte, auch Bestand haben, wenn sie erst hier fest saßen in ganz neuen Lebensverhältnissen, aufs neue darauf angewiesen, für des Lebens Nahrung und Notdurft zu sorgen?
In einer förmlichen Angstanwandlung wandte Fleidl sein Gesicht den Genossen zu und fragte befangen in das Halbdunkel hinein: »Nun, Bartholomäus und Michael, alsdann, was meint Ihr denn in Gott's Namen zu dem allen?«
»Er schlaft!« antwortete der alte Heim leise, auf Koland deutend, dem der Kopf tief auf die Brust herabgesunken war, und erhob sich schwerfällig vom Rande seiner Bettstatt. »Was i zu dem allen mein', fragst, Winkl-Hansel?« sagte er, langsam ans Fenster neben Fleidl tretend. »Dös mein' i halt: für uns ist dös nix, Bruder!«
»Bartholomäus!« rief Fleidl erschrocken aus. »Warum denn aber nöt, in Gott's Namen?«
»Weil wir keine Grafen und Fürsten nöt sein, sondern bloß schlichte Bauersleut«, antwortete Heim ruhig. »Und außerdem, wo sollten wir denn hier allz'sammen unterkommen? Wir sein's doch Vierhundert und mehr.«
»I, da wird scho Rat g'schafft, Gaschschteiger Bachtal!« rief Fleidl aufatmend. »Das hat mir der gute Preußenkönig ja in die Hand versprochen. Im kommenden Winter bleib'n wir halt in Gott's Namen in Schmiedeberg, was wir uns morgen besehen wöll'n. Da wird man uns als liebe Gäst' aufnehmen, so hat's uns die liebe Frau Gräfin vorhin beim Nachtmahl ja versprochen – bis sich ein recht's Platzel für unsere Ansiedlung finden tät.«
»Ganz recht!« erwiderte Heim in seiner stetigen Weise. »Aber wir sind doch nöt immer Gäst' und können's nöt immer sein. Wollen's auch gar nöt. Und was wird hernach? Wer gibt uns den Boden zum Bebauen, den wir Bauern so nöti brauchen grad wie das liebe Brot selber?«
»Nun, halt der gute König, Bartholomäus!« antwortete Fleidl hastig.
»Und wo? Bitt' schön!« forschte der Alte beharrlich weiter.
»Ja – das weiß i a nöt!« gab Fleidl kleinlaut zu. »Das wissen die Herren wohl selber noch nöt. Aber dös wird sich finden! Glaub's nur!«
»I glaub's scho!« nickte der Alte bedächtig. »Aber wird uns dann die Stätt' auch passen, und wir Tiroler zu der Stätt'?«
»Vielleicht können wir gar hier in dem schönen Bergtal bleib'n!« tröstete Fleidl sich und den andern. »Das müßt' uns doch passend sein.«
»Das am End' scho!« gab der Alte zögernd zu.
»Und bei den guten Menschen hier, die uns so freundli aufnehmen!« fuhr Fleidl drängend fort. »So nahe beim Schlosse des guten Königs, wo er im Sommer wohnt. Da wären wir doch grad gleichsam unter seinen Augen gut geborgen. Und drüben in Fischbach, was kaum weiter als eine halbe Stund' hinter den Bergen liegt, wohnt ein menschenfreundlicher Bruder des Königs, hab' i g'hört vorhin, mit einer gar frommen G'mahlin. Die werden auch Gut's an uns tun.«
»Schau, das ist's grad', was mir Sorg' macht dahier!« sagte der alte Heim nach einer Pause, als Fleidl schwieg. »Es tut nöt jedem gut, wann so vornehme Leut' mit ihm umgehen, als wären sie Seinesgleichen. Das wird manchem zu Kopf steigen, und er wird sich dann zu gut dünken, noch an der Erd' Knechtsarbeit zu tun. Was sagte der weise Salomo? ›Laß deine Augen nicht fliegen dahin, was du nicht haben kannst!‹«
»O, das wird sich alles wieder geben!« wandte Fleidl getrosten Mutes ein. »Grad' die Arbeit wird dazu helfen. Wenn nur jeder erst wieder hier ein eignes Dach über'm Kopf' hat, da wird's z' schaffen und z' richten geben, daß die hochmütigen Gedanken von selbst vergehen.«
»Hast scho recht, Bruder!« gab der alte Heim mit leisem Lächeln zu. »Aber meinst', es werden uns alle so gern kommen sehen, wie der gute König und die Gräfin hier und solche Leut'? Meinst', auch die eing'sessenen Bürger- und Bauersleut? I glaub's nöt! Unfreundli und falsch werden's gegen uns sein. Und i mein: mit Recht! Schnappen wir ihnen nöt Grund und Boden und Arbeitsgelegenheit weg, die sie vielleicht selber gar viel nöti brauchen? Fremde sind auf die Dauer in keinem Land gern g'litten. Am wenigsten aber dann, wann sie ihrem eignen Land untreu worden sind. Und schau, Johannes, das ist mir die Hauptsach' dabei, daß wir unserm Vaterland Österreich und unserer Heimat untreu werden soll'n.«
»Ja, Bartholomäus!« rief da Johannes Fleidl voll heiligen Ernstes. »Aber warum? Um des Glaubens willen! Und der Glauben muß uns über der Heimat steh'n!«
»Recht hast, Bruder!« gab der Alte zu, der nicht ohne Rührung gesehen hatte, wie das männlich-schöne Gesicht des Jüngeren ein lichter Überzeugungsglanz verklärte. »Recht hast'! Und wenn's lautete: entweder Glaube oder Heimat, so wüßt' i wohl, daß i kein' Sekund' zweifeln tät, was i z' wählen hätt'. Aber wir können uns unsern Glauben auch im Land Österreich erhalten, wann wir nur nöt grad' im Tirol bleib'n wöll'n. Und's gibt ja noch andre schöne Länder g'nu in unserm Österreich, Länder mit Bergen, so schön wie in Tirol, wo man auch's Tirol zur Not verschmerzen kann, wann's grad sein muß. Aber wie wird's hier? Wird hier nöt's Heimweh unter unsere Leut' kommen, Johannes, das Heimweh nach unsern Bergen? Wer lange draußen im Reich war mit der Kraxen auf'm Rücken, wie i, der kennt die Seuch', wie sie einen an der Kehl' packt und würgt und würgt, daß man grad' aufschreien möcht' vor blankem Herzweh. Und da könnt' man doch wieder z'ruck. Wann's sein mußt': bald. Aber dann? Wann wir erst dahier sitzen? Da gibt's leicht kein Z'ruck mehr. Da heißt's: 's Herzweh schleppen bis an sein schweres End', bis zum Grabe im fremden Land. Denn das wird's uns doch immer bleib'n.«
Johannes Fleidl quoll, während er den sonst so wortkargen Alten diese Worte so voll ganzer, inniger Überzeugung hervorstoßen hörte, eine heiße Angst zum Herzen.
Wenn's wirklich so ausgehen sollte, wie der da prophezeite, würde man dann nicht ihn dereinst für die ganze Auswanderung verantwortlich machen?
Würden nicht Vorwürfe und Verwünschungen schlimmster Art auf seinen Scheitel gehäuft werden? Würde man ihn nicht dann der Untreue an Volk und Heimat beschuldigen und all das Herzweh, das der Alte, Erfahrene da kommen sah, auf sein Haupt häufen und auf sein Gewissen wälzen?
Voll heißer Unruhe wandte er sein Gesicht wieder zum Fenster hinaus.
Da sah er über den Parkwipfeln, noch klarer umrissen als vorhin, die grausilbrige Masse des Gebirgskammes in den zart-lichten Nachthimmel aufragen. Und mit besonderer Klarheit zeichnete sich die schlanke Pyramide der Schneekoppe vom Himmelshintergrunde ab, umsäumt von blassen Sternen wie von Silberpunkten.
Und da war's dem Zaghaften an dem Turmfenster des fremden Schlosses, als wehe ihn plötzlich Heimatluft an. Und aufatmend sagte er zu dem Alten an seiner Seite, in dem er wohl den Gegner seiner Pläne und den Vater seines Nebenbuhlers, nimmermehr aber einen persönlichen Feind erblicken konnte: »Es wird hart werden, dies Einwurzeln in der Fremd'. Aber nur dies fremde Land mit seinem protestantischen Könige kann uns auf die Dauer geben, was wir brauchen: volle Religionsfreiheit. Und i mein', wir würden scho in Gott's Namen durchringen, wann wir nur hier bleiben dürften, hier, in diesem schönen, gesegneten Tale, in das die Berg' hineinschauen, grad' so wie in unser liebes Heimattal am Ziller. Magst's nöt auch glauben, Gaschschteiger Bachtal? Schau, wenn Du Dich nur auf meine Seit' stellen wolltest! Dann wär's scho fein g'schafft daheim! Dann möcht' scho fein kein Widerpart mehr aufkommen! Aber z'sammen müssen wir scho bleib'n, wir lutherschen Zillertaler, wann wir uns in der Fremd'n behaupten woll'n.«
»Recht hast!« gab der Alte etwas zögernd zu. »Und i muß Dir zug'stehn, Johannes, das Tal da drauß' ist schön. Dahier, könnt' ma wohl auch über's Heimweh Herr werd'n. Aber –«
»Kein ›Aber‹, Bartholomäus!« rief Fleidl dringend. »Komm, laß uns eini sein! Und i – i bin zu jedem Opfer b'reit, was Ihr, Du oder Dein Sohn, von mir fordern mögt. Und wenn Dein Ignatz meint, er kann nur mit Sara Bagg glückli werden, so mag er sie in Gott's Namen nehmen. I – i will nöt der Grund sein, daß er sich von unserer Gemeinde trennt, und Du mit ihm. Denn daß wir z'sammen bleib'n, ist tausendmal wichtiger als mein bissel Glück. Hörst? Sag' das Dein'm Ignatz! Willst', Bartholomäus?«
Es klang rührend, dies innige Werben des starken Mannes.
Der alte Heim sah ihn fast scheu von der Seite an. Der redliche Mann kämpfte in dem Augenblick einen harten Strauß mit sich selber durch.
Er liebte seinen Sohn Ignatz mit einer Zärtlichkeit, die eigentlich gar nicht mit seinem sonst so zielstrebigen Wesen harmonierte. Deshalb war's ein tiefgehender Schmerz für ihn, daß sich der Wunsch des Sohnes, der so leidenschaftlich auf den Besitz der schwarzhaarigen Sara hinzielte, gar nicht erfüllen wollte. Und wie alle andern rundum, die Einblick in diese Sache hatten, erklärte er sich Saras abweisendes Wesen mit einer heimlichen Neigung für Johannes Fleidl.
Nun bot dieser freiwillig seinen Verzicht an!
Das war freilich ein Ausweg, wie sich ihm seine, Heims, Vaterschwäche nicht besser wünschen konnte.
Aber um welchen Preis?
Er, der alte Bartholomäus, sollte dafür seine Überzeugung dransetzen und seine ›Treue‹ gegen sein Land Österreich (so benannte er's bei sich selber!) und sollte mit seinem Ansehen die Auswanderung ins Preußische befördern, die ihm im Grund seines Herzens zuwider war!
Ging denn das an?
O, vor den andern leicht!
Er brauchte ja nur anzugeben, daß ihn die Reise hierher gründlich eines andern belehrt habe.
Schwankend hatte sie ihn tatsächlich ja auch gemacht.
Denn wenn er das Bild da draußen in seinem lichten Mondscheinfrieden betrachtete, da hauchte ihn daraus doch echte und rechte Heimatlust an. Besser konnten sie's gewißlich auch in der Steiermark nicht treffen! Und wenn die Sara den Ignatz nahm, dann konnte das Leben hier auch ihm, dem Alten, einen schönen, lichten Abend bescheren.
Er warf einen schnellen Blick nach Michael Koland hinüber, und als er sah, daß der noch immer fest schlief, das Kinn auf die Brust gedrückt, da reichte er mit schnellem Entschluß Fleidl die Rechte hin.
»Topp!« sagte er, als Fleidl rasch einschlug. »Der Handel soll gelten! An mir soll's nöt liegen, wenn Dir nöt alle willi hierher folgen. Aber Wort mußt' halten, Johann, mit der Sara! Verstehst'?«
»I halt scho Wort!« versicherte Johann Fleidl treuherzig und unterdrückte mit Riesengewalt den Nachsatz: »Wann mir's auch's Herz abdrucken sollt!«
»Also gut, Hannes!« sagte der Alte aufatmend und sah unsicher an Fleidls treuherzigen Augen vorüber in die lichte Sommernachtspracht draußen. »Auf mi kannst Di verlassen von dieser Stund' an: i bin nun ganz dafür, daß wir daher wandern und sonst nirgend hin.«
»Gottlob!« rief da Johann Fleidl beglückt. »Das ist mir jetzt halti doch die wichtigste Sach' im Leben. Und das andre«, fügte er schier unhörbar hinzu, »das muß eben in Gott's Namen überwunden werden!«
* * *
Es war am nächsten Tage gegen vier Uhr nachmittags.
Die Gräfin Reden saß mit ihrer Schwester Karoline im ›Orangeriesaal‹, dem größten Raume eines freistehenden, flachgedeckten Gartenhauses, das im Winter zur Aufbewahrung der empfindlicheren Topfpflanzen diente. Mit solchen, in frischgrünem Laube prangenden, hochstämmigen Gewächsen waren die Ecken des Saales vollgestellt, ebenso die halbkreisförmigen Apsiden der beiden Seitenwände, die gleich der Hinterwand fensterlos waren, während sich die Vorderwand mit hohen, schmalen Fenstern und einer ebensolchen Glastür auf eine niedrige Freitreppe und zum Park hin öffnete.
Dunkle Koniferen beschatteten diese Treppe, von der sich, wie vom Pavillon aus, der reizvolle Blick aufs Hochgebirge erschloß, wenn auch nicht so umfassend, wie von jenem herab.
Die beiden Damen saßen an einem Tischchen, das vor die weitgeöffnete Flügeltür gerückt war, beim Nachmittagstee und atmeten den kräftigen Ozonduft ein, den ein eben am Gebirge entlang vergrollendes Gewitter im Parkgehege erzeugt hatte.
Eine Fülle satten Sonnenlichtes, durch die Koniferenkronen gemildert, flutete durch Tür und Fenster in den hohen, kirchendunklen Saalraum herein und entzündete in den Prismengehängen der beiden großen Kristallkronleuchter, die von der Decke herabhingen, ein buntes Regenbogengefunkel.
Hastiger, als es sonst ihre Art war, führte die Gräfin die zartgetönte Meißener Teetasse zum Munde, und Karoline Riedesel, die sich gewöhnt hatte, jede Regung der Schwester scharf zu beobachten, bemerkte mit Erstaunen, daß dieser sogar die feine, weiße Hand zitterte, so daß die Tasse, als sie sie niedersetzte, ein leises, silbernes Klingeln hören ließ.
»Erregt Dich der angekündigte Besuch so stark, liebe Fritze?« fragte sie besorgt.
»Offen gestanden: ja!« antwortete die Gräfin und errötete dabei wie beschämt bis unter die widerspenstigen blonden Stirnlöckchen hinauf. »Es hängt doch eine Menge davon ab, wie diese erste Besprechung über das Schicksal unserer Schutzbefohlenen ausfällt. Denn daß der alte Merckel sie gerade so sehr gern in seiner Provinz aufnehmen wird, das möchte ich doch bezweifeln. Schade, daß ich die Tiroler nicht bewegen konnte, hier die Herren abzuwarten! Aber Fleidl brannte ja förmlich der Boden unter den Füßen, als könne er gar nicht schnell genug mit dem Oberpräsidenten verhandeln und ins Zillertal zurückeilen. Wahr ist's ja: sie werden daheim fieberhaft auf seine Heimkehr warten.«
Mit leisem Nicken stimmte Karoline dem allen zu, und dann verfielen die beiden Schwestern stickend in das stille ›Sinnier-Duett‹, mit dem sie so oft ihre fleißigen Handarbeiten begleiteten, eine Gewohnheit, die es ermöglicht hatte, daß sie Jahrzehnte hindurch ein paar Unzertrennliche blieben, ohne sich gegenseitig lästig zu werden.
Sie warteten jetzt auf die Ankunft Merckels und des Hofpredigers »in der Zeit zwischen vier und fünf Uhr zu einer Besprechung in Sachen der Zillertaler« (wie sich der Oberpräsident durch einen Boten von Schmiedeberg her angesagt hatte).
Mit gespanntem Ohr lauschte die Gräfin auf die Landstraße hinaus, von der jenseits des an dieser Stelle nicht allzu breiten Parkes sich ein Zufahrtsweg abzweigte, der zwischen den Teichen hindurch zum Schlosse hinleitete, ob sie nicht bald den wohlbekannten Trab ihrer Isabellen hören werde, die sie zur Abholung der Herren nach der Stadt gesandt hatte.
Kriegel, das alte Hausfaktotum, sollte sie vor der Terrasse des Schlosses empfangen und dann hierher in den Orangeriesaal geleiten.
»Horch, der Wagen!« rief jetzt die Gräfin der Schwester zu, indem sie gespannt in den Park hinauslauschte, wo sich in tausend Regenperlen, die noch an Strauch und Gras hafteten, die Sonne glitzernd brach.
»Jawohl, Fritze, es sind die Isabellen!« bestätigte Karoline und verfolgte nun ebenfalls das Hufgeklapp, wie es von der harten Landstraße in den weicheren Parkweg einbog und zwischen den Teichen hindurch gegen das Schloß hin verklang.
Einige Minuten später hörten die Schwestern schon Stimmen auf dem Wege näherkommen, der vom Schloß zum Orangeriegebäude hinleitete, und bald darauf bogen die Erwarteten unter Kriegels ehrfürchtiger Leitung um die Ecke auf den Koniferenvorplatz des Orangeriesaales, aus dem nun die Gräfin, freundlich grüßend, ihren Gästen entgegentrat.
Es waren vier Herren: außer dem Oberpräsidenten, Dr. Strauß und dem Landrat noch ein würdiger Fünfziger in der straffen Haltung des ehemaligen Offiziers, feierlich angetan mit langschoßigem, braunem Rocke, dessen Kragen, der Zeitmode entsprechend, sich ihm hoch im Nacken kumtete. Es war der Hauptmann a. D. und Schmiedeberger Bürgermeister Flügel, der so bescheiden hinter den anderen herschritt.
Ihn, wie den Oberpräsidenten begrüßte die Gräfin als ältere Bekannte, den Landrat mit vertrauter Herzlichkeit, den Oberhofprediger aber mit einem forschenden Blicke, der nicht ganz befriedigt von seinem sehr verbindlich lächelnden Gesichte abließ.
Denn dieser geistliche Sendbote ihres innig verehrten Königs wollte ihr nicht recht gefallen.
Merkwürdig!
Die Prinzeß Wilhelm, die sie so hoch verehrte, hielt doch so große Stücke auf diesen Seelsorger! –
Die Gräfin nötigte die Herren zum Nähertreten, und als alle um einen schön eingelegten, ovalen Tisch inmitten des Saales Platz genommen hatten, servierte Kriegel den Tee, der in einem Nebenraume schon bereit gehalten war.
Ihrer inneren starken Spannung entsprechend, brachte die Gräfin sogleich die Rede auf den Zweck dieser Begegnung, und der Oberpräsident gab nun in kurzen Zügen einen Überblick über die Bedrängnisse der Zillertaler und die Vorgeschichte ihrer Auswanderung.
Die Gräfin hörte gespannt zu, manchmal einen schnellen Blick innigen Einverständnisses mit der Schwester wechselnd.
Im Munde des sachlich und kritisch sondernden Verwaltungsbeamten bekam das alles freilich eine ganz andere Färbung, als es gestern trug, da die schlichten Männer so naiv von den eigenen Verfolgungsnöten erzählt hatten. Aber die heutige, politisch-diplomatisch abwägende Darstellung erschien der Gräfin doch als wichtige Ergänzung des gestrigen, gefühlsmäßig-parteiischen Berichtes.
Bei der Erwähnung zweier Kommissionen, die vom Könige ernannt worden seien, um für die Unterbringung der Vertriebenen zu sorgen, nickte sie mit dem Kopfe, den der alte Merckel ›zierlich und doch charaktervoll‹ fand. Und als sie aus ihrem Pompadour die Kabinettsorder des Königs hervornestelte, überflog diese der Oberpräsident rasch, ohne mit einer Miene zu verraten, wie er innerlich dazu stehe.
»Wir möchten nun nach gehabter Vorbesprechung«, sagte er aufblickend, »Exzellenz gehorsamst ersuchen, in dem besagten ›Orts-Komitee‹ das Präsidium zu übernehmen.
Die Gräfin zuckte errötend zusammen.
»Das Präsidium? O nein!« wehrte sie ab, und Dr. Strauß fand jetzt, sie sei von einer lieblichen Verschämtheit allerseltensten ›Charmes‹. »Nein, das geht doch nicht! Ich – als Frau –.«
»Wie könnte hier das Frauenhafte im Wege stehen, Exzellenz?« erwiderte der Oberpräsident mit chevaleresker Verbeugung. »In dieser Sache, wo sich's um Helfen und Beistehen handelt? Da kann man sich die Helferhände nicht frauenhaft genug wünschen!«
Die Gräfin sah den Sprecher unsicher an.
Meinte er das ernst?
Er, der verschrien war, so eisenhart und voll unerbittlicher Entschlossenheit im Zugreifen zu sein?
Aber sie konnte nichts Unsicheres oder Flimmeriges im Blicke der grauen Augen unter den buschigen, schneeweißen Brauen erspähen.
Der Oberpräsident ging nun, wie es seiner Natur entsprach, systematisch den Aufgaben zu Leibe, die die bevorstehende Aufnahme der Zillertaler ihm und dem Orts-Komitee stellte, und umriß mit scharfen Linien, welches diese Aufgaben seien, und welche zunächst gelöst werden müßten.
Nicht ohne ehrliche Bewunderung seiner klaren Zielbewußtheit folgte die Gräfin seinen Auseinandersetzungen, wenn auch immer wieder der Gedanke in ihr aufkam: »Er faßt diese Aufgabe so kaltherzig an, als ob es gelte, das Umsichgreifen der Rinderpest zu verhindern!«
Und noch immer hatte sie an keinem Hauche spüren können, wie er innerlich zu der Sache stehe.
»Die nächste und meines Erachtens zunächst auch einzige Aufgabe für uns ist es, die Unterbringung der Einwanderer während des kommenden Winters zu ermöglichen!« schloß der Oberpräsident nun. »Und das ist eben die Sache des Orts-Komitees. Ich möchte dazu zunächst einmal gern hören, Herr Bürgermeister, ob Sie meinen, daß Schmiedeberg imstande sein werde, die vierhundert Flüchtlinge zu beherbergen.«
Der Bürgermeister bejate das, und als er auch noch befriedigende Auskunft über die Verpflegung gegeben hatte, wandte sich die Gräfin nun voll Eifer an Dr. Strauß: »Nun sagen Sie mir aber Eins, Herr Hofprediger, in welcher geistigen und seelischen Beschaffenheit kommen die Leutchen hier her? Haben sie denn eine ordentliche Schulbildung? Und was halten Sie von ihrer religiösen Verfassung? Die drei Männer, die ich gestern hier hatte, gefielen mir ungemein. Es schienen mir wahrhaft fromme Leute von erquickender Herzensbildung zu sein. Aber die andern? Die große Masse? Manches in den Erzählungen der Drei hat mich stutzig gemacht.«
»Ihre Schulbildung ist sehr rückständig, Exzellenz«, antwortete Dr. Strauß mit schwer verborgener Befangenheit. »Die wenigsten können lesen und schreiben.«
»Wie schade!« warf die Gräfin ein.
»Gewiß!« bestätigte der Hofprediger.
»Und in religiöser Beziehung?« forschte die Gräfin drängend aufs neue.
»Ja, Exzellenz, das ist schwer zu sagen!« gab der Hofprediger zögernd nach. »Ihr religiöser Eifer ist jedenfalls nicht gering. Das beweist ja allein schon die Tatsache ihrer Auswanderung.«
»Das wohl!« stimmte die Gräfin zu. »Aber ihre religiöse Erkenntnis? Insonderheit ihre Stellung zu unserm lutherischen Bekenntnis? Ist die klar und bewußt, wie bei Fleidl und Heim, oder –«
»Klar und bewußt?« wiederholte der Hofprediger gedehnt. »Das wohl kaum! Bei der Mehrzahl sicher nicht! Wo sollte das auch bei solchen, nun, sagen wir: ›Analphabeten‹ herkommen? Zumal nur ein ganz geringer Bruchteil bisher direkte Unterweisung in unserer Glaubenslehre erhielt.«
»Nur ein geringer Bruchteil?« fragten beide Schwestern wie aus einem Munde, und das klang bei Karoline von Riedesel noch ein gut Teil entsetzter als bei der Gräfin.
»Allerdings, meine hochverehrten Damen!« beantwortete der Hofprediger den leisen Aufschrei nicht ohne leichtes Amüsement im Ton. »Bedenken Sie auch die ungeheuren Schwierigkeiten, die da zu überwinden waren für jeden, der überhaupt solche Unterweisung begehrte. Schon allein die Entfernungen! Nur in Bozen konnte so was erfolgen. Und dann –«
»Nun – wieviel sind's denn dann überhaupt,« fiel hier Dr. Strauß die Gräfin ungeduldig ins Wort, »die wirklich schon ›Evangelische Christen‹ genannt werden können?«
»Kaum ein Dutzend, Exzellenz!« antwortete der Hofprediger rasch, sichtlich voll Spannung, wie diese lächerlich kleine Zahl auf die Damen wirken würde, die diese ganze Angelegenheit doch gar so wenig ›realistisch‹ aufzunehmen und zu behandeln vermochten.
»Kaum ein Dutzend!« hauchte Karoline von Riedesel sichtlich entsetzt und faltete wie in stummem Gebet die Hände. Die Gräfin aber verbarg gefaßter, wie diese Mitteilung auf sie wirke.
»Und was fangen wir mit ihnen an, wenn sie da sind?« fragte sie ein wenig heiser. » Vierhundert Menschen!«
»Natürlich müssen sie beschäftigt werden!« erwiderte der Oberpräsident. »Schon, um etwas zu verdienen. Seine Majestät will zwar für den notdürftigsten Unterhalt sorgen; aber es kann doch nicht ein so großer Troß ganz dem Staatssäckel zur Last liegen!«
»Ganz recht, Exzellenz! Aber woher Arbeit nehmen?« widersprach die Gräfin, und ihre Wangen rötete ein hitziger Eifer. »Der Winter steht dann vor der Tür. Das ist die Zeit, in der wir nur mit höchster Not für unsere einheimische Bevölkerung Arbeit finden können. Sollen die nun die Fremden auch noch wegschnappen? Das gäbe einen üblen Anfang und sehr ungünstige Vorbedingungen für ein weiteres ersprießliches Beisammenwohnen und Mitsammenwirken, dünkt mir. Und an das denkt doch wohl Seine Majestät? Er will diese Armen doch wohl von Gebirge zu Gebirge transplantieren?«
Jetzt wechselten der Oberpräsident und der Hofprediger einen schnellen Blick, dann sagte jener gedehnt:
»Was weiter mit diesen Einwanderern wird, Exzellenz, ist eine sekundäre Frage der Zukunft und meines Erachtens nach ganz und gar nicht spruchreif. Nach meinen Erkundigungen fehlt es in der hiesigen Gegend, die durch ihre mit dem Zillertal ein wenig verwandte Natur wohl zur Ansiedlung der Fremden locken möchte, an hinreichend großen verfügbaren Bodenflächen. Anderwärts, z. B. in Ostpreußen, gibt's dessen eine Menge. Und wenn's schon Schlesien sein muß, so haben wir in Oberschlesien noch Wüsteneien genug, die auf Besiedlung förmlich lauern, abgesehen davon, daß diese Tiroler, die doch deutscher Abstammung sind, unter unsern Wasserpolaken dann obendrein noch eine nationale Aufgabe erfüllen könnten.«
»Das wohl, Exzellenz!« gab die Gräfin scharf nachdenkend zu, sie hatte den Alten während seiner langen, nicht ohne Zeichen innerer Erregung vorgetragenen Auseinandersetzungen schier einbohrend angesehen. »Das wohl! Aber Zillertaler in Oberschlesien?! Exzellenz, ich kenne doch unser Oberschlesien und liebe es in gewisser Beziehung – schon als den Schauplatz der erfolgreichsten Tätigkeit meines seligen Mannes –, aber Tiroler in Oberschlesien?! Mein Gott, mein Gott, die müßte das Heimweh ja gleich mit Haut und Haar auffressen.«
»Ach was, das gibt sich!« warf der Alte geringschätzig ein. »Und außerdem: danach können wir nicht fragen. Die Leute bitten bei uns um Zuflucht; dann können sie nicht verlangen, daß wir ihnen auch noch hunderterlei zur Auswahl vorlegen. Beieinander wollen sie auch durchaus bleiben, und das halte ich ja für verständig und richtig. Aber sie müssen sich dann auch drein finden, daß wir sie dorthin setzen, wo's die Staatsraison fordert, und wir dürfen uns nicht von sentimentalen Beweggründen dabei leiten lassen.«
Wieder flog ein jähes Rot über die bleichen Züge der Gräfin bis unter die Stirnlöckchen hinauf: diesmal die Röte der Entrüstung.
Aber sie hatte gelernt, sich zu meistern.
»Pardon, Exzellenz«, sagte sie mit leise bebender Stimme, »wenn ich in diesem Falle den ›sentiments‹ zu ihrem Rechte verhelfe, so wenig ich sie auch sonst leiden mag! Ich glaube, wir werden hier gerade mit dem Heimweh sehr stark rechnen müssen. Es sind Tiroler, Exzellenz, um die sich's handelt. Und es ist wohl keine Abgeschmacktheit, zu behaupten, daß Tirol das klassische Land des Heimwehs ist. Ich bin tief beglückt, daß diese armen Verfolgten an ihrem Glauben fester hängen als an ihrer Heimat. Aber offen gestanden: noch ist mir ihre Handlungsweise im ganzen rätselhaft. Vielleicht, daß ich anders denken lerne, wenn ich erst die Leiden genauer kennen werde, die sie ertragen mußten, und sie selber und ihr ganzes Wesen dazu! Aber zunächst begreife ich nicht recht, daß ihrer so viele die Heimat für einen Glauben dahingeben, in den die allerwenigsten von ihnen fest eingewurzelt zu sein scheinen, wie uns soeben der Herr Hofprediger verraten hat. Sollte nicht, wenn sie erst aus dem Strudel der Verfolgungen hierher an den stillen Strand der Duldung gerettet sind, die Heimat wieder mit hundert Händen nach ihnen langen?«
»Gewiß wird sie das, Fritze! Gewiß!« brach jetzt die lange mühsam beherrschte Erregung aus Karoline von Riedesel heraus, und auch der Oberpräsident gab – halb widerwillig allerdings – zu: »Möglich, Exzellenz, daß das geschieht! Sogar höchst wahrscheinlich!«
»Nun, wenn das zu gewärtigen ist,« fuhr die Gräfin eifrig fort, »dann erscheint mir der Plan Seiner Majestät weise und glücklich, die Auswanderer in dem Teile seiner Staaten anzusiedeln, der ihrer Alpenheimat noch am ähnlichsten sieht, wenn wir sie auch, bei rechtem Lichte betrachtet, eigentlich nicht recht hier unterbringen können.«
»Nun, Exzellenz, nous verrons!« glitt der Oberpräsident über den strittigen Punkt gewandt hinweg. Er hatte ihn überhaupt nur zur Sprache gebracht, um sich zu überzeugen, ob er richtig vermutet habe, wenn er annahm, die Gräfin werde von vornherein mit Eifer für eine Ansiedlung der Zillertaler gerade im Hirschberger Tal eintreten. Nun wußte er Bescheid, und es konnte ihm nichts daran liegen, sich die Gräfin tiefer in die Karten gucken zu lassen. Er ärgerte sich schon, daß er Ostpreußen und Oberschlesien erwähnt hatte. Und wenn er gar zu ahnen vermocht hätte, wie gründlich ihn die kluge Frau durchschaute, würde sein Verdruß über seine unpolitische Gesprächigkeit noch größer gewesen sein.
Als sich nämlich die Herren eine halbe Stunde später verabschiedet hatten, blieb die Gräfin noch eine lange Weile auf der Freitreppe des Orangeriesaales stehen, bis wohin sie die Gäste geleitet hatte. Dann kehrte sie sich langsam zur Schwester um, die Kriegel mit leiser Stimme Anweisungen zum Abräumen des Teetisches gab. Solange der Diener die Tassen auf seinem Servierbrette aufschichtete, sah sie gedankenverloren in den kühldämmerigen Saalraum hinein, als fessele sie das Spiel des Lichtes der sinkenden Sonne, das nun wie mit vorsichtigen Fingern die Gewächsgruppe in der rechten hinteren Ecke mit seinem Glanze abtastete, daß das Grün der dunklen Blätter wunderlich zu leuchten anhob, und an den beiden Kronleuchtern ein feuriges Kristallgefunkel ansteckte.
Als aber Kriegel die Tür des Nebenraumes leise hinter sich ins Schloß gezogen hatte, sagte die Gräfin aus ihrem tiefen Sinnen heraus: »Hast Du's gemerkt, Karoline, wie die Sachen stehen? Es gibt Kampf! Dem alten Merckel kommen sie ungelegen. Am liebsten hätte er gar nichts mit ihnen zu tun und schöbe sie den Salzburgern nach Ostpreußen nach. Vor allem aber will er sie uns nicht hier lassen. Und mir ahnt schon, weshalb nicht. Kurz: es gibt Kampf!« –
* * *
Sechs Wochen nach seinem Besuch auf Schloß Buchwald zog Fleidl keuchend einen großen Handkarren auf einer schlechten nordböhmischen Landstraße hinter sich her. Der Karren barg die geringen Habseligkeiten, die Fleidl aus dem Zillertal mitgenommen hatte.
Denn er war seit drei Wochen mit einem Trupp seiner Glaubensgenossen unterwegs nach der neuen Heimat.
Während der vorangegangenen Tage hatte die Sonne erbarmungslos auf die Emigranten herabgebrannt, die gleich Fleidl zu Fuß gingen, ihre Habe in Karren hinter sich herziehend. Nur sechs bis acht Gebirgsleiterwagen, jeder mit zwei rüstigen Pferden bespannt, durchsetzten den Zug, der etwa zweihundert Männer, Frauen und Kinder stark war. Einige Möbelstücke, von denen sich die Besitzer nicht hatten trennen können, weil gar zu viel Erinnerungswert an ihnen haftete, die schwersten Säcke mit Mundvorrat und Viehfutter, vor allem die Alten und Gebresthaften, die nicht zu Fuß vorwärts kamen, wurden auf diesen Wagen mitgeführt.
Seine Rüstigkeit ermöglichte es Fleidl, dem Zuge meist voranzueilen, mehr noch aber drängte ihn hierzu die innere Unrast, möglichst bald ans Ziel zu kommen, und der Wunsch, sich seinen grüblerischen Gedanken während des Marsches ungestört überlassen zu können.
Denn er brauchte Sammlung und Überschau über die Flut von Ereignissen, mit der ihn diese letzten Wochen überstrudelt hatten, um in all diesem Wirrwarr auch Herr seiner selbst und der schweren Aufgabe zu bleiben, die da so ohne sein Zutun und Vordrängen die Entwicklung der Dinge auf seine, des armen Pantoffelmachers Schultern gelegt hatte.
Wie schon oft auf dieser wochenlangen Wanderung durch Tirol, Salzburg, Ober-Österreich, Mähren und Böhmen, auf einem Wege, der den Auswanderern von ihrer bisherigen Obrigkeit genau vorgeschrieben worden war, ließ er an seinem inneren Auge die Menge der Bilder vorübergleiten, in die er den Lebensinhalt dieser sechs Wochen nach seiner Heimkehr aus Berlin gefaßt sah.
Wie lang dehnte sich diese kurze Frist vor dem rückschauenden Blick, dank der Fülle fieberhaften Geschehens, das ihren Inhalt bildete!
Mit seiner Hast und Buntscheckigkeit hatte es so gar nichts mehr mit dem geruhsamen, gleichförmig-eintönigen Gange seines vorherigen Bauern- und bäuerlichen Kleinhandwerkerlebens gemeinsam.
So gleich der Empfang bei seiner Heimkehr aus Berlin.
Sie hatten's ja im Tale nicht recht abmessen können, wann er eigentlich mit Heim und Koland einzutreffen vermöchte. Drum standen sie nach Feierabend (denn tagsüber fanden sie keine Zeit dazu!) an den Türen der Häuser, die an der Dorfstraße lagen, beschatteten die Augen gegen die sinkende Sonne und spähten talwärts nach dem Inn zu, ob ihre Abgesandten nicht endlich zurückkehren wollten, gute Nachricht bringend.
Und als es endlich so weit war – tatsächlich in einer Feierabendstunde, als unter den goldnen Kreuzen der spitzen Kirchtürme durchs ganze Tal das Ave Maria-Geläut ertönte und hinterm Brandberge die Sonne zur Rüste ging und in all ihrer spätsommerlichen Pracht die schroffe Gerloswand mit Purpurglut übergoß –, da verbreitete sich die Ankunft der Abgesandten wie ein Lauffeuer den Ziller entlang und in alle seine Nebentäler. Und aus den Protestantenhäusern, die von der Straße weiter ablagen, rannten die ernstesten Männer und die ehrsamsten Frauen wie ungestüme Kinder quer durch Gärten und Wiesen zur Straße hin, um nur ja recht schnell vernehmen zu können, welche Entscheidung ihnen die Sendboten vom fernen preußischen Königshofe heimgetragen brächten.
Und als sie sie vernahmen, diese gütige Bereitwilligkeit des fremden Königs, ihnen eine neue Heimstätte gewähren zu wollen, wo von keinerlei Verfolgung des Glaubens wegen mehr die Rede sein werde, da standen die Leute erst eine lange Weile in stummer Fassungslosigkeit, ehe der Jubel über diese ›Engelsbotschaft‹ losbrach.
So hatten viele damals seine, Fleidls, Nachricht genannt, und das überschwengliche Wort mutete keineswegs gekünstelt an, obwohl es von den Lippen kernfester Bauern kam.
Und dann folgte das fieberhafte Rüsten zum Aufbruch.
Die schnellen Güterverkäufe wickelten sich so wunderlich glatt ab, weil ihnen niemand mehr ein Hindernis in den Weg legte, weil die Behörden im Gegenteil sie durch allerhand Maßnahmen förderten, und weil weder Käufer noch Verkäufer darauf ausgingen, ein besonders gutes Geschäft zu machen.
»Es war wie zu Moses Zeiten in Ägypten«, dachte Fleidl: »man erwies uns Abwandernden jeden Gefallen, damit nur die Abwanderung recht schnell erfolgen solle.«
Denn nun, nun's Ernst wurde mit der Losreißung so vieler hundert Zillertaler von der heimischen Scholle, da zeigte sich's plötzlich, daß die Feindschaft vieler katholischen Mitbewohner des Tales nicht tief saß. Mit wieviel Bitten waren die Aufbrechenden nicht noch im letzten Augenblick bestürmt worden, da zu bleiben, wo sie geboren und erzogen seien, die Heimat nicht dranzugeben gegen ein paar abweichende Glaubensformeln. Und an manchen der Lutherischen war noch zuletzt starke Versuchung herangetreten, dem Glauben des weltlichen Gewinnes wegen untreu zu werden.
Am stärksten wohl an ihn, Johann Fleidl, selbst.
Er mußte unwillkürlich lächeln, wie er sich nun auf seiner Emigrantenstraße dieser Versuchungsstunde erinnerte.
Am vorletzten Abend war's gewesen vor dem Abzuge von seinem lieben, stillen, weltfernen Ober-Bichl.
Schon stark gedunkelt hatte es in der Hütte, in der er noch allein an seinem Reisegepäck kramte. Die Schwester mit ihren Kindern war schon hinunter nach Mayrhofen zu einer Base, um sich den andern Auswandrern anzuschließen, wenn sie dort durchziehen würden.
Da ging leise die Haustür auf, die Fleidl so wenig verschloß wie ein anderer Wirt im Zillertal, und als er in den Flur trat, um nach dem späten Gaste zu schauen, stand da die Bachbäuerin aus Hinter-Bichl, eine einschichtige Frau, nahe der Vierzig, und schon seit etwa zehn Jahren Witwe. Es bekam sie selten jemand zu sehen. Denn sie kam fast nur von ihrem einsamen Hofe herunter, wenn sie die Messe besuchte, was freilich eifrig geschah. Fleidl hatte sie nur zu Gesicht bekommen, wenn er auch bei ihr droben seine Pantoffeln feilbot.
Verwundert forschte er deshalb, was die Frau von ihm wolle. Er sei allein im Hause; die Schwester sei schon unterwegs nach Preußen.
Es sei ihr sehr paßlich, daß sie ihn allein treffe, versicherte da die Frau, die hübsch und stattlich mitten in der Stube stand, in der halbverpackter Hausrat bunt umherlag. Durch die kleinen Fenster schimmerte gerade noch so viel Licht herein, daß Fleidl ihre Züge erkennen konnte.
Er machte schnell einen Stuhl für sie leer, und sie begann nun ohne Umschweife: sie sei hierher gekommen, um ihm einen vernünftigen Handel vorzuschlagen.
Schon lange habe sie ihn und sein Tun und Treiben beobachtet. Und das habe ihr immer gefallen. Er sei solide und gar nicht so hinter den Schürzen und hinter der Kanne und Karte her, wie die andern ledigen Zillertaler. Und daß er ein armer Schlucker sei, mache ihr nichts aus. Wenn er Vernunft annehmen und dahier bleiben wolle, wo doch seine Heimat sei, dann wäre sie wohl geneigt, ihn zum Mann zu nehmen und ihm sogleich ihren Hof verschreiben zu lassen, trotzdem sie eigentlich willens gewesen sei, keine zweite Ehe mehr zu schließen, weil sie ganz gut auch ohne Mann bestehen könne.
»Und weshalb schlägst' mir dann so was vor, Bach-Bäuerin?« hatte er da die Stolz-Spröde gefragt!
»Weil i Di vor einer großen Torheit abhalten möcht«, hatte sie erwidert. »Denn eine Torheit ist's halt scho', daß Ihr von hier fort wollt um des Glaubens willen.«
»Also, alsdann meinst, Bäuerin, daß i katholisch bleiben müßt', wann i Di und Dein Gut haben möcht?« hatte er lächelnd gefragt.
»Allweil mein' i das freili scho!« hatte sie erwidert, ohne irgendwie verlegen zu sein. »Lohnt's etwa nöt?«
»O, manchem tät's schon fein lohnen, Bach-Bäuerin!« hatte er wieder lächelnd geantwortet. »Denn Du bist 'ne stattliche Frau, und der Bach-Bauernhof ist der größte in Hinter-Bichl. Aber schau halt: i muß ein gut's Beispiel geb'«. Und wenn i jetzt der Glaubenssach' abtrünni würd' – und wenn's flugs um Di und Dein'n schönen Hof geschäh' – dann würden viele irre werd'n und z'ruckbleiben.«
»Das hoff' i au!« hatte ihm darauf die Frau erwidert. »Und das wär' mi schon ganz recht um unserer allerheiligsten Kirch' willen. Solltest Di nöt groß besinnen, Winkelhansel. Hier weißt Du, was Du hast und greifst. Was Du drauß' im Reich greifen wirst, weißt Du fein nöt. Kann leicht ein schlimmer Fehlgriff werd'n für Di und für die andern mit, die Du dann verführt hast.«
»Mag's drum sein, Bach-Bäuerin!« hatte er darauf der stattlichen Frau entgegnet, die sich so recht nahe an ihn herangestellt hatte, so daß ihn ihr warmer Atem im Düstern verführerisch überhauchen konnte und er die verlockende Blutwärme ihres üppigen Körpers förmlich nach sich langen fühlte. »Schön' Dank für Dein' gute Meinung! Aber mein Glaub'n ist mir halt selbst für eine blitzsaubere Frau und einen stattlichen Hof nöt feil, weißt!«
»Weil Du'n Narr bist, Winkelhansel!« hatte sie daraufhin nach einer Weile gesagt, in der sie ihn mit zusammengezogenen Brauen betrachtete.
Und mit kurzem Gruße war sie dann gegangen.
War er nicht in Wirklichkeit ein Narr, daß er nicht mit beiden Händen zugegriffen hatte, er, der armselige Schlucker, nun er auf so leichte Weise ein ansehnlicher Hofbauer werden konnte?
Lächelnd schüttelte er den Gedanken von sich ab.
Dieser Verzicht sollte ihm wohl leicht fallen.
Aber der andere? –!
Sara Bagg!
Die Erinnerung an sie ging ihm wie ein Dolchstoß durchs Herz. Er hatte sich's doch leichter gedacht, seinem Glauben dieses Herzensopfer zu bringen, als er vor sechs Wochen in Schloß Buchwald ›die schwarzhaarige Dirn'‹ gleichsam an einen andern abtrat.
Schon, als er sie in der Heimat wiedersah, wußte er plötzlich, was er schon immer dunkel gefühlt hatte, daß ihm dieses Mädchen doch viel mehr als bloß ›eine schwarzhaarige Dirn'‹ bedeute.
Die ganze scheue Zärtlichkeit eines starken Männerherzens, in dem das Liebesempfinden so lange durch das harte, heischende Leben zurückgedämmt worden ist, erwachte jetzt in ihm mit Allgewalt, als er in den kohlschwarzen Augen des heiteren, fast kecken Mädchens nun Tieferes erglühen sah, als bloßes Kosebedürfnis.
Aber er fühlte sich durch sein Wort gebunden, das er dem alten Heim damals gegeben hatte.
Als darum Sara Bagg ihm auch, wie viele andere, an jenem Heimkehrtage durch den Garten ihres Vaters entgegengestürmt kam mit der ungestümen Frage: »Wie steht's? Will uns der Preußenkönig aufnehmen?«, da hatte er sich künstlich kühl gestellt und abweisend gefragt: »Ja, was schreist' denn so, Mäderl? Alsdann, i hab halt g'meint, Dein Vater möcht' gar nöt gern ins Preiß'sche? Der möcht' gern lieber in die Steiermark?«
Er mußte sich schon so arg verstellen damals; denn der alte Heim stand neben ihm und forschte scharf unter seinen buschigen Brauen hervor, ob Fleidl auch Ernst machen werde mit seinem Versprechen. Aber es gab ihm noch jetzt, da er seinen Karren schon der nahen preußischen Grenze zuzog, einen Stich durchs Herz, wenn er sich erinnerte, wie jäh sich die hoffnungsfrohe Miene des frischen Mädchen umdüsterte, und welch harter, unfrauenhafter Zug trotziger Abweisung plötzlich das weiche, runde Gesichtchen versteinte und um viele Jahre älter machte.
»In der Stund' hat sie ihr Herz von mir wegg'rissen!« dachte er, schmerzlich grübelnd. »Und i Narr, der i bin, i hab vorher gar nöt recht g'wußt, daß sie's an mi gehängt hat. I hab ja nöt amal g'wußt, wie fest mei eigenes Herz an dem lieben Dingerl hängt! Johannes, das wirst schwer verwinden, scheint's! Das wird halt in Gott's Namen Kampf geben!«
Nun, tröstete er sich im Vorwärtskeuchen, wozu ihn der eben stark ansteigende Weg nötigte, Kampf sei er ja gewöhnt und habe er ja auch viel, viel zu erwarten, wenn er mit seinen Genossen erst in der neuen Heimat sein werde, der sie da in vier Trupps zustrebten, die hintereinander in gewissen Abständen herzogen, wie's das Gubernium vorgeschrieben hatte.
Weil's noch so viel zu ordnen gab, machte sich's ganz von selbst, daß er, Fleidl, nicht im ersten Trupp mitzog; aber er drängte Heim, dessen Führung zu übernehmen. Und der Alte war gern dazu bereit.
Der hatte in den ersten Tagen nach seiner Heimkehr bei seinem Anhange keinen leichten Stand gehabt. Man begriff seinen plötzlichen Meinungswechsel nicht recht, obwohl er ja in der Lage war zu behaupten, seine Beobachtungen draußen im Reich hätten ihn gründlich umgestimmt.
»Der Winkelhansel wird ihn halt beschwatzt haben!« so hatten die andern gesagt, wie man Fleidl hinterher erzählte. Aber Michael Koland hätte darauf erwidert, das könne nicht so sein; denn er, Koland, sei von der Andachtstunde an bis zur Heimkehr ins Tirol immer mit den beiden andern zusammen gewesen.
Er hatte das Nickerchen vergessen, das er auf seiner Bettstatt hielt, als Fleidl den Alten für seine Sache gewann.
Michael Koland gab nun auch seinen Widerstand auf: ohne Bartholomäus Heim bedeutete er ohnehin nichts mehr.
Und so erlebte Fleidl den Triumph, daß alle, die überhaupt zur Auswanderung bereit waren, sich dem Zuge nach Preußen anschlossen.
Die Heimsche Partei bildete nun sogar den ersten Trupp, der das Zillertal verließ.
In ihm trug auch Sara Bagg ihren stummen Groll gegen Fleidl, der sie seit jener kühlen Abfertigung vor sechs Wochen finster beherrschte, nach Preußen.
Fleidl war's ganz lieb, daß sie ihm aus den Augen gekommen war. Nur, wenn er im stummen Grübeln auf der langen Reise sich immer wieder ausmalte, wie der rüde Ignatz Heim sich an sie heranmachen und den vertrauten Verkehr einer so ungewohnten Wanderfahrt weidlich zur Annäherung ausnützen würde, quoll's heiß wie Empörung gegen sein Schicksal und wie bissiger Groll gegen seine eigne Handlungsweise in ihm empor.
Unter diesen Umständen konnte freilich Marie Schieftl, von der Michael Koland damals gesprochen hatte, als er mit Heim und Fleidl Buchwald zuwanderte, ihre Pläne nicht verwirklichen.
Sie hatte ihren Vater bewogen, sich dem zweiten Trupp anzuschließen, trotzdem er noch gern mit der Abreise gezögert hätte, weil sein Gutsverkauf nun gar zu sehr übers Knie gebrochen werden mußte. Und nun verfuhr sie während der gemeinsamen Wanderung, besonders bei der abendlichen Rast, ganz so, wie sich Fleidl Ignatz Heims Verhalten ausmalte.
Mit hundert Gefälligkeiten war sie Fleidl zur Hand, und es verging kein Tag, an dem sie nicht auch irgendeinen Rat oder eine Dienstleistung von ihm erbat. Ihr Frauen-Instinkt sagte ihr, daß sie einen Mann wie Fleidl am leichtesten für sich gewinnen könnte, wenn sie ihm Gelegenheit gab, sich für sie zu bemühen.
Aber bis jetzt hatte sie so gut wie nichts erreicht.
Darüber gab sie sich auch gar keiner Täuschung hin; denn sie war eine kluge Person, die Marie Schieftl. Je kühler sich aber Fleidl ihrem Werben gegenüber verhielt, desto fester setzte sie sich's in den Kopf, ihn doch noch ›herumzukriegen‹.
Bedenklich für ihre Aussichten war's nur, daß Fleidl ihre Absichten so klar durchschaute.
»Müh' Di nur, Dirndl!« dachte er und mußte dabei stillvergnügt vor sich hinlächeln. »Müh' Di nur! Aber bei mir hast schwerlich Glück!«
Ob's beim andern Zuge der Ignatz wohl ähnlich mit der Sara trieb, wie die Marie hier mit ihm?
Der Gedanke schoß Fleidl jetzt durch den Sinn und löste sogleich die bange Frage aus: »Und ob er mehr Glück bei der Sara hat, als die da bei mir?«
Wer konnte das wissen?
Die Dirndel sind wankelmütig! Und die Sara war obendrein erzürnt auf ihn! So werde der Ignatz leichtes Spiel haben!
Als müsse er das verhindern, beschleunigte Fleidl seinen Marsch jetzt unbewußt.
Wenn nicht besondere Hindernisse eintraten, mußte dieser Trupp den ersten unter Heims Führung heut oder morgen noch einholen und mit ihm gemeinsam Schmiedeberg erreichen.
So viel hatte Fleidl jedenfalls an den Raststätten erfahren, daß Heim mit seinen Begleitern in den letzten acht Tagen dieselbe Straße gewandert war, die er nun hinter jenen herzog, und sich aus irgendwelchem Grunde verzögert habe. –
Der Einmarsch in ein stattliches Dorf voll malerischer Gebirgshäuser riß Fleidl aus seinem Sinnieren.
Eingehende Erkundigungen bei rasch herbeieilenden Bewohnern des Ortes lehrten Johann Fleidl, daß sich sein Zug der schlesischen Grenze und damit dem schmucken Grenzstädtchen Schatzlar nähere, und eine halbe Stunde später war es erreicht.
Es heimelte Fleidl tirolisch an, als er seinen Karren durch eine kurze Vorstadtstraße auf den übergroßen, viereckigen Marktplatz zog, um den schmucke, kleine Häuserchen mit ihren Giebelfronten sich gegeneinander stemmten, wie enggereihte Menschen mit ihren Ellenbogen. Schwarze Schindel- und Schieferdächer über hellen Fachwerkmauern, grüne Läden an den kleinen Fenstern, zu beiden Seiten der Haustüren einladende Ruhebänke und über der obern Seite des etwas abfallenden Platzes ein Schloß, am Saume einer senkrechten Nagelfluewand aufgetürmt, in alten Zeiten wohl die hütende Feste der ganzen Niederlassung: das alles verschmolz zu einem Stadtbilde von südländischem Reiz und erinnerte die andern Auswanderer sogleich an manch trauliches Stadtnestchen daheim im Inntale.
Nach den Weisungen, die Fleidl vom Innsbrucker Gubernium auf die Reise mitgegeben waren, sollten die Emigranten in diesem Städtchen Schatzlar eigentlich von einem höheren österreichischen Beamten empfangen und über die Grenze geleitet werden, um sie dort den preußischen Behörden ›auszuantworten‹.
Fleidl war begierig, ob das geschehen werde, und um nichts zu versäumen, hielt er vor einem der stattlicheren Häuser der obern Marktseite, das durch eine Tafel als »k. k. Amtsstelle« bezeichnet war, an und wollte hineingehen.
Da trat ihm auf der Schwelle ein Mann in Dienstmütze entgegen, von dem er erfuhr, daß am Morgen desselben Tages erst der Heimsche Zug durch den Ort gekommen und von hier aus durch den Herrn k. k. Übergabe-Kommissär Baron von Wittern zur Grenze geleitet worden sei, wo bereits der Landrat des preußischen Kreises Landeshut die Einwanderer erwartet habe.
Während Fleidl mit dem Beamten noch vor der Amtsstellentür auf der kleinen Plattform einer niedrigen Freitreppe verhandelte, kam allmählich der ganze Zug heran und sammelte sich auf dem Marktplatze an.
Da kutschierte Franz Fankhauser aus Tux seine stattlichen Braunen heran mit seinen auffällig starken Händen. Die lagen ihm wie ein Paar Bärentatzen auf den hochgestemmten Knieen.
Da lenkte der alte Schieftl sein Rappenfuhrwerk näher, auf dessen Vordersitz seine Tochter Maria mit gestrecktem Halse nach Fleidl ausspähte.
Da knarrte das schlecht geschmierte und besonders hoch beladene Fuhrwerk des starken Brugger über das Katzenkopfpflaster der Straße, auf die seit einer Stunde wieder die Sonne unbarmherzig niederbrannte, wie all die Tage vorher in diesem heißen Spätsommer.
Zwischen den Wagen aber fluteten die Fußwanderer in das Städtchen herein, einzeln oder truppweise, jeder mit einem großen Packen beladen, fast jeder auch mit einem mächtigen Regenschirme ausgerüstet, den er zusammengeklappt unter den linken Arm gepreßt trug.
Und endlich die Menge derer, die gleich Fleidl ihre Habseligkeiten auf kleinen Leiterkarren hinter sich herzogen, besonders dick mit Schweiß und Staub bedeckt.
Kurz: es war ein buntscheckiges Gewimmel, das da im Verlauf einer halben Stunde den sonnigen Platz mit fremdartigen Gestalten, mit Rossegestampf und einem lauten Durcheinander von Menschenstimmen erfüllte.
Mit kläglichem »Y-a!« mischte sich in diesen Lärm schließlich auch der Esel Bartholomäus Krölls; denn dieses Grautiergespann pflegte stets den Beschluß des Fleidlschen Zuges zu machen.
Viele der Auswanderer, besonders die jüngeren Leute, verstreuten sich bald in den Markthäusern, deren Bewohner von dem ungewohnten Lärm an die Türen und Fenster gelockt wurden. Gern erfüllten die meisten unter ihnen die Bitten der Fremden um frisches Trinkwasser für Menschen und Zugtiere. Auch zum billigen Verkauf von Milch und andern Lebensmitteln waren sie gern bereit, wenn sie diese Dinge nicht gar umsonst hingaben. Denn je näher die Emigranten der preußischen Grenze kamen, desto seltener begegneten sie feindseligen Blicken.
Marie Schieftl, die auf dem Wagen neben ihrem Vater sitzen geblieben war und es dem hinten aufhockenden Knechte überlassen hatte, für die Pferde einen Eimer Wasser zu erbitten, betrachtete das Treiben um sich her mit regem Interesse. Sie war eine stattliche Person, der Dreißig schon nahe. Die unschöne Sitte der Zillertalerinnen, den Miederschluß gleich unterhalb der Arme zu tragen, ließ ihre volle Gestalt plump erscheinen. Aber der kleine, kecke, schwarze Filzhut auf den vollen, blonden Flechten, die sie gleich den andern Mädchen des Zuges im Kranze um den Kopf gelegt trug, stand ihr trefflich zu ihrem gesunden, rundlichen Gesicht.
Umherforschend, lobte sie die Gastlichkeit der Schatzlarer ihrem Vater gegenüber.
Der stimmte nickend zu, verwünschte aber gleich hinterher die Bewohner einiger Orte Mährens, besonders Iglaus, denen er's nicht vergessen werde, wie sie die Flüchtlinge behandelt hätten in jener Sturm- und Regennacht vor etwa Wochenfrist. Weder Menschen noch Vieh hätten diese ›verbohrten Papisten‹ eine Unterkunft gewährt! Im Freien mußten die Fremden kampieren, naß bis auf die Haut, und frieren, daß es ihn, Schieftl, noch heut durchschüttle und in den Knochen reiße.
»Am meisten aber schon giftet's mi,« fuhr er grollend fort, »daß sie uns 'droht hab'n, sie wollten uns mit Peitsch'n d'von treiben, wenn wir nöt gutwilli gingen. Und gar erst, daß ein paar Weibsleut' die Schwellen ihrer Haustür'n g'scheuert hab'n, weil einige von uns drauf ausg'ruht sind!«
Marie Schieftl mußte lächeln über diesen Zornesausbruch des Vaters: er wiederholte sich seit jener Nacht, der einzigen auf dem ganzen Zuge, in der ihnen ein gastliches Dach verweigert worden war, fast täglich und immer in derselben Weise.
Noch ehe er ganz geendet hatte, sprang sie vom Wagen herunter mit einer Behendigkeit, die man bei ihrer Leibesfülle nicht hätte vermuten sollen, und rief dem Vater zu, sie wolle einmal schauen, weshalb es eigentlich hier einen Aufenthalt gebe.
»Weiß eh', warum's so eili hast!« knurrte der Alte halblaut hinter ihr her. »Sie lauft dem Pantoffelmacher nach! 'ne Bauerntochter! 's is a Schand, bei meiner Ehr'! Aber wer kann bei der was ausrichten?!«
Der verdrießliche Vater traf mit seinem Verdachte durchaus das Richtige: Marie Schieftl zwängte sich unter energischem Gebrauch ihrer Ellenbogen durch die Menge, die sich um die Freitreppe zusammengeknäult hatte, auf deren kleiner Plattform Fleidl noch immer mit dem k. k. Beamten verhandelte.
Jetzt winkte er in die Menge hinein und gab Zeichen, daß er zu ihnen sprechen wolle.
Lebhafte »Ruhe«-Rufe der Nächststehenden schafften ihm nach einer Weile Gehör, und so scholl denn auch bald seine Stimme über den weiten Platz hin.
Im heimischen Tiroler Dialekte setzte er seinen Schicksalsgenossen die Sachlage auseinander und fragte, ob sie den Rest des Tages und die folgende Nacht hier bleiben wollten, wo es vielleicht leichter sei, Unterkunft zu finden, als in dem nächsten Orte, wo sie sicher mit dem Zuge Heims zusammentreffen würden. Das könne dann wohl eine Verlegenheit geben, so viele Menschen unterzubringen.
»Hier bleiben!« riefen eine Anzahl Stimmen. Sie gehörten meist jungen Leuten an, denen es in dem freundlichen Städtchen mit seinen gefälligen Bewohnern schnell behaglich geworden war. »Hier bleiben! Warum soll'n wir uns z'sammenpferchen?«
Fleidl hörte das nicht allzu gern: ihn trieb ein unbestimmtes Etwas an, möglichst rasch die Grenze hinter sich zu bekommen. Solange der Zug sich noch auf österreichischem Boden bewegte, konnten noch allerhand Zwischenfälle eintreten. Die Grenze erschien ihm wie eine Schutzwehr gegen jegliche Willkür, und ehe jene nicht überschritten war, fühlte er sich vor dieser nicht geborgen.
So sah er sich ein wenig ratlos im Kreise um, ob nicht auch andere Stimmen laut werden würden, und erleichtert atmete er auf, als sich solcher Widerspruch fand.
Auf einem der am höchsten beladenen Wagen erhob sich jetzt ein eisgrauer Mann mühsam zu gebückter Haltung an seinem Stabe und richtete seine erloschenen Augen nach der Richtung, aus der er Fleidls Stimme vernommen hatte.
Es war der blinde, vierundachtzigjährige Jakob Egger, ein Patriarch in des Wortes bester Bedeutung auch auf diesem Emigrantenzuge. Sein Sohn Adam Egger lenkte kraftvoll den Wagen, der die Familienhabe und den greisen Ahnen ins Ausland führte, für das unsere Altvorderen den Begriff »Elend« prägten, und das Peterlein, sein Enkel, stand neben ihm als unzertrennlicher Begleiter des Großvaters. Nach Hippach hatte er ihn von dem hoch und einsam gelegenen Egger-Hofe herabgeleitet zur Fahrstraße, indem er vor ihm herging, in seiner rundlichen Kinderhand eine Schnur haltend, die am Gürtel des Blinden befestigt war. Der leiseste Ruck an dieser Schnur belehrte den Großvater, mit welcher besonderen Vorsicht er den Fuß tastend aufzusetzen habe.
So bildeten die beiden ein landbekanntes, unzertrennliches Paar, das daheim im Zillertal meist von Peters Schwester, der elfjährigen Walpurg umtänzelt worden war, dem Liebling ihres kraftvollen Vaters Adam und des Großvaters.
Um sie hatten sich die Gedanken beider Männer auf der ganzen Emigrantenfahrt unablässig gedreht in qualvoll-bohrender Ungewißheit.
Denn sie wurde seit dem dritten Tage vor der Abreise vermißt.
Auf eine dunkle Weise war sie dem Vater verlorengegangen.
Adam Egger erhielt nämlich für diesen Tag eine Aufforderung, wegen seines Gutsverkaufes noch einmal auf dem Landgericht in Zell zu erscheinen. Als er sich aber dort einfand, wußte niemand etwas von seiner Vorladung. Voll Mißtrauen eilte er nach seinem Hofe zurück. Dort erfuhr er, daß inzwischen ein Bote seines Schwiegervaters die Walpurg zum Abschiednehmen nach Hinterdux abgeholt habe. Da das Mädchen oft und gern bei den Großeltern mütterlicherseits zum Besuch gewesen war, hatte sie die Mutter auch ohne Bedenken mitgehen lassen.
Am andern Tage sollte die Walpurg zurückgebracht werden.
Als das aber nicht geschah, schickte Adam Egger sein Peterlein zu den Schwiegereltern, mit denen er selbst samt seiner Frau nicht mehr verkehrten, weil sie ihr Luthertum aufs schärfste verurteilten.
Aber Peterlein kehrte aus dem stundenweit entfernten Hinterdux atemlos zurück mit der Nachricht, Walpurg sei nicht bei den Großeltern; diese hätten auch keinen Boten nach ihr geschickt und wüßten nichts von ihr. Auf dem Heimwege aber sei ihm ein Mann begegnet, der ihn mit seinem Namen angesprochen und ihm gesagt habe, er wisse, wen er suche. Er solle dem Vater nur bestellen, Walpurg sei gut aufgehoben, und nach der Abreise des ketzerischen Vaters werde sie wieder zum Vorschein kommen und gut christgläubigen Leuten übergeben werden. Aber auch nicht eine Minute früher; denn das Kind solle dem rechten Glauben erhalten bleiben. Der Vater könne es freilich auch bald wieder haben, wenn die Eltern im Lande und bei der Kirche bleiben wollten.
Adam Egger hegte sofort den Verdacht, daß seine Schwiegereltern hinter der Sache steckten, und blieb auch samt seinem alten Vater bei der Meinung, als ein tagelanges Suchen nach der kleinen Walpurg ganz ergebnislos verlief, zumal seine Schwiegereltern seiner Frau, ihrer leiblichen Tochter, die Tür vor der Nase zuwarfen, als sie in heller Verzweiflung zu ihnen hinlief, geplagt von den heftigsten Gewissensbissen, daß sie das Kind habe mitgehen lassen.
So fuhren die Eltern denn am festgesetzten Tage schwersten Herzens ohne das Mädchen ab, wohl aber in der Hoffnung, es werde dann sogleich im Hause der Großeltern auftauchen, eine Hoffnung, der für die überzeugten Lutherischen viel bitterer Wermut beigemischt war. Der blinde Großvater dachte ganz wie Adam Egger. Dennoch drang er am meisten darauf, trotz Walpurgs Verschwinden mit fortzuziehen.
»I will vor mein'm Abscheid noch eine kleine Weil' ungehindert meinem Glauben leben!« sagte er. »Und da pressiert's bei mein'n vierundachtzig Jahr'n.«
»Nur schnell an Ort und Stell' sein!« Das war denn auch der Gedanke, der den Alten auf dem ganzen wochenlangen Zuge durch Österreich beherrschte.
Und diesem Gedanken handelte er nun auf dem Marktplatze von Schatzlar auch nach.
»Nöt verziehen, Winkelhansel!« rief der Greis Fleidl zu mit einer Stimme, die für das Alter des Blinden erstaunlich kraftvoll war. »Nur weiter wöll'n wir, rasch weiter! Damit wir bald ins Land des guten Königs kommen. Wer weiß, sonst derlebt's am End' mancher unter uns gar nöt mehr, daß er ins gelobte Land einigeht und zu den Altären Gottes des Höchsten, da man ihm dient, wie's unser Glaube gebietet.«
In achtungsvoller Stille hatten die Auswanderer alle auf die Worte des Alten gehört, und in diese Stille klang aus dem sargartigen Verschlage eines Wagens, der neben dem Eggerschen hielt, eine dünne, zittrige Greisinstimme: »Ja, Ihr lieben Leut', verzieht nöt! Eilt! Gönnt mir's Platzel zum Sterben, daß Ihr mi als Christenmensch begraben könnt und halt nöt wie 'n Stück Vieh verscharren müßt!«
»Horch, die alt Mutter Schnellrieder!« flüsterten die Nächststehenden einander zu, und vor jedem stand das rührende Bild der Greisin, die sie alle während des wochenlangen Zuges mehrfach auf dem Stroh ihres Wagens hatten liegen sehen, wie sie sich in der Qual, die die Fahrt in dem federlosen Wagen ihrem siechen Körper bereitete, Stärkung aus ihrem Neuen Testament gewann, das sie unablässig in ihren welken Händen hielt mit der Simeons-Gewißheit, sie werde den Tod nicht sehen, sie hätte denn zuvor das Land erreicht, wo ihre Kinder sie christlich bestatten könnten.
»Verzieht's nöt, Leute! Eilt!« hörte man sie noch einmal leise aus dem Schachte ihres Wagengehäuses rufen.
Da reckte sich Fleidl aus seiner gebückten Haltung auf und rief mit der ganzen gebietenden Stärke, der seine Stimme in solchen Augenblicken innern Aufschwunges fähig war: »Wir ziehen weiter, Leut'! Die Stimmen der Alten sollen uns wie Gottes Stimme sein. In zwei Stunden werden wir das Land betreten, das unsre neue Heimat werden soll. Also, verzieht's nöt länger und macht Euch in Gott's Namen auf den Weg!«
Laute Beifallrufe ertönten nun wiederum, und in die Menge kam die Geschäftigkeit eines aufgerührten Ameisenhaufens. – – –
Fleidl hatte sich, nachdem ihm der Beamte schnell noch den kürzesten Weg über die Grenze nach dem großen Bauernorte Michelsdorf beschrieben hatte, das Zugband seines Karrens wieder über die Schultern gelegt und strebte nun mit ihm in nordöstlicher Richtung aus dem Städtchen hinaus, das, in Sonne gebadet, am Fuße seines Schloßberges hinter dem Auswandererschwarme bald wieder still und verträumt liegen blieb.
Hinter Fleidl aber begannen ein paar Stimmen erst leise, dann immer lauter den Emigrantengesang des frommen Scheitberger anzustimmen, der allmählich zu einer Art Ankündigung- und Abschiedsgesang für diese Zillertaler Exulanten geworden war; denn sie pflegten ihn regelmäßig beim Betreten und Verlassen ihrer Rastorte anzustimmen.
In ergreifenden, schwermütigen, gleichmäßigen Klängen, die sich rhythmisch zu einer Art Marschweise zusammenfügten, erscholl nun aus hundert frischen und rauhen Kehlen die hundert Jahre alte Salzburger Weise:
»I bin a armer Exulant,
A so tu i mi schreiba,
Ma tuet mi aus 'm Vaterland
Um Gottes Wort vertreiba.
Das weiß i wohl, Herr Jesu Christ,
Es is Dir au so ganga.
Itzt will i Dein Nachfolger sein.
Herr, mach's nach Dein'm Verlanga!«
* * *
Um dieselbe Stunde, in der Fleidls Zug auf dem sonnendurchwärmten Marktplatze von Schatzlar rastete, zog Heim mit seiner Schar durch das stattliche Michelsdorf dem winkenden Kirchturme zu, der ihn mit seinem spitzen Dache stark an die heimischen Tiroler Türme erinnerte.
Der alte Heim schritt an der Spitze des Zuges trotz der Wärme rüstig voran, seinen großen Regenschirm unterm Arm, mit seinem langen, weißen Barte recht wie ein Patriarch ausschauend.
Mit ganz anderen Gefühlen als Fleidl überschritt er die preußische Grenze. Ihm bedeutete das nicht ein Aufatmen aus dunkel bestandenem Drucke, sondern ihm legte sich's nun erst so recht mit der Bürde einer schweren Verantwortung auf die Brust, daß er in diese Auswanderung gestimmt und sie schließlich noch gefördert hatte.
Je näher sie nämlich auf ihrer Wanderung dem preußischen Gebiete gekommen waren, desto mehr war dem scharfsichtigen Alten der Unterschied zwischen den Tiroler Lebensverhältnissen und Menschen und diesem neuen Daseinskreise bewußt geworden.
Und da stieg dieselbe heiße Angst in ihm auf, die er an jenem Abende im Buchwalder Schlosse in Fleidls Brust entzündet hatte.
»Sie werden sich nimmermehr hier daheim fühlen!« dachte er, und dabei warf er einen schnellen Blick hinter sich auf die vorwärts hastende und keuchende Schar, die in einem ganz ähnlich bunten Gewimmel in Michelsdorf einzog, wie die Fleidls in Schatzlar.
Auch in ihrer Mitte knarrten ein knappes Dutzend Wagen mit dem notwendigsten Hausrat und den Greisen und Gebresthaften langsam die steinige Straße aufwärts.
Auf dem Kutscherbocke des vordersten, der sein eigener war, sah der Alte seinen Ignatz sitzen, die beiden starken Gäule mit lässiger Hand lenkend, in ein eifriges Gespräch mit der schwarzhaarigen Sara Bagg vertieft, die neben ihm auf dem schmalen Brette saß.
Und dieser Anblick dämpfte die Unlust in des alten Mannes Brust doch sehr wohltuend.
Ja, in dieser Sache war ihm doch alles sehr nach Wunsch gegangen: die drei Wanderwochen hatten seinem Ignatz diesen kleinen schwarzhaarigen Dickkopf von Sara offenbar viel näher gebracht, als alles jahrelange Werben vorher.
Es war aber auch sehr nobel von Fleidl, daß er sich offenbar absichtlich von diesem ersten Auswanderertrupp fernhielt! Wie sehr er auch durch sein sonstiges Verhalten die Sara von sich abgeschreckt hatte, ahnte der alte Heim nicht recht, obwohl er damals bei der Heimkehr Zeuge der verstimmenden Begegnung gewesen war. Und so konnte er auch nicht auf den Gedanken kommen, daß ihr so günstig verändertes Verhalten seinem Ignatz gegenüber aus einem hitzigen Trotze über Fleidls kühl-abweisendes Benehmen entsprang.
Denn darin täuschte sich der Alte nicht: Sara sperrte sich nicht mehr so offensichtlich gegen die Bewerbungen seines Sohnes.
Der hatte sich natürlich von der ersten Stunde des gemeinsamen Wanderzuges an unablässig bemüht, in ihrer Nähe und an ihrer Seite zu bleiben.
Wie alle andern jüngeren Frauen und Mädchen des Trupps zog Sara einen schweren Karren hinter sich her; denn ihr Vater Kajetan gehörte nicht zu den wohlhabenden Gliedern des Zuges, die ihre Habseligkeiten auf einem Wagen mit sich führen konnten. Auch er hatte sich vor einen schweren, hochbeladenen Karren spannen müssen und war schon glücklich darüber, daß sein schwächliches Weib mit dem erst dreijährigen Söhnchen Johannes auf Heims Wagen einen Platz gefunden hatten.
Das Bübchen mit den hellen Haaren, das so keck in die Welt blickte, wie es eben einem echten Tirolerbübchen ansteht, saß meist auf dem hinteren Schubdeckel des ungefügen Kastenwagens und sang und sang unablässig wie eine Lerche mit einer Stimme von solcher Kraft und solchem Metallklange, daß sie auch das ärgste Wagengepolter übertönte.
Ignatz wußte wohl, wie sehr die Sara-Schwester diesen so viel jüngeren Buben liebte; deshalb hätschelte er fleißig an ihm herum, steckte ihm auch allerhand Leckerbissen zu, die er unterwegs ergattern konnte, oder saftige Birnen und Äpfel, die der langgewachsene Mensch von Straßen- und Gartenbäumen im Vorüberfahren herunterlangte.
Aber der kleine Hans wollte nichts von dem langen Ignatz wissen, so gut ihm auch die Äpfel und Birnen mundeten.
»'s ist kein gut's Zeichen, daß Di der Hansel nöt mag!« sagte eines Tages die Sara zu Ignatz mit einem politischen Lächeln. »Denn der Hansel ist wie unser Waldl: er riecht's den Leuten an, ob's gute Leute sein oder nöt. Und der Waldl fahrt Dir ja auch in die Bein', wann i ihm nöt Ruhe gebiet'.«
Ignatz Heim versuchte, zu diesem ›Ankratz‹ zu lächeln. Aber sein nicht übel geformtes, frisches Bauerngesicht geriet dabei in ein so erzwungenes Grinsen, daß es erheblich an gewinnendem Ausdruck verlor. In die wasserhellen, sonst meist recht leeren Augen trat dabei ein unverkennbarer Zug von Gehässigkeit und Gewalttätigkeit, daß das Sara Bagg abstieß.
Weil er aber nicht abließ, sich ihr und den Ihrigen gefällig zu zeigen, wo er konnte, und weil ihre schwächliche Mutter und ihr kleiner Hätschelhans gar so gut auf dem Heimschen Wagen untergebracht waren, zwang sie sich immer aufs neue wieder zu einem kühl-freundlichen Entgegenkommen.
Da – es war einige Tage vor der Überschreitung der Grenze! – schien das Glück dem ergrimmten Ignatz endlich lächeln zu wollen: Sara Bagg vertrat sich den Fuß auf einem besonders steinigen Pfade, und wenn der Schaden auch unerheblich war, konnte sie doch nicht mehr mit weiter wandern.
Die Heims boten ihr sogleich einen Platz auf ihrem Wagen an, den sie vorher schon mehrfach abgelehnt hatte, und so kam es, daß sie nun schon den zweiten Tag neben Ignatz auf dem Kutscherbocke saß, an Stelle des alten Heim, der nun zu Fuß weiter wanderte.
Den Karren, den Sara bisher hinter sich hergezogen hatte, hing man hinten an Heims Gefährt. Um dafür aber die Pferde zu entlasten, ging die Mutter Bagg jetzt neben ihrem Manne Kajetan zu Fuß daher, alle Schwäche heldenhaft überwindend.
So erlangte Ignatz ein ihm köstlich dünkendes Alleinsein mit Sara: denn der kleine Hans, der hinten im Wagen sang und jubilierte, störte ihn nicht, sondern beschwingte eher durch sein Liedgeschmetter die gehobene Stimmung Ignatz Heims. Und da das Raffeln des Wagens die Worte für die nebenher gehenden Fluchtgenossen ganz unverständlich machte, konnte nun Ignatz ohne Scheu seine Werbung bei Sara anbringen.
Sie konnte ihm ja nun auch nicht entlaufen.
Es war ein schweres Stück Arbeit für den großen Burschen, diese Werbung, und andrerseits doch auch gar zu verlockend. Denn die Sara erschien ihm wahrlich zum Anbeißen mit ihrem runden Vogelköpfchen, das die dicken, schwarzen Flechten glänzend umschlangen, mit den schwarzen, glänzenden Augen, den blutfrischen Lippen, den runden Armen und der blühenden Brust.
Der Wunsch, das alles endlich sein zu wissen, überwog nun alle Unschlüssigkeit, und so begann denn Ignatz Heim, als sich sein Wagen Michelsdorf näherte, die so lange schon geplante Werbung.
Lange wand er sich mit halbdunklen Worten, um die Hauptsache herum, bis er's endlich hastig herausstieß, er könne ohne die Sara nicht leben und sei auch nur ihr zuliebe mit ausgewandert. Sonst hätten ihn keine zehn Pferde aus dem Zillertal herausgebracht.
Sara Bagg hatte ja das alles schon lange kommen sehen, und seit Fleidl ihr so ablehnend begegnet war, hatte sie sich auch trotzig entschlossen, den langen Ignatz zu erhören.
Äußerlich war er ja auch eine viel verlockendere Partie als der angejahrte Pantoffelmacher: jünger, stattlicher und wohlhabender.
Aber freilich, wenn man auf Verstand und Gemüt sah, dann reichte er trotz seiner Länge Fleidl nicht bis zum Gürtel.
Und Sara Bagg war so gebaut, daß sie auf Verstand und Gemüt sehen mußte, obwohl sie so keck in die Welt hineinblickte und ein so spitzes Zünglein führte.
Deshalb stemmte sich ihr innerlich immer wieder ein unbekanntes Etwas entgegen, wenn sie Ignatz ermutigen wollte. Und dies Etwas faßte auch jetzt wieder mit unsichtbaren Händen nach ihr und hielt sie zurück von dem Pfade, den sie an Ignatz Heims Seite zu wandeln doch eigentlich entschlossen war.
»Weißt', Ignatz«, sagte sie mit heiserer, leiser Stimme, »laß mi noch Zeit! I bin noch nöt so ganz im reinen mit mi. I hab' Di ja gern, weißt', aber mit 'm Heiraten, das hat ja noch Zeit! So alt bist ja auch noch nöt. Und dann – wir müssen doch halt erst mal schaun, wie's uns gehen und g'fallen wird in der neuen Heimat, die keiner von uns nöt kennt, keiner, als Dein Vater und – die anderen beiden, die mit ihm dort gewesen sein.«
Ignatz Heim, obwohl er nur ein grobsinniger Naturbursche war, spürte doch, daß es dem Mädchen nicht zuließ, jetzt Fleidls Namen auszusprechen, und auch einen Hauch der starken inneren Auflehnung gegen seine Werbung spürte er, die das begehrenswerte Geschöpf an seiner Seite beherrschte. Und er würde gewiß grob herausgeplatzt sein, daß er nicht Lust verspüre, sich länger an der Nase herumführen zu lassen, wenn ihm Sara nicht gerade in dieser ihrer Zurückhaltung doppelt begehrenswert erschienen wäre. Und weil er fürchtete, sie durch rauhes Zufahren ganz zu verlieren, bezwang er sich und sagte nur kurz und mit halb abgewürgter Stimme: »Na gut also! Warten wir's halt in Gott's Namen ab, bis D' di ganz b'sonnen hast. Lang g'nu hat's freili scho g'währt!«
Und ärgerlich schlug er auf die Rösser ein, daß diese plötzlich anzogen und durch einen gewaltsamen Ruck am Wagen fast den kleinen Hans zum Fallen gebracht hätten, der gewohnheitsmäßig auf dem Hintern Schubbrette des Wagens balancierte und schmetternd sang.
»Hansel!« schrie Sara entsetzt auf. »Fall mi nöt!« Und Ignatz mußte sich einen recht unwilligen Blick für sein hastiges Pferdeantreiben gefallen lassen.
Von diesem bittersüßen Ausgange der Werbung seines Sohnes ahnte der alte Heim freilich nichts, als er sich voll Befriedigung über das nahe Beisammensein der beiden nach ihnen auf der Michelsdorfer Straße umdrehte.
Und es trugen sich nun bald auch Dinge zu, die nicht nur seine, sondern auch seines Ignatz' Gedanken vom Werben und Freien stark ablenkten.
Die Dorfstraße, die schon eine geraume Strecke zwischen stattlichen Gehöften hingeführt hatte, erweiterte sich nun ein wenig platzartig und gab nach rechts hin den Blick auf die Kirche frei, deren Turm dem alten Heim schon lange als Wegweiser gedient hatte.
Vor ihrem Portal sah er den würdigen und vornehmen Herrn Landrat, der den Zug an der Grenze von dem österreichischen Kommissär übernommen hatte und ihm dann vorausgefahren war, sich von einem andern würdigen, älteren Herrn verabschieden, seinem Wagen zuschreiten und bald darauf freundlich grüßend an sich und dem ganzen Zuge vorüberfahren. Der andere würdige Herr aber kam langsam den Auswanderern entgegen, und nachdem er die Vordersten eine kleine Weile prüfend mit blinzelnden Augen betrachtet hatte, schritt er kurz entschlossen auf den alten Heim zu.
»Gott zum Gruße, mein lieber Mann!« sagte er mit klangvoller Stimme. »Willkommen in Preußen und unter Glaubensbrüdern! Ich bin der Pastor dieser Gemeinde und heiße Bellmann.«
Da dachte der bibelfeste Heim: »Welch ein Gruß ist das!«
Er machte sich nun mit dem Pastor bekannt, in seiner ruhigen Weise, die gar nichts vom bittstellerischen Vertriebenen, sondern eher etwas Selbstverständlich-Herrenmäßiges an sich hatte.
Der Pastor aber, ein beweglicher Mann von erquicklicher Frische, sagte zu Heim und dem Kreise von Tirolerfrauen und -männern, die sich schnell um ihn gerundet hatte: »Ihr seid hier im ersten preußischen Dorfe, meine lieben Glaubensgenossen. Da lassen wir Euch nicht so schnell weiterziehen. Wenn's sein müßte, würdet Ihr ja heut auch noch Schmiedeberg erreichen können. Aber das könnte doch erst spät am Abend geschehen. Und man erwartet Euch heute auch noch nicht dort, wie ich eben von dem Herrn Landrat hörte. Ihr seid schneller vorwärts gekommen, als man gedacht hat. Also laßt Euch zureden und schenkt uns Michelsdorfern diesen Tag und diese Nacht. Für Herberge soll wohl gesorgt sein. Und am späten Nachmittag lasse ich unsere Glocken zu einem Willkommen-Gottesdienste läuten, an dem sich auch die Schäflein meiner geistlichen Herde mit Euch zusammen erbauen sollen. Bis dahin wollen wir Euch alle in gute Obhut bringen.«
Heim sah sich fragend im Kreise um.
Da begegnete er nur zustimmenden Mienen, und bald wurden auch zustimmende Rufe laut.
»Also bleiben wir halt in Gott's Namen!« sagte er gelassen.
Und Pastor Bellmann fügte glücklich-zufrieden hinzu: »Das freut mich von Herzen, Ihr Lieben!«
Dann ging er an Heims Seite von Gehöft zu Gehöft, von den Gliedern seiner Gemeinde überall samt denen, die er ›zur Einquartierung‹ brachte, herzlich willkommen geheißen. – – – –
Ein knappes Stündchen vor Beginn des Nachmittaggottesdienstes, den Pastor Bellmann zum Empfang der Zillertaler angesetzt hatte, schritt er auf der gewebten Fußdecke seines Studierzimmers hin und her, seine Ansprache überdenkend.
Die Bücherregale, die rings die Wände tapezierten, waren für ein ländliches Pfarrhaus ungewöhnlich stattlich. Und wenn ein Kenner ihren Bestand durchforschte, erstaunte er über die wissenschaftliche Erlesenheit dieser pastörlichen Bücherei.
In seinem besinnlichen Hin- und Herschreiten wurde er plötzlich durch ein leises Klopfen unterbrochen, und auf sein freundliches »Herein!« nötigte die Frau Pastorin Johannes Fleidl ins Zimmer.
Er war eben stark erhitzt mit seinem Zuge angelangt und hatte gehört, daß der Heimsche Trupp tatsächlich – wie er vermutet hatte – in Michelsdorf seine Nachtrast halten werde.
Nun kam er mit der Anfrage, ob seine Schutzbefohlenen wohl auch noch Unterkunft finden könnten.
Als Pastor Bellmann ihre große Zahl vernahm, stutzte er einen Augenblick voll Bedenklichkeit, ob's wohl möglich sein werde, so vielen Leuten im Handumdrehen Herberge zu verschaffen.
Aber schnell wich die Besorgnis dem festen Entschlusse, auf alle Fälle Rat schaffen zu wollen.
»Auch Ihr sollt ein Obdach bei uns finden!« sagte er und betrachtete dabei mit sichtlichem Wohlgefallen Fleidl, der ihm so offen und mit dem Ausdruck ungekünstelter Dankbarkeit ins Auge sah.
So sehr die Zeit drängte, hatte der Geistliche doch das Bedürfnis, mit diesem Führer der Exulanten ein vertrauliches Wort zu wechseln.
So nötigte er Fleidl zum Niedersitzen, und bald waren die beiden Männer in ein angeregtes Gespräch über die Vorgeschichte dieser Auswanderung und über ihren Verlauf vertieft.
Mit Erstaunen merkte der wissenschaftlich durchgebildete Pastor, wie klar und bestimmt sich dieser einfache, bäurische Mann nicht nur über die äußeren Geschehnisse dieser wunderlichen Nachzuckung mittelalterlicher Glaubensverfolgungen auszulassen, sondern auch die inneren Antriebe und Ursachen dieser religiös-politischen Angelegenheit aufzudecken wußte.
Am wohltuendsten aber berührte den wahrhaft frommen Geistlichen, daß der Exulant so von jeder Märtyrerpose frei war und keinerlei süßliche Sektierermanier an sich trug, sondern von den Leiden dieser Verfolgung als von etwas sprach, was man als selbstverständliches Opfer für seinen Glauben auf sich zu nehmen habe.
Bellmann gewann sofort die Überzeugung, dieser schlichte und dabei offensichtlich ungemein intelligente Mann handle unter dem Antriebe jener allgewaltigen Macht, die durch das Bewußtsein des Sichberufenfühlens alle wahrhaft gottgesandten Volksführer zu ihren unsterblichen Taten befähigt hat.
»Ja, lieber Mann«, faßte der Pastor den Eindruck alles dessen zusammen, »an Euch und Euren Brüdern bewährt sich recht das Gotteswort: ›Laß Dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig‹.«
»Es scheint so, Herr Pastor!« stimmte Fleidl zu. »Wenn i so denk', mit welchem Bangen wir daheim im Zillertal abzogen sind! Und was man uns alles Schlimmes prophezeit hat! Nöt die Hälft' von uns werd' bis ins Preußische kommen, hat's g'heißen, und nöt ein Einziger ist umkommen bis jetzt. Im Gegenteil: ein paar von unsern Frauen müssen nur immer beten, daß ihre schwere Stund' nöt vor der Ankunft in Schmiedeberg kommen mög', weil's gar so viel unbequem für sie wär', unterwegs ihr Wochenbett aufzuschlagen. Am End' aber kommen wir gar auf diese Weis' in größerer Zahl an, als wir ausg'ruckt sein. I für mein Teil hätt' gar nix darwider, wenn mancher wieder umkehren möcht'. Denn es sind auch üble Leut mitzogen, die alles andre, nur nöt der Geist Gottes dazu antrieben hat, schlecht Volk, dem's daheim im Zillertal unkommod' worden ist. Gott geb', daß die bald 's Heimweh am Kragen fassen möcht'!«
»Und die andern?« fragte Pastor Bellmann. »Werden sie vor ihm sicher sein, vorm Heimweh nach ihren schönen Heimatbergen?«
Fleidls frisches Gesicht umdüsterte sich.
»I fürcht' halt: nein, Herr Pastor!« sagte er leiser nach einer kurzen Pause. »I fürcht' halt, es wird sie leider arg fassen und z'sammenbeuteln. Und dann –? Wer weiß –?«
Er zuckte ratlos mit den Schultern.
»Nun – « tröstete beruhigend der Pastor – »alle Eure Sorge werfet auf Ihn! Er sorget für Euch!«
Damit stand er auf; denn es war nun hohe Zeit, für die Unterkunft des zweiten Trupps zu sorgen.
Das nahm aber doch trotz aller freudigen Bereitwilligkeit der Michelsdorfer – an der es selbst katholische Besitzer nicht fehlen ließen – mehr Zeit in Anspruch, als der Pastor gedacht hätte. Und so schob sich der Beginn des Begrüßungsgottesdienstes noch um eine Stunde hinaus.
Deshalb durchdämmerte schon ein leises Halbdunkel den hohen Kirchenraum, als der Pastor an der Spitze der Auswanderer in feierlichem Zuge in ihn eintrat, Fleidl und den alten Heim rechts und links an der Hand führend.
Mit großen, feuchtschimmernden Augen schauten sich die fremden Männer und Frauen in dem hellgetünchten Kirchenschiffe um, in das von oben herab unter den Händen des kunstbegabten Kantors die Orgel ihnen ein brausendes »Willkommen« entgegentönte.
Es war für viele unter den Vertriebenen ein geradezu überwältigendes Gefühl, sich nun in einem evangelischen Gotteshause so mit Freuden und ehrenvoll begrüßt zu sehen. Und auch der Umstand konnte dies Hochgefühl nicht wesentlich herabdrücken, daß die allermeisten unter ihnen noch gar keine klare Erkenntnis von der Eigenart der Lehre besaßen, die an dieser Stätte verkündet wurde, trotzdem sie um ihretwillen Haus und Hof verlassen hatten und Vaterland und Heimat.
Der Pastor hatte Anweisung gegeben, daß die vorderen Bänke des Kirchenschiffes für die Exulanten freigelassen werden sollten. So saßen sie nun nebeneinander, alle, die die weite Reise gemeinsam durchlitten hatten, und fühlten sich, als das erste fremdartige Empfinden überwunden war, je länger, je mehr wie in einem guten, sicheren Schutze geborgen.
Bei den Frauen löste dies herzerwärmende Gefühl ein leises, mildes Weinen aus. Die starken, großen Männer aber blickten sich mit blitzenden, kühnen Augen an, gleichsam, als wollten sie sagen: »Dies köstliche Gut wollen wir mit aller Macht verteidigen, wie wir's uns mit aller Macht errungen haben.«
Die meisten sahen dann ein wenig hilflos in die dickleibigen Gesangbücher, die ihnen geschäftig von den weiter hinten sitzenden Gemeindegliedern zugesteckt wurden: sie konnten ja leider nicht lesen!
Die aber, die diese schwarze Kunst verstanden, sangen bald eifrig mit, und die Michelsdorfer erstaunten über die klaren, hellen Stimmen der Tiroler.
Geradezu Aufsehen erregte der kleine Hansel Bagg, der schon nach den ersten Versen die fremde Choralmelodie völlig beherrschte, und nun die Töne wie eine Lerche in den Kirchenraum hineinschmetterte, trotzdem er kein Wort des Textes kannte.
Seine blasse, verweinte Mutter, die mit dem stillen Vater Kajetan, ihrer Tochter Sara und dem Jungen in einer Kirchenbank saß, wollte ihn zum Schweigen nötigen, aber die Tochter legte bittend ihre Hand auf die der Mutter. Und so überließ diese den Jungen seinem Naturtriebe.
Sein glockenhelles Stimmchen zog auch die Blicke Johann Fleidls, der neben Vater Heim in der vordersten Reihe saß, nach der Bank der Familie Bagg, und so kam's, daß sich die Blicke des ernsten Mannes und des frischen, schwarzhaarigen Mädchens in dem fremden Kirchenraum begegneten.
Erst war's, als wollten die beiden Menschen scheu aneinander vorübersehen. Dann aber hafteten die Augen wie gebannt aneinander, ein, zwei Sekunden lang, als zögen sie sich gegenseitig magnetisch an, und in die Blicke trat es wie ein aufatmendes »Gott sei Dank, daß ich Dich wiedersehe!« Bis Fleidl das Bewußtsein kam, er habe kein Recht mehr, sich dessen zu freuen, weil er ja auf dies köstlich-frische Geschöpf feierlich und ausdrücklich verzichtet habe, zugunsten des langen, luhrigen Patrons, der da auf der nächsten Bank hinter dem Mädchen saß und es mit seinen begehrlichen Blicken wie mit Argusaugen bewachte.
Fleidl hatte das Gefühl, der lange Ignatz wollte ihn mit seinen Blicken aus Saras Nähe verscheuchen, wie man Raubvögel von köstlichen Früchten scheucht, und er mußte denken: »Ums reine Lutherwort sitzt der Ignatz nöt da herein in der protestantischen Kirchen. Wär' die Sara katholisch, säß' der ebenso gern in einem Papistentempel!« Und das Herz des »Führers« dieser Glaubensflüchtlinge zog sich in wehem Krampf zusammen, weil es sich genötigt sah, sein Glück dem Glauben zu opfern.
Pastor Bellmann war unterdessen vor den Altar getreten und begrüßte nun nach Gebet und Segenspruch die Vertriebenen in einer warmherzigen, schlichten Ansprache.
Zum ersten Male hörten da diese Tiroler Bauern aus Priestermunde und von geweihter Stätte her sich »Märtyrer« nennen. Zum ersten Male hörten sie preisen, was von nun an noch oft, ja vielleicht zu oft und manchmal in gefahrbringend überschwenglicher Weise vor ihren Ohren gerühmt wurde: ihre Opferfreudigkeit um des Glaubens willen. Zum ersten Male sahen sie, die bisher nur unterdrückt und getreten worden waren, weil sie dem anhängen wollten, was ihnen Vater, Mutter und Freunde als wahres Heil der Seelen gepriesen hatten, zum ersten Male sahen sie sich um dieses Ausharrens willen mit Ehren bedacht, die man sonst so schlichten Leuten schwerlich darbrachte, zumal im fremden Lande.
Als Vorbilder im Ausharren und in der Treue gegen das, was sie als Wahrheit erkannt hätten, hörten sie sich da den ehrenwerten und wohlbegüterten Gliedern der Gemeinde dieses blühenden Ortes dargestellt von dem würdigen Pfarrherrn, dessen milde Art so wohltuend abstach von dem verbissenen Fanatismus der Herren im Chorrock, die ihnen daheim in Tirol nicht sanfte Hirten, sondern harte Häscher gewesen waren.
Und da zog in den Herzen vieler unter den fremden Zuhörern Pastor Bellmanns ein ganz neuartiges Gefühl ein: das Gefühl eines stolzen Gehobenseins und einer schweren Verantwortlichkeit den Leuten dieses ihres neuen Heimatlandes gegenüber. Und die, die bisher nur in einem halb dunklen Beharrlichkeitsdrange an ihrer ›Väterlehre‹ festgehalten oder in einer Art bäurischer Verbissenheit widerstrebt hatten, von dem zu lassen, was ihnen verwehrt sein sollte, sie ahnten's plötzlich, daß sie doch noch in viel tiefer wurzelnder Art mit dieser Lehre verwachsen müßten, wenn sie diesen Fremden wirklich so Hohes bedeuten sollten, als was sie sich nun gepriesen hörten.
Und so paarte sich alsbald bei den Besten unter diesen Zufluchtsuchenden mit jenem stolzen Gehobensein eine demütige Bangigkeit, wie man so hoher Aufgaben Herr werden solle.
Fleidl, Koland, Rahm, der starke Brugger, Adam Egger und noch ein halbes Dutzend der Männer und Frauen, die bisher schon immer Halt und Hilfe für die andern bedeutet hatten, lenkten Pastor Bellmanns Worte auf solche Gefühlsbahnen, und auch der alte Heim seufzte an Fleidls Seite einmal leise und bangsam vor sich hin: »Es wird wohl schwer sein!«
Er streifte dabei mit einem flüchtigen Blicke über die Köpfe der weiter hinten sitzenden Landsleute hin, von denen er recht gut wußte, wie wenige von ihnen zunächst noch solchen Glaubensstreitern entsprachen, deren Bild da eben vor ihr inneres Auge hingezeichnet wurde.
Und der Alte sah da nicht zu schwarz.
Es waren gewiß eine Menge Leute unter den Vertriebenen, denen es vor allem galt, ›das Kleinod des Glaubens‹ (so drückten sie sich selbst aus) zu retten. Und auf sie wirkte diese Stunde vertiefend, wie auf die Führer.
Sie hatten bisher kaum eine andere Stütze für ihre Glaubensfestigkeit und keinen andern Quell gehabt, aus dem sie sich in dieser Festigkeit immer wieder stärkten und erlabten, als das Bibelwort. Und so machte sich's ganz naturgemäß, daß sich ihnen das Ergebnis dieser ersten evangelischen Erbauungsstunde im neuen Zufluchtlande mit den Worten eines Bibelspruchs auf die Lippen drängte. Und der besonderen Eigenart dieser stillen Leutchen unter dem sonst manchmal so lauten Trosse entsprach auch die Art dieses Spruches.
»Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben Deinen Heiland gesehen!« flüsterte die todsieche alte Schnellriederin, die ihre Angehörigen auf einer Tragbahre herzugebracht und im hinteren Teile des Kirchenganges niedergestellt hatten.
»Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhöfen des Herrn!« sagte der Greis Jakob Egger leise vor sich hin, mit dem inneren Auge schauend, was wirklich zu betrachten, ihm seine Blindheit verwehrte.
»Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest, da sie Junge hecken, nämlich Deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott!«, so bewegten sich die Gedanken der Maria Rahm, Matthias Rahms blasser Tochter, im Ideengange desselben Psalms. Sie kam sich selbst seit dem Abschied vom Zillertal wie eine verflogene Taube vor und fühlte sich auf dem ganzen Zuge vom grimmigsten Heimweh durchfiebert. Nun hoffte sie auf dessen Stillung am Altar Gottes, an dem sie sich bisher nie heimisch fühlen durfte.
Nicht weit von ihr saß in einer Bankecke ein dürftiges Männchen mit einem auffallend kleinen Kopfe und einer langen, scharfrückigen Nase, die an einen Vogelschnabel erinnerte. Aber das Männchen blickte mit ein paar so großen, ernsten Augen an dieser Nase vorüber, daß diese dadurch keineswegs einen komischen Eindruck hervorrief. Und obwohl das Männchen sich unter diesen reckenhaften Bergsöhnen im ganzen ein wenig verkümmert-zwergenhaft ausnahm, sahen doch die Umsitzenden vielfach mit Achtung und Teilnahme zu ihm hin; denn sie wußten, daß dieser Andreas Egger, ein jüngerer Vetter des blinden Jakob, im Zillertal sein Weib und seine acht Kinder zurückgelassen hatte um des Glaubens willen, weil das Weib, die Schwester des streng katholischen Küsters von Mayrhofen, nicht von ihrem ›papistischen Bekenntnis‹ lassen, und weil er die Kinder nicht von ihrer Mutter losreißen wollte.
Stumm war er auf dem ganzen Wege unter den andern hingeschritten, mit seinen Gedanken immer daheim unter seinen Blond- und Schwarzköpfen und bei der rührigen Frau, mit der er sonst in Frieden und Eintracht gelebt hatte, und bei seinem schönen Almhofe, den er in so gutem Stande hielt.
Nun erlebte er etwas von dem, wofür er Familie und Heimstätte und Vaterland drangesetzt hatte, in dem dunklen Drange nach tieferer, innerer Befriedigung! Mit seinen großen Augen sog er sich förmlich an dem Altar fest, an dem man ihn so herzlich willkommen hieß, und durch seine weit erschlossene Seele tönte es mahnend: »Wer die Hand an den Pflug legt und sieht hinter sich, der ist mein nicht wert!«
So dachten die Stillen!
Viele Leute aber saßen da mit nüchtern-alltäglichen Gedanken, selbst in dieser Weihestunde nicht losfindend von den Sorgen um des Lebens Notdurft und Nahrung.
Und mancher, den rein weltliche, ja geschäftsmäßige Beweggründe aus dem Zillertal vertrieben hatten, sann nach, wie er wohl nun hier im neuen Lande auf seine Rechnung kommen werde.
Und mancher, dessen Herz ein Tummelplatz durcheinander wogender Begierden war, besaß nicht die feste, zügelnde Hand für sich selber, mit der Johannes Fleidl seinen Gedanken eine Richtung gab, die dem Ernst und der Würde von Ort und Stunde entsprach.
Ignatz Heim besaß diese feste Hand nicht und wollte sie auch nicht besitzen. Lüstern schlichen seine unsauberen Gedanken um Sara Baggs zierlich-dralles Persönchen, wie er so hinter ihr saß, ihren runden Nacken und ihre vollen Arme in dem prallsitzenden Mieder so nahe vor seinen begehrlichen Augen.
Er hatte wohl den schnellen Blickwechsel zwischen ihr und Fleidl vorhin bemerkt, und nun fraß der immer rege Verdacht wieder mit Heftigkeit an ihm, der ›knickebeinige Schuster‹ könne ihm schließlich doch noch in die Quere kommen. Ein wütendes Bedauern, daß er doch nicht lieber den Vater zur Auswanderung in die Steiermark veranlaßt habe, kochte in ihm auf, nun er Fleidl wieder vor Augen hatte.
Gewiß war dieses unerwartete Einholen ihres Zuges durch den Fleidls nur das Werk des Pantoffelmachers, der's nicht erwarten konnte, wieder in Sara Baggs Nähe zu kommen.
Da galt's, aufzupassen und auf der Hut zu sein!
Wie hätte bei solchem Sturm im Innern bei Ignatz Andachtsstimmung aufkommen können?!
Auch Marie Schieftl war weit von ihr entfernt.
Denn auch sie hatte Fleidl von ihrem Platze aus scharfäugig beobachtet, und auch ihr war das Aufleuchten in seinen Augen nicht entgangen, als er die schwarzhaarige Sara sitzen sah.
Auf der ganzen Reise hatte die Kundige die stille Hoffnung beherrscht, der lange Ignatz werde sich unterwegs dranhalten, um endlich den Verspruch der ›hochmütigen Habenichtsin‹ zu erlangen, um den er sich schon so lange bemühte. Deshalb hatte sie sich auch gleich unter den Eingeholten vorsichtig nach den beiden erkundigt.
Da erfuhr sie wohl, daß sie auf der Reise immer zusammengesteckt hätten, und daß der Ignatz immer wie ein verliebter Tauber um die Sara herumgestelzt und -gegurrt habe, zuletzt habe er sie sogar mit ihrem verknaxten Fuße auf seinen Wagen bekommen; aber weiter wußte niemand etwas zu berichten, von einem Verspruch der beiden jedenfalls kein Wort.
Und da geriet Marie Schieftl in einen ähnlichen Wutzustand wie der lange Ignatz, sehr zum Schaden ihrer Andachtstimmung beim ersten evangelischen Gottesdienste im neuem Heimatlande. –
Ehe Fleidl die Kirche verließ, trat Pastor Bellmann an ihn heran und sagte: »Wenn Ihr sonst keine dringende Abhaltung habt, braver Mann, so eßt mit mir zusammen allein in meiner Klause ein Butterbrot zu Abend. Ich würde Euch gern noch ein Stündchen über Euer Geschick erzählen hören, und wie Euch der Herr auf so wunderbare Weise in diese meine Gemeinde und in unser Gotteshaus geführt hat.«
Fleidl sagte dankbar zu, und so kam es in der ›Klause‹ des gelehrten Pastors bis spät in die Nacht hinein zu einer Unterhaltung, die weder er noch der ungelehrte Tiroler Bauer bis an ihr Lebensende vergessen konnten, weil sie dabei die Entdeckung machten, die dem geistig hochstehenden Menschen so selten blüht: sich eins zu fühlen mit einer gleichgestimmten Seele im Streben nach innerer Größe und Vollendung.
* * *
In dieser Nacht schlug das herrliche Herbstwetter plötzlich um, und als die nun vereinigten beiden ersten Züge der Zillertaler am andern Morgen aufbrachen, goß der Regen in Strömen herab, und es herrschte im Michelsdorfer Bergtale eine recht empfindliche Kälte.
Zwar spannten die Tiroler nun männiglich ihre mächtigen Regenschirme auf, aber der heftige Wind, der ihnen vom ›Passe‹ her entgegenblies, vereitelte den Schutz durch die trefflichen Regendächer.
Es war eine echte, rechte Bergstraße, die sie da zogen, wohl geeignet, sie heimatlich anzumuten.
Zwischen zwei immer mehr sich verengenden, steilen und dicht bewaldeten Bergrücken wand sich der steinige Weg immer tiefer in ein schmales Engtal hinein, zu einem Straßenscheitel ansteigend, der im Volksmund ›das Ausgespann‹ hieß, weil bis zu ihm von beiden Talseiten her die Wagen Vorspann nahmen.
Auch die Gespanne der Zillertaler mußten sich diesen Dienst gegenseitig leisten, und das brachte mit sich, daß Sara Bagg auf der Paßhöhe lange unter ihrem Regenschirme auf dem abgeschirrten Gefährt harren mußte, bis Ignatz dem Wagen Schieftls Vorspann geleistet hatte.
Pudelnaß und in keineswegs glänzender Laune setzte er sich dann wieder auf das Kutscherbrett neben Sara, die ebenfalls in recht gedrückter Stimmung und vor Frost klappernd stumm auf dem schmalen Sitze hockte, obendrein von Schmerzen in ihrem stark angeschwollenen Fuße arg gepeinigt. Selbst der Frohsinn ihres Hanselbruders, der unter einer regendichten Plane im hintern Teil des Wagens kauerte und trotz seiner unbequemen Lage wieder wie eine Lerche sang, konnte ihren Mut nicht aufheitern.
Er glich an Düsternis den grau-schwarzen Nebeln, die mit bleierner Schwere an den Flanken der Berge hingen, jeden Blick zur Höhe erstickend.
Grau und gedrückt, gleich diesem Nebel, war auch bei den andern Emigranten die Stimmung, besonders bei denen, die, bis auf die Haut durchnäßt, mit ihren schweren Karren den Weg heraufstöhnten und trotz der Kälte in Schweiß gebadet waren, so daß sie bei jeder kurzen Rast von dem scharfen Winde doppelt bissig angefallen wurden.
Nur Fleidl ließ sich durch das unwirsche Wetter nicht anfechten. Auch hinderte ihn der schwere Karren nicht, mit Bartholomäus Heim, der neben ihm unter seinem Regendache ohne Gepäck bergwärts strebte, eifrig die Lage der Einwanderer zu besprechen.
Die schöne Abendstunde bei Pastor Bellmann wirkte noch bei ihm nach, Kraft und Zuversicht spendend. Und auch der alte Heim war froheren Mutes, als auf dem ganzen bisherigen Marsche.
Der feierliche Gottesdienst gestern, die offensichtliche Herzlichkeit, mit der sie in der neuen Heimat begrüßt und aufgenommen wurden, die schätzbare Anerkennung, mit der der ehrwürdige Geistliche vom Glaubensmut der Vertriebenen gesprochen hatte: das alles erfüllte den Alten mit froheren Hoffnungen auf die Zukunft.
Und außerdem – obwohl er sich's nicht geradezu eingestehen mochte – tat es ihm doch sehr wohl, daß er Fleidl sich nun wieder zur Seite wußte.
Es hatte doch auf dem wochenlangen Zuge Augenblicke und Sachlagen gegeben, in denen der Alte manchmal ratlos gewesen war, in denen ihm die frischere Tatkraft und die schnellentschlossene Art des Jüngeren gefehlt hatten. Nun diente es ihm zur Beruhigung, über beides verfügen zu können, wenn's wieder not tun sollte.
Schade nur, daß die Sache mit seinem Ignatz immer noch nicht ganz ›im Lot‹ war!
Leider noch gar nicht recht! Wie er gestern aus dem Mißmutigen herausgefragt hatte, der es unter dem Eindruck frisch erfahrener Sprödigkeit Saras nicht an Vorwürfen fehlen ließ, daß der Vater nicht doch lieber jede Verbindung mit Fleidl gelöst und seinen Anhang in die Steiermark geführt habe. Denn er fürchtete, wenn erst wieder der schieche Pantoffelmacher um die Sara herschleiche, werde sie am Ende gar noch andern Sinnes werden.
Da hatte sich's der Alte mit Gewalt verbeißen müssen, daß er nicht erwiderte: »Schlimm g'nug, daß ein junger Bursch wie Du sich von einem so viel älteren Manne bei sein'm Dirndl ausstechen läßt!« – – –
Langsam sammelte sich auf der Höhe vom ›Ausgespann‹ Wagen zu Wagen, während die Fußgängerscharen an ihnen in langer Reihe vorüber- und der Schmiedeberger Talseite zustrebten.
Fleidl und Heim waren allmählich ziemlich an die Spitze des Zuges gelangt.
Nach einiger Zeit kamen die Wanderer an einem rauchenden Kalkofen vorüber, und dann standen sie plötzlich an dem steilen Abfalle der Straße zum Schmiedeberger Tale hin.
Die Wolkenwand wich jetzt allmählich dem scharfen Winde. In Fetzen zerrissen, zerflatterte sie an den höchsten Waldhängen des Gebirges, das nun in einer Reihe gewaltiger Kuppen, Dome und Spitzen sich in langer Flucht nach links hin auftürmte, gar nicht so sehr fern vom Standort der Zillertaler von der Pyramide der Schneekoppe königlich überragt.
Gerade in der Richtung auf sie hin buchtete sich unmittelbar zu Füßen der erstaunten Einwanderer ein grüner, langrunder Talkessel tief zwischen die Wälder der Bergwälle ein. Eine Handvoll kleiner, freundlicher Häuschen lagen über seinen Mattengrund ausgestreut und weckten durch ihren Anblick in den Wanderern den Wunsch, so ähnlich möchte ihre neue Heimat beschaffen sein.
Fleidl aber lenkte ihre Aufmerksamkeit vom Hochgebirgswall und von diesem Waldidyll ab auf die lange Straßenzeile, die wenige Meter unterhalb ihrer Raststelle mit ein paar armseligen Häuschen ansetzte und sich wohl eine Stunde weit in das Tal hinausstreckte, das auf der linken Seite das Hochgebirge begrenzte, auf den anderen Seiten aber niedrige Waldrücken traulich umhegten und so zu einer kleinen Welt für sich absonderten.
»Das ist Schmiedeberg, Ihr lieben Leut'!« sagte Fleidl, auf die so wunderlich dorfartig gestaltete Stadt drunten deutend. »Da sollen wir zunächst Schutz und Zuflucht finden. Wir sind am Ziel! Gott sei ewig Lob und Dank!«
Mit einer Stimme sagte er das, durch die eine nur mühsam zurückgedämmte Rührung zitterte und die Auslösung einer langen, langen krampfhaften Spannung.
Er nahm den spitzen Filzhut vom Kopf, faltete die harten Hände um dessen breite, steife Krempe und sprach ein stummes Dankgebet in sich hinein.
Die Männer um ihn her, voran der alte Heim, folgten seinem Beispiel, und die Frauen neigten ihren Kopf auf die Brust herab, über der sie die Hände gefaltet hatten. Und so wurde es einen Augenblick ganz still auf der windbestrichenen Paßhöhe, bis ein leises Schluchzen der Frauen und Mädchen des Wandertrupps deutlicher verriet, wie tief doch das Gemüt dieser Menschen durchrüttelt war, die hier oben gleichsam an der Schwelle eines neuen Lebens standen und nicht wissen konnten, was ihnen dies neue Leben an Freud' oder Kreuz bescheren oder aufladen werde.
* * *
Das Schmiedeberger Orts-Komitee hatte inzwischen Zeiten fieberhafter Vorbereitungsarbeit durchlebt.
Vor allem die Gräfin Reden als Präsidentin dieses Komitees.
Es war doch keine geringe Aufgabe, in dem kleinen Städtchen von knapp dreitausend Seelen für mehr als vierhundert Fremde Unterkunft zu beschaffen, und zwar auf Monate hinaus.
Ohne die weitreichenden Verbindungen der Gräfin wäre das auch kaum gelungen. Aber die kluge und rührige Frau lenkte die Personen, deren Beistand sie brauchte, an mancherlei verborgenen Fäden.
Tag für Tag stieg die zierliche alte Dame in ihrem schwarzen, einfachen und doch so vornehm wirkenden Gewande in den dunklen Giebelhäusern der langen Stadtstraße treppauf und treppab, um die Gemächer zu besichtigen, die die willigen Bürger zur Wohnung für die vertriebenen Tiroler angeboten hatten. Und sie heimste dabei in schnell angeknüpfter Unterhaltung mit den Bürgerfrauen manch wertvolle Bereicherung ihrer Menschenkenntnis ein.
Noch war man in Schmiedeberg in diesen Zeiten eines recht schwerfälligen Postverkehrs, der noch nichts vom elektrischen Fernmelder wußte, ganz im unklaren, wann der Zug der Vertriebenen wohl eintreffen könnte. Aber die Gräfin war an dem sonnigen Nachmittage, an dem die Zillertaler in Michelsdorf einzogen, wie alle die Tage vorher mit ihren Isabellen zu einer Besprechung mit dem Bürgermeister Flügel ins Städtchen gefahren und saß nun samt dem würdigen Stadtoberhaupte und Hauptmann a. D. in dessen kleiner Schreibstube auf dem Rathause bei einer eifrigen Verhandlung mit dem ›alten Gebauer‹, einem reichen und ordenssüchtigen Fabrikanten, über die Unterbringung von etwa zwanzig Emigranten, für die sich bisher noch keine Wohnung gefunden hatte.
»Ja, Herr Kommerzienrat!« sagte sie, ein wenig schelmisch die Ratlose spielend, während sie ihn durch ihre langgestielte Lorgnette forschend betrachtete, »wo stecken wir bloß diesen ansehnlichen Rest der guten Leutchen hin? Es sind meist Ledige, Männlein und Weiblein. Wenn man nur so was wie ein größeres Wohnhaus oder etwa einen leerstehenden Fabrikraum oder so was Ähnliches zur Verfügung hätte, dann könnte man so eine Art Kloster mit lauter kleinen Zellen zurechtmachen und hätte dann einen trefflichen Käfig für die verflogenen Vögel da zur Zuflucht.«
Im Gesicht des Bürgermeisters zuckte es einmal wie von mühsam verhaltener Heiterkeit auf. Der Kommerzienrat aber schlug sich, nachdem er einen Augenblick die zierliche Barockgestalt der Gräfin mit einem leicht verdutzten Blick gestreift hatte, gutlaunig mit seinen starken Händen auf seine Knie, die er beim Sitzen ziemlich selbstbewußt weit gespreizt hielt. Er konnte eben trotz seiner Kommerzienratwürde den ehemaligen Bleichereiarbeiter noch nicht ganz verleugnen.
So lachte er denn auch jetzt ziemlich unverblümt und schallend heraus: »Guck da, Exzellenz! Schaut's da raus? Keine Sorge, ich rieche den Braten schon: meine leerstehende Schürzenfabrik soll da als neumod'sches Kloster herhalten. Nicht wahr?«
»Offengestanden: ja, Herr Kommerzienrat!« erwiderte die Gräfin, ebenfalls lachend. Sie stieß sich nicht an die Formlosigkeit Gebauers. Hatte sie doch so ihren Zweck erreicht. »Ich dachte tatsächlich an Ihre leerstehende Schürzenfabrik. Aber der Herr Bürgermeister meinte, Sie würden sie schwerlich einräumen wollen. Und deshalb scheute er sich – «
»Hätt's Ihnen auch abgeschlagen, Herr Bürgermeister!« wandte sich der alte Gebauer an Flügel, der lachend hervorstieß: »Das konnte ich mir denken!«
»Man muß nämlich nicht zu allem ›ja‹ sagen, Exzellenz«, fuhr Gebauer ruhig fort, »was die hohe Obrigkeit fordert. Sonst reißt's ins Ganze. Aber jetzt sind besondere Zeiten, und –«
»Gewiß, Herr Kommerzienrat!« fiel ihm die Gräfin rasch in die Rede. »Und wir brauchen die Räume ja auch zu ganz besonderem Zwecke, der dem Könige stark am Herzen liegt. Er wird sicher nicht säumen, sich dankbar und gnädig zu erweisen, wenn hier alles nach seinem Sinne geschlichtet wird, Herr Kommerzienrat.«
Sie sah dabei den Alten so eigenartig schelmisch durch ihre Lorgnette an, daß den Bürgermeister wieder eine innerliche Heiterkeit durchschüttelte; denn er erkannte wohl den geschickten Angriff auf die Ordenslüsternheit Gebauers.
Der biß auch prompt auf den Köder an.
»Ich denke auch, daß sich Seine Majestät erkenntlich zeigen werden, wenn wir uns hier für das fremde Völklein die Beine halb ausreißen«, sagte er, behutsamer als sonst nach Worten suchend. »Besonders wenn Exzellenz ihm genauer auseinandersetzen, was hier zu dem Zweck geschieht. Und – na ja – meine Schürzenfabrik, die ja leider Gottes eben leersteht, die machen Sie nur in Gott's Namen zum Kloster, wie Sie's vorhaben! Ha ha – zum Kloster für diese Männlein und Weiblein!«
Der alte Schäker, der manches gesehen und erlebt hatte, von dem der Gräfin ihr Leben nie eine Ahnung hatte geben können, wollte sich fast ausschütten vor zynischem Vergnügen.
»Das ist aber liebenswürdig, Herr Kommerzienrat, sehr liebenswürdig!« rief die Gräfin erfreut, und von Gebauers Art gänzlich unberührt bleibend. »Ich werde gewiß nicht versäumen, dem Könige Ihr großes Entgegenkommen ins rechte Licht zu rücken. Nein – wehren Sie nicht ab, Herr Kommerzienrat! Das ist nur recht und billig! Und herzlichen Dank schon vorweg, Herr Kommerzienrat!«
Der alte Gebauer war nun Wachs in der Hand der klugen Frau und sagte noch alles mögliche zu, was zur Ausstattung der Fabrikräume notwendig war. Und so trefflich verstand's die Gräfin, ihm das alles abzuknapsen, daß der stark Gerupfte das Bürgermeisterstübchen obendrein recht befriedigt verließ.
Der Bürgermeister lachte leise, aber aufs höchste amüsiert hinter ihm her.
»Den haben Exzellenz fein eingewickelt!« sagte er, als draußen der behäbige, stapfende Schritt des Fabrikanten verklungen war.
»So, meinen Sie, Herr Bürgermeister?« fragte die Gräfin und lachte leise mit: »Ja, in diesen Dingen muß man ein wenig jesuitisch denken. Sie wissen schon: der Zweck heiligt die Mittel. Denn von der Anschauung bin ich längst geheilt, daß die Menschen im allgemeinen geneigt seien, etwas Gutes um des Guten willen zu tun, wenn nicht doch ein kleines Profitchen irgend welcher Art zugleich mit heraushängt.«
Noch ehe der Bürgermeister dem zustimmen konnte, klopfte es, und der eintretende Ratsbote meldete einen Kurier des Landeshuter Landrats.
»Des Landeshuter Landrats?« fragte Flügel verwundert-hastig. »Sollten sie etwa gar schon –?«
Er sprang rasch auf und eilte hinaus, dem Kurier seine Nachricht abzunehmen. Und nach wenigen Minuten kehrte er stark erregt mit dem geöffneten Schreiben zurück, in dem mitgeteilt wurde, daß am nächsten Nachmittage die ersten Züge der Zillertaler zu erwarten seien.
»Mein Gott, so bald schon?« rief die Gräfin nicht ohne Bangigkeit; denn ihrem ordentlichen Frauensinne schien alles, so viel auch geschafft war, noch weit entfernt von vollkommener Zurüstung für den Empfang der Flüchtlinge. Der Bürgermeister aber suchte zu trösten. Es werde sich alles von selbst schichten, und außerdem käme ja auch zunächst nur ein Bruchteil der Aufzunehmenden an, und einem allmählichen Ansturme werde sich schon begegnen lassen. Hoffen und wünschen aber wolle er, daß sich die Gräfin morgen zum Empfange und zur ersten Unterbringung der Fremden einfinden möchte.
Das versprach sie gern und hielt auch Wort.
Gleich nach dem Mittagbrot fuhr sie mit den Isabellen an der Freitreppe des Rathauses vor, wo sie der Bürgermeister mit der Nachricht empfing, der Kommerzienrat habe über Nacht schier Wunderbares geleistet. Die Schürzenfabrik sei im Handumdrehen in der gewünschten Weise umgewandelt worden.
Ins Rathaus eintretend, fand die Gräfin den geräumigen Flur des Erdgeschosses und die breite Treppe voll Menschen: es waren die Hauswirte und ihre Frauen, die sich bereit erklärt hatten, Zillertaler aufzunehmen, und die nun gekommen waren, die für sie bestimmten Familien abzuholen.
Eben begrüßte die Gräfin die ihr meist bekannten Gesichter mit freundlichem Nicken. Da eilte ein Polizeidiener, den der Bürgermeister zur Ausschau nach den Emigranten in die Oberstadt entsandt hatte, atemlos herbei und rief: »Sie kommen, Her Burgemeester!«
Als die Gräfin nun auf die Plattform der Freitreppe hinaustrat, stahl sich wieder einer der spärlichen Sonnenblicke dieses trüben Tages durch das schwerwogende Gewölk, und der lichte Schein, den er auf dem nassen Straßenpflaster aufglänzen ließ, glitt vor Fleidls Füßen her, der an der Spitze des Zuges neben dem alten Heim sich langsam den Rathausstufen näherte.
Auf dem mäßig großen Platze vor dem Rathause hatte sich eine große Menge von Gaffern zusammengeballt, und aus allen Fenstern der gegenüberliegenden Marktseite steckten Leute ihre Köpfe heraus, als nahe sich ein Schützenfestzug.
Aber es war doch eine andere, eine fast feierlich ernste Stimmung, mit der man dem bunten Gewoge dieser fremdartigen Gestalten entgegen sah, von denen man wußte, daß sie engherzige Unduldsamkeit um des Glaubens willen von Hof und Haus und Herd vertrieben habe.
Nur halblaut geflüsterte Bemerkungen über die reckenhaften Gestalten der Fremden, über ihre wunderlich bunte Tracht, besonders über die hohen, spitzen, schwarzen Filzhüte der Männer und Frauen liefen die Reihen entlang und wurden von den Zillertalern aufgefangen, bei ihnen so recht das Gefühl weckend, wie fremd sie doch eigentlich in diesem Lande und Orte seien, die zunächst nun für sie Unterkunft und Heimat bedeuten sollten.
Mit unverkennbarer Befangenheit sahen sie sich deshalb schier hilflos rund um, blickten an der Front des hübschen Rathauses empor, dessen Barockgiebel ein paar zierliche Vasenaufsätze einen anheimelnden Schmuck gaben, ließen die suchenden Augen dann an der Häuserfront entlang tasten, wo so viele neugierige Blicke sich auf die Fremdlinge hefteten, und fühlten sich in der Enge des engumbauten Platzes, auf dem gar nichts von der lichten, grünen Bergfreiheit zu spüren war, die sich doch unmittelbar hinter diesen Fronten und Dächern weitete, beklemmt und beengt bis zum qualvollen Aufschreien.
Teils im Drange dieses beängstigenden Gefühls, teils dem mechanischen Drucke folgend, den die von obenher nachschiebende Menge der Fußgänger, Karren und Wagen verursachte, knäulte sich die Emigrantenschar vor den Rathausstufen um Fleidl und Heim zusammen, auch in ihnen jenes bedrückende Gefühl erweckend.
Wie hilfesuchend sahen sich deshalb die starken Männer rund um.
Da fiel ihr Blick auf die freundlich zu ihnen herabnickende Gräfin, deren lichte Stirnlöckchen unter der schwarzen Witwenschaube hell hervorleuchteten.
Und da erschien die zierliche Gestalt der alten Frau trotz ihres schwarzen Gewandes Fleidl so recht wie die eines trost- und hilfreichen Engels.
»Das ist die viel guete Frau Gräfin,« rief er, sich zu den ihn Umdrängenden wendend, »die uns so guet bei sich in ihrem schönen G'schloß aufg'nommen hat, die dürft Ihr getrost ›Muetter‹ g'nennen. Denn die meint's ganz wie 'ne gute Muetter zu uns.«
Es war das rechte Wort, was da der schlichte Mann in dem unbeirrbar sicheren Tastsinne seines guten Herzens und im Gefühl der Verantwortlichkeit für diese schutzsuchende Schar gefunden hatte. Mit diesem Worte erschloß er den zagen Herzen und Gemütern eine Zufluchtstätte, wie sie sie gerade in diesem Augenblicke notwendig hatten.
Eine ›Muetter‹ sollten sie in der feinen alten Frau da finden, der alle Leute um sie her mit so offenbarer Hochachtung und Ehrfurcht begegneten?!
In ihr, die eine vornehme Gräfin war, die selbst der gute Preußenkönig vor Fleidls Ohren seine ›Freundin‹ genannt hatte?!
Stand die nicht in ihrem ganzen Wesen so hoch über ihnen, den armen Vertriebenen, wie jetzt rein äußerlich da auf der hohen Freitreppe?!
O nein, das wohl nicht!
Dazu strahlte das heitere Greisinnenantlitz doch zu viel Güte aus, und in ihren hellen Augen lag so viel warmherziges Mitleid mit der wudelnden Menge zu ihren Füßen, daß es in dem ganzen Schwarme, der Fleidls Worte gehört und auch begriffen hatte, nur ganz wenige gab, die nicht in diesem Augenblick gefühlt hätten, da droben stünde wirklich ihrer aller Mutter.
Der Bürgermeister stieg jetzt die Stufen hinab, reichte Fleidl und Heim leutselig die Hand und teilte ihnen mit, daß alles so weit zu ihrer Aufnahme bereit sei. Sie möchten nur unter ihren Hausvätern verbreiten, daß sich alle in den Saal hinauf begeben sollten, um dort zu erfahren, wem sie mit ihren Familien zugeteilt seien.
Ein plötzlich mit großer Gewalt losbrechender Platzregen verscheuchte die Gräfin und alle um sie her sich drängelnden Schmiedeberger ins Rathaus hinein, die Gaffer aber von der Straße fort. Nur die armen Zillertaler wußten nicht recht, wohin sie sich retten sollten. Ein Teil drängte in den Flur des Rathauses nach, andre suchten und fanden Zuflucht in den nächsten Häusern der Marktzeile. Und so standen bald darauf die Handkarren verlassen auf der Straße, vertrauensvoll und ohne Besorgnis von ihren Besitzern fremden Eingriffen preisgegeben, neben den Gespannen, deren Lenker und Insassen unter ihren großen Regenschirmen frierend verdrießlich hocken bleiben mußten.
Im Rathaus entwickelte sich nun ein beängstigendes Gewühl; denn die Zuteilung in die Wohnungen vollzog sich nur langsam, weil eine Verständigung zwischen den Tirolern und ihren schlesischen Wirten nicht immer leicht war. Es gab ja unter den Fremden eine ganze Anzahl, die sich überhaupt nicht anders als in ihrem Tiroler Dialekte äußern konnten, von dem der alte Stadtsekretär und seine beiden Schreibergehilfen, die die Listen führten, nicht eine Silbe verstanden. Und selbst die Zillertaler, die hochdeutsch sprechen konnten, taten das mit einer so stark mundartlichen Färbung, daß sie nur schwer verständlich wurden.
Ganz ratlos starrte immer und immer wieder der alte Sekretär die fremden Leute durch seine große Hornbrille an, wenn sie ihn gar nicht begreifen wollten. Und wenn nicht der Herr Bürgermeister und Ihre Exzellenz, die Frau Ex-Ministerin, in so achtunggebietender Nähe gesessen hätten, würde er gewiß in den urpreußischen Ton seiner Korporaljahre verfallen sein, der bei den Schmiedebergern, die amtlich mit ihm zu tun hatten, ein wenig gefürchtet war.
»Gott bewahre, was für schwerfällige Bauernklötze sind das!« wetterte er nach Beendigung der langwierigen Verteilung auf seiner Kanzlei. »Die reinen Knoten sind's! Glotzen einen an, als ob man spanisch sprechen tät! Und schreiben und eine Unterschrift leisten, ja, das können ja die wenigsten von den turmhohen Lacheln. Gott bewahr' mich, was für 'n Volk haben wir uns da aufgehalst!«
Sehr viel günstiger war das Urteil seines Vorgesetzten und der Gräfin über dieses ›Volk‹.
Hatte schon der prachtvolle Wuchs der Männer und Frauen das Wohlgefallen der Gräfin erweckt, so gewannen nun die schlichten Leute durch ihren gutartigen Gesichtsausdruck und durch ihre treuherzigen Blicke sogleich die Neigung der Menschenkennerin, die gelernt hatte, auch zusammengesetzteren Naturen, als diese einfachen Naturmenschen es waren, unter die siebente Haut zu sehen.
Sie fand auch gleich den rechten Ton zu den kurzen Gesprächen, die sie mit Einzelnen anknüpfte, während sie sich bei ihnen nach etwaigen besonderen, dringlichen Wünschen und Bedürfnissen erkundigte, die sie sich sogleich in ihr gesticktes Taschenbüchelchen notierte.
Jeder und jede von den Zillertalern wurde von der Gräfin mit kräftigem Händedruck entlassen und mit der ausdrücklichen Aufforderung, sich bei ihr Rat und Hilfe zu holen, wenn sie dessen bedürfen sollten.
»Die Muetter! Die Muetter!«
Das war das Wort, das den im Vorsaal und auf der Treppe harrenden Schmiedebergern aus dem Munde der an ihnen vorübergehenden Zillertaler immer wieder ins Ohr schallte. Verwundert fragten sie sich gegenseitig, was das bedeuten solle, bis ihnen einer, der aus dem Saale kam und dort den Verkehr der Gräfin mit den Fremden beobachtet hatte, Aufklärung gab.
»Ja, ja, die Frau Gräfin!« sagten da die guten Schmiedeberger und nickten einander verständnisvoll zu. »Die wird's schon machen! Die wird schon wie 'ne Mutter zu den Fremden sein.« –
Die längste Unterredung hatte die Gräfin mit Fleidl, den sie drängte, ihr kurz eine Übersicht zu geben über alles, was geschehen war, seit sie ihn in Buchwald beherbergte. Und über ihrem Zuhören, Fragen, Nicken und Zuwinken ging ihm das Herz so recht auf.
Als säße er seiner eignen Mutter gegenüber, die schon lange, lange tot war, erzählte er halblaut und in der gewissen Hast, die sich müht, alles, was das Gemüt bedrängt, schnell und mit einem Male los zu werden, von den Sorgen und Mühen des Aufbruchs und Zuges, von seiner Sehnsucht nach der neuen Heimat ohne Glaubenszwang, von den erquickenden und betrübenden Erfahrungen an den Wandergenossen und auch von der wundervollen Herzstärkung, die ihm der gestrige Tag und Abend, der erste auf preußischem Boden, beschert habe.
Nun fragte die Gräfin Fleidl auch, wie's um die Gebrechlichen und Kranken stehe.
Und da durchzuckte es ihn: »Sara! Leg ihr Sara ans Herz!«
»Liebe Mutter,« sagte er hastig, mit treffsicherem Gefühl als Erster die Anrede für die Exzellenzen-Gattin gebrauchend, die von nun an das Vorrecht, das auch gern und mit herzlicher Befriedigung gestattete, der Zillertaler wurde, »liebe Mutter, da gibt's manch Gebresten zu heilen. Da hockt zum Beispiel drauß' auf einem Wagen ein blutjung Ding, heißt Sara Bagg, die hat sich den Fuß verknaxt. Scheint mir aber ein lützel ärger z'sein, als sonst so 'ne Verknaxerei ausschaut. Wenn da die gute Frau Mutter mal zuschauen wollt –«
»Natürlich, mein lieber Fleidl, will ich das, sobald ich hier loskommen kann!« versicherte die Gräfin, und Fleidl ging nun, sein Quartier aufzusuchen, nachdem er noch versprochen hatte, sich am nächsten Tage zu einer Besprechung über allerhand Einzelheiten der ersten Einrichtung der Zillertaler in Buchwald einfinden zu wollen.
Als etwa eine halbe Stunde später alle Quartierzettel verteilt und alle Fremden untergebracht waren, bat die Gräfin den Bürgermeister, der sie zum Rathaus hinausbegleitete, sich nach Sara Bagg umzuschauen.
Auf sein Befragen führte man sie zu Heims Wagen hin, auf dessen Kutschersitze Sara neben Ignatz frierend und vor Schmerzen fiebernd unter ihrem triefenden Regendache saß.
Ignatz hatte ihr schon vor einer Stunde angeboten, er wolle sie in eins der nächsten Häuser führen, wo sie besser gegen den klatschenden Regen geschützt sei. Aber sie hatte kurz abgelehnt: sie wollte lieber warten, bis sie ganz an Ort und Stelle gebracht werden könnte, um nicht zweimal die argen Schmerzen leiden zu müssen, die ihr das Ab- und Aufsteigen verursachten.
Und so hatte sich Ignatz gefügt, halblaute Verwünschungen auf den Unfall, auf das Wetter, die Reise und überhaupt auf die ganze verwünschte Auswanderung hervorstoßend.
Sara schwieg zu dem allen.
Je länger sie so mit Ignatz allein war, und je öfter sie sein schlecht verstecktes Grundwesen in all seiner Roheit durchschimmern sah, desto mehr wuchs ihre geheime Abneigung gegen ihn. Sehnsüchtig wünschte sie die Minute herbei, die sie von seiner Wagen-Nachbarschaft befreien werde.
Ignatz hatte davon auch ein leises Empfinden, und dabei lebte in ihm eine zügellose Wut gegen Fleidl auf; denn ihm wollte es scheinen, daß die Sara erst wieder so arg schnippisch und abweisend gegen ihn geworden sei, als der ›schieche Pantoffelmacher‹ aufs neue auftauchte.
Das Mädchen gefiel der Gräfin auf den ersten Blick ausnehmend, und eben so ausnehmend mißfiel ihr Ignatz.
Teilnehmend fragte sie Sara nach ihrem Leiden und reichte ihr dabei die Hand.
»Kind, Du fieberst ja!« rief die Sachkundige, die die Ärzte des Tales unter sich recht bissig eine ›Kurpfuscherin‹ schalten. »Du mußt schleunigst unter Dach und Fach und ins Bett.«
Und wie in einem dunklen Empfinden, als tue sie Fleidl einen besonderen Dienst, wenn sie sich dieses Mädchens mütterlich annehme, sagte sie zum Bürgermeister: »Es wird am besten sein, ich nehme sie gleich mit mir nach Buchwald. Denn auf Kranke sind wir hier in der Stadt doch nicht eingerichtet. Ist das Dein Bruder, mein Kind?«
»Nein!« erwiderte Sara, an die die letzten Worte gerichtet waren, und setzte rasch hinzu, als müsse sie jeder andern naheliegenden Deutung schnell begegnen: »Er hat mi allweil auf sein'n Wagen g'nommen, weil i nöt weiter marschieren g'konnt hab'.«
»So ist's brav!« nickte die Gräfin Ignatz zu, der nicht recht wußte, was er aus der alten Frau mit ihrer Stielbrille machen sollte, mit der der Bürgermeister ein Aufhebens hatte, als wär's schon gar die Frau Königin selber.
Sara fügte sich ohne ein Wort der Widerrede in den Plan der Gräfin; denn ihr lag vor allem daran, aus Nässe und Kälte und aus der Gesellschaft des ihr heut nun einmal widerwärtigen Ignatz herauszukommen. Auch die schnell herbeigerufenen Eltern Saras gaben gern ihre Einwilligung zur vorübergehenden Trennung von ihrer Tochter, und so kam's, daß Sara Bagg in der nächsten Viertelstunde im weich gepolsterten und sorglich geschlossenen Kutschwagen mit Glasfenstern, zweimal so groß wie daheim im Zillertal die Stubenfenster gewesen waren, saß, vier Isabell-Pferde vorgespannt, wie sie sie noch niemals in ihrem Leben gesehen hatte, und die gute, mütterliche Dame neben sich, die die Leute mit einem so sonderbaren fremden Titel anredeten, wohl, weil sie die Freundin des guten Königs war.
Und weil bei diesem plötzlichen Wechsel vom schmalen, harten Kutscherbrett auf die weichen, tiefen Polster des gräflichen Kutschwagens das Mädchen obendrein vom Fieber durchglüht wurde, mußte ihm alles doppelt wunderbar erscheinen, und ihr war's, als entführe sie eine gütige Fee in Gestalt der lieben, alten Dame mit den hellen Ringellöckchen ins Märchenland, von dem man ihr in den Kindheitstagen erzählt hatte.
Dies Gefühl befestigte sich noch in ihr, als die Isabellen dann vor der breiten Freitreppe des Schlosses anhielten, der alte, würdige Kriegel der Gräfin und ihr selber voll schonender Sorgfalt aus dem Wagen half und auf der Plattform der Freitreppe Karoline von Riedesel in ihrer lichten Spitzenhaube Schwester und Gast aufs liebevollste begrüßte. Und es steigerte sich noch, als Sara in ein blütenweißes Bett gepackt wurde, nachdem die beiden alten Damen ihren kranken Fuß mit weichen, sachkundigen Händen lind behandelt hatten, als seien sie ein paar von den guten Nonnen daheim im Schwätzer Kloster der ›Barmherzigen Schwestern‹, die im Zillertal die Krankenpflege besorgten – und zwar nicht nur an den Katholischen.
Ja, Sara Bagg erschien's in dem weichen, warmen Bette, als schwebe sie auf himmlischen Federwolken.
Aber das Fieber, so lange zurückgedämmt, stieg nun rasch und überhauchte das liebliche Gesichtchen, an dem sich die beiden Schwestern gar nicht satt sehen konnten, mit seiner Unheil kündenden Röte.
Immer mehr verwirrten sich die Gedanken des jungen Geschöpfes, das sich so ganz seiner heimischen und gewohnten Umgebung entrückt fühlte. Unruhig tasteten die Hände der Fiebernden auf dem glatten Linnen des Deckbettes wie suchend umher. Und als die Gräfin verstehend die heiße, arbeitsharte Hand des Mädchens mit ihren weichen, kühlen Fingern umschloß, da hauchte die junge Zillertalerin ein paar Mal leise: »Muetter! Muetter!« Und ein glückliches Lächeln huschte über die fieberheißen Züge.
Aber auch über die Mienen der Gräfin glitt dieses glückliche Lächeln, und zu ihrer Unzertrennlichen gewendet, sagte sie leise: »So haben mich heut schon viele der lieben, vertriebenen Leutchen genannt!«
»Wie prachtvoll!« flüsterte Karoline von Riedesel und lächelte beglückt wie die Schwester.
* * *
Fleidl und der alte Heim hatten verabredet, eine möglichst große Zahl von Zillertaler-Familien noch an dem Einwanderungsabende zu besuchen, um zu erfahren, wie sie untergebracht seien, und um manchem den etwa gesunkenen Mut zu stärken.
»Denn es wird sie heut zur Nacht allweil stark z'sammenbeuteln!« sagte der Alte, und Fleidl fragte gar nicht erst, was er mit ›es‹ meinte: er wußte es ohnehin.
So ging denn jeder von ihnen eine der beiden langen Straßen hinauf, die den Eglitzfluß begleiten, der das alte Bergstädtchen mitten durchbraust.
Fleidl war eine Wohnung dicht unterhalb der katholischen Kirche angewiesen worden, im Hinterhause eines Gasthofes.
Er überließ es seiner Schwester, in den zwei engen Stuben, die ihnen zur Verfügung standen, dem mitgebrachten Hausrat, ihm, sich selbst und ihren drei Jungen ein Plätzchen zur Unterbringung auszuklügeln, und machte sich auf den Weg.
Der Platzregen, der die Flüchtlinge kurz vor dem Ziel noch einmal gründlich durchnäßt hatte, schien sich ausgetobt zu haben, und so übergoß der wetterwendische Einzugstag die Stadt und ihr Tal und den steilen Wall des rundum beide umhegenden Gebirges mit dem satten Sonnenglanze, der an solchen gewittrigen Tagen wie zu einer späten Entschädigung sein feuchtes Gold verstreut.
In den zahlreichen Pfützen, die sich zwischen dem nicht sehr ebenen Katzenkopfpflaster der Straße gesammelt hatten, leuchtete dieser Herbstgold-Sonnenglanz auf, wie in den raschen Wellen des Flusses, den Fleidl in seinem hochummauerten Bette talwärts schießen sah, wie auch auf dem hohen, nassen, dunkelroten Ziegeldache des schönen, altertümlichen Stiftsgebäudes im Barockstil, von dem Fleidl erfahren hatte, daß es als katholisches Pfarr- und Schulhaus diene.
An seiner pilastergeschmückten, wuchtigen Vorderfront ließ Fleidl seine Blicke hingleiten. Sie blieben dann jenseits eines schmalen Gäßchens an dem Zwiebeldache des katholischen Kirchturms haften, der sich schlank und rank aus seiner Friedhofsumhegung in den feuchtglänzenden Himmel streckte.
Fleidl trat in eins der kleinen Häuser an dem Kirchgäßchen ein, weil er wußte, daß dort Michael Koland mit seiner Familie hause.
Die Ehegatten saßen mitten unter ihrem Kram, der bunt durcheinander in dem kleinen, halbdunklen Stübchen verstreut lag, die Frau auf einem Bettballen. Sie trug noch den schwarzen, spitzen Filzhut auf dem Kopfe und schluchzte leise in ihre Schürze, während der Mann am Fenster saß, nervös mit den Fingern auf dem Fensterbrette klavierend.
»Na nu, Kolandin,« sagte Fleidl, sich in dem Wirrwarr der Stube umschauend, »allweil so trauri? Schau, was hast' denn Herzbrechendes derlebt?«
»Da fragst noch, Winkl-Hansel?« erwiderte die Frau, laut aufschluchzend. »Wenn D' das da anschaust? Dös enge Loch da? Da soll'n wir hausen, wir zwei Alten mit den beiden großen Kindern?!«
»Wo sind's denn, Eure Kinder?« forschte Fleidl zur Ablenkung.
»Ausschauen tun s', ob s' einen warmen Bissen z' essen finden«, antwortete die Frau. »Denn in dem schiechen G'rümpel von Ofen da kann i nöt kochen. Ach, Winkl-Hansel, wenn i allein bloß an mein'n Herd daheim in Burgstall g'denk', druckt's mir's Herz ab. Wann komm' i wieder zu so'nem Herd? Schau', mir ahnt scho: gar nöt mehr bis an mei Lebensend'.«
»Sorg', Weib, daß das 'n seliges wird! Das ist, mein i, allweil wichtiger als 'n Zillertaler Kochherd!« rief der Mann sanft-eindringlich vom Fenster her. »Und ums selige End' sind wir fort von Burgstall und von Dein'm Herd und von unserm blitzsaubern Hof.«
Er schluckte vernehmlich an den letzten Worten, und die Frau sah mit einem traurigen, verstehenden Blick zu ihm hin, erwiderte auch gar nichts, als ein halb in Tränen erstickendes: »Ein selig' End! Ja, wär' scho recht, wann wir das finden möchten, und wenn's fein nöt mehr gar lang bis dahin währen möcht'!«
Fleidl wußte nicht recht, was er den Leuten zum Troste sagen sollte, und atmete erleichtert auf, daß eben die beiden Kinder der Kolands die Treppe heraufgestapft kamen, der Sohn, ein junger Mensch gegen die Zwanzig, die Tochter, ein Mädchen, etwa zwei Jahre jünger, lebfrische, kerngesunde Bergkinder mit roten Wangen und blanken Augen.
Lachend schleppten sie einen großen Napf dampfender Suppe und einen Laib Brot herbei und erzählten, das habe man ihnen im Rathause verabfolgt, wo große Kessel solcher Suppe zur Verteilung an die Einwanderer für heute und morgen bereitgehalten würden, weil die Zillertalerinnen noch nicht selbst aufs Kochen eingerichtet seien. Es sei überhaupt lustig und unterhaltsam, so durch das langgezerrte Städtel zu streifen und mit den Hiesigen zu plauschen. Nur schade, daß man sie so arg schwer verstehen könnt'.
Ein schwacher Abglanz der unbekümmerten Fröhlichkeit der Jungen fiel nun auch auf die Alten, und als Fleidl hörte, daß die Mutter mit der Tochter erörterte, wie sie dann, wenn sie erst die schöne, warme Suppe gegessen hätten, sich daran machen wollten, ein lützel Ordnung zu schaffen in dem Krimskrams rundum, ging er voll Hoffnung, daß sich die Kolands wohl rasch in die neue Lage finden würden.
An der Tür des nächsten Hauses sah er die Margret Hauser aus Hollenzen stehn, die Hände unter die Schürze gesteckt und mit hellen Augen das Gäßchen abspähend.
»Nun, wie schaut's, Margret?« fragte er.
»Gut schaut's!« erwiderte die Frau lachend. »Nöt besser könnt's sein! Schon allein, daß wir die Pfaffenplag los sind!«
»Das hör' i gern!« erwiderte Fleidl und ging seines Wegs weiter.
»Ja«, dachte er, »wann alle so resolut wären wie die Margret Hauser, alsdann gäb's wohl kein Heimweh!«
Und er erinnerte sich an die entschlossene Art, wie diese Frau ihren etwas charakterschwachen Mann vor einem ›katholischen Sterben‹ bewahrt habe.
Als der brave Simon Hauser sein Ende nahe fühlte, hatte er plötzlich Sehnsucht nach einem Geistlichen, der ihn ›versehen‹ sollte. Es half auch keine Widerrede der Frau, und weil sie den Sterbenden nicht gar zu sehr aufregen wollte, schickte sie zu dem Geistlichen. Aber als der kam und ihr Simon wirklich Miene machte zu beichten, da warf sie sich entschlossen neben ihren Mann ins Bett und hielt ihm den Mund zu, bis dem Priester die Sache zu bunt wurde und er zornbebend zum Zimmer hinausschoß. –
Fleidl überquerte nun die Straße und auf einer altertümlichen Brücke den Eglitzfluß. Mitten auf einer ihrer niedrigen Bordwände erhob ein heiliger Nepomuk anklagend und schwörend seinen Arm gegen den abendlichen Himmel.
»Sieh da! Sieh da!« dachte Fleidl. »Also auch hier im protestantischen Preußenland gibt's den Brückenheiligen! Mi wundert's, daß die Lutherschen allweil so was leiden. Die Katholischen, wenn s' so in der Überzahl wären, mein i scho, litten's nöt!«
Jenseit der Brücke trat er wieder auf gut Glück in eins der niedrigen Häuser, von denen er wußte, daß sie allesamt mit Zillertalern belegt seien.
Es war die Familie Egger, die er hier fand.
In der hintersten Ecke des mäßig großen Zimmers, das ihr angewiesen war, kauerte der blinde Großvater auf einem der mitgebrachten Ballen und erzählte halblaut murmelnd seinem Enkel, der daheim im Zillertal sein ständiger Begleiter und Führer gewesen war, Geschichten aus seiner Vergangenheit.
Die beiden Unzertrennlichen ließen sich auch durch Fleidls Eintritt nicht sonderlich stören, obwohl die Unterhaltung im übrigen Teil der Stube bald recht lebhaft wurde.
Die Frau des jüngeren Egger, die Mutter des Blindenführers Peterle, fand Fleidl sehr geschäftig beim Einordnen ihrer Habseligkeiten. Aber er sah, daß ihr unablässig dicke Tränen über die Wangen liefen, »'s ist, weil sie sich gar so arg viel um die Walpurg sorgen tät'!« beantwortete ihr Mann den fragenden Blick Fleidls. »Man weiß halt doch allweil nöt, was aus dem Kind g'worden ist.«
»Verschleppt haben's die andern, die verwünschten!« rief die Frau aufschluchzend. »In ein Kloster werden s' das Maidli steck'n und 'ne Nonne aus ihm machen.«
»Alsdann, wenn das g'schehen täte, Frau, wer hätt' denn dann die Schuld dran? Niemand, als dein' Eltern, die in der Papsterei drin stecken bis über d' Ohren.«
»Warum sind wir aber auch fort aus d'm Tal, ehbevor wir's wiederg'funden hatten?« klagte die Frau.
»Das hast' nun allweil schon so oft g'schwätzt, daß mir's bis zum Hals aufisteht!« erwiderte der Mann unwirsch.
Deshalb gab sie kleinlaut zu: »Das scho! Aber i kann auch nöt anders sagen, als daß mir's Herz abdruckt, wann i denk', wir sind dahier so viel hundert Meilen fort von Hippach, und das Kind ist dort, wer weiß, in welchen Händen. Na, 's druckt mir eben ganz und gar 's Herz ab!«
Fleidl versuchte, der Frau gut zuzusprechen, und machte ihr Hoffnung, der nächste Zug der Zillertaler, bei dem sich Verwandte der Eggers befinden mußten, würde die Walpurga schon mitbringen. Aber er spürte, daß sein Trost nichts fruchtete, und so ging er bald wieder fort.
Der Mann gab ihm das Geleit bis zur Haustür.
»'s ist ein Kreuz mit ihr, Winkel-Hansel!« klagte er dort. »Ein Kreuz ist's, was die Frau z'sammenjammert, seit wir hier drin stecken in dem engen Loch. Unterwegs hat sie gar nöt so arg viel geklagt.«
»Das ist halt leicht zu verstehen, weißt'!« erwiderte Fleidl. »Unterwegs gab's so arg viel Neues z' schauen und z' denken, daß sie nöt recht zum Nachgrübeln über die Walpurg g'kommen ist. Laß ihr nur Zeit und hab G'duld mit ihr! Wenn s' erst dahier eing'richtet ist und für Euch all z' schaffen hat mit Kochen und Waschen und dem andern Kram, wird sie auch minder d' Gedanken auf der Walpurg hab'n. Und i glaub' doch, ihr bekommt sie bald wieder.«
»I glaub's nöt, Winkel-Hansel!« sagte Egger bedrückt. »I glaub's so weni wie die Frau. Gib acht, sie machen eine Klosterfrau aus der Walpurg! Die Alten stecken dahinter, und die wollen sich eine Stufen zum Paradies bauen, wenn sie das Maidli zur Nonne machen. Aber denk' nur ja nöt, daß mich's gereut, daß i mit Euch hier her bin! I bin scho froh, daß i aus dem kathol'schen Land außi bin. Gestern, in der Michelsdorfer Kirchen, da hab' i 's so recht verspürt, daß wir allesamt doch am rechten Fleckl sind. Wenn's auch bitter ist, daß wir nun so in engen Löchern hausen müssen, wo wir daheim so schöne, große Höf' stehen hatten, und daß wir hier um eine Unterständ' betteln müssen, wo wir daheim die Herren waren. Bitter ist's scho, wie's uns vergeht. Aber die Sach', um die wir's leiden, ist's scho wohl wert.«
Fleidl stimmte freudig zu und drückte Egger dankbar die Hand. Dann ging er weiter die Straße aufwärts, immer an dem rauschenden Flusse hin, bis er an einen viereckigen Platz kam, dessen hintere Seite ein hohes Kirchengebäude begrenzte.
Es kehrte dem Platze seine Giebelseite zu.
Mit schön geschwungenen Barocklinien grenzte sie sich von dem abendlichen Himmel ab. Hohe, schmale Fenster gliederten die Front in verschiedene Stockwerke. Die Mitte des untersten öffnete sich weit in einem gastlich einladenden Portal.
Fleidl erkannte wohl bald, daß der wuchtige Bau eine Kirche sei, obwohl er keinen Turm an ihm bemerkte. Ihn entdeckte er bei einem Rundgange um den Kirchenbau abseits stehend, in der Tiefe des Friedhofes, der an die Kirche stieß, die nach allem, was Fleidl bisher über die Ortsverhältnisse erkundet hatte, nur die evangelische sein konnte.
Dann mußten die beiden kleineren, immerhin aber auch noch stattlichen Gebäude ganz gleichen Stils, die die rechte Seite des Kirchplatzes besäumten, wohl die Pfarrhäuser und die beiden, ihnen gegenüberstehenden, im Stil ebenfalls ihnen und der Kirche gleichenden die Schulhäuser sein. Hohe, vierseitige, in der Mitte gebrochene Ziegeldächer verliehen ihnen allen ein so gleichartiges Gepräge und dem ganzen Platze dadurch eine solche künstlerische Geschlossenheit, daß dies sogar dem ungeschulten Blicke Fleidls nicht entging. Ihn, den Führer der Zillertaler, beschäftigten freilich beim Anblick dieser Gebäude religiöse Gedanken stärker als ästhetische Erwägungen; denn in dieser Kirche mußten sich nach aller Voraussicht ja in nächster Zeit Geschehnisse zutragen, die für ihn und seine Wandergenossen höchst bedeutsam waren. Und die Geistlichen, die dabei in hervorragender Weise mitzuwirken hatten, wohnten dort in den stattlichen Häusern mit den schönumrandeten Pforten.
Würden sie sich ihm und seinen Brüdern auch so willig öffnen, wie das schlichte Pfarrhaus drüben überm Passe, das ihm die gestrige unvergeßliche Abendstunde geschenkt hatte? –
In der nächsten Zillertaler-Herberge über dem Kirchplatze fand er Maria Schieftl allein beim Einräumen ihrer Habseligkeiten. Obgleich diese viel reichlicher waren, als bei den meisten andern Auswanderern, herrschte doch schon eine recht erfreuliche Ordnung in dem Raume, der für diese Fülle allerdings auch viel zu klein erschien.
Das Kleid an den vollen Armen hochgestreift und den dunklen Rock geschürzt, stand die stattliche Maid zwischen den Ballen, Kisten und Körben mit erhitztem Gesicht und hantierte mit den schweren Gepäckstücken wie ein Mann herum, während der alte Schieftl im Stall des Nachbarhauses seine ›Rössel‹ versorgte.
Beim Eintritt Fleidls färbten sich die Wangen der tatsamen Marie noch einige Töne röter: dies unverhoffte Alleinsein mit dem Begehrten beglückte sie.
Schnell machte sie einen der mitgebrachten, hübsch bemalten Holzschemel frei und lud Fleidl zum Niedersitzen ein.
Er tat's und erklärte, nach dem Vater fragend, weshalb er komme: er wolle sich doch mal umschauen, wie alle untergebracht seien, und wie's ihnen zu Mute wäre.
»O, viel gut ist mir z' Mut!« rief sie heiter.
Fleidl lobte sie ob dieser Heiterkeit und erzählte von dem Kleinmut der Frauen, die er vorher besucht hatte.
»Das ist damisch, schau, Hansel!« sagte sie, seinen Spitznamen absichtlich in dieser kosenden Weise verkürzend, und setzte sich, den Rock herabschürzend und die Ärmel herunterstreifend, auf einen Schemel neben ihn, so daß er ihr voll ins Gesicht sehen mußte. Und wie sie sich so stark gegen die Lehne des Stuhles zurückneigte, kamen ihre fast übervollen Formen in einer Weise zur Geltung, wie sie der Bauer liebt.
Fleidl war aber viel zu sehr innerlich beschäftigt durch alles das, was dieser Einzugstag auf sein Gemüt legte, um von diesem Anblick mehr als äußerlich berührt zu werden. Von Berückung konnte bei ihm keine Rede sein.
Die kluge Marie spürte das auch bald, und so wechselte sie schnell auf das Gebiet hinüber, wo sie hoffen durfte, ihn sicher fesseln zu können.
Vom Gottesdienste gestern in Michelsdorf sprach sie, und daß »so was« schon eine tüchtige Mühsal wert sei, wie sie sie nun mit ihrer wochenlangen Reise hinter sich hätten. Und das entschädige auch für ein so dürftiges Unterkommen, wie sie's nun hier fänden.
Fleidl nickte zustimmend.
Er höre das gern, sagte er, und er beklage nur, daß solche Freudigkeit ums Evangelium doch vielen fehle, die mitgewandert seien und die Hand nicht an den Pflug legen wollten, sondern hinter sich schauten. Die hätten freilich lieber daheim im Zillertal und in dem Schoß der Kirche bleiben sollen, die sich die ›allein seligmachende‹ nenne. Sie würden ja aber auch hier nicht lange in solcher Enge zu bleiben brauchen, der gute König und die gute Mutter in Buchwald würden schon dafür sorgen, daß sie bald wieder ein eigenes Dach über den Kopf bekämen.
»Na ja, sie werden scho!« stimmte Marie Schieftl bei und fügte, vorsichtig-tastend, hinzu: »Für die Sara Bagg hat die gute Mutter in Buchwald ja scho recht fleisi g'sorgt. Hast gehört davon, Winkl-Hansel?«
»Wohl, wohl!« gab Fleidl ohne Argwohn zu. »I hab' die Frau Ministerin selber g'beten, daß sie sich der kranken Sara annehmen möcht'. Und 's g'freut mi recht, daß sie's g'tan hat.«
»Glaub's scho, daß Di's freut, glaub's scho!« stieß da die Marie hervor und hatte große Mühe, dabei ihre Gehässigkeit zu verbergen. »Aber der Ignatz Heim wird halt viel trauri sein, daß er sich nun net mehr um die Sara b'mühn kann. Das ›Ja‹-Wort ist sie ihm eh' noch schuldig blieben, wie mir scheint.«
»Das kümmert mi nix!« sagte Fleidl kurzab und stand mit einem schnellen Ruck auf. »I hab' andre Sorgen, als ander Leuts Lieb'sgeschichten.«
Er ärgerte sich über sich selber, daß er das so heftig sagte; aber die Bemerkung Marie Schieftls, trotzdem er ihren wahren Charakter gar nicht erkannt hatte, regte ihn tiefer auf, als er sich's eingestehen mochte.
Er ging, und nun war die Reihe zum Ärgern an Marie Schieftl: sie machte sich die heftigsten Vorwürfe, daß sie ihn durch ihre gehässige Bemerkung so schnell verscheucht habe.
Eine so günstige Gelegenheit zum Plauschen kam wohl nicht bald wieder! Die hätte sie ganz anders klug und gründlich ausnützen sollen!
Unmutig warf sie die schweren Ballen und Kisten hin und her. Sie mußte an irgend etwas ihren Grimm auslassen. –
Es war nun schon ganz dunkel geworden, als Fleidl auf die Straße hinaustrat.
Er wandte sich langsam seiner eigenen Unterkunftsstätte zu. Marie Schieftl hatte ihm die Lust zu weiteren Besuchen genommen.
»Warum denn nur?« fragte er sich selber.
Er hatte sich doch einverstanden erklärt, daß sich Ignatz um Sara bemühte! So mußte er's nun auch zu ertragen vermögen, wenn diese Bemühungen Erfolg hatten!
Aber er hatte sich's eben doch nicht so schwer gedacht, auf dies frische, schwarzhaarige Geschöpfchen verzichten zu müssen!
Und den andern, den hatte er auch mehr Opferfreudigkeit für ihren Glauben zugetraut!
So waren es keine sehr heiteren und lichten Gedanken, die Fleidl auf dem Heimwege am ersten Abend in der neuen Heimat begleiteten. –
Noch viel Düsteres trug der alte Heim von seinem Rundgange bei den Leidensgenossen mit sich zurück.
Er hatte es noch erheblich ungünstiger getroffen als Fleidl; denn sein Weg hatte ihn in einige der Massenquartiere geführt, die der Kommerzienrat Gebauer in seiner stillstehenden Schürzenfabrik Hals über Kopf hatte einrichten lassen.
Sie waren dieser Eile entsprechend ausgefallen: dürftig, unfertig, kahl und öde, meist nur vier leere Wände, manche noch ungetüncht oder der Kalk an ihnen noch naß. Dazu viele solcher Notunterschlupfe nebeneinander an langen, düsteren Gängen, schon allein durch die Enge, in der sie da zusammenstießen, rechte Brutstätten für Unzufriedenheit, Verzagtheit und trübsinniges Rückwärtsschweifen der Gedanken.
Hier war's auch, wo zu allererst der laute Aufschrei ertönte: »Warum zogen wir fort? Wären wir doch im schönen Zillertal geblieben! Bei unsern Hütten auf den grünen Hängen! Bei unsern Weiden und Matten!«
Aus den engen Kojen, wo die Weiber weinend auf ihren Kleidersäcken kauerten und die vier kahlen Wände der Kammer wie Gefängnismauern anstierten, drang der Strom dieses Wehrufs hinaus auf die langen, schmalen, düsteren Gänge und wälzte sich langsam auf ihnen entlang, und dünne Wehmutsrinnsale zweigten sich von ihm ab und drangen unter jeder der niedrigen Türen in jede der niedrigen Kammern zu beiden Seiten der langen Gefängnisgänge. Und alsbald ertönte auch in ihnen allen dieselbe Heimwehklage: »Warum gingen wir fort? Warum? Warum?!« –
Die Mehrzahl der in Gebauers Fabrik Untergebrachten waren ledige Leute und unter ihnen viele von dem Völklein, das von allerhand andern Beweggründen, nur nicht vom Glaubensdrange, zur Auswanderung bewegt worden war.
Dies ›Pöbelvolk‹, wie's Heim und Fleidl bei sich in Anlehnung an den Bibelbericht über den israelitischen Auszug aus Ägypten nannten, sah nun, daß es hier durchaus und ganz und gar nicht auf seine Rechnung kommen würde. Und so fing dies Völklein auch zuerst zu rumoren an, gleich jenen Unzufriedenen und Unmäßigen, die bei den ›Luftgräbern‹ der Wüste Sinai ihr Ende fanden.
Heim hatte Mühe, sich gegen den Wunsch zu wehren: »Möchte es denen da drin ebenso ergehen!«, als er, von ihrem Treiben angewidert, die Schürzenfabrik verließ. –
Auf der dunklen Straße vor ihrem Tore rannte er fast mit einem kleinen Manne zusammen, der planlos und ganz in Gedanken versunken daherkam.
Es war Andrä Egger, der ernsthafte Mann mit dem komischen Vogelkopf, der sich um des Glaubens willen von seinem Weibe und seinen acht Blond- und Schwarzköpfen getrennt hatte.
Heim redete ihn an und fragte, wie er untergekommen sei.
Andrä Egger gab einsilbigen Bescheid: er habe sich noch nicht recht umgeschaut in seiner Herbergskammer. Wozu auch? Für ihn, den Einschichtigen, wär's gewiß gut und geräumig genug.
Was er nun auf der Straße suche, fragte Heim, dem dran lag, den Verschlossenen zur Aussprache zu bringen; denn er hatte auf dem ganzen Zuge bemerkt, daß dieser Andrä sich von allen andern zurückzog, um wohl recht ungestört an sein Weib und an die acht Kinder daheim denken zu können. Heim aber meinte, dies Grübeln tue dem Andrä nicht gut. Aussprache wäre besser führ ihn.
Deshalb bezwang er sich nun und drängte ganz gegen seine Gewohnheit Andrä Egger, von seinen Absichten zu erzählen.
»Nix suchte ich auf der Straßen!« erwiderte dieser auf Heims wiederholte Fragen. »Was sollt' i auch? Ist ja eh' stockfinster da heraußen.«
»Warum bleibst alsdann nöt in Deiner Stuben, Andrä, und legst Di schlafen? Müde wirst Du eh' sein.«
»Das scho! Das scho!« gab Andrä gedankenabwesend zu. »Aber weißt': i find halt kein'n Schlaf nöt! 's geht einem doch eben so arg viel durch den Kopf. Wenn man so weit weg ist, so arg weit weg von Weib und Kindern – und vom Hof daheim – so weit weg! Weißt! – Ach was! –« brach er hastig in verändertem, ganz und gar abweisendem Tone ab. – »Das muß eben derbissen werden, das! Um des Glaubens willen muß man's derbeißen! Und i werd's schon zwingen – das! I zwing's schon! B'füht Gott!«
Damit drehte er auf der Sohle um und lief planlos in die Finsternis hinein.
Der alte Heim aber dachte: »Den, scheint's mir, hat's schon ganz am Kragen! Den schon ganz!« –
Sehr bedrückten Gemütes betrat er seine eigene Unterkunftsklause. Aber die Stimmung, in der er hier seinen Sohn Ignatz fand, war wenig geeignet, ihm diese Bedrückung abzunehmen.
Ignatz schäumte vor Wut, daß Sara Bagg von der Gräfin mit nach Buchwald genommen worden war. Denn er hatte wohl beobachtet, wie freundlich die vornehme alte Dame mit Fleidl verkehrte, schier vertraut. Deshalb sagte er sich, daß es Fleidl leicht möglich sein werde, mit Sara oft zusammenzutreffen und auf sie einzuwirken, was ihm selbst für die nächste Zeit nun ganz unmöglich gemacht war.
»Eine schiechere Sach' kannten wir gar nimmer machen, Vater,« rief er unwillig, »als uns hier her locken zu lassen! Und das Schlimmst' ist, daß wir so viel andre Leut' mit uns g'zogen haben. In der Steiermark, wenn's scho ausgewandert sein mußt', wär's tausendmal besser g'wesen als dahier. Da hatten wir's Heft in der Hand. Aber hier regiert der schieche Pantoffelmacher. Aber i – i sag', i werd's ihm scho eintränken, dem schiechen Kerl!«
Der alte Heim erschrak vor der haßsprühenden Miene seines Sohnes.
»Bedenk' wohl, mein Sohn,« sagte er, unwillkürlich in feierlichen Bibelton verfallend, »bedenk', was uns hierher g'trieben hat, und banne den Haß aus Dein'm Herzen. Denn des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist!«
Da stapfte Ignatz ohne eine Silbe der Erwiderung zur Tür hinaus.
* * *
Dem ersten Zuge der Zillertaler folgten in den nächsten Tagen noch drei andre, so daß Mitte Oktober alle, die sich zur Auswanderung entschlossen hatten, in Schmiedeberg eingetroffen und dort notdürftig untergebracht waren.
Mit den notwendigsten Lebensmitteln wurden sie auf Kosten der Königlichen Kassen versorgt; denn es war der ausdrückliche Wunsch des Königs, daß ihnen alle Barmittel, die sie aus der alten Heimat mitgebracht hatten, erhalten bleiben sollten, bis es Zeit sei, sie neu anzusiedeln. Deshalb veranlaßte sie der Bürgermeister, alles Bargeld auf dem Rathause zur Aufbewahrung abzuliefern, oder durch seine Vermittlung sicheren Banken zu überweisen, und die fremden Leutchen stiegen nun in der Achtung der Schmiedeberger erheblich, als langsam aus dem städtischen Kassenbereich die Nachricht durchsickerte, die Zillertaler hätten bereits an die 200 000 Gulden deponiert.
»Na«, sagte der alte Stadtsekretär, den die Fremden bei seiner ersten amtlichen Begegnung mit ihnen so stark aufgeregt hatten, »Hungerleider sind sie wenigstens nicht alle. Wenn's noch dazu wird, sie hier im Tale anzusiedeln, bleibt immerhin ein tüchtig Stück Geld bei uns. Das muß wahr sein!« –
Diese Ansiedlung im Hirschberger Tal war leider noch gar keine so sichere Tatsache, wie der alte Sekretär annahm. Der Oberpräsident von Merckel sträubte sich je länger, je mehr gegen sie mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, zur großen Betrübnis der Gräfin Reden, die eben in dieser Unterbringung das einzige Heil für die Zillertaler erblickte.
Sie verschwieg aber vorläufig sorgsam diesen Widerstand des Oberpräsidenten vor Fleidl, der sich fast täglich im Buchwalder Schlosse zu dringenden Besprechungen einfand.
Zwecks einer solchen saßen sie zu Beginn des Oktobers wieder einmal im ›Kinderzimmer‹ des Wiesenhauses wie damals, als Fleidl zum allerersten Male in Buchwald war, gleichsam als Kundschafter, mit Heim und Koland zusammen.
Absichtlich verschwieg die Gräfin Fleidl, wie sehr sich der alte Merckel gegen die Ansiedlung der Zillertaler gerade im Hirschberger Tale stemme; denn sie hoffte zuversichtlich, diesen Widerstand überwinden und ihre eignen Pläne beim Könige durchsetzen zu können.
Weshalb sollte sie im voraus dem guten Fleidl Sorgen bereiten?!
Er kam ohnehin von Tag zu Tag mit mehr umwölkter Stirn zu ihren Besprechungen.
Denn von Tag zu Tag wuchs die Unzufriedenheit der einen und die Verzagtheit der andern in der Schar der Zillertaler.
»Wenn sie nur bald eine Beschäftigung hätten, liebe Mutter!« sagte er sorgenvoll. »Dann wär's scho viel besser. Sie hocken gar zu arg viel z'sammen in den engen Stuben und erzählen einander vom Zillertal daheim, wo's gar so viel traulich war. Und da ist's in Gott's Namen kein Wunder nöt, daß sie's Heimweh packt und arg z'sammenschüttelt.«
»Ja, wo sollen wir Beschäftigung für Euch Landleute hernehmen?« fragte die Gräfin ratlos. »Jetzt, wo's auf den Winter zugeht?«
»Wir könnten ja in den Busch gehen und Holz schlagen«, wagte sich Fleidl schüchtern heraus. »Holz wachst ja g'nu auf den Bergen rundum. Und wir sind's gewohnt, mit der Axt umzugehen.«
»Das glaub ich schon!« gab die Gräfin zu. »Aber leider steht dem viel im Wege. Sollen wir Euch anstellen, damit Ihr unserer armen, eingeborenen Bevölkerung das bißchen Verdienst wegnehmt, das ihr im Winter noch übrig bleibt? Das könnte doch viel böses Blut machen und mir meine Pläne gründlich durchkreuzen. Nein, Ihr müßt schon so lange still sitzen, bis wir sicher sind, daß Ihr hier im Tale bleiben könnt. Dann wird sich ja auch Beschäftigung die Menge für Euch finden.«
Fleidl nickte zustimmend, aber nur zögernd. Er sah wohl ein, daß die Gründe triftig waren, die die Gräfin anführte; aber er war auch in großer Sorge, wie es ihm gelingen solle, die immer stärkere Unzufriedenheit unter seinen Landsleuten einzudämmen.
So entstand eine Pause in der Unterhaltung.
Die Gräfin legte die Listen, über deren Inhalt sie vorher mit Fleidl verhandelt hatte, zur Seite, und nach neuem Unterhaltungsstoff suchend, sagte sie: »Der Sara geht's übrigens schon recht gut. Wenn kein Rückfall kommt, wird sie in einigen Tagen wieder wie ein Wiesel herumschlüpfen können.«
In Fleidls braunen Wangen stieg bei dieser unerwarteten Erwähnung Saras eine leichte Röte hoch, die aber von der kurzsichtigen Gräfin nicht bemerkt wurde.
Schnell überwand er seine leichte Verlegenheit und sprach nun in seiner ruhigen und gesetzten Weise seinen Dank für die besondere Fürsorge aus, die die Gräfin dieser seiner jungen Landsmännin erwiesen hatte.
»Ich habe die Absicht, das Mädchen zunächst ganz bei mir zu behalten«, sagte die Gräfin, den Dank mit leichtem Kopfnicken beantwortend, und bat nun Fleidl, er möchte ihr zur näheren Rücksprache einmal den Vater oder die Mutter Saras heraussenden.
Nicht gar gern übernahm er diesen Auftrag; denn in ihm lebte eine Scheu, mit der Familie Bagg in besondere Berührung zu kommen, weil er nur zu gut wußte, wie gefährlich das alles seiner inneren Ruhe und Festigkeit werden konnte. Aber es ließ sich ja doch nicht ausweichen!
Und so kam's, daß er ein Stündchen später bei den Baggs eintrat, die in der Niederstadl eine recht behagliche Unterkunft bei einem Gärtner gefunden hatten.
Die Fenster ihres Stübchens gingen auf eine weite Wiesenfläche hinaus, über die hinweg das Auge einen rechten Anlauf nehmen konnte gegen die Mauer des Gebirges hin, die sich hier in kaum Meilenentfernung gewaltig, steil und trutzig auftürmte.
Fleidl trat zur Mutter Saras heran, die an einem der beiden Fenster bei einer Näharbeit saß, und sprach seine freudige Überraschung über diesen Fernblick aus.
»Ja, 's ist gut sitzen dahier!« gab die Frau zu, deren sanfter Tonfall von der kecken Art der Tochter recht abstach. »Am besten g'fallt mir allweil der Blick auf das Schlößle da drüben. Schau nur, Winkel-Hansel, wie schmuck 's aus den hohen Bäumen außiluget.«
Es war Schloß Ruhberg, der Sommerfitz der Familie Radziwill, das der Tirolerin so gut gefiel. Und Fleidl mußte ihr zustimmen, wie er nun dieses altertümliche Bauwerk betrachtete.
Mit ockergelben Wänden schimmerte die Vorderfront unter den alten Bäumen eines Parkes, die voll bunten Herbstlaubes hingen, hervor. Ein steifer Säulenvorbau gliederte die Fassade in ihrer Mitte. Freundliche, grüne Fensterläden belebten sie, und über ihr stieg ein graues, in der Mitte malerisch gebrochenes Schieferdach steil auf. Über ihm aber sah Fleidl die felsige Kuppe des Ruhberges, nach dem das Schlößchen benannt wurde, in den klaren Herbsthimmel aufragen.
Fleidl betrachtete diesen Fürstensitz, der trotz seines geringen Umfanges doch den Stempel großer Vornehmheit trug, mit viel Interesse; denn er hatte vorgestern in Schloß Buchwald die junge Fürstin Wanda Radziwill gesehen. »Meine liebste Freundin« hatte sie die Gräfin Reden genannt, und er hatte beobachtet, daß die junge, schöne Frau offenbar mit kindlicher Verehrung an der guten Mutter der Tiroler hing.
Die Erinnerung hieran mahnte Fleidl an den Zweck seines Besuches bei den Baggs. Und so setzte er nun der still zuhorchenden Frau das Anerbieten der Gräfin auseinander.
»Mir wär's scho recht, Winkel-Hansel,« sagte sie, als er zögernd schwieg, »wenn das Maidi bei der guten Mutter ein'n Unterschlupf finden tät. Schon viel recht wär' mir das. Und der Vater wird auch nix derquer haben. Da ist sie doch versorgt und hat 'ne richtige Beschäftigung. Und dann, Winkel-Hansel, ist mir's auch so viel recht, wenn d' Sara von dem Ignatz wegkommt. Denn – i muß Dir's scho frei heraussagen – der g'fallt mi nöt. Schau – i bin die ganze Zeit auf der Fahrt daher auf sein'm Wagen g'sessen. Und da hab' i ihn schon recht genau b'trachten g'konnt, den Ignatz. Und weißt, da hab' i g'sehn, daß er ein unguter Mensch ist. Er geht mit sein'm Vieh nöt gut um. Wie wird der erst mit sein'm Weib umgehn! Nein, wer mit sein'm Vieh nöt gut umgeht, ist kein guter Mensch nöt. Drum, weißt, wünsch i mir den auch nöt zum Schwiegersobn. Und i glaub', die Sara nimmt ihn auch nöt. Denn die Sara ist klug und hat Augen im Kopf und hat auch scho g'sehn, was für 'ne Pflanz' der Ignatz ist. Die überlegt scho, was ein Mann wert ist, wann's auch manchmal schnell und schnippig daherschwätzt. Weißt', die jungen Dirndln sind manchmal wunderli: die verstecken manchmal ihr Herzel hinter ihr Maulwerk. Weißt', da darf man halt in Gott's Namen nöt jedes Wört'l auf die Goldwagen legen. I glaub' gar nöt, daß d' Sara so sehr auf Jugend und Reichtum schaut, Winkel-Hansel. I glaub', die schaut mehr aufs Inwendi bei einem Mann. Denn d' Sara ist klug. Das kann i wohl sag'n, ohne daß i sie zu sehr lob.«
Fleidl hatte bei diesem ganz durchsichtigen Herzenserguß der Frau, die er sonst gar nicht als eine geschwätzige kannte, zum Fenster hinausgesehen, als fesselten ihn die weite Wiese, der Gebirgswall und das Ruhbergschlößchen viel mehr, als ihre hastig hervorgesprudelten Worte. Inwendig aber wurde er von ihnen förmlich zerkrallt.
Was geschah da Wunderliches?
Die Mutter trug ihm ihre Tochter förmlich an!
Und sie verriet in ihrer Herzensangst um der Tochter wahres Glück, daß diese ihm auch geneigt sei!
Nur zuzufassen brauchte er, dann besaß er, was ihm seit Wochen selbst als lockendster Preis alles Ringens erschien, wenn er sich's auch immer nicht hatte eingestehen mögen. Schon früher nicht, ehe er freiwillig vor Ignatz zurücktrat, weil er immer geglaubt hatte, er sei dem jungen, kecken Ding zu alt und zu arm.
Und nun?
Nun konnte er's haben, das späte Glück, und den sonnigsten Schmuck seines kargen Daseins, wenn er nur wollte!
Aber nein!
Er durfte nicht!
Er durfte nicht zulassen; denn er hatte ja auf diesen köstlichen Besitz in aller Form verzichtet.
Seiner Glaubenssache hatte er dies Herzensopfer gebracht und mußte nun fest bleiben, wenn er nicht ein Wortbrüchiger werden wollte.
Was aber sollte ein wortbrüchiger Führer der ohnehin schon so wankenden und wankelmütigen Schar frommen?
Nein – er mußte fest bleiben!
»I weiß nöt, Baggin,« sagte er zögernd, wie nach den Worten suchend, »ob D' klug tust, wenn du den Ignatz vor den Kopf stößt. Er ist doch eine gute Partie für Eure Sara. Und wenn sie ihn hat, wird sie ihn schon z'rechtstutzen.«
»So – meinst?« fragte da die Frau gedehnt, und auf ihren Mienen verriet sich deutlich eine große Enttäuschung. Und nur schwer gelang's ihr, Verdruß und Kränkung zu verbergen, als sie hinzusetzte: »Na, weißt', es muß doch nöt grad' der Ignatz sein! Und auch nöt jeder beliebige andre. Die Sara kriegt, mein i, auch noch einen, der ihr in allen Dingen zupaßt. Die brauch' i keinem nöt nachz'werfen.«
»Recht hast, Baggin!« stimmte Fleidl schnell zu, von diesen Erörterungen tief aufgewühlt, und stand auf, um zu gehen.
Der Abschied fiel frostig aus, und er drückte die Tür hinter sich ins Schloß mit dem Bewußtsein, daß er sich damit für immer von dem aussperre, was die Menschen ihr ›Glück‹ nennen, und daß es für ihn von jetzt ab nur das Eine gäbe: seiner Aufgabe leben.
* * *
An diesem Tage schlug das Wetter gründlich und für lange um: es begann ein Landregen niederzugehen, stark und kalt, der fast eine ganze Woche anhielt. Wer in solchem Wetter nicht unbedingt hinaus mußte, hielt sich im Hause.
Und so waren auch die Zillertaler genötigt, in ihren engen Gelassen zu hocken, taten- und aufgabenlos, der Langweile und dem Trübsinn preisgegeben.
In diesen Tagen quoll das Heimweh in ihnen hoch, als würde es durch den unablässigen Regen angeschwellt, um die Herzen zum Zerspringen zu füllen.
So bedeutete die feierliche, öffentliche Begrüßung in der evangelischen Stadtkirche am Sonntag dieser Regenwoche eine heilsame Ableitung. Die Gräfin erschien zu diesem Festgottesdienst, als die bunte Menge der Zillertaler noch den weiten Kirchplatz erfüllte.
In dem heranrollenden Wagen, für den die Menge eine schmale Gasse frei machte, saß auf dem breiten Vordersitz mit lässiger Anmut neben der Gräfin und deren Schwester Karoline die junge Fürstin Wanda Radziwill, eine zarte Frauenschönheit, deren Gesicht die süße Schwermut eines frühen Todes aufgeprägt war. Den Damen gegenüber auf dem Rücksitz erregte der Landrat in seiner Kürassier-Rittmeisteruniform eine so große Aufmerksamkeit bei der Menge, daß sie über ihm den neben ihm sitzenden Pastor Haupt aus Buchwald fast ganz übersah.
Als der Wagen hielt und die Begleiter der Gräfin ausgestiegen waren, drängten sich die nächsten Zillertaler Frauen an den Wagenschlag heran, haschten nach der freien Hand der Gräfin (mit der andern bewaffnete sie gewohnheitsmäßig ihre kurzsichtigen Augen mit der Stielbrille) und riefen ein über das andere Mal laut: »Muetter, Muetter, Gott grüß' Euch! Gott lohn's Euch!« Und wie ein Brausen pflanzte sich in der ganzen Masse der Zillertaler der Ruf von Mund zu Mund fort: »Gott grüß Euch, Muetter! Gott lohn's Euch!«
Die Gräfin nickte und winkte Grüße in die Menge hinein, wobei sie schier verlegen lächelte und ihre Augen sich feuchteten, so daß das gütige Greisinnengesicht mit seinem lichten Löckchengekringel einen rührenden Ausdruck gewann. Schwester Karoline und die Fürstin Wanda aber drückten ihre blendend weißen Taschentücher an die Augen.
Fleidl, der der Gräfin beim Aussteigen treuherzig die Hand bot, wurde von ihr wie ein vertrauter Freund begrüßt.
Drei Menschen aus der großen Masse sahen dabei mit heißen Augen auf den bevorzugten Mann: Ignatz mit haßerfüllten, Marie Schieftl mit begehrlichen und Sara Bagg, die die Gräfin auf einem besonderen kleinen Wägelchen hatte hereinfahren lassen, mit zornerfüllten. Sie wußte gar nichts von jener Ablehnung, die sich ihrer Mutter je länger, je mehr als spitzer Stachel ins Gemüt bohrte: aber sie hatte im Buchwalder Schlosse in diesen Tagen schon mehrfach beobachten können, daß Fleidl ihr in offenbarer Absichtlichkeit auswich. Nun legte sie sich das als ›dummstolzes Getue‹ Fleidls aus, dem sie offenbar, seit er mit der Gräfin überhaupt in Verbindung getreten war, zu armselig und geringwertig erscheine.
Und sie hatte Mühe, einen schnell auch gegen die Gräfin auflodernden Zorn zu unterdrücken. –
Und nun wiederholte sich in noch feierlicherer Weise das religiöse Erlebnis, mit dem Pastor Bellmann vor Wochen die Einwanderer in seinem Michelsdorfer Gotteshause bereichert hatte.
Obwohl die Vertriebenen seitdem schon oft evangelischen Gottesdiensten mit mehr oder weniger Andacht beigewohnt hatten, hier, in dem hohen, lichten Kirchenraume, der so reinlich in Weiß und Gold strahlte und mit seinen schön geschnitzten Verzierungen um Altar und Logengestühl her auch manches zum Schauen bot, aber auch in den engeren und schlichteren Dorfkirchen zu Buchwald und Fischbach: dieser Festgottesdienst mit seiner sorglich ausgestalteten Liturgie und dem machtvoll von der Orgelempore herabschallenden kunstvollen Gesänge des Kirchenchors packte sie doch noch ganz anders und viel tiefer als jene andern Kirchenbesuche. Und als nun unter Posaunenbegleitung der sieghafte Choral »Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Not« das Gotteshaus durchbrauste, derselbe Choral, mit dem einst Friedrich Wilhelm I. die vertriebenen Salzburger an den für sie aufgestellten Gasttafeln ›Unter den Linden‹ in Berlin begrüßen ließ, da weinten die Zillertaler Frauen wieder innige Dankestränen, und die Männer richteten sich wieder stark auf, wie damals in Michelsdorf, und starke Entschlüsse hämmerten und drückten in dieser Stunde das brennende Heimweh nieder, das die letzten Regentage so üppig hatten ins Kraut schießen lassen.
* * *
Wenige Tage nach dieser Feier traf der Oberpräsident von Merckel zu einem Besichtigungsrundgange ein, um sich zu unterrichten, was bisher zum Nutzen der Flüchtlinge geschehen sei.
Der Bürgermeister und die Gräfin Reden sollten ihn von einer Zillertaler-Wohnung zur andern führen, und weil er wünschte, daß die Deputierten der Vertriebenen auch zur Hand seien, warteten Fleidl, Heim, Brugger und Koland an der Seite des Bürgermeisters in der Niederstadt auf ihn, der im Buchwalder Schlosse übernachtet hatte.
Kaum war er mit der Gräfin aus dem Isabellen-Gefährt gestiegen, als er auch schon barsch fragte: »Auf wieviel ist der wöchentliche Brotbedarf für die Fremden während des kommenden Winters abgeschätzt?«
»Wir brauchen wöchentlich etwa 40 Scheffel Roggen, Exzellenz«, antwortete der Bürgermeister ruhig.
»Und die stehen zur Verfügung?«
»Ja, Exzellenz! Ganz gesichert!«
Der Alte knurrte etwas von ›unerhörter Menge, die da der übrigen Volksernährung in so bedrängter Zeit entzogen würden‹ in den Bart und hatte dabei die verschlossenste Bürokratenmiene aufgesteckt.
Die Gräfin lächelte still und verständnisvoll dazu. Sie durchschaute die Politik des Alten wohl, daß er nur darauf ausging, dem Orts-Komitee den Geschmack an der Sache möglichst schnell zu verekeln, damit es von selbst auf den Gedanken käme, sich und ihm die künftige Sorge für die Zillertaler vom Halse zu schaffen, indem es dem Könige eine andre als die Hirschberger Gegend zur Ansiedlung vorschlug.
Man trat nun in die erste Wohnung ein, die gerade am Wege lag.
Hier fanden sie Kajetan Hotter aus Mayrhofen mit Frau und fünf Kindern beim Korbflechten.
»Na also!« rief der Oberpräsident bei diesem Anblick triumphierend aus, gegen die Gräfin gerichtet. »Da sitzen sie ja schon bei einer Beschäftigung! Und erst hieß es immer: Beschäftigung sei ganz ausgeschlossen; denn das entziehe den Einheimischen das Brot.«
»Das gilt auch noch, Exzellenz!« erwiderte die Gräfin, und ihre heitere Ruhe stach dabei sehr vorteilhaft von der schrofferregten Art des Oberpräsidenten ab. »Gilt vor allem von den Beschäftigungsarten, die das Oberpräsidium vorschlug. Mit dem Korbflechten da steht's anders. Darauf haben sich unsere Leute niemals recht eingelassen; denn es gibt zu wenig Weiden bei uns. Wir werden auch jetzt Schwierigkeiten haben, sie auf die Dauer zu beschaffen.«
»Nun, in Ewigkeit soll ja auch diese Beschäftigung nicht währen!« knurrte der Oberpräsident und richtete nun ein paar Fragen an Hotter und seine Frau, die diese knapp und wortkarg beantworteten, weil sie die altpreußisch-kurze Angebundenheit des hohen Herrn befremdete.
»Hm,« sagte Merckel zur Gräfin, als die Kommission der nächsten Wohnung zuschritt, »merkwürdig selbstbewußte Leutchen scheinen mir diese Tiroler zu sein. Sie machen keineswegs den Eindruck von Geduldeten und Unterstützten. Es ist, möchte ich sagen, etwas Herrenmenschenartiges an ihnen. Wenn ich mir einen Schlesier an die Stelle des Tirolers denke, bei dem wir da oben waren! Sicher hätte der seinen Kopf nicht so anmaßend in den Nacken gedrückt und unter einer fremden Balkendecke nicht so selbstherrlich getragen.«
»Ja, Exzellenz, ist es nicht lobenswert, daß sie so sind, diese armen Vertriebenen?« fragte die Gräfin.
»N – na – wie man's nimmt!« entgegnete der Alte unliebenswürdig. »Es gibt auch einen Bettelstolz.«
»Um Gotteswillen, Exzellenz!« rief die Gräfin erschrocken und blickte sich scheu nach rückwärts um, ob die vier Tiroler etwa in Hörweite seien. »Ich bitte Sie herzlich, schonen Sie das Empfinden der braven Männer da. Wenn sie das gehört hätten!«
Es klang unverkennbar eine tiefe Empörung durch ihre Worte, und der Oberpräsident fand es deshalb geraten, wieder einzulenken.
»Hoffentlich nicht!« sagte er mit halber Entschuldigung. »Meine allgemeine Bemerkung bezog sich ja auch nicht auf die da.«
In diesem Augenblick öffnete der Bürgermeister, der ein wenig vorausgeeilt war, schon wieder die Tür eines Hauses, in dem ebenfalls Zillertaler wohnten. Es war die Familie Kreidl, die auch aus Mayrhofen stammte und so zahlreich war, daß sie zwei Stuben brauchte.
Lebhaftes Klopfen, Hämmern, Sägen und Raspeln empfing hier die Eintretenden; denn Mann und Weib, jung und alt waren hier eifrig am Werke, Spinnräder herzustellen.
Der Oberpräsident war sogleich stark durch diesen Anblick interessiert.
»Sehr trefflich! Sehr trefflich!« äußerte er erfreut. »Das finde ich sehr vorzüglich. Das ist ein Fabrikationszweig, der uns in Schlesien noch so gut wie ganz abgeht. Wenn Sie den hier mit Hilfe der Fremden heimisch machen können, bin ich Ihnen sehr verbunden, Exzellenz, und, Herr Bürgermeister, Ihnen auch! Sehr verbunden!«
Seine Mienen hatten sich plötzlich stark verändert. Der mürrische Zug war verschwunden und hatte einer heiteren Offenheit Platz gemacht, mit der er sich, wenn's ihm lohnte, schnell alle Herzen zu gewinnen wußte.
Und so gestaltete sich denn auch hier die Unterhaltung mit den Zillertalern ganz anders, als in Kajetan Hotters Stube. Und wie nun der würdige und imponierende alte Herr von einer Arbeitsstätte in den beiden Stuben zur andern trat und mit den fleißigen Leutchen ein Gespräch anknüpfte, antworteten sie ihm offen und heiter, wie das ihre angeborene Art war, zu seinem eigenen unverkennbaren Vergnügen.
Im hintersten Winkel der zweiten Stube, nahe einem der beiden kleinen Fenster, saß zusammengekauert der achtzigjährige Großvater der Familie, Jakob Kreidl. Sein Rücken war krumm wie das Zugjoch eines Ochsenfuhrwerks, und mit verkrümmten Fingern, die die Gicht so übel zugerichtet hatte, hielt er seinen Stock umspannt. Aber die Augen, die er unablässig durch die ganze Stube wandern ließ, leuchteten noch in einem so lebendigen Glanze, daß sie sogleich die Aufmerksamkeit des Oberpräsidenten erregten.
Er trat zu dem Greise heran, fragte ihn nach Alter und Handwerk, und ob's ihm nicht recht schwer geworden sei, in so hohen Jahren Heimat und Vaterland zu verlassen.
»Na freili, lieber Herr!« erwiderte der alte Jakob lächelnd. »Freili ist mir's allweil sauer ankommen, das Außizieg'n! Sell kannst wohl glauben, lieber Herr. Von unserm schönen Hof weg! Wenn i auch allweil scho im Altenteil g'sessen bin! Und so arg weit weg! Sell war keine Kleinigkeit.«
»Und reut's Euch nun?« forschte der Oberpräsident.
»Reuen, lieber Herr?« forschte der Alte verwundert zurück. »Naa – reuen tut mi's scho nöt! Wir haben ja hier g'funden, was wir eh g'sucht ha'm: einen ungestörten Glauben. Schau, Herr, und Bibeln ha'm wir nu auch, aus denen wir uns das reine Gotteswort vorlesen lassen. Und das dürfen wir allweil nu am hell-lichten Tage tun und brauchen uns nöt zu fürchten, daß die Schandaren kommen und nehmen Dir das Bibel-Buch weg und fallst hinterher noch in schwere Buß. Naa – 's reut mi nöt, 's Auswandern. Scho gar nöt! Denn schau, wenn i nu stirb', was doch nöt mehr so arg lang währen kann, brauchen's mi fein nöt auf'm Feld und ohne Sarg und Klang zu verscharren. So – jetzt geht allweil der Geistli hinter meiner Leich' her und segnet sie ein. Naa – 's reut mi nöt! Und scho gar nöt, wenn uns der gute König hier herum Land verschafft, daß sich unsere jungen Leut' wieder Haus und Höf' aufbauen können, wie wir's daheim im Zillertal gehabt ha'm. Sell möcht' i freili noch verleben.«
Die Gräfin sah sich bei diesen Worten nach Fleidl um, der horchend in der Nähe stand, und nickte ihm ermutigend zu, zu sprechen.
Das fiel ihm nicht ganz leicht; denn das Wesen des hohen Beamten wirkte beklemmend auf ihn, wenn auch zum Glück weder er noch ein andrer der Deputierten etwas von den schroffen Worten gehört hatte, die vorhin die Gräfin so sehr erschreckten.
Unter dem Einflusse des ermutigenden Blicks aber trat er nun vor und sagte: »Mit Verlaub, Exzellenz, der alte Jakob spricht uns allen aus der Seel'. Wenn wir nur fein bald wieder Grund und Boden unter den Füßen hätten, dann, mein i, wär' alles gut.«
»Grund und Boden?« wiederholte der Oberpräsident mürrisch. »Das ist leichter gesagt als verschafft! Wo soll er denn herkommen für so viele hier, im vollbesiedelten Lande? Für solche Massenansiedlung kämen eben besser andre Gegenden unsers Königreichs in Betracht, als gerade dieses Tal, wo die Leute ohnehin schon viel zu eng beieinander hocken. Es muß ja auch nicht gerade diese Gebirgsgegend sein.«
»Exzellenz, wir sind Gebirgsleut' und nix andres gewöhnt, als das Leben in den Bergen«, wandte Fleidl bescheiden, aber fest ein.
»Nun, wer in Not ist, muß sich an alles gewöhnen, wenn er nur seinen Unterhalt findet!« erwiderte der Oberpräsident schroff.
»Naa, Herr Minister, so noti steht's mit uns nöt!« mischte sich jetzt der alte Heim sehr bestimmt und mit ruhiger Stimme ein. »Wir sind freiwilli ausg'wandert. Und wir hätten auch anderswo Unterkunft g'funden in kaiserlichen Landen, wo wir allweil auch ungestört unsers Glaubens hätten leben g'konnt. G'rad an eine schieche Stätt', wo's uns allweil gar nöt behagen möcht', lassen wir uns nöt stecken. Das muß i sagen auch für die, so wir gut zug'sprochen haben, daß sie mit uns nach Preußen ausg'wandert sind.«
»Recht hast, Gaschschtaiger Bachtal!« stimmte Koland dem Alten hitzig zu und schnappte vor Erregung nach Luft.
Der Oberpräsident knurrte ein paar Worte undeutlich hervor und wandte sich dann mit einer Frage an den Bürgermeister, der auch mit der Gräfin vielsagende Blicke gewechselt hatte.
Fleidl aber machte Koland und Heim eine beruhigende Gebärde, auf die Gräfin weisend, als wolle er sagen: »Überlaßt das nur der guten Mutter, die wird uns schon beistehen!«
Die Besichtigung wurde nun fortgesetzt, und nachdem man so bei einer ganzen Anzahl Zillertaler Familien Unterkunft und Beschäftigung betrachtet hatte, wandte sich die Kommission der neueingerichteten Schule zu.
Der Oberpräsident blieb einen Augenblick verwundert in der offenen Tür des mäßig großen, niedrigen Schulzimmers stehen, durch dessen geöffnetes Fenster man die Eglitz rauschen hörte. Denn der Anblick, der sich hier bot, war tatsächlich staunenerregend: ein blutjunger Lehrer stand vor mehr als dreißig jungen Mädchen und Frauen, die er in den Anfängen des Schreibens unterrichtete.
Emsig über Schiefertafeln gebeugt, hockten diese erwachsenen Menschen, unter denen sich viele brunhildenhafte Gestalten befanden, auf den niedrigen Stühlchen um lange, rohe Tische aus Fichtenholz her und sahen nun neugierig auf, als die Kommission eintrat.
Mit einer gewissen bangen Erwartung blickten die Gräfin, der Bürgermeister und Fleidl auf den Oberpräsidenten, wie er sich wohl zu diesen so ungewöhnlichen ›Schulkindern‹ stellen werde. Aber die Besorgnis schwand schnell; denn der alte Diplomat fand hier sofort den rechten und einzig verwendbaren Ton: er machte Scherze mit den Frauen und Mädchen, die diese mit leisem Gekicher, manche von ihnen aber mit schlagfertigen Entgegnungen beantworteten.
Erst, als er sich wieder zum Gehen wandte, kehrte der Oberpräsident den Ernst hervor und sprach in ein paar kurzen, packenden Sätzen seine Freude und seine Anerkennung aus über den Lerneifer, den er hier in höchst eigenartiger Gestalt zu beobachten Gelegenheit gefunden habe.
So nahm der Besichtigungsgang noch ein recht erfreuliches Ende, und als der Oberpräsident dann noch im Rathause mit der Gräfin und dem Bürgermeister eine stundenlange Konferenz über Bereitstellung und Verwendung der vom Könige zu erbittenden Mittel gehalten hatte, verabschiedete er sich von ihnen mit Ausdrücken hoher Anerkennung und des Dankes für Eifer und Umsicht, die er hier am Werk gefunden habe. –
Weniger befriedigt, ja, sogar tief bedrückt kehrten die Tiroler Deputierten, von denen sich der Oberpräsident an den Stufen des Rathauses recht kurz verabschiedet hatte, in ihre Wohnungen zurück.
»Ein Z'widerwurzen ist das!« stieß Koland hervor, als die Herrschaften kaum hinter der Rathaustür verschwunden waren, und die andern nickten ihm Beifall. »Wenn die preuß'schen Beamten allesamt so sind, tut's mir halt doch leid, daß i nöt in der Steiermark sitz'!«
»Kannst scho recht ha'm!« stimmte ihm der alte Heim zu. »Mir scheint, wir haben hier die Pfaffen bloß gegen was Schlimm'res eing'tauscht.«
»Habt's nur Geduld, Leut'!« beschwichtigte Fleidl. »Und habt's Vertrauen zu unsrer guten Mutter. Die wird nöt zugeben, daß uns was Schlimm's passiert. Und sie wird auch dafür sorgen, daß wir am End' doch hier in den Bergen bleib'n. Und die kann's; denn sie ist die Freundin des guten Königs.«
»I will hoffen, daß D' recht b'hältst, Winkel-Hansel!« sagte der alte Heim, und es kam etwas Drohendes in seine Stimme, als er fortfuhr: »Denn sonst, weißt, steh i nöt dafür, daß die ganze Sach' noch gut abläuft.« –
* * *
Mitte Oktober hob ein neuer Regen an, der wochenlang andauerte.
Viele Felder des Tales wurden überschwemmt.
Der Gräfin Reden klagte ihr Gutsverwalter, daß er die Wintersaat nicht beenden und die Kartoffeln nicht ernten könne. Der Flachs verfaulte, und die Gräfin hatte mit seiner Verarbeitung doch so viele Arme während des Winters beschäftigen wollen. Die Landwirte rundum sahen sich gezwungen, einen großen Teil ihres Viehbestandes zu Spottpreisen zu verkaufen.
Alle Welt um die Gräfin her sah voll Besorgnis in die Zukunft, auch der Bürgermeister Flügel. Dieser besonders, wenn er an die vierhundert Zillertaler dachte, die mit Lebensmitteln versorgt sein wollten.
Er äußerte seine Sorgen auch Fleidl gegenüber, und als dieser sein schweres Herz bei der Gräfin ausschüttete, sagte sie einfach: »Habt Ihr das Wort vergessen: ›Er schläft noch schlummert nicht!‹?«
Da schämte sich der starke Mann seines Kleinglaubens vor der gebrechlichen Greisin, die mit ihrem starken Geiste so mannhaft ihren schwachen Körper zu beherrschen wußte.
Und er bedurfte auch solcher Stärkung; denn die Schwierigkeiten, die die Unterhaltung und endgültige Unterbringung der Zillertaler veranlaßten, mehrten sich von Tag zu Tag, und Fleidl hatte wohl unter allen seinen Schicksalsgenossen die klarste Erkenntnis dessen.
Kein Wunder, daß sein Herz manchmal zum Zerspringen mit Sorgen erfüllt war, und daß er manchmal meinte, seine Schultern seien für eine solche Moseslast doch zu schwach.
Etwas Gutes hatte freilich diese schwere Sorge, die er für die Allgemeinheit trug, doch zur Folge: sie lenkte ihn stark von seinem Herzenskummer ab, und wenn er im Buchwalder Schlosse einmal zufällig Sara Bagg begegnete, sah er auch sie so geschäftig treppauf und treppab eilen, daß er den Eindruck gewann, es fehle auch ihr die Zeit, an andres zu denken, als an die Aufgaben der Stunde und des Augenblicks.
Solche und ähnliche Gedanken durchkreuzten sich mit allerhand Plänen und Absichten bezüglich seiner Glaubensbrüder, als er etwa acht Tage nach dem Besuche des Oberpräsidenten unter seinem Regendache von Buchwald her zur Stadt zurückkehrte.
An der Gebauerschen Schürzenfabrik, dem Massenquartier der unverheirateten Zillertaler, stürzte ihm Michael Koland entgegen mit der Schreckensnachricht: »Der alte Egger und Barthel Hausers Fränzel haben die Cholera!«
Fleidl erbleichte.
»Nöt mögli!« rief er. »So spät im Jahr die Cholera? Nöt mögli!«
»Doch ist's so!« entgegnete Koland und schloß sich dem hastig vorwärts Eilenden an. »Die Seuch' hat schon im Sommer hier g'haust. Viel Leut' sind dran g'storben. Nun hat das schlechte Wetter der Seuch' neue Kräfte g'geben. Winkel-Hansel, wenn sie noch weiter um sich greifen tut, was wird denn dann? Wer soll denn dann unsere Leut' hier festhalten? 's ist's scho nahe dran, daß sie ins Tirol z'rucklaufen wie die Schaf' in einen brennenden Stall.«
»Hast wohl recht, Michel!« stimmte Fleidl betrübt zu. »Wann die Seuch' um sich greift, Gott weiß, was wir dann all'samt erleben! I will nur hoffen, daß Deine Schreckenspost nöt zutrifft!«
Aber sie bestätigte sich leider doch.
Die Gräfin eilte schnell herbei und schickte Dr. Weigel, den Leibarzt der Fischbacher Prinzlichen Herrschaften, zu den Kranken. Im Büro des Bürgermeisters harrte sie dann mit Fleidl auf dessen Bescheid.
Dr. Weigel bestätigte bald darauf, daß tatsächlich Cholerafälle vorlägen. Er habe die beiden Zillertaler Kranken, zu denen sich nun bereits auch mehrere Schmiedeberger gesellt hätten, ins Spital bringen lassen. Leider aber weigere sich das Personal des Spitals, das ohnehin nicht hinreiche, die Fremden mit zu pflegen.
Die Gräfin war erstaunt und betrübt über diese Nachricht, der Bürgermeister entrüstet.
Er klingelte dem Amtsdiener und ließ sogleich den Spitalwärter Gottwald und seine Frau aufs Rathaus fordern.
Gottwald, ein schon recht bejahrter, stumpfer und halb tauber Mann, stand ganz unter dem Einfluß seiner Frau – es war schon seine dritte! – die in der ganzen Stadt mit Recht den Ruf eines »unbezähmbaren, groben Schandmauls« genoß. Kein Mensch wollte etwas mit dem zänkischen Weibe zu tun haben. Auch Dr. Weigel, der Spitalarzt, vermied es, mit ihr in Zwistigkeiten zu geraten, weil er in den Redeschlachten mit ihr regelmäßig den kürzeren zog. Und deshalb wehrte sich auch im ganzen Städtchen jeder mit Händen und Füßen dagegen, ins Spital gebracht zu werden. Es galt das ungefähr als dasselbe, wie ins Zuchthaus zu kommen. Offenbar lag der Alten an dieser Ansicht: sie hatte dann ihre Ruhe.
Als dies ungleiche Paar die Kanzlei betreten hatte, fuhr der Bürgermeister den Mann an: »Ist's wahr, Gottwald, daß Ihr Euch weigert, die Fremden zu pflegen?«
»Woas, Herr Bergemeester?« fragte der Alte blöde, sich noch schwerhöriger stellend, als er wirklich war, indem er die hohle Hand hinter das rechte Ohr hielt.
»Ob Ihr Euch weigert, die Fremden zu pflegen!« schrie ihn nun das Stadtoberhaupt ziemlich wütend an.
Der Alte sah blöde-hilflos auf sein Weib, die ihn nun anherrschte: »Nu – sag's ock dreisteweg: doas macha mer ni. Ehnder giehn mer!«
»Das geht nicht so ohne weiteres, Gottwalden!« rief der Bürgermeister. »Dazu gehört vorschriftsmäßige Kündigung.«
»Mir sein ock bloßig fer die kranka Schmiedeberger oangenumma, ni fer doas fremde Pack, doas ins ohnehin 's Brut wegfrißt und de Arbeet wegnimmt!« schnaubte die Frau zurück. »Und fer doas fremde Vulk troin (tragen) mer inse Haut ni zu Moarte. Doas künn'n Se sich merka, Herr Bergemeester!«
»Liebe Frau,« mischte sich nun die Gräfin mit ihrer sanften Stimme ein, »es ist doch Christenpflicht, den armen Leuten beizustehn, besonders denen, die nun doppelt zu leiden haben.«
Einen geradezu grün-giftigen Blick schoß die Alte, die krummbucklig, mit großer Hakennase, mit zahnlosem Munde und mit hochaufgetriebenem Leibe wie eine dem Hänsel- und Gretel-Märchen entsprungene Knusperhexe dastand, auf die Gräfin.
»Christenpflicht?« fragte sie höhnisch. »Nu, wenn's doas is, do pflega Sie ock die Kranka salber, Frau Gräf'n. Sie sein ju als 'ne su gude Christ'n verschrien eim ganza Herschbriger (Hirschberger) Toale. Und die fremda Zigeiner genenn'n Ihn'n ju ohnehin ›die gude Mutter‹. Do pflega Sie se ock und troin (tragen) Se ihre fürnahme (vornehme) Haut zu Moarte. Ober 's werd wull sein, wie's immer ies: die Christapflichta sein bloßig fer die oarma Leute do, und die Grußoartiga (Großartigen) hoan a Ruhm dervoane.«
Der Bürgermeister, die insultierte Gräfin und Fleidl sahen sich einen Augenblick gegenseitig ratlos an ob solcher faustdicken Grobheiten. Dann wollte der Bürgermeister der Frechen an die Gurgel fahren, aber die Gräfin winkte ihm ab, und Fleidl sagte mit einer Stimme, die deutlich seine tiefe Entrüstung verriet, denn sie klang wie halb abgewürgt: »Um Vergebung, Herr Bürgermeister! Aber wenn d' Leut' hiezulande über uns Vertriebenen so denken, wie die Frau da, wollen wir doch lieber kein Handgriffel von ihn'n gemacht haben. Auch unsere Kranken nöt. Da wird sich wohl auch unter unsern Frauen und Maidlein wer finden, der die Pfleg' bei den Kranken übernimmt. I will gleich schauen, wo i eine auftreib'.«
Damit verließ er schnell die Kanzlei.
Der Bürgermeister aber wandte sich an die Gräfin und bat: »Verzeihung, Exzellenz, wenn ich jetzt in Ihrer Gegenwart etwas derb und laut werden muß!«
Die Gräfin nickte kurz mit dem Kopfe. Auch ihr Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck angenommen, ein Zug lag darin, den ein Unkundiger wohl als Härte hätte deuten können, und Hunderte von denen, die schon vor dieser Greisin als Bittsteller gestanden hatten, würden erstaunt gewesen sein, daß sich die Sonne der Güte, die sonst auf diesem Gesicht lag, so tief verschatten könne.
»Hört mal, Gottwalden«, sagte nun der Bürgermeister, seine Stimme zunächst mit Gewalt dämpfend, und trat ein paar Schritte auf die Megäre zu, »Ihr habt da eben vor dem Zillertaler den Ruf von uns Schmiedebergern stinkend gemacht. Der Mann kann ja nicht wissen, daß Ihr das verrufenste Schandmaul der ganzen Stadt seid. Und auch die Frau Gräfin hier habt Ihr angepöbelt, der wir alle so viel Dank schulden. Ja sogar an des Königs Majestät habt Ihr Euch vergangen; denn in seinem Namen nehmen wir ja die Fremden hier auf und mühen uns, für sie zu sorgen. Und nun kommt Ihr und nennt diese Unglücklichen ›Pack‹ und ›Zigeuner‹ und wehrt Euch, sie zu pflegen, wie's Eure Pflicht wäre!«
»Ich denk' ni ock alleene asu, Herr Bergemeester!« schrie die Frau dazwischen, die es ohnehin schon innerlich zerriß, daß sie sich von irgendwem eine so lange Vorhaltung machen lassen mußte, und ihre spitze Nase stach nach den beiden andern wie mit einem Dolche. »Do froin Se ock eim ganza Stadtla rim! Do denkt a jeder a su wie ich! Und kee Mensch dankt's Ihn'n, daß Se und Se oa'n ins die fremda Frasser uf a Hoals zebriert (gezaubert). Ma weeß ju ober schunt, westehoalber Se sich a su viel Mühe im die ga'n, Sie und dar ale knietschige Gebauer derzune (dazu). Dar quetscht's sen'n Arbeetern wieder oab, woas ha dam fremda Gesindel nochschmeßt, doaß ha und ha kriegt'n Orden und Titel meh.«
»Genug jetzt, Schandfresse!« schrie da der Bürgermeister fassungslos. »Genug! Und marsch raus mit Euch! Euch ist hiermit zum nächsten Ersten gekündigt! Sie sind doch einverstanden, Herr Doktor?«
»Mit Wonne!« stimmte Dr. Weigel zu, den die ganze Szene abwechselnd stark erregt und stark belustigt hatte.
»Also gut und nun marsch raus!« kommandierte der Bürgermeister, in seinen Hauptmannston zurückverfallend.
Die Gottwalden schnappte noch ein paarmal mit ihren zahnlosen Kiefern wie ein Fisch, der aufs Trockene geraten ist, nach Luft, um sich zur Wehr zu setzen. Aber sie brachte ihren gewohnten kecken Mut nun doch nicht auf, weil sie merkte, daß es ihr ernstlich um Brot und Stellung ging. Als sie drum der Hauptmann a. D. noch einmal so imponierend mit seinem »Marsch, hinaus!« anherrschte, entsank ihr die sonst so rege Zankkourage, und so schubbste sie ihren Mann, der immer nur blöde vor sich hin genickt hatte, als wolle er sagen: »Ju, ju, su 'a Tracha is se!«, vor sich her zur Tür hinaus. Erst auf dem Flur fand sie Mut und Sprache wieder und erbrach nun ihre gallige Wut in einem Wust von Schimpfreden auf den Bürgermeister, die Gräfin, den Doktor, vor allem aber auf die Zillertaler wie ein Raubvogel das Gewölle.
In der Kanzlei herrschte erst einen Augenblick Stille. Dann wandte sich der Bürgermeister an die Gräfin: »Bitte tausendmal um Entschuldigung, Exzellenz, daß ich so laut und derb wurde! Aber auf andere, sanftere und gentilere Art wären wir die Megäre kaum los geworden.«
»O bitte, Herr Bürgermeister,« beruhigte ihn die Gräfin freundlich, »machen Sie sich keine Unruhe. Sie konnten kaum anders handeln. Was mich betrübt, ist die Stimmung der hiesigen Bevölkerung gegen die Zillertaler, die sich da so grob vor uns enthüllte. Denn den Eindruck hatte ich, daß die Frau nicht log, als sie von den andern Schmiedebergern sprach.«
»Das muß ich leider bestätigen, Exzellenz«, sagte nun Dr. Weigel. »Es beginnt bedenklich unter den Hiesigen zu gären, weil man mit Neid auf die Fremden blickt und sie als gefährliche Konkurrenten ansieht.«
»Schlimm, sehr schlimm!« murmelte die Gräfin und sah betrübt zu Boden. »Etwas Ähnliches hab' ich mir schon gedacht. Es ist mir auch schon viel Ungereimtes zu Ohren gekommen, was über diese Leute geschwatzt wurde, noch ehe sie herkamen. Einzeln gefallen sie wohl, was bei so viel Treuherzigkeit und frommem Sinn ja auch ganz selbstverständlich ist. Aber im ganzen scheinen sie de trop.«
Der Doktor stimmte zu, und die drei Kanzleiinsassen vertieften sich nun in Erörterungen, wie man dieser üblen Stimmung der einheimischen Bevölkerung begegnen könne. – –
Fleidl hatte indessen ziemlich planlos das Rathaus verlassen.
Auch in ihm kochte es: er empfand die Lästerungen der Gottwalden wie einen Schlag ins Gesicht.
So also schätzte man in der Stadt die Vertriebenen ein!
Als ›Pack‹ und ›Zigeuner‹ galten sie!
Und man wehrte sich, ihre Kranken zu pflegen!
Ja, um Gotteswillen, wenn das alles nun unter den Tirolern bekannt wurde?!
Besonders bei denen um den alten Heim her!
Er kannte seine Landsleute zu gut, um sich zu verhehlen, daß sie nichts so sehr aufbringen werde, als solche offenbare Nichtachtung. Und wenn sie solche Reden anhören mußten, dann war's ganz aus! Dann gab's wohl kaum noch ein Halten, und es konnte leicht geschehen, daß sich die Mehrzahl wieder nach Österreich zurückwandte, ehe hier noch eine Ansiedlung erfolgen konnte.
»Und dann war alles, alles umsonst!« seufzte Fleidl, und vor seinem inneren Auge stand plötzlich Sara Baggs lockendes Bild. »Auch dieser Verzicht und Kampf umsonst!«
Er flüsterte das, während er ratlos auf der Straße stehen blieb.
Wohin sollte er sich wenden, um schnell eine geeignete Pflegerin für die Cholerakranken zu finden?
Rasch ließ er seine Gedanken von einer zur andern wandern unter den Frauen und Mädchen seiner Landsleute. Aber die einen erschienen ihm nicht geeignet, und die andern waren nicht abkömmlich.
In seiner Ratlosigkeit war er einige Schritte stadtauswärts gegangen.
Da begegnete ihm Marie Schieftl.
»Sollte sie –?« schoß es ihm durch den Sinn. Aber schnell verwarf er den Gedanken. »Die würde zu allerletzt bereit sein! Und dann hat sie ja auch ihren Vater zu versorgen.«
Schnell wollte er an ihr vorüber.
Da rief sie ihn an, ob er's gar so ›pressiert‹ habe, und was für ein Gesicht er aufgesteckt hätte.
»Hast leicht Ärger g'habt?«
»Nöt Ärger, aber halt allweil gar viel Sorg'!« erwiderte er, blieb stehen und erzählte ihr nun, was er eben im Rathause erlebt hatte, nur die Lästerungen der Gottwalden verschwieg er.
»Also an einer Pfleg'rin mangelt's?« fragte Marie Schieftl überlegend. Und mit plötzlichem Entschlusse, zu Fleidl aufsehend, setzte sie hinzu: »'s läg Dir wohl viel dran, Hansel, wann sich eine finden möcht', die die armen Hascherln im Spital verpflegen tät?«
»Gar arg viel!« gab Fleidl zu.
»Na, da will i's in Gott's Namen versuchen, Hansel!« sagte sie mit einem halb verlegenen Lächeln. »I tät Dir halt scho gern mal was z' G'fallen, Hansel. Hast's, mein i, um uns verdient.«
Fleidl sah das robuste Mädchen von unten bis oben erstaunt an.
»Wie?« fragte er. »Du – Marie – Du willst –?«
»Ja!« lachte sie erheitert heraus. »Traust mir's leicht nöt zu, so was Gut's? Na, versuch's nur, Hansel!«
»Und Du fürcht'st Di nöt ein Lützel vor der Seuch', Marie?«
»Fürchten? I mi fürchten?«
Es klang fast geringschätzig.
»I fürcht' mi vor nix nicht!«
»Und Dein Vater? Wer sorgt allweil für den?«
»O, das find' sich! Im Notfall muß er selber für sich sorgen. Hat eh nix z' tun, als nach die Rösser zu schauen.«
»Nun, Marie,« sagte Fleidl da aufatmend, »wann Du Dir's zutraust –! Gar fein recht sollt' mir's scho sein, wann Du's übernehmen möcht'st. Und – und vergessen würd' i Dir das nöt bis an mei Lebensend, Marie. Das kannst glauben.«
»Schon gut, schon gut, Hansel!« schnitt sie kurz seinen Dank ab. »I geh nur schnell zum Vater, daß i ihm B'scheid sag. In einer halben Stund' bin i im Spital.«
Schnell eilte sie mit männlich entschlossenen Schritten ihrer Wohnung zu, während sich Fleidl zum Rathause zurückwandte.
»Wer hätte das gedacht?« grübelte er. »Auf die Marie Schieftl hätt' i, weiß Gott, zu allerletzt verfallen mögen. Ein resolutes Frauensleut ist's! Das muß wahr sein! Und ein blitzsauber's dazu! Mi wundert's nur, daß sie noch ledig ist!« – – –
Marie Schieftl führte aus, was sie Fleidl versprochen hatte, obwohl ihr Vater einen gelinden Wutanfall bekam, daß die Tochter dem Tode geradezu in den Rachen laufen wolle. Er konnte sich diesen Zug von Selbstaufopferung schlechterdings nicht erklären; denn bisher hatte er an seiner Tochter wohl einen gesunden bäuerischen Egoismus, nicht aber eine derartige Selbstentäußerung beobachten können.
»Da muß was dahinter stecken!« grübelte er, und mit bäuerischer Schlauheit forschte er vorsichtig nach, mit wem die Tochter seit dem Bekanntwerden der Cholera-Erkrankungen zusammengetroffen sei.
Aber er bemühte sich vergeblich; denn Maries Begegnung mit Fleidl war ohne Zeugen geblieben, und sie selbst hütete sich wohl, von Fleidl ein Wort zu verlieren, während sie in aller Eile die notwendigsten Sachen zusammenpackte.
Als Dr. Weigel vom Rathaus her ins Spital kam, fand er sie bereits dort vor.
Mit einem leisen Mißtrauen betrachtete er die robuste Person, die da so aus blauem Himmel als Pflegerin hereinschneite. Aber schon nach den ersten Anweisungen änderte sich seine Meinung: das Frauenwesen erwies sich als sehr intelligent und anstellig und – was ihm die Hauptsache war! – ohne jede Spur von Furcht oder auch nur Ängstlichkeit beim Anblick des schrecklichen Zustandes der beiden Kranken.
So konnte er's wagen, sie mit Marie Schieftl allein zu lassen, um sich auch den erschreckten Schmiedebergern zu widmen. –
Marie Schieftl durchlebte nun ein paar merkwürdige Stunden.
Sie sah die Qualen der Kranken, die sich entstellt, krumm gezogen und mit Schaum vor dem Munde auf ihrem Lager wälzten, offenbar ohne rechte Besinnung.
Sie wußte, daß ihr in wenigen Stunden ein gleiches Los beschieden sein könnte, ja wahrscheinlich sein würde, mit einem Ausgange, der dunkel und verschleiert war.
Aber es fiel sie trotzdem nicht die geringste Bangigkeit an.
Ruhig und zuversichtlich vollbrachte sie alle Handgriffe, die ihr der Arzt anbefohlen hatte. Mit sanfter Stimme sprach sie den Betäubten Mut und Trost zu, und als der alte Egger einmal in einer Pause seiner Krampfanfälle zum helleren Bewußtsein erwachte und sogleich mit schwacher Stimme fromme Liederverse zu beten begann, glitt sie auf die Knie neben seinem Bette nieder und sprach die flehenden Worte voll Andacht mit.
Sie überhörte dabei, daß die Tür hinter ihr aufging und Dr. Weigel erhitzt eintrat.
Er blieb überrascht bei diesem Anblick stehen und dachte bei sich: »Sie sind doch au fonds ein frommes Völklein, diese flüchtenden Bauern, so wenig sie's im ganzen auch zur Schau tragen. Man kann sich an ihnen erbauen, und unsere religiös so gleichgültige Bevölkerung könnte wohl manches von ihnen lernen, statt sich feindselig gegen sie zu erweisen.«
Leise verließ er das Zimmer wieder; denn er meinte, dies gemeinsame Ringen des Kranken und seiner Pflegerin um den Beistand des Himmels würde mehr vollbringen können als seine Mittelchen, mit denen er – wie er sich selber eingestand – doch nur im Dunklen tastete, weil ja nicht einmal die Natur der unheimlichen asiatischen Krankheit von irgendwem bisher hatte richtig erkannt werden können.
Erfüllt von dem Gemütseindruck, den er eben in der Schmerzenszelle des Spitals empfangen hatte, traf er Fleidl, den es in einer dunklen Unrast nicht daheim litt, auf der Straße.
Mit begeisterten Worten rühmte ihm gegenüber der Doktor Marie Schieftls Verhalten und verschwieg auch nicht, wie tief sie ihn selbst durch ihre fromme Art ergriffen habe.
Voll Nachdenkens darüber ging Fleidl, nachdem der Arzt geschäftig weitergehastet war, seiner Wohnung zu.
Er war durch das Urteil des Doktors über Marie Schieftl teils erstaunt, teils erfreut und teils bedrückt.
»Ja«, dachte er, »es müssen wohl allweil' erst solche schwere Heimsuchungen kommen, ehbevor man einen Menschen richtig durchschaut. Aber a Freud' ist's halt scho, wann sich nachher zeigt, daß soviel Gut's in einem versteckt liegt, wie in dieser Marie Schieftl. Aber ein Kreuz bleibt's halt doch, daß man seine Mitmenschen gar so arg weni kennt. Ein Kreuz ist's! Und i schäm' mi frei vor mir selber, daß i die Marie gar nimmer so hab' schätzen g'mocht, als sie's verdient.«
* * *
Pflege, Gebet und Flehen halfen nicht: die beiden Cholerakranken starben rasch nacheinander und drei Schmiedeberger dazu.
Dann erlosch die Seuche so plötzlich, wie sie noch einmal und so wenig zeitgemäß aufgetaucht war.
Aber die Nachwirkungen der Todesfälle erwiesen sich beharrlicher.
Marie Schieftl, deren kerngesundes Blut auch der Cholerabazillen, von deren Dasein damals noch niemand in der Welt eine Ahnung hatte, Herr wurde, blieb noch lange eine achtungsvoll angestaunte Persönlichkeit, nicht nur bei ihren Landsleuten, sondern auch bei den Einheimischen, und Fleidl verkehrte mit ihr seit diesen Pflegetagen wie mit einem guten Kameraden, auf dessen Beistand man sich unbedingt verlassen kann.
Es kam nun häufig vor, daß er plötzlich in ihre Wohnung trat, wo's immer höchst reinlich und ordentlich aussah, und sie um einen Rat fragte oder sie zu irgendwelcher Hilfeleistung in Anspruch nahm. Er entdeckte mit der Zeit, daß sie trefflich geeignet sei, Querköpfe in einer kurzen, bestimmten, wenn's not tat, auch derben Art zurechtzurücken, und betraute sie nun oft mit solcher Mission.
Und das tat von jetzt ab sehr häufig not.
Denn zu den üblen Nachwirkungen der Cholerafälle gehörte leider auch eine immer zunehmende Unzufriedenheit der Eingewanderten mit ihrem Lose in der kleinen Zufluchtstadt Schmiedeberg. Die Furcht vor der Seuche, die keineswegs auch mit dieser erlosch, belebte das Heimweh, das an allen Herzen, an allen, ohne Ausnahmen, fraß, in einer verhängnisvollen Weise.
Weniger Heimweh allerdings, als vielmehr arge Enttäuschung war's, was ein paar Dutzend Leutchen schnell wieder auf und davon trieb. Sie gehörten dem ›Pöbelvolk‹ an, das aus keinerlei religiösen Motiven, sondern einzig aus Abenteuerlust oder Gewinnsucht mitgelaufen war und nun arg und schmerzlich enttäuscht sehen mußte, daß es hier nichts Unterhaltsames zu erleben und gar, gar nichts zu ergattern gab an Geld und Gut. Es waren meist Insassen der Gebauerschen Schürzenfabrik, die da bald nach der Cholerazeit ihre Armseligkeiten zusammenrafften und fluchtartig bei Nacht und Nebel über die nahe österreichische Grenze verdufteten.
»Gottlob, daß wir die los sind!« sagte Fleidl aufatmend und fand darin auch den Beifall der Gruppe um Heim und Koland.
Aber ohne nachteilige Wirkung blieb diese Rückflutung doch auch auf den wertvolleren Teil der Emigrantengemeinde nicht; die schmutzige Welle leckte und nagte im Rückfluten an dem soliden Ufergestade und unterwusch und lockerte es, so daß es stärker als je in die Gefahr geriet, einzubrechen und von der Schmutzwelle mit fortgespült zu werden.
An hundert Anzeichen merkte Fleidl, wie wankend der Grund wurde, der bisher den Mut und die Zuversicht der Besten um ihn her noch getragen hatte, und daß auch sie immer mehr in zermürbendes Heimweh versanken wie in ein gleitendes Moor.
Was er aber nicht beobachten konnte, das war die ganz geheime Wühlarbeit, die inzwischen Ignatz Heim mit ähnlicher Wirkung betrieb.
Seitdem die Verhältnisse ihn ganz von Sara Bagg getrennt hatten, gewannen alle bösen Geister über ihn Gewalt, die ihn von Natur aus beherrschten und bisher nur durch den Einfluß seines Vaters und seiner im ganzen doch stark religiös gerichteten Umgebung notdürftig im Zügel gehalten wurden. In der Zeit der Auswanderung, während ihm Sara ständig nahe war, hatte manchmal sogar ein Hauch religiöser Begeisterung sein Herz bestrichen, und er hatte sich selbst wohl manchmal vorgeredet, er sei ›ums reine Wort Gottes‹ aus dem Tirol gegangen, wobei er's als Schuldigkeit des Himmels voraussetzte, daß ihm zum Lohn die schwarzköpfige Sara zuteil werde.
Nun aber ließ sich die Sache so ganz anders an!
Ins gerade Gegenteil dessen, was er gehofft hatte, verkehrte sie sich; denn im Buchwalder Schlosse war ihm Sara nicht leichter erreichbar, als wenn sie hierher nach Schlesien, er aber in die Steiermark ausgewandert wäre, zumal sich Sara offenbar gar nicht bemühte, einmal wieder mit ihm zusammenzukommen. Im Gegenteil: offenbar ging sie darauf aus, jede Begegnung mit ihm zu vermeiden.
Ob sie sich Fleidl gegenüber auch so rar mache, entzog sich seiner Kenntnis. Aber er nahm selbstquälerisch das Gegenteil dessen an und meinte, Fleidl habe für ihre Unterbringung im Schloß der Gräfin, seiner Gönnerin, nur deshalb gesorgt, damit er dort recht ungestört mit ihr ›scharmutzieren‹ könne.
Dieser Gedanke aber erfüllte ihn mit schäumender Wut und nährte allmählich in ihm einen stockblinden Haß gegen Fleidl groß.
Von diesem Dünkel geleitet, legte er's nun drauf an, Fleidl den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Er verleumdete ihn, wo er nur irgend willige Ohren fand, als einen selbstsüchtigen, gewinnlüsternen, eitlen und ehrgeizigen Menschen, dem's nur darauf ankomme, die ganze Gemeinde zu beherrschen, um bei den vornehmen Leuten als geehrter Gast ein- und auszugehen und schließlich für sich den größten Gewinn bei der Verteilung von Grund und Boden herauszuschlagen.
Die giftige Saat schoß üppig ins Kraut, und Fleidls Gemüt wurde von den Stacheln, die mit aufgingen, nicht selten aufs schmerzhafteste verwundet, wenn versteckt solche Verdächtigungen gegen ihn ausgesprochen wurden.
Wie aber sollte er sich gegen sie wenden?
Da er nicht einmal ihren Ursprung ahnte, schrieb er sie der allgemeinen Verzagtheit zu. Als aber einmal einer der rüdesten Vertrauten Ignatz Heims offen ähnliche Beschuldigungen, wie dieser sie geheim ausstreute, gegen Fleidl aussprach, da brach die Empörung so stark aus ihm heraus, daß es fast zu einer Schlägerei gekommen wäre.
Der Beleidiger verschnappte sich hierbei, woher die Anschuldigungen stammten.
Das machte Fleidl sehr stutzig.
So also dachte man von ihm im Heimschen Kreise?!
Der alte Heim auch?
Schnell verwarf Fleidl diesen Verdacht wieder: an der redlichen Gesinnung des Alten war nicht zu zweifeln.
Aus dem Sohne aber sprach offenkundig der Haß, der seine Wurzel in der Eifersucht hatte.
»Am g'scheitsten wär's«, dachte Fleidl, »i machte der ganzen G'schicht' mit der Sara ein End', beim Ignatz und bei mir selber auch, und heirat't die Marie Schieftl. Das wär' noch gar nöt so arg übel! Sauber ist sie, und ein gut's Gemüt hat sie auch, wie i nun seit der Cholera-G'schicht' weiß.«
Immer häufiger spielte der sonst so ernste Mann gleichsam mit diesem Gedanken, den ihm Ignatz Heims hinterhältiges Treiben in den Kopf gesetzt hatte. Aber wenn er sich dann einmal ernstlich ausmalte, wie die tatsame Marie neben ihm und um ihn her wirtschaften werde, dann tauchten Sara Baggs schwarze Augen hinter ihr mit viel stummer Anklage und tiefem Weh auf, und das nahm ihm immer die Entschlußkraft, die Sache schnell zu dem so vorteilhaft erscheinenden Ende zu führen.
Und in Marie Schieftls Wohnung ging er von dieser Zeit an nicht mehr, als laure dort ein Verhängnis auf ihn.
* * *
Die Gräfin Reden ließ es unterdessen nicht an klugen Versuchen fehlen, die Zillertaler zum Einwurzeln in den neuen Wohnboden zu bringen, der leider zunächst noch kein Nährboden für sie werden konnte.
Unablässig zog sie die, die sich nur irgend erfassen ließen, an sich und wandte allen ihren Einfluß darauf, daß ihre vornehmen und hochstehenden Freunde auch so handelten. Und so entwickelte sich ein reger, vertrauter, ja fast inniger Verkehr zwischen den hochgeborenen, fürstlichen und allerhöchsten Schloßbewohnern des Tales und dem fremden Bauernvölklein, wie er seinesgleichen schwerlich sonstwo jemals gefunden haben dürfte.
Es war das auch nur möglich, weil diese aristokratischen Herrschaften eben wahrhafte Aristokraten waren und obendrein auf diesen ihren Sommersitzen im Gebirge gleichsam das fürstliche und hochadlige Repräsentationsgewand gegen einen bequemeren, menschlicheren Hausrock vertauschten oder gar in reizend wohltuender Weise sozusagen in Hemdärmeln gingen, und weil andrerseits die wertvollsten Persönlichkeiten der Zillertaler von einer so offenherzigen und treuherzigen Bescheidenheit und teilweise sogar von so zartsinniger Zurückhaltung waren, daß Kränkungen des aristokratischen Standesbewußtseins ganz ausgeschlossen erschienen.
Natürlich vollzog sich dieser intime Verkehr in erster Linie auf religiösem Gebiet.
Den beschäftigungslosen Eingewanderten blieb reichlich Zeit, alle Gottesdienste in Schmiedeberg und in dessen Umgebung zu besuchen, und der geistliche Hunger war unter ihnen zunächst ja auch so groß, daß sie davon nicht leicht genug bekommen konnten.
Nicht nur am Sonntag fand man sie vollzählig in der schönen Schmiedeberger Stadtkirche um Pastor Süßenbachs Kanzel her, sondern sie pilgerten auch in den Wochentagen aufs Land, den schlichten Dorfkirchen eine Fülle von Besuchern bescherend, wie diese vorher noch nie zu fasten hatten, und horchten in Buchwald mit der Gräfin Reden und ihrer frommen Schwester zusammen auf Pastor Haupts zwar schüchtern rationalistisch gefärbte, aber doch sehr klare und übersichtliche Predigtvorträge oder erbauten sich in Fischbach mit der frommen Familie des Prinzen Wilhelm an Pastor Siegerts kindlich-gläubigen und so tiefgründigen Unterweisungen aus Gottes Wort.
Einen engeren Zillertaler Kreis sammelten die Schloßinsassen aber in ihren eignen Räumen um sich.
Den ›Stunden‹ mit denen im weißen Saale des Buchwalder Schlosses unter Harmoniumspiel, Schriftverlesung und -auslegung jegliches Tagewerk zu Ende gebracht wurde, wohnten von jetzt ab fast immer Zillertaler bei, oft ihrer an fünfzig oder sechzig, daß der große Raum mit seiner säulengetragenen Decke manchmal die Menge kaum fassen konnte.
Aber auch die Prinzeß Wilhelm, die in der breiten rationalistisch gerichteten Schicht der damaligen Zeit als ›sentimentale Pietistin‹ verschrien war, kniete in dem Spitzbogengewölbe ihrer romantischen Hauskapelle im Fischbacher Schlosse Seite an Seite mit Fleidl, Michael Koland, Mathias Rahm, Christian Brugger, Simon Kröll, den Fankhausern und Schnellriedern und Wechselbergern und Gottern und Kreideln samt ihren Frauen, Söhnen und Töchtern, und sah es mit Freuden an, daß sich ihre eignen, heranwachsenden Kinder mit denen der Zillertaler befreundeten und ließ diese ihre Kinder auch zum deutlichen Zeichen hierfür während des wonnigen Aufenthaltes in der Fischbacher Ungebundenheit die Tiroler-Tracht tragen.
Fleidl fehlte natürlich fast niemals bei solchen Gebetsversammlungen, und so konnte er besonders gut beobachten, wie das Buchwalder Schloß durch all diese religiösen und weltlichen Angelegenheiten zu einem wahren Taubenschlage für die Zillertaler wurde.
Dies kam ihm wieder einmal so recht zum Bewußtsein, als er an einem Morgen Mitte November mit der Gräfin zu einer Besprechung im ›blauen Zimmer‹ saß.
Es war nach der Tapete und den Sesselbezügen so benannt, die auf dunkelblauem Grunde ein buntes Blumenstreumuster zeigten.
Mit drei hohen Fenstern öffnete sich das Zimmer nach der Parkseite mit der Aussicht auf einen Teich, an dessen gegenüberliegendem Ufer jene halbrunde ›Königsbank‹ den Dank Friedrich Wilhelms für die Fürsorge verkörperte, die die Gräfin der darbenden Anmut des Tales während eines Hungerwinters vor einigen Jahren erwiesen hatte.
Längs der einen der drei fensterlosen Wände standen Mahagoni-Bücherschränke, alle gleichartig mit geradem Leistenspreizwerk vor den grünverhangenen Scheiben.
Die Gräfin hatte ihren Platz zwischen zwei Fenstern an einem geräumigen Schreibtische, der aus demselben schönen, dunklen Mahagoniholze gefertigt war wie die Bücherschränke.
Eifrig wie immer besprach sie mit Fleidl allerhand Angelegenheiten der Zillertaler.
Heut handelte sich's hauptsächlich um die religiösen Unterweisungen der Erwachsenen, die Pastor Siegert teils in der Schmiedeberger Schule, teils in der Fischbacher Kirche an mehreren Tagen der Woche abhielt.
»Pastor Siegert ist von Herzen zufrieden mit dem bisherigen Erfolge«, sagte die Gräfin, und ihr gütiges Gesicht strahlte dabei aufrichtiges Herzensglück aus. »Aber er meint, man dürfe hierbei nichts durch ungeduldige Hast verderben. Da will etwas heranreifen, was viel Sonne und auch viel Zeit braucht. Nichts wäre verkehrter, als wenn wir von den in unserem lutherischen Bekenntnis eben erst Unterwiesenen sogleich auch schon Zeugnis und Früchte der Unterweisung fordern wollten.«
Fleidl nickte zustimmend, aber ehe er sich mit Worten äußern konnte, schob der alte Kriegel ein verhutzeltes Männchen ins Zimmer, das erheblich älter ausschaute, als das seinen fünfundvierzig Jahren nach hätte sein sollen.
»'s ist der Joseph Knopflocher«, sagte Fleidl, den fragenden Blick der Gräfin beantwortend, die verwundert dreinsah, daß dieser Zillertaler mit bloßen Füßen bei ihr eintrat. Durch diesen Blick dazu angeregt, fragte Fleidl mit leisem Unwillen: »Laufst wieder ohne Schuh rum, Joseph? Und 's geht doch allweil eh schon stark auf den Winter zu.«
»Tut's wohl, Winkel-Hansel! Tut's wohl scho allweil!« antwortete der Kleine und lächelte pfiffig dazu. »Aber daheim im Zillertal kommt der Winter eh noch rischer denn hier. Und doch weißt', hab i vor den Weihnachtstagen selten Schuhzeug g'tragen.«
»Azi!« nieste er jetzt laut und wischte seine Schnupfennase in den Zipfel seiner Joppe, die durch einen verdächtigen Glanz verriet, daß sie stets solchem Zwecke dienen mußte. »Azi!«
»Helf-Gott!« rief die Gräfin freundlich-amüsiert. »Und was wünscht Ihr, lieber Mann?«
»Ein Tränkel, wann i schön bitten dürft', gute Muetter! Um ein Tränkel möcht' i schön g'beten hab'n, wie's der Äppel-Lehne gestern g'geben hast, bitt schön! I hab gar so arg viel den Schnupfen in dem bösen Novembermond. Azi!«
»Weil's barfuß gehst, Joseph!« herrschte ihn Fleidl an.
»Wie meinst, Winkel-Hansel?« fragte der Kleine mit gut gespielter Blödigkeit. »Daheim im Zillertal kommt der Winter eh noch rischer denn dahier, weißt', und doch hab i – «
»Scho gut, scho gut, alter Narrhans!« schnitt ihm Fleidl die Rede ab.
Die Gräfin aber hatte bereits nach einem der kleinen homöopathischen Fläschchen gegriffen, die neben ihr in einem schmalen Apothekerregal recht zur Hand standen, und belehrte nun den Kleinen über den Gebrauch des ›Tränkels‹, das gegen hunderterlei Krankheiten half, wie die sonst so kluge Frau mit den Einfältigsten der von ihr ›Bekurierten‹ glaubte.
Nachdem der Knopflocher mit einem wortreicheren Danke, als er sonst in der Zillertaler Art lag, hinausgeschlurft war, sagte sie: »Nehmt's nicht übel, Fleidl, aber ich muß Euch mal auf etwas aufmerksam machen, was uns hierzulande an Euch Zillertalern störend auffällt, und zwar nicht bloß an dem ›Atzi‹-Knopflocher da: das ist, daß Ihr Euch alle in die Joppen- und Blusenärmel schneuzt.«
»Das ist halt alleweil so Brauch bei uns g'wesen!« warf Fleidl kleinlaut ein.
»Ein etwas cochonöser Gebrauch, Fleidl! Ich kann's beim besten Willen nicht anders nennen. Und weil es Euch in den Augen der Leute hier herabsetzt, wollen wir's möglichst bald ändern. Ich will trachten, daß wir für Euch alle Schneuztücher anschaffen können.«
»Ganz gut, liebe Mutter!« sagte Fleidl bedrückt. »Wenn sie die Lackels nur auch brauchen möchten! Sie haben halt in Gottes Namen aber dicke Schädel in solchen Sachen, die sie nöt gewohnt sein.«
»Ja, sie sind brave Leute,« gab sinnend die Gräfin zu, »gute, bescheidene, fromme Leute allermeist. Aber es gibt auch Hart- und Quer- und Hitzköpfe unter Euch. Das sehe ich schon. Und Heilige seid Ihr gottlob noch lange nicht, wenn Ihr auch des Glaubens wegen ausgewandert seid.«
»Ist wahr, gute Mutter! Ist gar sehr wahr!« stimmte Fleidl zu und dachte an all die Widerwärtigkeiten, die ihm allein schon in Gebauers Schürzenfabrik erwuchsen. Und so hielt er denn auch nicht mit seinen Bedenken zurück über die plötzliche Neuerung mit den Schneuztüchern. Nach langer Beratung wurden sich die beiden einig, daß nur unauffällig verfahren werden könnte, indem die Gräfin zuerst die Kinder und dann die Frauen bei passender Gelegenheit mit Taschentüchern beschenke.
»Bei den Mannerleuten werdet Ihr nöt viel Glück haben mit den Fazinettlein, auch wenn wir Deputierten die neue Mod' mitmachen. Frotzelei wird's eh genug derhalben setzen gegen uns. Aber daran will i mi nöt kehren!« sagte Fleidl mit einer Entschlossenheit, als handle sich's um eine hochwichtige Staatsangelegenheit: er kannte seine Pappenheimer!
Eben, als er zu diesem Entschlusse gekommen war, öffnete der alte Kriegel schon wieder behutsam die Tür, und es traten zwei ältere Zillertalerinnen herein. Sie kamen, um wollene Decken abzuholen, weil sie bei der großen Deckenverteilung vor drei Tagen im Schulhause nicht zugegen sein konnten.
Kaum waren sie unter würdigen Dankesworten abgetreten, flatterte gleich ein ganzer Schwarm junger Mädchen und Frauen hinter dem alten Kriegel her ins blaue Zimmer.
Neugierig lugten sie sich in allen Ecken um, stießen einander mit den Ellenbogen an, wiesen auf die bunten Stickereien in den blauen Sessellehnen hin und horchten dann wieder mit offenen Mündern, in denen weiße, starke Zähne blitzten, auf das Gespräch, das sich zwischen der Gräfin und der Maria Wechselberger entwickelte, die sie sich zur Sprecherin erwählt hatten.
Diese, eine prachtvoll gewachsene junge Bäuerin, trug ihre bunte Tracht mit einer gewissen Hoheit, als sei sie ein Königskind, das aus Neckerei oder aus sonst einer Laune in Bauernkleider schlüpfte.
Mit sichtlichem Wohlgefallen betrachtete die Gräfin durch ihre Lorgnette die runden Schultern und kräftigen Arme, den schlanken Hals, für den der zierliche Kopf mit dem vollen, blonden Flechtenkranze eine fast zu leichte Last schien, das gesundheitsprühende, runde Gesicht mit den blühenden, kirschroten Lippen und den übermütig funkelnden braunen Augen.
Um einen ›Zedel‹, d. h. um einen Empfehlungsbrief an die Prinzessin Wilhelm, bat Maria Wechselberger für sich und ihre Genossinnen die ›gute Muetter‹, damit sie im Fischbacher Schlosse die zugesagten Tiroler Spinnräder erhielten, mit deren Hilfe sie sich die kommenden Winterabende verkürzen und einen kleinen Gewinn verschaffen wollten.
Sie erhielten das Gewünschte, nachdem sich die Gräfin freundlich bei jeder einzelnen nach ihren Angehörigen erkundigt hatte, und mit verhaltenem Kichern, das seinen Ursprung nicht minder in einer gewissen Verlegenheit als in jugendlichem Übermut hatte, drückten sich die Tirolerinnen wieder zur Tür hinaus.
Fleidl folgte ihnen bald, weil seine Verhandlungen mit der Gräfin beendet waren.
Auf der Terrasse der Freitreppe, als er schon die schwere Haustür hinter sich ins Schloß ziehen wollte, stand er plötzlich Sara Bagg gegenüber, die ihre Altersgenossinnen bis hierher begleitet hatte.
Nun stand sie noch auf der Terrasse und sah dem bunt auf dem Parkwege davonflatternden Schwarme mit einer gewissen Wehmut nach; so sehr sie sich auch in der Nähe der Gräfin geborgen fühlte, manchmal erschien sie sich in dem streng geregelten Schloßdienste doch wie der Vogel im Käfig.
Sie erschrak gleich Fleidl, als sie sich ihm so plötzlich gegenübersah, allein und auf dem engen Raume des Tür-Vorplatzes, wo sie unmöglich ganz stumm aneinander vorüberkonnten.
»Grüß Gott, Sara!« sagte Fleidl zögernd. »Wie geht's denn allweil?«
»Gut geht's!« antwortete Sara schnippisch. »Ganz gut! Viel Ehr', daß D' Dich nach mein'm Ergehen erkundigst! Viel Ehr'!«
»Wie meinst' das Sara?« fragte Fleidl mit deutlicher Betrübnis im Ton.
»Na, wie soll i's meinen? Alsdann, wann einer so der Freund von unserer gnädigen Exzellenzen-Frau ist, ja dann nimmt's halt scho arg Wunder, wann er überhaupt nach so 'nem armen Hascherl fragt, dem er 'ne Dienststelle dahier verschafft hat. Oder meinst leicht, i sollt' mi etwa schön bei Dir bedanken, daß Du –«
»Sara, kränk' mi halt nöt!« schnitt ihr Fleidl halb bittend, halb drohend die Rede ab. »I hab's gut mit Dir g'meint, damals, weißt', als Du krank auf dem Wagen g'sessen bist. Und wann Dir's nöt mehr g'fallt dahier, brauchst Du ja in Gott's Namen bloß z' gehn. Die gute Mutter wird Dir's fein nöt verargen, wann D' aufsagst.«
»I weiß scho, was i z' tun hab'. I brauch kein'n fremden Rat nöt!« stieß Sara hastig heraus. »'s kommen eh g'nug Leut' zu Dir um Rat und tun, was D' ihnen sagst. Wenn's auch halbe Verrücktheiten sein, wie Cholerakrank' pflegen und so. I bedank' mi für so gut'n Rat. Verstehst'?«
Und damit knallte sie ihm die Tür vor der Nase zu.
Fleidl sah ihr verdutzt nach.
Zunächst fühlte er sich mehr zum Lachen als zum Grollen veranlaßt: die Kleine hatte in ihrer zornigen Erregung gar zu appetitlich, wie zum Anbeißen ausgeschaut. Dann aber stieg ihm doch ein bitterer Geschmack im Halse hoch. Die Anspielung auf Marie Schieftl erschien ihm doch sehr ›giftig‹. Er hätte der Sara eine solche ›gehässige‹ Gesinnung und ein solch abschätziges Urteil gar nicht zugetraut.
In schwerem Grübeln über den Vorfall ging er auf Schmiedeberg zu, heute ganz ohne Empfinden für den Reiz des Landschaftsbildes, das er sonst auf jedem seiner Buchwaldgänge immer wieder bewunderte.
Wieder, wie schon jüngst, tauchte in ihm der Gedanke hoch: »Mach' ein End' mit dem ganzen Krempel und nimm die Marie!«
Und als habe sein Gedanke eine magische Kraft, stand plötzlich auf dem Wiesenpfade Marie Schieftl vor ihm.
Sie sei auf einem Besorgungsgange nach Buchwald, erklärte sie Fleidl in ihrer frischen, sich ihm gleichsam entgegentragenden Weise und machte gleich kehrt, um ihn ›ein paar Schritt‹ zu begleiten.
Munter plauderte sie von allerhand Hilfeleistungen, die sie in den letzten Tagen ihren Landsleuten habe erweisen können. Sie wußte wohl, wie gern er das hörte, und deshalb gab sie ihrem Tun den Anstrich des ganz Selbstverständlichen.
In Fleidl rumorte es ganz gewaltig.
Sollte er diese Begegnung als einen Wink des Himmels betrachten und Marie Schieftl kurzerhand sagen: »Wir wollen uns verbinden zu gemeinsamer Hilfeleistung an den Brüdern als Mann und Weib?«
Er wußte: sie würde nicht »Nein!« sagen. Und dann war wenigstens Klarheit geschaffen auch zwischen ihm und der schnippischen Sara.
Einen scheuen Blick ließ er über die blühende, üppige Gestalt seiner Begleiterin huschen, und schon wollte er den Mund zur Werbung auftun, da sah er Sara Baggs rundes Vogelköpfchen greifbar deutlich vor seinen Augen und ihre zornige Miene von vorhin und den schmerzverzerrten Zug um ihren Mund, und da war's ihm, als schnüre ihm eine unsichtbare Hand die Kehle zu, damit er nicht reden könne, und er fühlte sich von unsichtbaren Armen zurückgehalten, als sei er im Begriff, in einen Abgrund zu taumeln.
Schweigsam ging er eine Weile neben der immer noch frisch draufzu plaudernden Marie her.
Plötzlich aber überzog deren heiter strahlendes Gesicht ein leiser Schatten, und ihr Redebächlein begann langsamer zu plätschern: mit der Hellsichtigkeit, die den Frauen in solchen Augenblicken eigen, hatte sie durchschaut, daß eben das so heiß erstrebte Glück an ihr mit abgewendetem Gesicht vorübergegangen sei.
Und da packte sie die Wut, die bei solchen Naturen katzenartig aufspringt.
Schnell brach sie ihr Geplauder ab, und mit kurzem Gruße machte sie abermals kehrt, sich Buchwald zuwendend, aus dem sich Fleidl, das war ihr klar bewußt, heut den Widerstand gegen sie geholt hatte.
»Er hat d' Sara g'sehn!« knirschte sie in sich hinein und biß sich dabei auf die schwellenden Lippen, daß das Blut nahe am Hervorspringen war. »Wer weiß, was sie mit ihm aufg'spielt hat, die schwarzhaarige Hex' die! Wann ich sie nur hier hätt'! Die Augen wollt' ich ihr auskratzen, die falschen, der z'widren Person der!« – –
Fleidl aber war's, wie er jetzt hastigen Schrittes sich der Stadt näherte, als fiele allmählich ein schwerer Panzer stückweise von ihm ab, ein Panzer, den er unbewußt getragen und der doch mit drückender Wucht auf ihm gelastet hatte.
Und schier übermütig-jugendlich brach's aus ihm heraus: »I muß doch rauskriegen, du schwarzhaariger Rappelkopf, warum du heut gar so gifti auf mi gewesen bist!«
* * *
Aber die trübseligen Novembertage ließen ihn schnell wieder vergessen, daß er für sich nach Sonne suchen wollte.
Draußen klebten die grauen, regenschweren Nebel an den Bergen wie nasse Tücher, und in den Behausungen der Zillertaler beschlich das Heimweh die Vertriebenen aus allen Winkeln und Ecken her.
Fleidl hastete in diesen Trübsalstagen von einer Wohnung zur andern, suchte zu trösten und abzulenken, Beschäftigung zu bringen oder doch zu solcher anzuregen. Und so lange die bedrückten Leutchen noch im spärlichen Tageslichte an ihren Schnitzelbänken und Spinnrocken sitzen konnten, mochte es angehen. Da wagte sich manchmal auch noch ein Heimatlied von den zagen Lippen mit einem zittrigen Frohsinn.
Aber wenn die frühe Nachmittagsdämmerung bleiern durch die Straßen und in die engen Stübchen schlich, dann wurden die Untätigen machtlose Opfer des würgenden Wehs um die verlassene Heimat.
»Wann i da so sitze in meiner finstern Fensterecke in dem engen Loche dahier, dann packt mi's, Winkel-Hansel!« klagte die leidenschaftliche Frau Adam Eggers. »Wann i da so sitze und vor mi hinsinne, dann fühl' i, wie's daherschleicht, von da hinten, hinter'm Ofen her, wie auf Filzsohlen schleicht's, wann man's gleich nöt sehen kann, und dann, dann kriecht's an mir hoch, an meinen Knien, und wirft sich mir auf d' Brust und quetscht und quetscht und preßt mi da so arg viel, daß i den Atem nöt mehr hochkriege, und dann – weißt', Winkel-Hansel, dann faßt mi's an der Kehl', mit langen, dürren, harten Spinnenfingern packt mi's und schnürt mir d' Gurgel zu, daß i nöt mehr schnaufen kann. Und da wird die Finsternis um mi her ein glühender Dunst und Broden, und in dem Dunst und Broden, da lacht weit, weit hinten, so weit, daß man's gar nöt derreichen könnt', so sehr man auch nach ihm langen möcht', ein schönes, schönes, lachendes Bild voll Sonnenschein: der grüne Zillerfluß zwischen den hohen, blauen Bergen und unser schöner, stattlicher Hof in Dux auf den grünen Matten zwischen den dunklen Wäldern.«
»Laß gut sein, Eggerin«, tröstete Fleidl, »und stemm' Di nur wacker gegen die Heimseuchen. So muß i 's wohl genennen; denn das Heimweh ist schon gar zur Krankheit bei Euch g'worden. Denk' nur dran, daß jetzt im Zillertal auch der Nebel die Berg' verhängt, daß man nöt fünf Schritt weit sehen kann, und daß es kalt stürmt und regnet und bei Euch daheim in Dux schon gar mit nassem Schnee manscht. Nein, es ist allweil im Novembermonat auch nöt trauli und luftsam im Tirol, so weni wie hier im Gebirg', das glaub' mir nur. Und wann hier erst wieder der Frühling lacht und alles sprießen läßt, und wann wir erst wieder eine Heimstätten hab'n, wo wir schaffen können, wie daheim im Zillertal –
»Ja, wann wir nur erst eine hätten!« mischte sich hier Adam Egger ein, der bisher stumm am Fenster gesessen und nach seiner Gewohnheit mit harten Fingern auf dem Fensterbrett klaviert hatte. »Wann wir nur hätten und bekämen! Aber mir scheint, es wird nöt dazu! Wenigstens hier nöt, in dem Tal, wo's uns noch am besten gefallen könnt'! Mir scheint, das Gemunkel behält recht, daß der Ignatz Heim umitragt!«
»Was tragt der umi?« fuhr da Fleidl hitzig auf.
»Na, daß man uns trennen will! An ein halb's Dutzend öde Stellen im ganzen Preußen-Königreich will man uns verzetteln, wo's grad an Menschen fehlen tät'. Denn hier gibt's ja gar kein Platzel mehr zum Anbaun. Hier sitzen die Leut' eh schon aufeinand' wie die Heringe.«
Fleidl fuhr sich an die Kehle, ehe er heiser erwiderte:
»Ignatz Heim ist 'n Stänkrer und Rumorer, der Unfried' aussäen will. I weiß eh, was ihn dazu anstift't. Aber sagt's nu allen und sagt's ihnen immer wieder: kein wahres Wort ist an dem ganzen G'wäsch. Hier bleiben wir, hier im Hirschberger Tal. In Erdmannsdorf wird uns der gute König von seinem eignen Gut so viel abtreten, als wir brauchen. I hab's von der guten Mutter in Buchwald. Aber i sollt' noch nöt davon sprechen, bis der König alles bestätigt hätt', was ihm vorg'schlagen ist. Fix und fertig hab' i ihn g'sehn, den ganzen Packen Schreib- und Kartenwerk, ein ganzes Bündel von einem Schock Seiten. Und morgen schon reitet der Kurier ab, der 's nach Berlin bringen soll. Nöt sprechen sollt i davon. Aber nun tu i's doch. Denn mir scheint, es ist allweil nötiger, davon z' reden, als weiter heimli zu tun.« – – –
Im höchsten Maße erregt durch diese Enthüllung über Ignatz Heims Wühlereien, eilte Fleidl noch im Nebelgrauen dieses trüben Novembernachmittags zur Gräfin hinaus.
Er traf auch sie in Novemberstimmung.
Ein königliches, sonst sehr huldvolles Handschreiben kündigte ihr den längeren Besuch des Hofpredigers Strauß an mit der Andeutung, daß während dieses Besuches aus politischen Gründen eine gemeinsame Abendmahlsfeier aller Zillertaler erfolgen solle, um sozusagen vor der Öffentlichkeit die Aufnahme der Emigranten in die preußische Landeskirche offiziell zu bescheinigen.
Vor einigen Stunden hatte die Gräfin diese Nachricht eingehend mit der Schwester durchgesprochen, die ebenso wie sie selbst in tiefster Seele über diesen ›politischen‹ Ratschluß verwundert war.
»So geht's, wenn sich die Staatsraison in die religiösen Angelegenheiten mischt!« hatte die Gräfin erregt gerufen, und Karoline von Riedesel hatte mit dem trauervollen Kopfnicken zugestimmt. »Da ist's kein Haar anders wie im Gleichnis: da streut der Feind Unkraut zwischen den Weizen. Wie schmerzlich, daß man sich den ›Feind‹ in Gestalt eines Königlich Preußischen Hofpredigers vorstellen soll! Nun, ich will zu retten suchen, was irgend zu retten ist!« –
Natürlich war Fleidls Hiobspost nicht geeignet, diese Stimmung der Gräfin zu heben, doch gab sie ihm darin recht, daß es nun an der Zeit gewesen sei, die Ansiedlungspläne den Zillertalern zu verraten, noch ehe sie die Zustimmung des Königs gefunden hätten. Denn auch sie war überzeugt, daß dem dunklen Treiben Ignatz Heims und seines Anhangs die Spitze abgebrochen werden müsse.
»Seid nur getrost und sehr freudig, lieber Fleidl!« tröstete sie schließlich den Schwerbesorgten, unwillkürlich in ihre geliebte Bibelsprache verfallend. »Es muß sich dennoch alles zum besten wenden. Der König wird unserm Ansiedlungsplane zustimmen, obwohl nicht nur der Oberpräsident, sondern auch andre gewichtige Stimmen gegen ihn sind. Wir haben nun in den Fischbacher Herrschaften neue und mächtige Bundesgenossen. Was aber haltet Ihr von einer baldigen Austeilung des Heiligen Abendmahls an alle Zillertaler?«
Fleidl horchte gespannt auf, überlegte eine kurze Weile und sagte dann: »Dazu sind sie noch nöt reif, mein i! Die Mehrzahl jedenfalls nöt! Alsdann, wer wünscht denn das auch?«
Da legte ihm die Gräfin den ganzen Plan und seine Beweggründe klar. Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte sie, wie verstimmend das alles auf den einfachen, schlicht-frommen Mann wirkte.
»Das sollt' man halt fein bleiben lassen, gute Mutter«, sagte er traurig, und seine guten Augen umflorten sich. »Das Heilige Abendmahl ist doch, so mein i eben, eine zu heilige Sach'. Die sollt' man nöt zum Diener weltlicher Zwecke machen. Abwarten sollt' man, bis jeder unter uns in sich selber den Drang fühlt, zum erstenmal zum Tisch des Herrn zu treten. Nöt, daß man uns an den Altar treibt, wie die Hammel in d' Schwemm'. Die meisten wissen ja noch gar nöt, welche Bewandtnis es mit der heiligen Feier hat; denn sie sind in der Unterweisung noch gar nöt so weit.«
Die Gräfin drückte dem Tiroler kräftig die Hand; denn er bestätigte ihr ja, wie recht sie habe, wenn sie sich gegen dieses ›Abendmahl-Schauspiel‹ kehre. –
* * *
In solch starker innerer Gegnerschaft empfing sie am andern Nachmittag den Hofprediger im großen Zimmer mit den beiden Erkern, die den herrlichen Ausblick auf Park, Streuteich und Gebirge erschlossen.
Ihre Abneigung gegen Dr. Strauß, der ihr mehr Hofmann und Diplomat als Geistlicher schien, war gewachsen, trotzdem sie erst vor ein paar Tagen wieder von der Prinzeß Wilhelm, deren Gast der Hofprediger auch diesmal wieder sein sollte, nur eitel Lobeserhebungen über die religiöse Tiefe dieses ihres Beichtigers vernommen hatte.
Tadellos in Kleidung, Haltung und Manieren trat der Hofprediger bei der Gräfin ein, ganz mit Entzücken erfüllt vom Reize seiner kurzen Fahrt von Fischbach hierher. Das Wetter hatte sich nämlich über Nacht geändert: auf Nebeltage war plötzlich leichter Frost gefolgt, und so prangten nun der Park und die ganze Landschaft rundum in einem Rauhreif von solcher Schönheit, wie sie auch die langjährigen Bewohner Buchwalds nur selten erfreut hatte.
Der Hofprediger bestellte Grüße der Fischbacher Herrschaften, geschickt unterstreichend, wie ehrenvoll für die Gräfin die ›Freundschaft‹ so hochstehender ›Qualitätsmenschen‹ sei. Er konnte es auch nicht unterlassen^ sich selbst dabei ein wenig zu beweihräuchern, indem er sich glücklich pries, auch zu den von ihrer Freundschaft ›Begabten‹ zu gehören. Und endlich bestellte er den Gruß seines königlichen Herrn und dessen Dank für alles, was die Gräfin bisher für die Zillertaler geleistet habe.
Damit war man ja nun auch auf dem rechten Thema, und die Gräfin, die das Vorangehende mit lächelnder Ergebung hatte über sich ergehen lassen, schritt nun ihrerseits mit einer Entschlossenheit zum Angriff, die zur Zierlichkeit ihrer Erscheinung – so fand's der Hofprediger – in einem unharmonischen Gegensatz stand.
»O, da gibt's nichts zu danken!« wehrte sie ab, während der Hofprediger verstohlen zum Fenster hinauslugte auf die runden Wipfel der nächsten Parkbäume, wo die schüchtern hervorbrechende Nachmittagssonne die zarten und zierlichen Gebilde des Rauhreifes schnell zum Schmelzen und Abfallen brachte. »Die Sache trägt ihren Lohn in sich selber. Noch niemals hat mich etwas in meinem aufgabenreichen Leben so tief innerlich befriedigt, als die Arbeit für diese fremden Leutchen und an ihnen.«
»So-o?« fragte der Hofprediger gedehnt. »Also sind sie auch innerlich unsere Mühewaltung und die große Güte unseres Allerhöchsten Herrn wert?«
»Und wie sehr, Herr Hofprediger! Wie sehr!« stimmte die Gräfin eifrig zu. »Ich wünschte nur, daß Sie sie so recht im einzelnen kennen lernen möchten. Besonders die Führer!«
»Ich hoffe, dazu Gelegenheit zu finden, Exzellenz!« erwiderte Dr. Strauß mit eleganter Verbeugung.
»Es sind Männer nach dem Herzen Gottes, ganz besonders Fleidl, ihr eigentlicher Führer.«
»Exzellenz erteilen da eine sehr hohe Dekoration im Reich Gottes!« sagte der Hofprediger mit leisem Lächeln.
»Aber eine wohlverdiente!« verteidigte sich die Gräfin.
»Um so mehr, wenn Sie den Zillertalern so hohes Lob spenden,« tastete sich der Hofmann vorsichtig weiter, »darf ich hoffen, daß Exzellenz mit unserm Plane einer baldigen allgemeinen Abendmahlsausteilung einverstanden sein werden.«
»Das ganz und gar nicht, Herr Hofprediger!« erwiderte die Ministerin schnell und fest. »Was ich an Lob zu spenden hatte, bezog sich auf den Einzelnen, keineswegs auf die Allgemeinheit. Dieser so plötzlich und ohne lange gehörige Prüfung und ohne vorangegangenen sorgsamen Unterricht in unserer Lehre das Abendmahl zu spenden, erscheint mir verhängnisvoll.«
»Das höre ich mit Betrübnis, Exzellenz!« sagte Dr. Strauß, und seine heiter-verbindliche Miene umdüsterte sich. »Man sollte meinen, in einer Gemeinde, die um ihres Glaubens willen auswandert, müßten hinreichend viel Erweckte und Begnadigte sein, um es ohne Bedenken wagen zu können, dieser ganzen Gemeinde ohne weiteres die Zugehörigkeit zu unserm Glauben zu bezeugen.«
»Gewiß sind Erweckte und Begnadigte unter ihnen!« gab die Gräfin ohne Zögern zu. »Sonst wäre ja die ganze Auswanderung undenkbar. Aber wer sie näher kennt, diese Exulantenschar, weiß, daß noch recht viele natürliche Menschen unter ihnen sind.«
»Natürliche Menschen?« wiederholte der Hofprediger fragend und dachte bei sich: »Aha, da schaut der pietistische Zipfel vor! Es ist schon so, wie der Oberpräsident damals behauptete: hier steckt viel Sektiererei und Pietisterei!« »Gewiß« – fuhr er, zur Gräfin gewendet, laut fort – »sind wohl noch viele ›natürliche Menschen‹ unter ihnen, wenn ich mir dies Wort richtig auslege, Exzellenz. Freilich vermag ich das nicht zu entscheiden, weil ich ja die Leutchen zu wenig kenne.«
»Und doch wollen Sie sie alle zum Abendmahl zulassen, Herr Hofprediger, und ohne genauere Prüfung ihrer Herzensstellung?«
»Wer könnte das, Exzellenz? Gilt's nicht noch immer: ›Der Mensch siehet, was vor Augen ist‹? Aber abgesehen davon: ich hab' hier nur ein Amt und keine Meinung. Seine Majestät wünschen diese Abendmahlsfeier und haben schwerwiegende politische Gründe hierfür, daß sie auch bald zustande komme.«
»Und wenn wir unsere Hand dazu bieten, Herr Hofprediger, vergessen wir dann nicht über dem Könige von Preußen den König aller Könige, der uns zur Verantwortung ziehen wird, wenn wir hierbei Unersetzliches verderben?«
Der Hofprediger sah die Sprecherin eine Weile sprachlos an. Dann erwiderte er, sichtlich befangen, indem er erst einmal in die hohle Hand hüstelte: »Ein kühnes Wort, Exzellenz, das Sie da aussprechen! Und es wiegt doppelt im Munde der Freundin meines Allerhöchsten Herrn, des Königs. Und es macht mir's jedenfalls zur Verpflichtung, mich doch erst genauer von dem religiösen Standpunkte unserer Schutzbefohlenen zu überzeugen.«
»Gottlob, daß Sie zu diesem Entschlusse kommen, Herr Hofprediger!« rief aufatmend die Gräfin, und nun besprach sie mit ihm das Programm der Woche bis zu dem geplanten Abendmahlssonntage.
Der Hofprediger wollte mehrfach die religiösen Unterweisungen des Pastors Siegert im Schmiedeberger Unterrichtssaale, auch die Schule der Zillertaler und endlich auch fleißig einzelne Familien besuchen, um durch das alles einen genaueren Einblick in die religiöse Entwicklungsstufe der Exulanten zu erhalten.
Dem Plane entsprechend, handelte er auch, und schon inmitten der Woche war er überzeugt, daß an eine ›Massen-Kommunion‹ nicht gedacht werden könne. Nun kam es ihm noch darauf an, die Zahl der Abendmahlsgäste am nächsten Sonntag so hoch wie möglich zu halten, damit dem Wunsche des Königs doch einigermaßen nachgekommen werde. Es sollte Fleidl und der Gräfin überlassen sein, die Auswahl unter den Zillertalern zu treffen. – – –
Am Abend des Tages, an dem das beschlossen wurde – es war am Freitag – erließ die Gräfin eine ausgedehnte Einladung zu einer Abend-›Stunde‹ besonderer Art; denn der viel umstrittene Pastor Feldner aus Schreiberhau war zu einem kurzen ›Erweckungs‹-Besuche in Buchwald eingetroffen.
Gegen sechs Uhr steckte Kriegel die Lichter am großen Kronleuchter des weißen Saales an und rückte die Sitzreihen zurecht, wie es bei ›großen Gelegenheiten‹ herkömmlich war: in der Mitte des Saales unter dem Glaskronleuchter, gerade vor der Säulennische der Hinterwand die großen, weißen Lehnenbänke in zwei Reihen, parallel zu den Säulen. Dann in konzentrischen Halbkreisen um sie her die weißen Stühle und in die so freibleibenden beiden Dreiecksflächen an der Fensterfront lehnenlose Bänke für die Dienstleute.
»Wenn nur nich etwan gar zu viel Zillertaler kämen«, brummelte der Alte vor sich hin, während er die Stuhlreihen ordnete, die für die Vertriebenen bestimmt waren. »Das gäb' dann wieder 'n gar zu großes Gedrängel um die hohen Herrschaften rum. Und das kann ich durch den Tod nicht ausstehn, 's wird ebenst gar zu viel mit dem fremden Bauernpack hergemacht.«
Bei solcher Gesinnung war die Miene, mit der der alte Diener die ersten, eben eintretenden Zillertaler begrüßte, nicht übermäßig freundlich. Es verdroß ihn schon, daß sie in ihm offenbar nur den ›herrschaftlichen Diener‹ und ganz und gar keine Respektsperson erblickten.
Diese Fremden hatten, weiß Gott, durch die Bank etwas unleidlich Herrenmäßiges an sich, obwohl sie doch nur Bauern und auf die Gnade des Königs und der ›hohen Herrschaften‹ angewiesen waren! Die andern Leute im Dorfe empfanden das auch schon störend. Der Schloßmüller hatte erst gestern gesagt: »Herr Kriegel, wissen Se, das fremde Bettelvolk wird immer huchmütt'scher. Das macht aber, weil die Herrschaften gar a so viel Kamarsch (Kommers) mit ihn'n hermachen.«
Die starken Männer und behäbigen Frauen, die elastischen jungen Burschen und rehschlanken Mädchen, denen dieser Bedientengroll galt, setzten sich inzwischen still und sittsam auf die ihnen angewiesenen Plätze und belebten bunt mit ihrer malerischen Tracht das Weiß und Gold des Saales. Die vorderste Halbrund-Stuhlreihe ließen sie für ihre ›Deputierten‹ Fleidl, Heim, Koland und Brugger frei, die sich neben der Eingangstür aufstellten, um der später eintretenden Gräfin für die Einladung der Zillertaler in schuldiger Weise zu danken.
Auf den lehnenlosen Bänken im Hintergrunde aber sammelten sich langsam die Dienstleute des Schlosses, außerdem Hofeleute vom Dominium und ein paar Besitzerfamilien aus dem Dorfe.
Auch unter ihnen erhob sich bald ein unwilliges Gemurmel und Getuschel über die Fremden, ganz im Stil des Kriegelschen Selbstgespräches. Alle diese Einheimischen gerieten nämlich, je länger die Zillertaler so als ›meschante Müßiggänger‹ zwischen ihnen hausten, in eine immer gehässigere Abneigung gegen diese, die ihre letzte, diesen schlesischen Landleuten gar nicht klarbewußte Ursache in dem tiefgründigen Wesensunterschiede hatte, der zwischen diesen unabhängigen Bergbauern und der slawisch-deutschen Mischbevölkerung des schlesischen Gebirges klaffte. Jene hatten bisher auf ihrem altererbten Grunde wie kleine, aber aufrechte Zaunkönige gesessen, diese galten noch in hergebrachter Hörigkeit als ›Untertanen‹ der Schloßgesessenen oder waren doch durch tausend Rücksichten an ›das Schloß‹ und ›die Herrschaft‹ gebunden und von altersher zum Rückenbeugen erzogen.
Weil sich diese Leutchen durch das unbewußt Herrenmäßige der Fremden gekränkt und zurückgesetzt fühlten, rächten sie sich nun durch allerhand hämische Bemerkungen über die äußerlichen Gewohnheiten und das ganze Gebaren der Fremden.
»'s sein der de reenen Ferka, sein se!« zischelte die Bunzel-Stellnerin ihrer Banknachbarin zu. »De Löffel woascha se ni etwan oab, wenn se und se hoan der gesuppt. Nee, die lecka se ock bloßig oab und tun se a su ei de Schubloade.«
»Nee, woas De soist (sagst)!« erwiderte die Nachbarin erstaunt. »Doas ies ju an' schreckliche Schweinerei doas! 's soll gleech au welche drunder hoan, die de und hoan de Krätze.«
»Doas gleeb' ich zahnmoal fer eemoal!« stimmte die Bunzeln zu. »Vom Woascha sein se, gleeb' ich, keene Freinde ni.«
Diese lieblose Kritik der Zillertaler wurde jetzt plötzlich abgeschnitten; denn Kriegel riß nun die beiden Flügel der breiten, weißlackierten Tür auf, um so den ›Herrschaften‹ den Eintritt in den Saal freizumachen.
Das Fischbacher Prinzenpaar schritt voran. Der schlanke, etwas blasse Prinz Wilhelm, der die Uniform seines Infanterie-Leibregiments mit dem Stern zum ›Schwarzen Adler‹ als einzige Ordensauszeichnung trug, führte seine Gemahlin am Arm, die wieder einmal sehr leidend aussah. Freundlich nickte er im Vorbeischreiten den Zillertaler Deputierten zu, und die Prinzessin winkte allen Anwesenden, besonders aber den etwa sechzig Zillertalern einen Gruß mit ihrer schmalen, weißen Hand, die dem Kundigen von schweren körperlichen Leiden und von heißem seelischen Ringen zu erzählen wußte.
»Das ist dem guten König sein Bruder!« flüsterte die hübsche Marie Wechselberger ihrer Nachbarin zu. »Derselb', bei dem wir vor zwei Täg' unsere Spinnräder g'holt haben.«
»Des Königs Bruder?« fragte die junge Zillertalerin verwundert. »Und hat nöt mal 'ne Kron aufg'setzt?«
»O, der hat mit uns g'schwätzt, als wär' er 'n ganz gewöhnlicher Stadtfrack«, erwiderte die Marie kichernd. »Aber sie, die Frau Prinzessin,« setzte sie ernster hinzu, »Du, vor der muß man sich scho recht genieren, weißt'. Die hat so was an sich, na, i weiß nöt recht, wie i's sagen soll! Gut ist sie gewiß! Gut und fromm! I glaub' gar: sehr fromm. Es ist was um sie – Du, i glau', das ist keine gewöhnli Frau nöt, das ist 'ne Heilige, glaub' i!«
Die so naiv charakterisierte Fürstin ließ jetzt den Arm ihres hohen Gemahls los und wandte sich sehr huldvoll an Dr. Strauß, der hinter ihr den Saal betreten hatte: »Ein herzerquickendes Bild hier, lieber Hofprediger. Nicht wahr?«
»Ja, Königliche Hoheit!« erwiderte Dr. Strauß mit gedämpfter Stimme. »Es mutet an wie ein Wiederaufleben der allerersten Christengemeinschaft, von der es Apostelgeschichte am vierten heißt: ›Sie waren aber ein Herz und eine Seele!‹«
Inzwischen war auch die Hausherrin mit ihrer Schwester in den Saal getreten und zwischen ihnen ein Geistlicher im besten Mannesalter. Er trug einen hochgeschlossenen schwarzen Rock auf breiten Schultern. In seinem gesunden, bäurisch-runden Gesicht funkelte ein Augenpaar, das den Glanz eines tief-innerlichen Befriedigtseins ausstrahlte, wie es nur den Menschen eignet, die sich in stetem Gleichgewicht fühlen.
Wer diesen robust-gesunden Bauern in seinem prallsitzenden ›Gott'stischrock‹ zum erstenmal sah, mochte wohl enttäuscht sein, daß das der so viel umstrittene ›Pietistenpastor‹ Feldner sein solle, an dem alle ›frommen Seelen‹ des Tales hingen wie die Kletten; denn da war auch nicht die Spur Sensitives oder gar Somnambules zu erspähen, das man doch sonst gern als Ursache einer so ungewöhnlichen Gewalt über ekstatische Seelen voraussetzt.
Ihrem geistlichen Gaste ein wenig vorausschreitend, bat die Gräfin nun das prinzliche Paar, auf der mittelsten der weißen Polsterbänke Platz zu nehmen, und neben ihm die schöne Fürstin Wanda Radziwill, die sie vertraut an der Hand in den Saal geführt hatte. Die zweite Bank aber besetzte sie selbst mit ihrer Schwester und der jungen Prinzessin Marie, der Tochter der Fischbacher Herrschaften, die jetzt erst zwei hellblonde Zillertaler Mädchen losließ, mit denen sie Arm in Arm den Saal betreten hatte. Seit Tagen schon waren diese beiden, Elisabeth Rahm und Therese Geisler, auf Schloß Fischbach Gäste der sehr schwärmerisch angelegten Prinzessin. Die kerngesund empfindende Gräfin Reden hatte ihrer Schwester gegenüber erst heute Nachmittag geäußert: »Mariechens Passion für die beiden ja ganz netten Zillertaler-Mädchen grenzt schon ans Lächerliche. Wenn nur den beiden diese Art Hofleben und Angeschwärmtwerden nicht schlecht bekommt!«
Und die Schwester hatte in gewohnter Weise zugestimmt. – Auf der ersten Stuhlreihe hinter den Polsterbänken nahmen nun auch die ›Deputierten‹ die für sie freigelassenen Plätze ein.
Gerade, als Fleidl auf seinen Eckplatz zuschritt, tat sich noch einmal die Saaltür auf, und herein huschte wie ein Eidechschen Sara Bagg. Im Vorübereilen streifte sie Fleidl mit einem schnellen, scheuen Blicke, als wolle sie sagen: »Zürnst mir noch?«
So wenig schnippisch war heut ihre Miene, und es lag ein so unverkennbarer Schatten einer wehmütigen Trauer auf ihren frischen Zügen, daß ihr Fleidl unwillkürlich mit einem milden Lächeln zunickte, worauf eine jache Freudenröte verräterisch über ihre runden Wangen lief.
Aus der Tiefe der Säulennische erklangen jetzt die präludierenden Töne der kleinen Hausorgel, an die sich unbemerkt der neue, junge Lehrer der Zillertaler gesetzt hatte, und bald stimmte die ganze Hausgemeinde in das geistliche Lied ein, dessen Verse Pastor Feldner vorsprach.
Er hatte sich an ein kleines Tischchen gestellt, das inmitten der Säulennische stand, und verlas nun aus Ebräer 3 die Worte: »Sehet zu, liebe Brüder, daß nicht jemand unter Euch ein arges, ungläubiges Herz habe, das da abtrete von dem lebendigen Gott. Denn wir sind Christi teilhaftig geworden, so wir anders das angefangene Wesen bis ans Ende fest behalten.«
Er las das mit lauter, fast dröhnender Stimme, die einen bäurischen Tonfall hatte, und mit einer Aussprache, die nicht frei war von Dialekt-Färbung. Und in solcher Art begann er auch die Auslegung des Wortes.
Je länger er aber sprach, desto mehr verschwand das Robust-Bäuerische, und es kam nun ein feinerer, warmer Unterton in seine Stimme, etwas so Überzeugungstiefes, daß es auch Überzeugung wirkte, und der blutvolle Mann hatte noch nicht fünf Minuten gesprochen, da strömte schon von ihm jenes geheimnisvolle Etwas auf seine Zuhörer über, das wir in Ermangelung einer treffenderen Erklärung ›Suggestion‹ nennen.
Er verbreitete sich zunächst über die Frage: »Wer ist Christi teilhaftig worden?«
»Wer ihn recht geschaut hat!« behauptete er.
»Und wie fange ich's an, ihn recht zu schauen?«
Den Spuren der Leidensgeschichte folgend, drängte sich der Prediger in tiefem Ergrübeln immer näher an das Wesen des Erlösers heran, rang förmlich mit den Andeutungen der Schrift um dessen restlose Erfassung und um die innerliche Gestaltung seines Kernes. Und als er ihn so herausgearbeitet hatte, umschrieb er das ›Unfaßbare‹ in immer neuen Wendungen, Bildern und Gleichnissen, die er trotz ihrer Tiefe und Neuartigkeit doch immer dem Anschauungskreise seiner ländlichen Zuhörer entnahm. So dicht umhüllte er das vorhin doch gleichsam in logischer Beweisführung begrifflich Entwickelte nun mit diesen verhüllenden Bildern und Vergleichen, daß den Hörern das, was sie eben verstandesmäßig klar erkannt zu haben meinten, nun in einer umschleiernden Wolke entschwebte, dafür freilich mit einem unirdischen Glanze umwoben und in die lichtere Klarheit gerückt, in der sich das Gemüt der ewigen Dinge bemächtigt.
Fortschreitend mit diesen Gedankenfolgen verklärte sich auch das Wesen des Predigers, und so zwang er mit Wort und eigener Wesenswandlung seine Hörer zu einem ähnlichen Aufschwünge ihrer Seelen, auch die ganz Stumpfen noch eine gute Strecke mit sich reißend.
Als ruhe er selig auf dem Verklärungsberge der errungenen Erkenntnis im unirdischen Wesen des Heilands aus, machte er jetzt eine kurze Pause in seiner Rede, die von Anfang an durchaus ein Geschenk des Augenblickes und der grüblerischen Versenkung in den Bibeltext, in keiner Silbe aber als etwas Vorbereitetes oder gar Angelerntes angemutet hatte. Eine atemlose Stille lag während dieser Sekunden des Schweigens über der gebannten Hörerschar, die bis auf wenige Gedankenlose mit ihren Blicken gefesselt an den Augen des Geistlichen hing, die groß aufgeschlagen aus der Enge der wirklichen Welt in die seligen Weiten des Wesens Christi hineinzublicken schienen.
Und wie ein halb widerstrebendes Rückwandern von lichten Höhen zu dunklen Tälern mutete es nun an, als der Prediger jetzt der Frage nachging: »Wie hat der ›erweckte‹ Christ ›das angefangene Wesen‹ jenen Abglanz des göttlichen Wesens Christi, ›bis ans Ende festzuhalten‹?«
Erst, als er aufs neue in eine Tiefenschau versank, die ihren geheimsten Ansporn offenbar in den frommen Liedern und cherubinischen Sprüchen des begnadeten Angelus Silesius hatten, erfüllte sich seine Art wieder mit der somnambulen Glut, von der vorhin, beim Eintritt in den Saal, sein Wesen so gar keine Spuren verraten hatte. Und als er von der Seligkeit des ›Ganz-Durchgottetseins‹ sprach, zu der sich der wahre Jesus-Jünger hindurchringen müsse, da lagen seine Zuhörer noch einmal ganz im Banne seines Wortes und Wesens.
In einer abermaligen atemlosen Pause verklang das ›Amen‹ des Predigers wie ein Echohall im tiefen Walde; denn auch der junge Orgelspieler in seiner Nische war so entgeistert, daß er sich erst nach Sekunden seiner Aufgabe bewußt wurde, und nun brachte der gemeinsame Schlußgesang die aufatmende Entspannung.
Die Prinzessin wandte jetzt langsam ihre Augen zur Gräfin Reden hin, und in einem langen Blicke tiefen Einverständnisses begegneten sich die beiden Frauen auf dem gleichen Wege dankbarer Bewunderung des ›begnadeten Gottesmannes‹.
Der verstandeskühlere Prinz aber dachte: »Es ist kein Wunder, daß diesem Feldner seine rationalistischen Feinde das Märchen angedichtet haben, er ziehe mit einer Gebetsmühle bei seinen Konventiklern herum! Denn ein solcher religiöser Gefühlsüberschwang muß sich bei denen, die für so was gar kein Organ haben, als blanke Tollheit darstellen.«
Der Hofprediger aber nickte einigemale verstehend vor sich hin und dachte: »Also da haben wir den spiritus rector der ganzen Pietisterei, die in diesem Bergwinkel doch ungeahnt kräftig ins Kraut geschossen ist!« Und ihm wurde zum ersten Male ernstlich bange um den Bestand seines Einflusses auf die Prinzessin. Dieser Bauernpastor mit seiner faszinierenden Mischung hausbackenen Wesens mit sublimstem mystischen Pietismus mußte ihm gerade bei ihr zum gefährlichsten Rivalen werden.
»Deshalb um Gotteswillen nur ja keine Animosität gegen den Bauernkerl verraten!« dachte der Weltkluge und lobte deshalb bei der Heimfahrt nach Fischbach die ›packende‹ Art des Redners, in der man wohl etwas Dämonisches finden könnte, wenn sich nicht gar zu deutlich doch die wahrhaft herzensgläubige Gesinnung des begnadeten Mannes dabei auspräge. –
Ernstlich aber überlegte dann in der Stille seines reichen Gastgemaches der Hofprediger, ob er nach den Entdeckungen dieses Abends nicht gut tue, sich stillschweigend auf die Seite des Oberpräsidenten zu schlagen und seinen Einfluß ebenfalls dahin geltend zu machen, daß die Zillertaler doch wo anders angesiedelt würden, als in diesem Tale; denn ihm wollte es scheinen, als ob auch durch diese Ansiedlung die Macht dieser ihm unbequemen und widerwärtigen Einflüsse noch gestärkt werden könne. – – –
Auf sie selbst, die Zillertaler, hatte diese Abendstunde höchst wunderlich-verwirrend gewirkt.
Ihre Religiosität war im wesentlichen doch nur auf eine gewisse mechanische Kenntnis des Bibelwortes begründet. Von einem solchen urpersönlichen Nähertreten an die Schriftverkündigungen, besondere von einem solchen Aufsaugen der Persönlichkeit Christi ins eigne Wesen, wie sie's bei diesem Prediger ahnend ertastet hatten, waren sie bisher weit entfernt gewesen.
Selbst die Vertieftesten unter ihnen, wie Heim und Fleidl!
Und deshalb waren gerade diese beiden von dem Erlebnis dieses Abends voll innerer Zwiespältigkeit.
Auf Fleidl war von dem fremden Prediger eine fesselnde Einwirkung stromartig übergeflutet, so daß er über dessen Worten bald sogar den Blick Saras vergaß, den sie ihm beim schnellen Herein- und Vorüberhuschen zugeworfen hatte. Ein verwundertes Erstaunen hatte ihn erfaßt, daß ein Mensch in einem so engen Verhältnis zur Gottheit und zum Göttlichen stehen könne wie dieser Pastor Feldner. Und Ähnliches beherrschte auch den alten Heim.
Aber sie waren doch beide zu ausgeprägte Bauernnaturen, als daß sich nicht sogleich bei ihnen auch ein leises Mißtrauen gegen die Echtheit solchen Gefühlsüberschwanges hätte regen sollen.
»Was meinst' nun zu dieser Predigt, Gaschschteiger Bachtal?« fragte deshalb Fleidl, als sie miteinander über die verschneiten Wiesen hin den spärlichen Lichtern der Stadt zustrebten und außer Hörweite der andern Zillertaler waren, die hastiger als sie durch die Frische der Winternacht vorwärtseilten.
»'s ist schwer zu sagen, Winkel-Hansel!« antwortete der alte Heim. »I kenn' mi da noch nöt recht aus. Der fremde Geistli, ja, weißt', i kenn' mi nöt recht mit ihm aus. Ist er wirkli ein so frommer Mann, daß er reden darf, als ob unser Herr Christ mit ihm aus einer Schüssel g'gessen hätt'? Oder ist er bloß ein Komödiespieler? I kenn' mit nöt aus!«
Recht hast, Gaschschteiger Bachtal!« stimmte Fleidl kopfnickend zu. »Das ist halt gar was Verwunderlich's! Da weiß man nöt! Freili – ein Komödiespieler ist er wohl leicht nöt, sonst tät ihn die gute Mutter nöt so hochhalten. Die laßt sich eh kein Dampf vormachen. Dazu ist sie eine zu gescheite Frau! Aber recht hast: man kent sich nöt aus. Und die da vorn, ja – weißt' – die werden in Gott's Namen erst recht nöt g'scheit werden aus so 'nem Prediger und aus so 'nem Christentum, 's ist da was drin, was einem gar stark ans Herz fassen tut und gar arg im G'müt z'sammenschüttelt, mein' i. Und's wär' in Gotts Namen scho gar viel schön wär's, wann man mit unserm Herrn Christ auf so 'nem Fuß, so auf ›du und du‹ kommen könnt'. Aber alsdann ist mir's – weißt' – doch auch wieder so vorkommen, als steck' in dem schwarzen Rock dieses lutherschen Predigers ein gut Stückel von dem Dechanten von Zell, und als spräch' der Geistli da von unserm Herrn Christ just wie die päpstlichen Kuraten von der Jungfrau Maria und ihren heiligen Nothelfern. Kurz: sie wollt' mir manchmal schier katholisch vorkommen, die Art und Weis' dieses geistlichen Herrn.«
Der alte Heim nickte zögernd-zustimmend.
Wie oft schon, konnte er auch jetzt eine gewisse Bewunderung seines jüngeren Gefährten nicht unterdrücken. Was er, der Alte, dunkel empfunden hatte, dem gab jener nun einen treffenden Ausdruck, indem er in seiner schlicht-bäuerischen Weise die mystische Verwandtschaft zwischen diesem pietistisch durchdrungenen Pastor und dem Marienkult feststellte, ohne daß er irgendwelche genauere Erkenntnis dieser konventikelhaften Religionsanschauung besessen oder sie auch nur dem bloßen Begriffe nach gekannt hätte.
»Ich weiß nöt, ob's gut tät', wenn viele unter uns sich an so was halten möchten!« fuhr Fleidl jetzt sinnierend fort, den Lenkungen seines gesunden, nüchtern-praktischen Bauernverstandes folgend. »I weiß nöt, ob da nöt viele über die Sträng' schlagen und kopflos in allerhand wüste Schwärmerei hineinrennen möchten, wie daheim im Österreich die Manharter in ihrem unordentlichen, konfusen Getu.«
»Das scho, Hannes!« gab der alte Heim zu. »Aber i mein halt, dazu ist noch lang' kei G'fahr hier. Hör' nur, das da klingt nöt, als ob's ihnen so arg tief g'gangen wär', was der fremde Geistli heut g'sagt hat. Das klingt recht weltli! I wett', sie frotzeln einand' recht brav auf dem Heimweg da. Denn's Frotzeln, wann sich Gelegenheit dazu find't, das läßt, mein i, der rechte Zillertaler noch vor der Himmelstür nöt, wann St. Peter scho mit den Schlüsseln rasselt.«
Und tatsächlich: es war eine nichts weniger als mystisch-religiöse Stimmung, die die große Menge der Zillertaler beherrschte auf der Heimkehr von dieser Buchwalder ›Stunde‹.
Der erfrischende Marsch durch den mäßig kalten Winterabend, das helle Sterngefunkel über ihnen, der Blick auf die schneeumhüllte Gebirgswand, die vor ihnen in unsicherer, fahler, vergrößernder Beleuchtung sich auftürmte, versetzte besonders die Jüngeren unter diesen Landfremdlingen in die Stimmung, die sie oft beherrscht hatte, wenn sie daheim im Zillertal von den Spinnabenden und andern dörflichen Vergnügungen heimkehrten.
Die sprühende Lebenslust, das kostbare Erbteil dieser gesunden und starken Bergmenschenrasse, sprang wieder einmal frisch und unbekümmert über alle Zäune hinweg, die Glaubensverfolgung und -zwang und die mit ihnen zusammenhängenden Rücksichten um sie aufgerichtet hatten, und machte sich Luft in dem ihnen ureigenen Hange zum gegenseitigen Hänseln und ›Frotzeln‹.
Der schnurrige alte Knopflocher, der passionierte Barfußgeher, der sich mit sonderbarer Vorliebe unter die Jugend mischte, bot auf diesem Heimwege die geeignetste Zielscheibe für solche Verspottung. Und da er nicht die Natur war, sich so was stillschweigend gefallen zu lassen, waren bald alle Schleusen der Heiterkeit und des Übermutes geöffnet. Das helle Gelächter, das sich immer mehr steigerte, je näher der Troß den untersten Häusern des langgestreckten Städtchens kam, ließ bei den andern, die ähnlich wie Fleidl und Heim noch mit ihren Gedanken bei der neuartigen Andacht im weißen Saale des Buchwalder Schlosses weilten, doch keine rechte Vertiefung in diese Gedanken zustande kommen.
Am lautesten trieb Ignatz Heim die Frotzelei des wehrhaften Knopflocher.
Sein Humor war aber ein rechter Galgenhumor.
Nur, um vielleicht die schwarzhaarige Sara mit einem Blick zu erhaschen oder gar ein Wort mit ihr wechseln zu können, war er mit zur Stunde nach Buchwald gegangen, wohin ihn sonst recht wenig zog.
Wie damals während der Michelsdorfer Willkommenspredigt Pastor Bellmanns hatte auch heut seine ganze Aufmerksamkeit nur Sara Baggs zierlicher Person gegolten. Von Pastor Feldners Jesum suchenden Geiste hatte er sich nicht mit hinreißen lassen. Nur immer um den einen Gedanken kreiste sein Sinnen: »Wenn ich sie doch nachher ein paar Augenblicke sprechen könnte!«
Deshalb drückte er sich, als die Herrschaften den Saal verließen, langsam an Sara heran, die eifrig mit ihren Eltern sprach, die natürlich keine Gelegenheit versäumten, ins Schloß der Gräfin Reden zu kommen, weil sie dabei auch ihre Tochter sehen konnten.
Die Mutter Bagg begrüßte Ignatz mit offenkundiger Freundlichkeit: seit sie sich bei Fleidl jene klare Abweisung geholt hatte, begünstigte sie jede Zusammenkunft zwischen ihrer Tochter und Ignatz.
Der Vater Kajetan aber tat erheblich zurückhaltender: er fühlte dunkel, daß sein frisches ›Bachstelzel‹ von dem beharrlichen Werber nichts mehr wissen wollte.
Und wenn sich Ignatz darüber noch unklar gewesen wäre, so hätte er heut die völlige Gewißheit dessen erlangt.
Sara hatte nämlich ihre Eltern bis ins Freie begleitet, und Ignatz war den Dreien dabei gefolgt, als gehöre er zu ihnen. Draußen, vor der Freitreppe des Schlosses, etwas abseits vom großen Troß der sich hier zum gemeinsamen Heimgange sammelnden Zillertaler, sprach er das Mädchen an, erhielt aber nur widerwilligen Bescheid von ihr. Da zog die Mutter ihren Mann absichtlich zur Seite, als habe sie ihm etwas Besonderes zu sagen. Ihr lag daran, den jungen Leuten ein kurzes Alleinsein zu verschaffen.
Hastig nutzte Ignatz das aus und drang in stürmischen Worten auf Sara ein, das Schloß und den Dienst der Gräfin zu verlassen und sich möglichst bald mit ihm zu verheiraten.
Sara schwieg erst unbeweglich zu seinem Drängen, und als er fragte: »Willst' nun fort von hier oder nöt?«, da erwiderte sie kurz in ihrer schnippischen Art: »Hier bleib' i, daß Du's nur weißt! Verstehst'?«
Das versetzte den Burschen in besinnungslose Wut: er sprudelte giftig die Beschuldigung hervor, sie wolle nur deshalb im Schloß bleiben, weil sie hier ungestört ihr Techtelmechtel mit dem schiechen Schuster haben könnte.
Kaum hatte er das herausgestoßen, so wußte er auch schon, daß er damit sein Spiel verdorben habe.
»Was sagst'?« rief das Mädchen, und ihre Stimme klang wie abgewürgt. »So was sagst'? Aus ist's mit uns beiden, ganz aus! Verstehst'? Du – Du –!«
Sie verschluckte ein kräftiges Zillertaler Schimpfwort, ließ den Verblüfften im Dunkeln stehen und eilte nach kurzem Abschiede von den Eltern die Treppe hinauf, als sei das Schloßportal für sie der rettende Hafen.
Hätte Ignatz Heim das erleichterte, förmlich jubelnde Aufseufzen »Gottlob, daß i den los bin!« gehört, mit dem Sara hinter der geschlossenen, schweren Eichentür stehen blieb, wäre sein erzwungener Humor auf dem Heimwege wohl noch mehr mit Galle getränkt gewesen.
»Rache an dem krummen Schuster!« rumorte es in ihm. »Rache und dann fort von hier! Sobald als möglich fort! Und recht viele mitreißen! Das wird ihn am meisten giften! Das scho am meisten!«
Trotz dieser Gesinnung, ja gerade von ihr angestachelt, fehlte Ignatz am nächsten Abend nicht bei der großen Prüfungsbesprechung, die Pastor Siegert mit den Zillertalern vor dem Hofprediger abhielt, und auch nicht bei der allgemeinen Abendmahlsausteilung am nächsten Sonntage in der Schmiedeberger Kirche: er mußte sehen, welche Rolle Fleidl bei dem allen spielen würde.
Er tat sich damit selbst einen argen Possen; denn er wurde auf diese Weise Zeuge des weihevollsten Augenblicks in Fleidls Leben, als dieser vor dem Altar in die Hände des vom Könige gesandten hohen Geistlichen für alle Zillertaler das Glaubensbekenntnis ablegte. – – –
* * *
Die junge Prinzeß Marie sah bei dem einfachen Abendbrot, das die Fischbacher Herrschaften nach jener Feldner-Stunde bei der Gräfin Reden einnahmen, Sara Bagg aufwarten und faßte in ihrer schwärmerischen Art sogleich eine große Vorliebe für das schwarzhaarige Mädchen, dem die noch stark nachzitternde Erregung über die eben mit Ignatz durchlebte Szene einen besonderen Reiz verlieh.
So kam's, daß Sara von dem Prinzenpaar zu der kleinen Bescherung eingeladen wurde, die die Prinzessin ihren besonderen Lieblingen unter den Zillertaler Mädchen demnächst vor der Abreise nach Berlin, die wieder so lange als möglich hinausgeschoben worden war, veranstalten wollte.
Und so fuhr denn Sara an der Seite der Gräfin einige Tage vor Weihnachten auf Fischbach zu.
Dem Bauernmädchen war's recht eigen zumut.
Da saß sie nun wie eine Märchenprinzessin in einer schönen, gepolsterten Glaskutsche, vier Isabellen vorgespannt, neben der vornehmen, zierlichen alten Dame, die in ihrer Milde und Güte etwas Feenhaftes an sich trug, zum Hofhalt des Königsbruders, eingeladen von einer blutechten Prinzessin!
Es war wirklich, wenn man sich's mal so richtig überlegte, kaum zu glauben.
Denn sie war doch eben nur die Tochter des armen Kajetan Bagg, der den Leuten daheim im Zillertal ihre Mühlenwerke ausbesserte und selbst oft als staubiger Müller herumhantierte.
Und ihre Mutter hatte sie nie anders als bei gröbster Hausarbeit, scheuernd, waschend, kochend und flickend gesehen. Und sie selbst hatte von Jugend auf am Herde und auf der Wiese und im Kartoffelland herumgewirtschaftet, das Vieh gehütet und besorgt, den Dünger ausgemistet und oft im Karren auf die steile Lehne des kleinen Anwesens daheim hinaufgeschoben.
Und jetzt waren sie landflüchtig und hatten kein eigenes Dach über dem Kopfe, und sie, Sara, war doch eigentlich weiter nichts, als die Dienstmagd der barmherzigen Frau an ihrer Seite, die sie freilich so gütig bei sich hier im Innern des Wagens sitzen ließ statt draußen auf dem Bock neben dem stattlichen Kutscher, wo freilich ja der alte Kriegel gravitätisch thronte und auch besser hinpaßte mit seinem langschößigen, dunkelblauen Livreerock und mit seinem hohen Glanzlederzylinder, als sie in ihrer bunten Tirolertracht.
Nein, es war alles zu wunderlich, wie's ihr und allen eingewanderten Zillertalern hierzulande erging, wo Bürgermeister und reiche Kommerzienräte und Grafen und Gräfinnen und Fürsten und Fürstinnen und Prinzen und Prinzessinnen mit ihnen wie mit guten Duzfreunden umgingen, für sie sorgten, ihnen Andachten hielten und sie aus ihren engen, dunklen Stuben und dürftigen Notgelassen heraus sogar zu Gast luden!
»Und doch wollen ihrer so viele schier verschmachten vor Heimweh!« dachte Sara Bagg kopfschüttelnd und mußte sich wundern, daß auch sie an die arme Hütte im Zillertal nur mit Sehnsucht denken konnte, trotzdem ihre Fenster nur halb so groß gewesen waren als die Scheiben dieses gräflichen Wagens, in dem sie nun zur Einbescherung an einen prinzlichen Hof in einem echten und rechten Fürstenschlosse fuhr. – – –
Nun hielten die Isabellen vor der Zugbrücke, die den breiten Wallgraben überspannte, von dem das ganze Schloß umringt war wie eine echte Wasserburg der alten Zeit.
Es war für ungeschulte Augen schier zu viel, was nun im Zwielicht des schnellsinkenden Dezembertages Sara Bagg zu schauen bekam, als sie hinter der Gräfin her durch die hohe Torhalle und über die breiten Treppen zum Wohngeschoß der Prinzessin aufstieg.
Schon die bedeckte Galerie, die sie dort durchschritten, mutete das einfache Landkind tempelartig an. Denn zwischen den gotischen Spitzbogen des langen Ganges hingen dunkle Bilder altdeutscher Maler aus der Sammlung der Brüder Boisserée, deren Name natürlich niemals zu Sara Baggs Ohren gedrungen war.
Noch kirchenmäßiger aber erschien ihr der große Wohnraum der prinzlichen Familie, den sie von dieser Galerie aus betrat, ›das blaue Zimmer‹ genannt. Die Wände dieses Spitzbogen- und Kreuzgewölbe-Raumes bedeckten ernste Heiligenbilder. Über dem wuchtigen Kamin rang in einer trefflichen Büstendarstellung St. Georg mit dem Drachen, während mitten auf dem mächtigen Schreibtische, nahe der geräumigen Fensternische, die Jungfrau Maria das Jesuskind in sanften Armen wiegte.
Einen Augenblick machte sich Sara Bagg in ihrem klugen Köpfchen Gedanken, wie die fromme evangelische Prinzessin zu solch katholischem Zimmerschmuck komme, ohne dies aber ergründen zu können. Sie wurde auch bald von solchen Grübeleien abgelenkt. Denn aus dem Dunkel der großen Nische kam schnell und erfreut die erst vierzehnjährige Prinzeß Marie auf sie zu und begrüßte sie in ihrer etwas überschwenglich herzlich-schwärmerischen Art als lieben Gast, während die Gräfin ins Nebenzimmer, ›das Heiligtum‹ der Prinzeß Wilhelm schritt, dessen Tür ein Diener, den Besuch anmeldend, öffnete.
Sara Bagg aber fühlte sich von der jungen Prinzeß stürmisch-zärtlich ins Halbdunkel der Nische gezogen, aus dem ihr Therese Geisler und Elisabeth Rahm verhalten entgegenkicherten.
Die beiden Tiroler-Mädchen waren einige Jahre jünger als Sara und erfreuten sich, wie schon gesagt wurde, der besonderen Liebe des Fürstenkindes, dessen arger Hang zur Schwärmerei nicht gerade durch starke Geistesgaben in Zaum und Zügel gehalten wurde.
Mit diesen Mädchen waren auch ihre Brüder, vier stämmige Burschen im Alter zwischen neun und zwölf Jahren, zur Weihnachtsfeier geladen und saßen nun mit stummen, ziemlich blöden Mienen auf steillehnigen Stühlen umher.
Sara Bagg hatte diese Burschen im Halbdunkel der Nische kaum erspäht, so tat sich auch schon die Tür des Nebenraumes wieder auf und ließ nun eine solche Flut milden Kerzenlichtes ins blaue Zimmer strömen, wie sie die drei Zillertalerinnen in ihrem ganzen Leben noch nicht bewundert hatten.
Prinzeß Marie faßte jetzt Therese und Elisabeth rechts und links an der Hand und schien lebhaft zu beklagen, daß sie nicht auch noch eine dritte Hand für Sara Bagg frei habe, um sie ebenfalls in die Lichtflut hineinführen zu können.
Die ging mit einem verlegenen Lächeln hinter den Dreien her und staunte über deren Köpfe hinweg an, was dieser Nebenraum, ›das Heiligtum‹ der Schloßherrin, zu bewundern bot. Die vier Tiroler-Bürschchen aber mußten von den beiden jüngeren Brüdern der Prinzessin Marie mit sanfter Gewalt in den Bescherungsraum geschoben werden.
Das war ein dreiseitiger, hoher Erkerbau, dessen Decke das Netzwerk eines gotischen Kreuzgewölbes bildete. Buntes Rankenwerk füllte die Zwickel zwischen den Gewölberippen. Bunt auch erglänzten die hohen Spitzbogenfenster der drei Wandflächen in kostbarer Bildverglasung. Im mittelsten dieser Bilder erkannte Sara Bagg sogleich das des Heilands. Aber die schöne, milde Frau im blauen Mantel, die sich im rechten Fenster gabenspendend niederbeugte, war ihr unbekannt, mutete sie aber doch vertraut an. Und wie nun ihr umhertastender Blick von dem bunten Fenster zur Schloßherrin hinglitt, die gerade unter ihm in einem bequemen Sessel lehnte, von einem hellen Gewande faltenreich umhüllt, da erkannte Sara Bagg, daß die hehre Frau im Fenster wohl eine Ahnfrau der Fürstin sein müsse. Und sie irrte nicht! Denn das Glasbild stellte die heilige Elisabeth dar, zu deren Nachkommen sich sowohl der hohenzollersche Hausherr als auch seine Gemahlin, eine geborene Prinzessin von Hessen-Homburg, zählen durften. Sara Bagg bemerkte in all ihrer bäuerlichen Robustheit wohl, daß derselbe Zug nach innen gerichteter Weltabkehr, den der Künstler dem Bilde der heiligen Elisabeth geliehen hatte, sich auch auf dem blassen Antlitz der lebenden Fürstin ausprägte, die da unter dem strahlenden Lichterbaume saß, der das Kuppelgemach mit so blendendem Glanze erfüllte.
Mit gelassen-gütiger Miene sah sie der eintretenden Jugend entgegen, während die Gräfin Reden an ihrer Seite so kindlich froh dreinschaute, als gehöre sie selbst zu dieser Jugend, die allerdings zunächst meist so verdutzt-erstaunte Gesichter über solche nie geschaute Pracht machte, daß der Prinz hinter dem Stuhl seiner Gemahlin hell herauslachen mußte.
Es währte auch eine geraume Weile, ehe sich dies starre Staunen in die Freude wandelte, die der Lichterbaum und die unter ihm ausgestellte Gabentafel nach dem Wunsche der fürstlichen Geber hervorrufen sollten.
Eben hatte der Gesang des Verses »Fröhlich soll mein Herze springen« geendet, da meldete der würdige Leibdiener dem Prinzen, daß der Tiroler Fleidl Seine Königliche Hoheit um eine Unterredung bitten lasse, in Arzt- und Medizin-Angelegenheiten.
Der Prinz ging sogleich mit dem Diener hinaus, und Sara Bagg stockte das Herz, als sie die Prinzessin sagen hörte, ihr hoher Gemahl möchte doch ›den braven Fleidl‹ mit hierher zur Christfeier bringen.
Der Prinz versprach das in der gütig-ritterlichen Art, in der er überhaupt mit seiner Gemahlin verkehrte, und als er gegangen war, begann diese der Gräfin gegenüber ein Loblied Fleidls, das Sara Bagg, die hinter dem Christbaume Deckung gesucht hatte, das Blut abwechselnd in Herz und Schläfen trieb.
»Wie haben wir uns, der Prinz und ich,« begann die Prinzessin, »jüngst, als unser lieber Hofprediger Strauß hier war, an der Art Fleidls und seiner Gesinnungsgenossen erbaut! Und dann bei der schönen, erhebenden Abendmahlsfeier am Sonntag drauf! Ich weiß von unserm lieben Hofprediger, liebe Freundin, daß die ganze Sache nicht nach Ihrem Sinne war!«
Die Gräfin nickte zustimmend.
»Aber das müssen Sie doch zugeben, liebe Freundin: feierlich war's, wie selten etwas!«
»Das wohl, Königliche Hoheit!«
»Und besonders der Augenblick, als alle vor den Altar traten, die starken Männer mit den schönen, ausdrucksvollen Gesichtern! – Die meisten Frauen sind abscheulich nach meinem Geschmack – (fügte sie leiser hinzu, damit Sara und die Kinder es nicht hören sollten). – Als alle so voll Inbrunst hintraten und Fleidl im Namen aller das Glaubensbekenntnis verlas! Nein – in meinem Leben werde ich das nicht vergessen! Sah der Mann nicht geradezu edel aus, liebste Freundin?«
Die Gräfin nickte wieder, erfreut zustimmend.
»Ich muß sagen: er hat mir imponiert, und ich habe doch schon viele Große und Gewaltige dieser Welt in allerhand feierlichen Augenblicken gesehen. Sonst ist er so ärmlich und schmutzig angezogen! An dem Sonntage aber, wie er da so in seinem besten Staate dastand und so feierlich und so tief bewegt vorlas, was er sich selber aufgesetzt hatte – nein, man vergaß ganz, daß das nur ein schlichter Bauer und Pantoffelmacher sein solle. Das macht die Tiefe seiner religiösen Überzeugung. Sie veredelt ihn in solcher Weise. Der Herr segne es an ihm und an seinen Nachkommen!«
»Amen! Liebe, gute Königliche Hoheit! Amen!« stimmte bewegt die Gräfin ein, der das Herz bei diesem Lobe warm wurde. Und Sara Bagg stürmte das ihre so, daß ihr zum Umfallen heiß ward.
Sie hatte jedes Wort der Prinzessin gehört, trotzdem die Kinder nun schon zu recht beträchtlichem Lärmen aufgetaut waren. Auf dringendes Bitten der Prinzeß Marie, die immer wieder versicherte, »Mama habe gar nichts dagegen,« blies nun der ältere Geisler-Junge auf seiner mitgebrachten Maultrommel eine Tiroler Weise, nach der die beiden Mädchen unter dem Lichterbaum tanzten, wie sie's daheim im Zillertal den Erwachsenen abgelauscht hatten. Und still und gütig lächelnd sah die Prinzeß Wilhelm dem zu.
Da mußte die Gräfin Reden denken: »Da gibt's nun in unserm Tale eine Menge Leute, die diese seltene Frau eine ›vermuckerte Pietistin‹ nennen! Und sie sieht heiter-lächelnd zu, wenn unter dem Christbaum geschuhplattelt wird!«
In diesem Augenblick führte der Prinz Johannes Fleidl ins ›Heiligtum‹.
Auch ihn überraschte und blendete der Glanz des Lichterbaumes. Daß aber unter ihm in seiner heimischen Tiroler Tracht der heimische Tanz aufgeführt wurde, erwärmte Fleidl das Herz, und dem starken Manne schossen bei diesem Anblick die Tränen in die Augen.
Bescheiden, aber unbefangen trat er in schöner Natürlichkeit an die beiden hochgestellten Damen heran, die sich nun schon so oft als wahrhaftige Freundinnen und Helferinnen seiner bedrängten Glaubensgenossen erwiesen hatten, und reichte ihnen treuherzig die harte Arbeitshand, kein andres Zeremoniell kennend, als das eines kindlich-guten Menschenherzens, dem es auch niemals am wahren Takte mangeln wird.
Die Prinzeß Wilhelm nötigte ihn mit freundlichen Worten zum Niedersitzen, damit er den Lichterbaum in Ruhe betrachten könne.
Fleidl tat's, und jetzt erst, als er den Kopf nach rechts und links hin wendete, um auch alles recht sorgsam zu beschauen, erblickte er Sara Bagg hinter dem Christbaum.
»Wie, Sara, Du hier? Grüß Gott!« sagte er ungeniert und trat sogleich auf sie zu, ihr zum Gruße die Hand reichend.
Nur zögernd legte sie ihre rundlichen Finger in seine sehnige Rechte; aber der Ort und die Umgebung verboten es ihr doch, ihn so schnippisch ab- und zurückzuweisen, wie sie's sonst wohl getan hätte.
»Gelt, da staunst halt auch Sara, über den Lichterlbaum, den schmucken?« fragte er. »So was haben wir nöt g'sehn, daheim im Zillertal. So was Schönes und Frommes nöt!«
»Und doch habt Ihr Sehnsucht dahin zurück! Nicht wahr?« fragte die Prinzessin und enthob so Sara Bagg einer Antwort.
»Das scho, Frau Prinzessin!« gab Fleidl treuherzig zu. »Nach dem Zillertal muß ma scho all'weil Sehnsucht ha'm. 's ist ja unsre Heimat. Und die vergißt man eh' nöt so leicht, b'sonders, wenn 's ne so viel schöne Heimat ist, wie unser Zillertal.«
»Bei manchem soll's schon schlimm stehen mit dem Heimweh?« forschte die Prinzessin teilnehmend weiter.
»Gar arg schlimm!« gab Fleidl kummervoll zu, indem er sich wieder auf seinen Stuhl setzte. »Manchen möcht's ganze Eing'weid zerreißen, das bittre Heimweh. Und man hat Müh', daß man d' Leut festhält, sonst laufen 's am End' blindlings ins Tirol z'ruck. Deshalb wär's scho viel gut, man könnt' denen bald sagen: »Da schaut's, Leut, da ist das Platzerl, wo Ihr Eure neuen Hütten bauen könnt!«
»Nun, ich hoffe zu Gott, der Zeitpunkt ist nicht mehr fern, wo wir ihnen das sagen können!« fiel hier die Gräfin ein. Und sich zu den prinzlichen Herrschaften wendend, fuhr sie fort: »Die Vorschläge zur Ansiedlung hier im Tale sind vor einigen Tagen an Seine Majestät abgegangen. Wir hoffen innigst, daß sie die Allerhöchste Zustimmung finden werden!«
»Ich auch!« stimmte die Prinzessin bei. »Ich auch von ganzem Herzen! Und was ich dazu tun kann, daß Sie diese Zustimmung erlangen, meine liebe Freundin, soll geschehen!«
»Eine wahrhaft beglückende Weihnachtsbotschaft für mich hier unter dem Lichterbaum, Königliche Hoheit!« rief beglückt die Gräfin, und der Prinz setzte lächelnd hinzu: »Und eine aussichtsreiche obendrein, Exzellenz! Denn einen bessern Fürsprecher als meine Frau können Sie für derlei Dinge bei meinem königlichen Bruder gar nicht finden.«
»So möcht' Gott dieser Sach' nur ein schnelles und gutes Gedeihen bescheren!« sagte Fleidl aufstehend. »Denn wenn's nöt gelingen sollt', daß sich unsere Leut' hier in dem schönen Gebirgstal' anbauen dürfen, ja, mein Gott, da steh' i halt allweil für nix mehr ein. Da, fürcht' i, gibt's kein Halten mehr. Und bald, bald möcht's auch sein, daß 's zu was wird! Der Müßi'gang, der bekommt ihnen halt gar so viel schlecht.«
Er sah kummervoll in die hellen Christbaumlichter hinein; denn er dachte an einen wüsten Auftritt, den ihm vor einigen Stunden erst einige verkappte Spießgesellen Ignatz Heims in Gebauers Schürzenfabrik bereitet hatten.
Mit Gewalt riß er sich von dem düstern Bilde los und schickte sich zum Abschiednehmen an.
Da forderte ihn die Gräfin auf, in ihrem Wagen mit bis Buchwald zu fahren.
Sara Bagg blieb das Blut stehen, als sie diese Einladung hörte, die Fleidl ohne viel Spreizen dankbar annahm, weil er ohnehin ›pressiert‹ sei zur Stadt zurückzukommen.
So geschah's, daß sie eine Viertelstunde später zu dreien in der schönen Isabellenkutsche saßen, Fleidl den beiden Frauen gegenüber auf dem Rücksitz. Und jetzt erst kam's ihm zum Bewußtsein, daß er besser getan hätte, zu Fuß zurückzuwandern; denn in dem engen und nahen Gegenüber mit Sara Bagg wurde es ihm schwül zumute, und derselbe Mann, der eben noch vor dem Bruder und der Schwägerin des Königs keine Spur von Befangenheit gezeigt hatte, schwieg jetzt verlegen und vor Besorgnis, die ›gute Mutter‹ könne irgendwelchen Einblick erhalten, in welch sonderbarem und schiefem Verhältnis er sich mit dem jungen Mädchen an ihrer Seite befinde.
»Ich muß Euch doch recht dankbar sein, Fleidl«, sagte die Gräfin ahnungslos, nachdem man eine Strecke stumm dahingefahren war, »daß Ihr mich damals veranlaßt habt, die Sara mit mir nach Buchwald zu nehmen. Sie ist uns ein lieber Hausgenosse geworden. Und ich denke, es gefällt auch ihr ein wenig bei uns. Nicht wahr, mein Kind?«
Sara bejahte, aber mit so belegter Stimme und so kurz ab, daß die Gräfin befremdet war. Sie versuchte, ein Gespräch in Fluß zu bringen, an dem auch das Mädchen beteiligt sei; aber Sara blieb befangen-stumm.
Da wandte sich die Gräfin schließlich nur noch an Fleidl, und bald waren sie in eifrige Auseinandersetzungen verwickelt über die Verpflegung der Zillertaler, eine Angelegenheit, in der sie ja ständig miteinander zu beraten hatten.
An der Stelle, wo von der Landstraße nach Schmiedeberg der Weg durch den Buchwalder Park nach dem Schlosse abzweigt, stieg Fleidl aus und verabschiedete sich in der gewohnten treuherzigen Weise von der Gräfin, von Sara aber recht flüchtig und hastig, und auch deren ›Pfüt Gott!‹ klang fast nur wie ein unartikulierter Laut zwischen den zusammengebissenen Zähnen.
Wegen der Dunkelheit ließ der stattliche Kutscher die Isabellen sehr langsam gehen, und so verflossen noch einige Minuten, ehe der Wagen vor der Freitreppe hielt.
»Sag' mal, Kind,« forschte in dieser Zeitspanne die Gräfin das stumm dasitzende Mädchen teilnahmsvoll aus, »was hast Du denn gegen Fleidl? Mir scheint, Du lohnst ihm seine freundliche Sorge um Dich mit Unfreundlichkeit. Weshalb denn nur?«
Sara Bagg schwieg, von innerlichem Schluchzen fast abgewürgt.
»Sind Deine Eltern mit ihm zerfallen?« forschte die Gräfin beharrlich.
»Nein!« stieß Sara kurz hervor.
»Oder seid Ihr mit ihm als Führer unzufrieden?«
»Nein! Wir nöt!«
»Aber andere?«
»Das sell scho!«
»Wer denn?«
»O, 's ist unnütz Volk das!«
»Na also! Woran liegt's denn, daß Du –«
Sie kam mit ihrem Satze nicht zu Ende; denn sie merkte plötzlich, daß der Körper des Mädchens von Schluchzen durchrüttelt wurde wie von einem Krampfe.
»Wie, mein Kind, Du weinst?« rief sie da gütig verwundert und schlang ihren Arm um die Schultern des leise widerstrebenden Mädchens. »Was ist denn? Kannst Du mir's nicht anvertrauen, Kind, was Dir so das Herz abstößt?«
»I möcht' scho, gute Mutter!« stieß da Sara unter Tränen hervor. »Aber i weiß nöt, wie i's vorbringen soll!«
In diesem Augenblicke hielt der Wagen vor der Freitreppe.
»Laß gut sein, Kind!« tröstete die Gräfin. »Wir gehen auf mein Zimmer. Da kannst Du mir Dein bedrücktes Herzchen ausschütten. Denk' nur, ich sei Deine wirkliche Mutter, und offenbare mir getrost all Deinen Kummer.«
Und so geschah's denn auch.
In dem behaglich durchwärmten Raume, in einem der halbdunklen Erker setzte sich die Gräfin in einen tiefen Lehnstuhl und rückte einen niedrigen Hocker gegen ihre Knie. Auf ihm sitzend, konnte Sara, während ihr die Gräfin ihre schmale Hand leise auf die runde Schulter legte, ins Dämmerlicht des großen Raumes hinein von ihrem Herzenszwiespalt berichten, ob sie Ignatz Heim nehmen solle oder nicht.
Und die kluge, gütige, welterfahrene Frau hörte zu ihrer nicht geringen Verwunderung aus dem allen heraus, was Sara Bagg vor sich selber nicht einmal klar eingestehen mochte: daß sie Fleidl liebe mit der ganzen Glut, deren ihr heißes Herz fähig war.
»Wie sonderbar!« dachte die Gräfin. »Das frische, junge Ding und der reife, ernste Mann. Die Liebe macht wunderliche Kapriolen. War's doch bei mir und meinem Reden nicht gar viel anders! Und in was für ernste Sachen der kleine Gott sich störend einmischt! Selbst dem Exulantenführer umstrickt er den Sinn. Denn Fleidl ist nicht gleichgültig gegen die Kleine. Was soll nun dieser Ignatz Heim dazwischen? Da muß man einmal zuschauen! Da gibt's vielleicht auch eine wichtige Mission zu erfüllen! Man kann nie wissen, auf welchen Wegen man Gott und seinem Werke dienen muß!«
Mild tröstend wandte sie sich nun an Sara, indem sie ihr liebkosend über Haar und Wange strich. Gott werde alles zum besten lenken. Nur gegen ihr Gefühl dürfe sie nicht handeln. Und wenn sie keine rechte Liebe zu Ignatz empfinde, dürfe sie ihn auch nicht zum Mann nehmen.
»Gelt ja!« rief die Sara hocherfreut aus. »Das g'freut mi aber scho recht viel, daß d' gute Mutter das sagen tut!«
Mit diesem Troste im jungen Herzen ging sie dann aus dem Zimmer der gütigen Herrin, und mit dem andern, daß die gottlob nicht gemerkt habe, weshalb sie, Sara Bagg, eigentlich vom Ignatz nichts wissen wolle.
Wunderlich genug! Denn die Gräfin hatte sich doch vorhin eben arg gewundert, weshalb sie gegen Fleidl so unfreundlich sei.
Ganz vergessen mußte sie auf ihn haben, die gute Mutter, über ihrer, Saras, Erzählung von der Geschichte mit Ignatz! –
Verwunderlich blieb's aber doch! –
Die Gräfin saß noch eine ganze Weile sinnend in ihrer dunklen Ecke und ließ die Geschehnisse dieses bunten Nachmittags und Abends, wie überhaupt die Geschehnisse dieser letzten Wochen, die bunt waren wie die Tracht ihrer Zillertaler Schützlinge, an ihrem inneren Auge vorübergleiten, und da faßte sie eine Art Staunen, zu welchem Wall von Arbeit und Verpflichtung sich diese Aufgabe nun schon um sie her aufgehäuft hatte.
Wo sollte sie, die alte, zarte, oft so kranke Frau die Kraft hernehmen, über diesen Wall hinwegzukommen? – –
Eine leise Bangigkeit wollte sie beschleichen.
»O,« wies sie sich da selbst zurecht, »etwa gar verzweifeln an sich selber? Das wäre noch schöner! Feig wär's und undankbar gegen Gott, der mir solche Aufgaben schickte! Wir wollen ihrer mit seiner Hilfe schon Herr werden! Auch dieser Herzensaffäre, die da in den Glaubenskampf hineinklingt wie der Ton eines Ave-Maria-Glöckleins ins Marktgewühl.«
* * *
Am Spätnachmittag vor dem Heiligen Abend versammelte die Gräfin Reden im Schmiedeberger Schulsaale an die hundert Tirolerkinder zu einer stimmungsvollen Feier und Bescherung.
Auf langen Tafeln waren allerhand nützliche und angenehme Dinge aufgelegt, und an keinem Platze fehlte – ein Schneuztuch für die heranwachsenden Zillertaler.
»Damit sich unter ihnen allmählich die landesübliche Sitte des Nasenputzens einbürgere!« sagte die Gräfin lächelnd zu den zuschauenden Eltern, nicht ganz ohne pädagogischen Nebenzweck.
Nachdenklich verglich im Umherschauen in dem frohen Festgewühl die Gräfin die Art dieser fremden Kinder mit der ihrer eigenen Guts-›Untertanen‹, die sie in den vorangehenden Tagen auch zu Dutzenden beschenkt hatte. Und da gewahrte sie schon an den Kleinen den Unterschied, der ihr an den Erwachsenen längst zum Bewußtsein gekommen war.
»Es ist eben doch eine ganz andere Rasse!« äußerte sie sich ihrer Schwester Karoline gegenüber, als sie am Weihnachtstage selbst vor der Fahrt zur Christnachtfeier endlich ein halbes Stündchen zum Plaudern fanden. »Diese Fremden sind, mit unsern einheimischen schlesischen Landleuten verglichen, eben eine Art Herrenmenschen, die auch als Vertriebene etwas Imponierendes behalten. Der freie Hauch der Berge haftet an ihnen und das edle Selbstbewußtsein, das sich ganz von selber Menschen aufprägt, die von Generation zu Generation auf freiem, ererbtem Grunde sitzen, und sei er noch so eng begrenzt, als keines Menschen Untertan oder Diener oder auch nur Verpflichteter.«
Schwester Karoline stimmte dem in gewohnter Weise zu und meinte, unter diesen Umständen dürfe man sich nicht wundern, daß die Einheimischen schon anfingen, mit scheelen Augen auf diese selbstbewußten Fremden zu sehen, denen sie's wohl auch nicht recht gönnten, daß sie so vielfach in die Familien der Schloßinsassen gezogen wurden.
»Darin liegt entschieden auch eine Gefahr!« erwiderte die Gräfin. »Eine Versuchung zur Mißgunst für unsere Leute und zum Hochmut für die Zillertaler. Um so mehr muß man wünschen, daß bald eine Entscheidung über das endgültige Schicksal der fremden Gäste eintreffen möchte. Denn dann wird alles Übermaß von selbst schwinden.« –
Diese ersehnte Entscheidung war näher, als die Gräfin ahnte.
Die mannigfachen Anstrengungen der Weihnachtszeit zogen der im Grunde recht schwächlichen Frau ein tüchtiges Fieber zu, und noch ehe dies überwunden war, am Nachmittag des Weihnachtsheiligtages, traf ein eiliger Brief der Prinzeß Wilhelm ein, der alle Krankheit vergessen machte.
Sofort sandte die Gräfin einen besonderen Boten nach Schmiedeberg, der den Bürgermeister und die Zillertaler-Deputierten für den nächsten Morgen zu einer dringenden Besprechung nach Buchwald lud.
Noch stark vom Fieber geschwächt, das sie in der vergangenen Nacht noch einmal durch allerhand wirre Träume gehetzt hatte, empfing sie die erwartungsvoll eintretenden Männer, auf dem Sofa liegend.
Im Halbkreise mußten sie sich um sie hersetzen, der Bürgermeister zu Füßen ihres Ruhebettes, dann Fleidl, Heim, Matthias Rahm und der starke Brugger.
Zu Häupten des Sofas hatte die Gräfin ein kleines Tischchen stehen mit Schreibzeug und Briefschaften bedeckt.
Unter diesen kramte sie, während die Männer voll stummer Spannung harrten, weshalb sie so eilig herberufen worden seien.
Der Bürgermeister fand sie bleich und gebrechlich aussehend und dachte: »Es hat etwas Rührendes, wie diese zarte Greisin sich ganz und gar für andre aufreibt.«
Endlich hatte die Gräfin, der vor freudiger Erregung die Hände bebten, das gesuchte Schriftstück gefunden.
Eben, als sie es entfalten wollte, schoß ihr ein Gedanke durch den Sinn von jener Schelmerei, die zu den interessanten Schattierungen ihres vielseitigen Charakters gehörte.
»Ehe ich Euch mitteile, liebe Leute, was mich veranlaßt hat, Euch so plötzlich zu mir zu bitten, und auch Sie, Herr Bürgermeister,« sagte sie mit erzwungen ernsthafter Miene, »möchte ich gern einmal wissen, wie jetzt so die Stimmung unter Euern Landsleuten ist.«
»Schlecht ist sie, arg schlecht!« stieß der sanguinische Matthias Rahm hervor.
»Also nicht weihnachtlich?« fragte die Gräfin.
»Das eh nöt!« bestätigte Fleidl. »Bei all den vielen Weihnachtsfeiern und Geschenken!«
»'s ist eh zu viel schlimm's G'sindel drunter!« grollte Brugger. »Z'viel, wo d' andern unzufrieden mach'n, offenbarlich und – was noch viel z'widrer ist – im g'heimen. Und da sind Leut' dabei, von den'n man's nöt denken sollt'.«
»Jawohl!« stimmte Rahm zu und bekam gleich wieder seinen roten Kopf. »'s wird zu arg viel im dunkeln g'wühlt, mein' i! Da hat manch einer sein'n b'sondern Groll auf einen von uns Deputierten oder so irgend auf wen, der was b'sonders zu sagen hat in der Gemeinde, und den läßt er dann so aus, daß er im Stockdunkeln die andern verhetzt und unz'frieden macht.«
Fleidl merkte wohl, daß Matthias Rahm auf Ignatz Heims lichtscheues Treiben hindeute, und sah erschreckt zu Heim hin, ob der den versteckten Sinn der Worte etwa ahne.
Aber Bartholomäus Heims würdiges Greisenantlitz blieb unbewegt. Nur ein nachdenklicher Ausdruck kam in seine klar und groß ausgeschlagenen blauen Augen, die unter den dichten, schneeweißen Brauen glänzten wie Seenspiegel unter vergletscherten Ufern.
»Ihr dürft nöt zu hart schelten!« sagt er, als habe ihn Fleidls Blick zum Sprechen genötigt. »Ihr wißt eh', wie sie das Heimweh inwendig martert und schindet. I mein', das kann gar nöt anders sein. Über Hals und Kopf haben's fort g'mußt von Haus und Hof. Losschlagen haben's müssen, was sie daheim ererbt oder gar mit saurem Schweiß erschunden hatten – mancher gar für ein Spottgeld. – Und viele haben Eltern und Geschwister, manche ihre Kinder und mancher Mann sogar sein Weib und manches Weib ihren Mann im Tirol z'ruckg'lassen, wer weiß, ob nöt für immer! Das ist wohl hart und muß wohl Heimweh schaffen, wann der Mensch nöt gar ein Holzklotz ist!«
Die Gräfin nickte dem Alten mit feuchten Augen Zustimmung, und auch Matthias Rahm brummte: »Da hast scho recht, Gaschstaiger Bachtal!«
»Unterwegs, auf der Reis',« fuhr der Alte ruhig fort, »haben's nöt recht Zeit g'habt, an das alles z'denken. Da gab's z'viel zu erleben und zu schaun, Gut's und Schlimm's. Aber nu, nu sitzen wir dahier, die allermeisten im Nixtun voll Langweil' und verfall'n auf's Grübeln und Sinnieren. Wir brauchen ja nöt z'hungern, dafür sorgt scho der gute König durch Euch guten Leut', aber daheim im Zillertal hatten wir's doch reichlicher. Der Winter ist bei uns daheim auch hart mit Schnee und Eis und Kält', aber gar so grimmi, wie er sich hier anlaßt, hab' i ihn daheim doch kaum einmal derlebt, und bin doch scho an die Siebzig. Was aber soll man bei solcher Kält' G'scheitres tun, als in der warmen Stub'n beieinand' hocken, z'mal wenn man in Gott's weiter Welt nix z'schaffen hat. Beim Daheimhocken aber schwirren die Plagegedanken um den Kopf wie die Bremsen ums Weidevieh. Und da denken unsre Leut' z'ruck an die Heimat im schönen Zillertal, wo's im Winter gar so viel trauli war, wann d' Hütten auch eing'schneit lag. Denn ins Haus 'nein kam da die Kält' fein nöt; das ist scho gut mit warmen Holz umbaut, und drin'n, da wärmen sich Menschen und Vieh und Herd gegenseiti g'nu.«
»Ja, das muß wahr sein!« stimmte Matthias Rahm wehmütig zu, über den die Erinnerung plötzlich übermächtige Gewalt bekam. »Es ist auch im Winter schön und trauli bei uns daheim am Ziller. Und dem kann die Kält' freili keine Eisdeck' überziehen, wie dahier Euern Flüsseln. Und im Frühjahr, wann's wieder grünt und blüht auf den Matten, und wir das Vieh aufitreib'n, und wann die schönen, starken Küh' aufiklettern mit der Glock'n am Hals – nöt so arme, krumme Hascherln, wie Eure Küh da sind! – und wann die Bergspitz'n am Morgen und am Abend derglüh'n, als wär' ein Feuer inwendi drin im G'stein, und wann d' Schalmeien von den Almen klingen und d' Ave-Maria-Glock'n von den schönen, spitzen Türmen läuten –«
Er brach ab und faßte sich an die Kehle, wo es ihn zu Tränen würgte.
»D' Hauptsach' ist,« lenkte Heim das Gespräch wieder zu ruhig-gefaßter Art zurück, »daß wir daheim immer g'nu z'schaffen hatten, auch im Winter, wann's auch da mit der Arbeit nöt so pressiert wie im Sommer. Aber hier? 's Nixtun ist's, was uns krank und heimwehsiech macht!«
»Und das hat nun ein Ende, Ihr lieben Leute!« rief jetzt heiter die Gräfin, die erreicht hatte, was sie wollte.
Verwundert blickten die Augen aller vier Männer sie starr und gespannt an.
»Hier halte ich ein gnädiges Schreiben unserer lieben Prinzeß Wilhelm«, fuhr sie fort, und ein glückliches Lächeln verjüngte und belebte ihr blasses Gesicht unter den Stirnlöckchen, die nun erst wieder recht mit ihm harmonierten. »Es enthält die Allerhöchste Entscheidung, daß Ihr allesamt auf dem Königlichen Kammergute Erdmannsdorf angesiedelt werden sollt. Und zwar ganz nach unsern Vorschlägen, Herr Bürgermeister. Was noch an Grund und Boden fehlt, wird von den benachbarten Seidorfer und Schmiedeberger Gütern hinzugekauft, so daß jeder ausreichend Land erhält. Dazu kommt noch Wald, daß es Euch nicht an Holz und Düngerstreu gebricht.«
Eine Weile war's ganz still in dem kleinen Kreise. Die Männer schauten einander stumm mit leuchtenden Blicken an und sahen dann mit unverhohlener Dankbarkeit auf die Gräfin und den Bürgermeister, der unruhig auf seinem Stuhle hin und her rückte und sich glücklich lachend die Hände rieb.
Fleidl fand zuerst die Sprache wieder und fragte mit freudebebender Stimme: »Wie ist denn das so bald g'kommen?«
»Ja, das verdankt Ihr der guten Königlichen Hoheit, der Prinzeß Wilhelm!« antwortete die Gräfin. »Gleich nach ihrer Rückkehr nach Berlin hat sie für Euch Fürsprache eingelegt, weil sie Euch und Eure Art lieb gewann.«
Da sagte Fleidl ganz versonnen, denn ihm stand plötzlich die Weihnachtsfeier im Fischbacher Schlosse greifbar deutlich vor Augen: »Das ist wirklich wie ein Geschenk des Kindleins in der Krippen.«
»Ja,« setzte Matthias Rahm den Gedanken schwärmerischer fort, »das tat das Jesuskind, das auch die Herzen der Könige lenkt wie Wasserbäche!«
Und der starke Brugger gelobte: »Geld und Gut haben wir nöt viel, aber treue Herzen legen wir als Dank dem Preußenkönige zu Füßen.«
Der alte Heim aber atmete einmal tief, tief auf, als löse sich eine Zentnerlast von seiner Brust, und die starken Hände auf seinen Knien faltend, sagte er mit feierlichem Tone: »Das hat der Herr getan! Des sind wir froh und freudig!«
»Amen!« stimmte die Gräfin zu, und die großen, starken Männer sprachen's ihr wie Kinder aus einem Munde nach: »Amen! Amen!« –
»Nun wird's hoffentlich bald anders um die Stimmung Eurer Leute bestellt sein!« sagte die Gräfin nach einer Weile, in der die Tiroler die frohe Botschaft gleichsam andachtsvoll-stumm überlegt hatten.
»Das freili!« stimmten sie wie aus einem Munde zu.
»Nun gibt's doch bald reichliche Beschäftigung für Euch alle. Ich denke, in acht Tagen schon könnt Ihr die Axt zur Hand nehmen, um das Holz zum Bau Eurer Häuser zu fällen. Wo, weiß ich freilich selbst noch nicht. Diese Einzelheiten muß uns erst der Herr Oberpräsident anweisen. Und ich fürchte, da wird's noch manchen Widerstand setzen.«
Der Bürgermeister lächelte verständnisvoll.
Die Gräfin aber ging nun gleich daran, mit ihm und den Deputierten zusammen eine flüchtige Übersicht aufzustellen, welche Hausväter etwa für den Erwerb eines Grundbesitzes in Betracht kämen. Es ergaben sich ihrer etwa fünfundsiebzig.
Dann brachen die Tiroler mit dem Bürgermeister auf, um diese gute Weihnachtsmär nach Schmiedeberg zu tragen.
Schon hatten sie die Tür im Rücken, da schickte die Gräfin ihren Kriegel hinter ihnen her und ließ Fleidl zurückbitten.
Voll Erwartung trat er ein, vom schnellen Treppensteigen ein wenig atemlos.
»Setzt Euch, lieber Freund!« sagte die Gräfin mit ihrem gütigsten Lächeln. »Ich habe noch etwas mit Euch zu besprechen, was ausnahmsweise einmal Euch ganz allein angeht und betrifft. Sonst habt Ihr mir immer nur für die andern Rede und Antwort gestanden.«
»Mi geht's an?« fragte Fleidl betroffen. »Ach, warum nöt gar!«
»Ja Euch! Und Euer künftiges Glück, so will mir's scheinen! Ich weiß nämlich eine, die Euch liebt, Fleidl, aber es nicht zeigen will und wohl auch nicht zeigen kann.«
Fleidl blickte betroffen auf, und wie er so schier bis ins Herz erschrocken unter der Stirn hervor der Gräfin in ihre schalkhaft lachenden, grundguten Augen sah, die jetzt förmlich jugendlich glänzten, da wußte er, daß es vor ihr kein Verstecken gab.
»Ja, mein Gott, gute Mutter,« fragte er fast stammelnd, »woher wißt Ihr denn, daß –?«
»Nun, hört nur, lieber Freund!« antwortete sie, und nun erzählte sie ihm von Sara Baggs neulicher Beichte im Wagen und hier im Erker, und wie sie aus allem, was das Mädchen erzählt und nicht erzählt hatte, herausgefühlt habe, daß Saras ganzes heißes, junges Herz ihm gehöre, dem reifen Manne.
Fleidl saß stumm und sah starr auf seine harten Arbeitshände, die er gefaltet auf den Knien liegen hatte, und als er endlich wieder auf und der Gräfin voll in die Augen sah, da erschrak die Seelenkundige vor dem Abgrunde von Trauer, der da in seinen Augen gähnte.
»Ja, Mann, Fleidl, lieber Freund, was soll denn das heißen?« rief sie entsetzt. »So fassungslos traurig macht Euch das? Und ich dachte doch, Ihr würdet –?«
Sie schwieg, weil Fleidl abwehrend mit der Hand gewinkt hatte.
»Ihr habt recht, gute Mutter!« sagte er tonlos. »Das ist eine Sach' zum fassungslos trauri sein! Denn wenn der Mensch so mit einem Mal erkennen muß, daß er sich schwer versündigt hat, das ist eh' zum trauri sein. Und gar noch, wenn man erkennen muß, daß auch noch ein andrer Mensch mit unglückli wird für's ganze Leben! Das ist wohl zum trauri sein, auch wann man g'meint hat, man tue Gott einen Dienst daran. Ja, ja, unser Gott laßt sich nöt mit Untreu' dienen, auch nöt mit Untreu' gegen sich selbst! Damit am End' schon fein gar nöt.«
»Und das hättet Ihr gewollt?« fragte die Gräfin ungläubig.
»Nöt nur g'wollt, Frau Gräfin! Nein, gar g'tan hab' i's!« stieß Fleidl bitter heraus, und nun erzählte er ihr offen und umständlich, was droben in ihrem eigenen Gastzimmer geschehen war an jenem ersten Abende, den er in ihrem Schlosse verbrachte: wie er da dem Heil seiner Glaubensgenossen seine Liebe opferte.
»Wie unnatürlich! Wie unbäuerisch!« war der erste Gedanke, den Fleidls Bekenntnis bei der Gräfin weckte. Dann aber wurde sie schnell andern Sinnes; denn sie bedachte, daß diese Bauern durch ihr Glaubensschicksal eben doch in ganz andre Gefühlsbahnen gedrängt worden seien, und daß es für diesen da, der sich innerlich zum Führer berufen fühlte und äußerlich zum Führeramt gedrängt worden sei, als heilige Verpflichtung gelten mußte, jedes, aber auch jegliches Opfer zum Heil seiner Glaubensgenossen zu bringen.
»Und so mußte er bereit sein, auch seine späte Liebe für die ihm heilige Sache dranzusehen!« dachte sie und bewunderte die Seelengröße des schlichten Mannes.
»Ihr habt gehandelt, wie Ihr handeln mußtet!« sagte sie, nachdem Fleidl schon eine ganze Weile stumm auf ihr Urteil geharrt hatte. »Und wenn's Gott gefallen hätte, Euer Opfer anzunehmen, hättet Ihr's auch still und ruhig darbringen müssen. Aber mir scheint, lieber Freund, es gefällt ihm nicht, dies Opfer anzunehmen. Und es gefällt ihm vielleicht gar, mich zu seinem Werkzeug zu machen, um Euer Schicksal und das des jungen Mädchens zu Eurem Besten zu lenken. So haltet stille und laßt mich für Euch wirken.«
»Ihr meint's gut mit mir, gute Mutter!« erwiderte Fleidl hoffnungslos. »Aber mir scheint, i hab' mein Glück für immer ausg'sperrt. I kann doch dem alten Heim mein Wort nöt brechen!« stieß er gequält hervor.
»Das nicht! Aber wie, wenn er Euch selbst davon entbindet?«
»Das tut der nöt! Das niemals nöt! Denn sein Ignatz geht dem Alten schon über alles!«
»Nun, lieber Freund, Gott wird's zum Besten lenken!« sagte da die Gräfin voll gläubiger Zuversicht. »Werft alle Sorge auf ihn! Auch diese! Er sorgt schon für Euch. Und mich – mich laßt ein wenig mit sorgen!«
Da stand der starke Mann zögernd von seinem Stuhle auf und drückte der zarten, alten Frau, die so viel Kraft in Herz und Gemüt führte, die zarte Hand wie zu Dank und Gelöbnis, und mit feuchten Augen ging er dann, eine junge, schöne, starke Hoffnung im Herzen. – – – – –
* * *
Es brachen nun aber zunächst Zeiten an, die Fleidl keine Muße ließen, dieser jungen Hoffnung nachzuhängen, schlimme Zeiten, voll von Ärger und Aufruhr.
Den äußeren Anlaß dazu bildeten Mangel und Kälte.
Der ungewöhnlich harte Winter, der schon vor Weihnachten mit dichtem Schneefall und bald darauf einsetzender scharfer Kälte begann, brachte die gesamte ärmere Bevölkerung des Hirschberger Tals in die ärgste Notlage.
Die Gräfin Reden, die sich jetzt gern ausschließlich ihrem Zillertaler Werke gewidmet hätte, mußte überall helfend eingreifen. Ihr Herz und ihr alter Ruf als Wohltäterin des Tales nötigten sie dazu. So nutzte sie denn ihre Verbindungen nach allen Seiten und bis an den Königlichen Hof hinauf aus, Flachs zum Spinnen und damit Beschäftigung für die darbende Bevölkerung und auch Kartoffeln zu ihrer Nahrung herbeizuschaffen. Ihr Briefwechsel wuchs darüber lawinenartig an, so daß sie schon im Morgengrauen sich im Bett aufsetzte und, zum Schutz gegen die Kälte mit Kissen umbaut, Brief um Brief schrieb, bis ihr die Finger erstarrten.
Begreiflicherweise waren sie und der Bürgermeister bestrebt, vor allem die Zillertaler gegen Mangel und Kälte zu schützen. Denn man konnte es nicht darauf ankommen lassen, die ohnehin so stark gedrückte Stimmung der Exulanten noch tiefer sinken zu lassen. Deshalb erhielten sie auch ihre gewohnten Lieferungen an Mehl, Kartoffeln und Brot regelmäßig weiter, und auch an Holz fehlte es ihnen nicht, um ihre Schlupfwinkel behaglich durchwärmen zu können.
Die Rückwirkung dieser Fürsorge erfuhr Fleidl in recht unliebsamer Weise, als er einige Tage nach der ihn so tief berührenden Aussprache mit der Gräfin seine Axt zum Schärfen trug, damit sie recht brauchbar sei, wenn das Holzfällen zum Bau ihrer Häuser begann.
Zwischen meterhohen Schneemauern, an deren Aufschüttung sich die Zillertaler auf Wunsch des Bürgermeisters fleißig beteiligt hatten. damit die Straßen wieder fahrbar würden, schritt Fleidl das Städtchen aufwärts und über die Nepomukbrücke nach der ›kleinen Seite‹ hinüber.
Es war um die Zeit des Sonnenunterganges.
Auf der Brücke blieb er einen Augenblick gebannt stehen; denn was sich da vor ihm auftat, über die gefrorene Eglitz hin zwischen den beiden Häuserreihen an ihren beiden Ufern aufwärts, atmete ihn mit Heimatodem an.
Er sah da nämlich gerade vor sich hinter den Häusern einen Gebirgskamm sich jäh auftürmen und wie eine steile Mauer das Schmiedeberger Tal nach dieser Seite hin umwallen. Dieser Waldkamm starrte heut so in Schnee und Kälte, wie daheim im Zillertal die Gerloswand zur Winterzeit, und sein schneebehafteter Fichtenmantel erglänzte in einem wunderbaren, leuchtenden Grün, als seien die Zweige und Nadeln aus glitzerndem Glase geformt. Fleidl wußte wohl, daß dieser grüne Märchenglast eine Wirkung des blutroten Winterhimmels sei, der sich hinter dem Waldkamm ausspannte.
»Ja,« sagte er leise vor sich hin, während er der Schmiede zuschritt, »es ist gut sein für uns in diesem Tale; denn es ist so vieles, vieles dahier ganz so wie daheim am Ziller.«
Um so schmerzlicher traf ihn bei solcher Stimmung der unfreundliche Empfang, den er in der Schmiede fand.
Er erkannte wohl, daß ihn der herkulisch gebaute Meister in die zwar schon dunkle, aber durch das Schmiedefeuer doch hinreichend erleuchtete Werkstatt habe eintreten sehen. Aber der Meister tat, als habe er ihn gar nicht bemerkt, sondern zog voll Eifer an seinem gewaltigen Blasebalg, scheinbar ganz von der Beobachtung des Eisens in der hellen Glut gefesselt, von der er voll übergossen dastand. Und als Fleidl näher heran und in den Bereich des Feuerscheines trat, schwang der Schmied den glühenden Stab mit solcher Wucht aus dem Feuer gegen den Amboß hin, daß Fleidl zur Seite springen mußte, um nicht von einem Funkenregen getroffen zu werden.
Geduldig stand er zur Seite, bis der Schmied den Stab mit seinem mächtigen Hammer bearbeitet und wieder in die Glut zurückgelegt hatte. Dann aber trat er vor, bot dem Mürrischen einen schönen guten Abend und bat ihn, die Axt zu schärfen, sobald er Zeit dazu haben werde.
»Doas mach i ni!« fuhr ihn der Schmied grob an. »Gieht ock wu andersch hien mit Euerm bißla Geprätze! Fer Euch fremde Surte hoa ich keene Zeit ni!«
Fleidl stand erst einen Augenblick verdutzt da ob solcher Unfreundlichkeit. Dann sagte er, stark an sich haltend: »Warum habt Ihr keine Zeit für uns, Meister?«
»Doas ies meine Sache! Verstieht'r?« blieb der andre bei seiner groben Tonart. »Is etwan ni genung, doaß Ihr und Ihr fraßt ins dohie's Brut un de Kartuffeln weg, Ihr hargeluffenes Vulk Ihr? Do mir und mir hoan salber nischte ni zu brocka und zu beißa? Nu wullt 'r wull goar no ei a Pusch uf Arbeet giehn, doaß inse Leute vollends nischte ni zu tun und zu verdien'n hoan?«
»Nein, das wollen wir nöt!« suchte Fleidl zu beruhigen. »Wir wollen bloß das Holz zu unsern eignen Häusern fällen, die uns der gute König in Erdmannsdorf bauen läßt.«
»Su? Macht doas d'r Keenig?« fragte der Schmied verdrießlich. »Nu ja, 's woar ju schunt die Rede dervone. Do koan ma's ju sahn, wie's ungerecht zugieht uf d'r Welt. Euch Vulk, woas a su hie zugelofa kimmt, dam war'n Häuser gebaut. Aber wenn insereener, dar de Steuern und Abgaben zoahlt, doaß'm der Puckel brummt, amol 'n Karnickelstol baun wiel, do hoat ma Scherereien zum Dervonelaufa. Na, do gieht ock zur Buchwälder Gräf'n naus, die goar a so Zuckerlecke mit Euch tut, und loaßt Euch vom Hofeschmiede de Axt schoarf macha. Ich rühr' keen'n Finger oan fer Euch fremdes Pack!«
Da war wieder das verletzende Wort, mit dem schon in der Cholerazeit die schandfleckische Gottwalden die Zillertaler gekränkt hatte!
Fleidl verschluckte die heftige Erwiderung, die ihm schon auf den Lippen lag, und ging mit kurzem Gruße. Als er aber bei dem zweiten und dritten Schmiede, die er sogleich nach diesem Meister Unwirsch aufsuchte, ebenfalls eine Abweisung erfuhr, merkte er, daß hier eine allgemeine Feindseligkeit gegen die fremden Schützlinge des Königs zutage trat.
Und das stimmte ihn nicht nur sehr traurig, sondern auch schwer besorgt.
Denn wenn es mehreren seiner Landsleute so erging, wie ihm heut Abend – und das war bestimmt zu erwarten! – dann kam zum grimmen Heimweh noch der Zorn über ungerechte Behandlung.
Und dann gab's sicher kein Halten mehr!
Dann sah er bald den Tag kommen, an dem die Exulanten kurz entschlossen ihr bißchen Habe, das sie so leicht bei der Hand hatten, aufluden und damit zurückfluteten, woher sie der Verfolgungssturm geblasen hatte.
Denn schon war bei vielen die Erinnerung an die Verfolgungen verblaßt, während die Erinnerungen an all das Schöne, Gute und Liebe, was sie doch auch im Zillertal zurückgelassen hatten, von Tag zu Tag an Frische und verlockendem Reize gewann. Und jetzt, nachdem sie den weiten Wanderweg erst einmal ohne Schaden zurückgelegt hatten, jetzt hatte er seine Schrecknisse eingebüßt. Und die Stimmen, die Ignatz Heim täglich neu aufreizte, mehrten sich ständig, die Stimmen, die riefen: »In der Steiermark und im Kärntnerland wär's uns wohler! Dort täte man uns eh' nöt als fremde Eindringlinge anschaun, die den Einheimischen Brot und Arbeit wegschnappen!«
»Gott, Gott, steh uns bei!« flehte Fleidl aus kindlich-vertrauendem Herzen, während er durch Dunkel und Kälte seine stumpfgebliebene Axt seiner Behausung wieder traurig zutrug. »Steh uns bei, daß nöt noch alles schiech geht, jetzt, wo wir so nah' dran sind, wieder auf eignem Grund und Boden und im eignen Haus z' sitzen!«
Während er so in schweren Gedanken der Nepomukbrücke zustrebte, sah er Matthias Rahm in seiner bekannten hastigen Weise vor seiner Haustür auf- und abschreiten, offenbar von irgend etwas wieder stark erregt.
Als Fleidl an ihm vorüberging, sprudelte er auch gleich seinen Kummer heraus.
Um Maria, seine Älteste, handelte sich's, um jene bleiche, so ganz unbäuerische Maria Rahm, die in der Michelsdorfer Kirche an die Taube denken mußte, von der der Psalmist singt.
Fleidl wisse ja, sprach Rahm hastig auf ihn ein, wie still und verschüchtert die Maria von Kindheit auf gewesen sei, und wie sie an ihrem Hof daheim in Hollenzen hänge, schier nicht zum Sagen. Kaum fort hätten sie sie gebracht, als es zum Auszug kam. Von jedem Baum und Strauch im Garten hätte sie einzeln Abschied genommen und sei dabei schier in Tränen zerflossen. Unterwegs habe sie kaum ein Wort gesprochen und nur immer starr vor sich hin geblickt.
Nun liege sie droben im Stübl, bleich wie eine Kalkwand, und starre die Decke an, wolle nicht essen und nicht trinken und sei offenbar krank bis ins Herz hinein.
Was sollte man mit solchem Dickkopf beginnen?
»Zeit lassen mußt' ihr! Frodel-Hansel!« riet Fleidl nach kurzem Nachsinnen. »Deine Ältest' ist nöt vom Schlag unserer gewöhnlichen Dirndln. Das ist eine Besinnliche. Die braucht in Gott's Namen halt Zeit, wann sie sich von dem losreißen soll, woran sie ihr jung's Herzerl g'hängt hat. Aber sie ist doch eine fromme Dirn', die das Wort Gott's lieb hat.«
»G'wiß und wahrhafti ist sie das!« bestätigte Rahm, und über sein erregtes Gesicht huschte ein Abglanz der Innigkeit, mit der er gerade dieses Kind liebte.
»So wird das Wort Gott's halt scho Sieger bleib'n übers Heimweh, das jetzt in ihr so arg viel rumort!« tröstete Fleidl. »Aber Zeit mußt' ihr scho lassen und fein nöt ung'duldi werden, Frodel-Hansel.«
»Wann man ihr nur ein Lützel zuhilf' könnt' kommen!« seufzte Rahm. »Daß es ihr nöt gar so herb würd'!«
»Ja, das wünscht' i auch! erwiderte Fleidl. »'s ist halt so viel schad', daß Dei Weib so früh hat fort g'mußt, Frodel-Hansel! Eine Mutter weiß da besser z'helfen als Mannerleut' und der Vater selbst. Eine Mutter – Ja, weißt', was mir einfallt? I bitt' unsere gute Mutter in Buchwald, daß sie sich Deiner Marie mal ein lützel annehmen möcht! Weißt', die wär' scho die Recht', Deiner Maria in ihrem Herzweh beiz'stehn. Scho morgen bitt' ich sie, daß s' zu ihr geht. Du, i wett': die hilft Deiner Maria wieder zu ihrem stillen, frohen Sinnieren!«
Matthias Rahm sann ein wenig nach, wobei er unruhig von einem Bein aufs andre trat.
»Kannst wohl recht haben, Winkel-Hansel«, sagte er dann. »Die könnt's am End! Die kann Mut machen! Die schick' nur mal! Die kann vielleicht helfen, daß meine Ältest' sich wieder hier auf der Erd' z'rechtfinden tut. Denn, Winkel-Hansel, wann sie das nöt bald lernt, dann weiß i nöt, dann wird das arme Lichterl wohl bald ausg'flackert hab'n. I muß aber scho gleich mal schaun, was sie schafft! P'füht Gott, Winkel-Hansel!«
Und damit war der Bewegliche rasch durch die Haustür verschwunden.
Fleidl ging in tiefen Gedanken weiter.
»Ja, ja!« sagte er zu sich selbst. »Frodel-Hansel kann recht haben mit seiner Angst! Seine Maria ist so einer von den Menschen, auf die das Schriftwort wörtlich passen tut: »Wir haben hier keine bleibende Statt. Aber die zukünftige suchen wir! – –
Am andern Tage schon führte er seine Absicht aus und erzählte der Gräfin von der blassen Maria Rahm und ihrem krankhaften Heimweh. Und die Gräfin durchschaute gleich seine Wünsche: sie erbot sich sofort, die Heimwehsieche zu besuchen.
Es war ein klingend kalter Wintertag, als die Gräfin zu diesem Zwecke im Schlitten das Städtchen hinauffuhr.
Der Landeshuter Kamm stand weiß und starrend hinter der Häuserzeile der Stadt, die, in das blendende Gewand des Neuschnees gehüllt, am fest zugefrorenen Eglitzflusse sich aufwärts schlängelte.
Die niedrigen Häuserchen der Unterstadt boten unter ihren hohen Schneehauben ein trauliches Bild eingemummelten Winterbehagens, und den störenden Gedanken an die beißende Kälte verscheuchte der kerzengerad aufsteigende, hellblaue Herdrauch der Schornsteine, der sich palmenartig gegen den strahlend-blauen Winterhimmel hin ausfächerte.
Der Gräfin tat der Gedanke wohl, daß auch in diesen so behaglich anmutenden Häuschen Zillertaler eine Zuflucht gefunden hätten. Und als sie vor dem Hause hielt, in dem die Familie Rahm untergebracht war, dachte sie: »Es muß sich auch hier ganz gut hausen lassen!«
Sie fand zu ihrer Freude Maria Rahm allein zuhaus.
Das Mädchen saß, in Decken verpackt, nahe dem Fenster, so daß sie die Winterlandschaft draußen überblicken konnte.
Über einen schmalen Garten hinweg glitt der Blick hinaus in eine halbrunde Felderbreite, die niedrige Waldberge umsäumten, hinter denen die Ausläufer des Landeshuter Kammes emporragten.
Ein kleines Dörfchen duckte sich mit niedlichen Häusern am Fuße der Berge in den Wälderschatten. Die Gräfin erfreute sich am Reiz dieses Idylls in seiner blendend weißen Schneehülle, nachdem sie Maria Rahm herzlich-teilnahmsvoll begrüßt hatte.
Das Mädchen war offenbar sehr erstaunt über diesen ungewohnten Besuch und äußerte seine Freude darüber in einer herzlich-unbefangenen Art, frei von jeder unterwürfigen Bekundung irgendwelchen Geschmeicheltseins, eine Weise, die je länger, je mehr der Gräfin an den Fremden gefiel.
Maria Rahm sah sehr blaß aus, krankhaft blaß, und das trat auf ihrem schmalen Gesichtchen um so krasser hervor, weil in ihm ein Paar so große, kohlschwarze Augen glühten, und weil die schön geschwungene Stirn eine Wucht blauschwarzen Haares umkränzte.
»Um diesen Kopf schwebt etwas Somnambules!« dachte die Gräfin und erkundigte sich nun, neben dem Mädchen auf einem buntbemalten Tiroler Schemel Platz nehmend, nach ihrem Ergehen.
Maria Rahm antwortete ausweichend; sie wollte offenbar ›die gute Mutter‹ nicht kränken, indem sie ihr gestand, wie unglücklich sie sich im fremden Lande fühle.
Sie sei leider immer so matt auf die Beine und am ganzen Körper, daß sie sich gar nicht fortschleppen könne, und deshalb sitze sie hier so arg untätig, klagte sie.
»Und wie ist das gekommen, liebes Kind?« fragte teilnehmend die Gräfin. »War's schon daheim im Zillertal so?«
»O na!« antwortete das Mädchen mit einem matten Auflachen. »Da war i frisch wie die Fischl im Ziller. Da hat's an nix nich g'fehlt g'habt.«
»So hast Du Dir wohl auf der Reise etwas zugezogen?« fragte die Gräfin weiter. »Eine Erkältung oder so etwas Ähnliches?«
»Daß i nöt wüßt'!« erwiderte Maria nachdenklich. »Aber anders ist mir's freili auf der Reis'n schon g'west als daheim in Hollenzen. Da hat's freili schon ang'setzt mit dem Müdsein und Mattsein. Aber gar so arg schlimm ist's doch erst hier worden. Gar so arg!«
»Und da mußt Du armes, junges Ding nun den größten Teil des Tages hier sitzen, allein und untätig?«
Maria Rahm nickte traurig mit dem Kopfe.
»Wer soll bei mir sein?« fragte sie. »Die Brüder sein wild und ung'stüm. Die suchen sich ihre Kam'raden auf der Straßen. Der Vater hat z'schaffen unter den Auswandrern. Und es leidet ihn auch nöt lang' hier in der engen Stub'n. Er ist zu sehr das Weite und Freie gewöhnt von daheim im Zillertal. Unser Hof lag frei und hoch auf der Matten, und in Stall und Scheune und auf den Wiesen gab's viel z'schaffen und z'wirken. Aber hier? – Und mein Mutterl ist schon lang tot, Frau Gräfin. Ja, wenn die noch leben möcht', da säß i freili nöt so einschichtig hier den ganzen Tag!«
»Ich will Dich von jetzt ab oft besuchen, armes Ding!« sagte die Gräfin, der der verhaltene Jammer des Mädchens ans Herz griff. »Vielleicht kann ich Dir ein wenig Deine liebe Mutter ersetzen. War sie immer gut zu Dir?«
»O ja!« antwortete das bleiche Mädchen gedehnt und sah mit seinen großen, schwarzen Augen verträumt ins Leere. »Sie war scho gut z' mir, mei Mutterl. Wann's nur mehr Zeit g'habt hätt' zum Liebhaben! Aber sie hatte gar arg viel z'schaffen, im Haus, mit der Milch und Butter und mit den Bub'n. Der Vater ist sehr rasch und hitzi, Frau Gräfin. Er ist gut und liebt das Wort Gott's. Aber er ist rasch und hitzi! Und da mußt' die Mutter auch arg dran mit Arbeiten und Schaffen. Ach, wenn man oft so schwach ist und still sitzen und liegen muß, wie i nun dahier, da sieht man's erst recht, wie gar hasti es die andern haben, und wie sie in ihrer Eil' aneinand vorbeirennen und nöt sehen, daß der andre heimli die Hand' nach ihnen ausstreckt und manchmal viel, viel lieber eine ruhige Minut' und ein lieb's Wort g'schenkt hätt', als all das Schuften und Abrackern für ihn.«
Sie schwieg, teils erschöpft, teils befangen, weil's ihr wohl schien, als sei's unbescheiden von ihr, dem vornehmen Besuche solche Weisheiten aufzutischen.
Die Gräfin aber hatte die Kranke einen Augenblick verwundert angesehen, dann sagte sie leise: »Da hast Du etwas sehr Richtiges und Gescheites gesagt, mein Kind. Etwas, was sich jeder selbst zur Mahnung gesagt sein lassen sollte, der bestrebt ist, seinen Mitmenschen Gutes und Liebes zu erweisen. Du hast ganz recht: wir fangen's oft ganz verkehrt an und geraten in Hast und Geschäftigkeit, wo wir mit Verweilen und mit teilnahmsvollem Versenken in unsers Nächsten Gefühlswelt viel, viel größeren Segen spenden könnten, als mit unserm Rennen und Jagen. Aber sag' mir: hast Du nicht unter Deinen Altersgenossinnen eine oder die andre Freundin, die Dir manchmal ein Trost in Deiner Einsamkeit sein könnte?«
»Noa!« erwiderte daö Mädchen, und das klang fast herb. »Sie sind alle zu gesund und stark. Was sollten sie mit mir schwachem Hascherl? Ich kenn' sie ja auch gar nöt! Nur dem Namen nach und nach dem, was i so grad' zufälli von ihn'n g'hört hab.«
Die Gräfin war erstaunt.
»Ja«, fragte sie, »Hast Du nicht daheim fleißig mit Deinen Altersgenossinnen verkehrt?«
Maria Rahm lächelte leise zu dieser Frage.
»Das gab's ja alles nöt bei uns daheim!« sagte sie. »In d' Schul' hat uns der Vater nöt mehr gehen lassen; denn der Schullehrer von Hollenzen verwünschte die Eltern, die zu den Unklinanten gehörten, als seien sie greuliche Heiden, am meisten unsern Vater. Da hat der Schulmeister einmal die katholischen Kinder auf d' eine Seiten g'setzt und uns protestant'schen auf d' andre Seiten und g'sagt: »Schaut, da sitzen die Christenkinder und da die Heidenkinder.« Mit denen hat er uns g'meint. Seitdem war's ganz aus zwischen dem Vater und ihm.
»Ihr bleibt fort aus der Schul'«, sagte er. »Er jagt Euch sonst am End' gar mit Schimpf und Schänd' aus d'r Schulen fort, wie Michael Kolands Kinder!«
Die hatten nämlich dem Schulmeister manchmal gar kitzlige Fragen aus Gott's Wort g'stellt, die ihn arg in Verlegenheit brachten, weil er keine Antwort drauf wußte.
Von der Schulen blieben wir Rahmkinder also fort. Einen Kirchgang gab's für uns ›Ketzer‹ natürli auch nöt, bei dem man hätt' mit den Altersgenossinnen plauschen können. Und zum Spinnabend war's gar zu arg weit hinunter von unserm Hof. So bin i immer allein g'west von Kindheit aus.«
»Und war Dir das nicht langweilig?« fragte die Gräfin.
»O na! Langweili scho gar nöt! Gar viel schön war's, das Alleinsein!« erwiderte das Mädchen und bohrte seinen innerlichen Blick immer seherhafter in die Vergangenheit. »I hat ja unsern Hof! Unsern schönen, großen Hof droben auf d'r Matten! Was gab's da nöt alles z' besorgen und z' besehen! Da hatt' i meine Hühner im G'heg hinterm Haus. 's ist dumm Volk, das nöt mal auf einen Namen hören lernt. Aber mir war's doch lieb; denn i hatt' sie alle aus dem Ei schlupfen sehen und größer und größer werden, bis sie wieder Eier legten und mit jungen Küchelchen rumgackerten, recht ehrwürdig und gewahrsam. Und meinen Schecker-Kater hatt' i und den wachsamen Spitz, die sich so gut vertrugen, wie sonst Hund und Katz' gewiß nöt. I glaub', sie hielten nur so schön Fried', weil sie immer beide zu gleicher Zeit um mi sein wollten, wenn i durch Hof und Garten ging. Gar sehr zum Lachen war's, wie sich die beiden um mi schmeichelten, der Schecker auf der einen und der Spitz auf der andern Seiten, mit Schweifwedeln und Bellen der ein' und mit Schnurren und Kopfreiben der ander. Da gab's viel kurzweili Plaudern mit den beiden; denn die verstanden jed's Wort, das i mit ihnen g'plauscht hab, Frau Gräfin!«
Die Gräfin nickte zustimmend, und das bleiche Mädchen fuhr fort, immer tiefer in Selbstvergessenheit versinkend:
»Und dann hatt' i doch den schönen Garten hinterm Hause. Er ist in ganz Hollenzen der einzig, in dem's große Kirsch- und Apfelbäume gibt; denn er liegt so viel g'schützt gegen die rauhen Wind' und recht in der Sonnen. O, gute Frau, da war's schön für mi z' sitzen und zu' sinnen! Da konnt' man hinunter schaun ins Tal, wo der Fluß rauscht und die Bauernhöfe und die kleinen Hütten auf ihren grünen Planerln stehen, alle so still und friedli! Und hinauf konnt' man schauen, von unserm Garten aus, zur grünen Gerloswand. Das ist ein mächtiger Berg, Frau Gräfin, vor dem i mi manchmal auch schier g'fürchtet hab, wann er so finster dastand und die Nebel an ihm hinauf- und hinunterkrochen wie graue Ungetüme. Aber meist hatt' i doch meine Freud' an ihm, wenn seine grüne Tannenwand in der Sonne lachte und über ihr die braunen Felsen glänzten und noch höher droben im Herbst und Winter die weiße Schneekappen funkelte. Und gar am Abend, wann der ganze Berg dastand, als hätt' ihn der liebe Gott aus seinem Abendrothimmel herunter mit Purpurglut übergossen, viel tausendmal schöner noch, als die Waldberge da drüben jetzt eben auch.«
Sie deutete matt mit der Hand zum Fenster hinaus und auf die vereiste Waldwand des Landeshuter Kammes. Die sinkende Wintersonne überflutete sie eben mit so heller Glut, daß das Blau des Himmels hinter ihr zu einem stumpfen Grau verblaßte, das sich aber vor den Blicken der beiden stummen Bewunderinnen vom Saume des Kammes aufwärts ganz allmählich auch in einen dunkel-satten, kältedrohenden Purpurglanz verwandelte.
»Ist das nicht auch schön?« fragte die Gräfin, nach Maria Rahms heißer Hand fassend. »Wird sich's nicht auch hier zwischen diesen Bergen leben lassen?«
»Schön ist das scho!« stimmte die Kranke zu. »Aber so wie daheim ist's halt doch nöt! Der Tannenhübel da ist noch lange nöt die Gerloswand. Und unsern schönen Hof, wo wir so allein lebten, als wären wir Könige auf unsern Matten, den seh' i niemals wieder, so weni wie den Schecker und den Spitz und meine Hühner und meine Bäume.«
Sie hätte gern noch auseinandergesetzt, was ihr jeder einzelne von diesen Bäumen bedeutete; denn sie hatte ein ganz persönliches Verhältnis zu den knorrigen und rissigen Burschen. Aber sie scheute sich, davon zu sprechen, weil sie fürchtete, die kluge, fremde Frau werde sie wegen solcher Gedanken belächeln.
»Ja«, fragte nun die Gräfin, »liebes Kind, fällt Dir's denn gar so schwer, diese Dinge, an denen Dein junges Herz hängt, zu missen? Du hast doch dafür viel Köstlicheres eingetauscht: Ihr könnt doch nun ungestört Euerm Glauben leben.«
Da ging ein erhellender Zug über das bleiche Gesicht, und in die großen Augen trat ein freudiges Leuchten.
»Ja, es fällt mir schwer!« sagte sie und sah dabei die Gräfin bittend an. »I muß ehrli sein und das eingestehn. Aber i weiß auch, daß i nöt recht handle, wenn i so sehr dem Heimweh nachhäng'. Denn freili, was wir hier gefunden haben, das ist tausendmal mehr wert, als unsre Heimat im Zillertal und als unser Hof mit allem, was i lieb hab. Und denkt nur ja nöt, liebe Frau Gräf'n, daß i das reine Wort Gott's und mein'n Heiland Jesus Christus nöt lieb hätte! O na – i – i wünscht' scho, i wär' bei ihm in sein'm Himmelreich!«
Hier schlug ihre Stimme in ein leises Schluchzen um, und durch den zarten Körper des so unbäuerischen Mädchens ging ein starkes Beben. Sie bedeckte die sehnsüchtigen Augen mit der Hand, unter der hervor große Tränen tropften.
Da legte die Gräfin ihre Arme um die Schultern der Erregten und sprach ihr mit leiser, lieber Stimme Trost zu, daß es dem Mädchen war, als säße seine wirkliche Mutter neben ihm und liebkose es, wie das kaum einmal zu ihren Lebzeiten geschehen war, weil sie sich zu so was kaum Zeit nehmen konnte.
So legte denn Maria Rahm ihren müden Kopf an die Schulter der zierlichen Greisin und weinte sich einmal recht, recht gründlich und ohne alle Scheu aus, wie's eben sonst nur ein Kind am Herzen der Mutter vermag.
Und als dann die Gräfin ging und noch einmal ein baldiges Wiederkommen versprach, erhellte ein sonniges Lächeln die blassen Züge und eine leise, feine, lebenspendende Röte überhauchte die schmalen Wangen ähnlich, wie draußen noch einmal die scheidende Sonne den Winterwald aufglühen machte.
»Ja, so sind sie!« dachte die Gräfin, diese Stunde noch einmal im Geiste durchlebend, während die Isabellen mit ihr durch die abendliche Winterlandschaft klingelten. »Ein sonderbares Gemisch von religiöser Ergriffenheit und von zähem Festhalten am Wirklichen und Irdischen beherrscht sie, diese fremden Bauern; Kinder und Querköpfe zugleich sind sie, Seligkeitssucher und Eigentumsfanatiker, selbstlos und anspruchsvoll. Und in ihrem Heimweh flutet das alles durcheinander. Einem Wesen, wie dieser Maria Rahm, verschmilzt die Sehnsucht nach den Plätzen und Gespielen ihrer Jugend mit der angeborenen Sehnsucht der reinen Menschenseele nach der himmlischen Heimat in Eins. Und wenn man sie nicht von ihrem krankhaften Heimweh ablenkt, sehnt sie sich vorzeitig hinüber ins himmlische Zillertal. Ich muß mich bald wieder um dies bleiche Rätsel kümmern.« – – – – – –
Sie tat das auch und sprach in den nächsten Wochen bei jeder Fahrt in die Stadt auch bei Maria Rahm vor.
Zu ihrem Leidwesen traf sie das Mädchen nie mehr wieder allein an: die Familienglieder schienen es für Ehrensache zu halten, daß die Gräfin immer einen von ihnen bei der Kranken finde. So kam's auch niemals wieder zu einer so vertrauten Aussprache wie beim ersten Besuch. Maria Rahm war im Beisein ihrer robusten Brüder und ihres hastig-beweglichen Vaters sichtlich eingeschüchtert und befangen und zog sich mimosenhaft in sich zurück. Nur ihre großen Augen redeten die Herzenssprache weiter, die sich damals über die bleichen Lippen gedrängt hatte, und in diesen Augen, die sich wie Hände eines Versinkenden nach Halt suchend am gütigen Gesicht der Gräfin gleichsam festklammerten, fand die mitleiderfüllte Besucherin einen immer stärker sich ausprägenden Zug unirdischen Sehnens. Und immer deutlicher auch spürte sie, daß die Kranke, die ihre Angehörigen offenbar gar nicht für krank, sondern eben nur für heimwehsiech hielten, eine vertraute Aussprache mit ihr wünschte.
Mit dem festen Entschlusse, beim nächsten Besuche eine solche herbeizuführen, ließ die Gräfin etwa zwei Wochen nach jener ersten Aussprache wieder vor ihrer Tür halten. Als sie aber die Treppe hinaufsteigen wollte, drang ihr von oben lautes Schluchzen entgegen, und als sie die Tür zum Rahmschen Zimmer öffnete, fand sie die beiden robusten Brüder tränenüberströmt neben der Bettstatt sitzend, in der Maria Rahm steif und kalt lag mit einem unheimlich ausdrucksvollen Leichenantlitz.
Das Schluchzen der Burschen brach wie durchgerissen ab, als sie die Gräfin erblickten. Diese aber trat mit leisem Grußnicken an die Tote heran, faltete ihre schmalen, weißen Hände wie in stummer Andacht vor dem Rätsel Tod, das ihr ja schon hundertmal, noch nie aber so siebenfältig versiegelt entgegengetreten war, wie vor dieser Mädchenleiche.
Die langen, schwarzen Wimpern der geschlossenen Augenlider lagen auf den wachsbleichen Wangen in zwei schön geschwungenen dunklen Bogen, den oberen Teil des Gesichtes mit herzbedrückendem Ernste überschattend. Um den feingeschnittenen Mund her aber lag's wie ein leises Lächeln erlöster Befriedigung und beseligend gestillter Sehnsucht.
Qual und Glück, Trennungsweh und Jenseitsfreude las die Nachdenkliche von den erstarrten und doch so ausdrucksvollen Zügen, und sie stand grübelnd vor der Leiche. »Das irdische Heimweh hat sie so jung zur himmlischen Heimat zurückgebracht!« dachte sie, nicht ohne einen leisen Neid auf die Frühvollendete. –
In diesen Tagen beobachteten verschiedene Zillertaler mehrfach hintereinander an Andrä Egger, dem kleinen Großbauern mit der Vogelschnabelnase, ein sonderbares Gebaren.
Sie sahen ihn weit droben auf der Paßhöhe hinter den letzten Häusern des Städtchens an einem dicken Baume lehnen und nach der Richtung hinstarren, aus der sie damals von Österreich her eingewandert waren.
Er konnte hier zwar keinen Zipfel österreichischen Landes erblicken; denn die nächsten Bergzüge versperrten die Aussicht. Aber es tat dem Kleinen offenbar wohl, wenigstens ein Stück Himmel zu erspähen, von dem er wußte, daß er auch über dem Österreich und in weiter, weiter Ferne über seinem geliebten Tirol blaue und sich über seinen Blond- oder Schwarzköpperln ausspanne, die er um seines Glaubens willen im Zillertal zurückgelassen hatte.
Tag um Tag stand er nun stundenlang hier oben auf der windigen Paßhöhe und achtete es nicht, wenn ihn auch der Wintersturm bis auf die Knochen durchkältete.
* * *
Die Maria Rahm hat's Heimweh derwürgt, und Andrä Egger bringt's um den Verstand!«
Das war die Auslegung, die die Zillertaler ziemlich einhellig den Rätseln gaben, deren Lösung auch die Gräfin so tief innerlich beschäftigte. Und Fleidl erkannte wohl, welch unheilvolle Wirkung diese Auslegung gerade im gegenwärtigen Zeitpunkte haben mußte.
Deshalb wurde der Wunsch, mit dem er damals von seinen vergeblichen Rundgange bei den Schmieden heimkehrte, zum leidenschaftlichen Flehen, der Wunsch: »Säßen wir doch bald auf eignem Grund und Boden und im eignen Hause!«
Dazu aber sollte es leider noch nicht so schnell kommen, als Fleidl und alle Beteiligten sich das wünschten!
So sehr die Gräfin und der Bürgermeister Flügel auch drängten, daß zur Ausführung der Generalgenehmigung des Königs nun auch bald seitens der Breslauer Provinzialbehörden die notwendigen Verfügungen gegeben würden, konnten sie doch nichts erreichen, als hundert Gegenfragen und Einwendungen gegen ihre wohlerwogenen und ganz genau im Einzelnen ausgearbeiteten Vorschläge. Wochen um Wochen vergingen in nutzlosem Hin und Her. Es kam weder zur notwendigen Verteilung des angewiesenen Landes noch zur Bezeichnung von Waldstrecken zum Holzfällen, noch zu irgendwelcher Maßnahme, die etwa jetzt schon erledigt sein mußte, wenn im Frühjahr mit dem Bau der Häuser begonnen werden sollte.
Und in Schmiedeberg saßen die Zillertaler in ihren engen Klausen in immer wachsender Unlust und Ungeduld.
Täglich kam Fleidl mit drängenderen Bitten um Beschleunigung nach Buchwald. Täglich wurde sein gutes Gesicht kummervoller, und als im Februar die Kälte zu fast unerträglicher Schärfe sich steigerte, sagte er eines Tages zur Gräfin: »Nun weiß i mir keinen Rat mehr! Nun kann i sie nöt mehr länger halten. Wenn sie nöt bald was zu sehen bekommen von alle dem, was uns versprochen ist, alsdann, i fürcht', gibt's ka Aufhalten mehr!«
Die Gräfin sann angestrengt mit zusammengezogenen Brauen nach.
Ihr war die ganze Sache nicht rätselhaft. Deutlich durchschaute sie den Zweck dieses Hinhaltens und absichtlichen Zögerns: der Oberpräsident hoffte, auf diese Weise die ihm so lästige Zillertaler Einlagerung los werden zu können.
»Der schlaue Fuchs rechnet ganz richtig damit, daß die Tiroler die Geduld verlieren und wieder zurückwandern werden!« dachte sie.
Aber was sollte sie tun, um diesen Plan zu durchkreuzen? Sollte sie sich wieder an den König selbst wenden?
Sie mußte fürchten, dadurch lästig zu werden.
»Wenn man ihnen nur was z'tun geben könnt'!« seufzte Fleidl wieder in ihre Überlegungen hinein. »Wenn s' nur bald mal was z'sehn kriegten!«
Da schoß der Gräfin ein rettender Gedanke durch den Kopf.
»Schon morgen sollen Eure Burschen zu tun bekommen!« rief sie freudig erregt. »Und bald auch was zu sehen! Wir bauen in Schmiedeberg ein Probehaus. Das gibt zu tun und zu sehen und bringt uns auch noch andre Vorteile. Denn wir können dann ziemlich genau berechnen, wieviel Material zu solchem Hause notwendig ist, was es kostet, wie groß wir's am besten machen, und wie wir's am besten einrichten, daß es Euch allen behagt, und hunderterlei mehr. Mein Amtmann soll Euch in meinen Forsten Rodestellen anweisen. Stellt Euch schon morgen zum Holzfällen ein, mit so viel Leuten, als ihr zusammenbekommt. Wer keine Axt hat, soll sich bei mir melden. Oder noch besser: ich geb Euch gleich eine Anweisung an den Schmiedeberger Kaufmann mit, der uns die Äxte liefert, daß er Euch aushändigt, was Ihr für Eure Leute braucht.«
Da stand Fleidl wieder einmal voll Bewunderung vor der seltenen Frau, die so uneigennützig war, ihren eigenen Forst plündern zu lassen, damit nur endlich tatsächlich etwas zum Heil der Einwanderer geschehe, und die so umsichtig war, wie viele tüchtige Männer zusammen nicht. Denn ihm leuchtete ein, daß der Bau eines Musterhauses so vor aller Blicken und unter der Mithilfe aller Zillertaler das beste Mittel war, sie nun an diese Scholle zu fesseln, von der sie sich mit aller Gewalt wieder losreißen wollten. –
Am andern morgen stellte er sich mit einer Anzahl seiner Landsleute auf dem Buchwalder Gutshofe ein, alle mit Äxten bewaffnet, um sich von dem Amtmann die geeigneten Orte zum Holzfällen anweisen zu lassen.
Er kam mit schwerer Verstimmung im Gemüt: im Laden des Kaufmanns, dem die Lieferung von Äxten angewiesen worden war, hatte er einen heftigen Auftritt mit einem halben Dutzend seiner Landsleute gehabt. Diese weigerten sich nämlich, die Äxte zu benutzen, die ihnen dort angeboten wurden. In echt bäurischer und insonderheit echt zillertalscher Querköpfigkeit wollten sie nur mit Äxten hantieren, wie sie sie von daheim gewöhnt waren. Es half da auch alles Zureden nichts: bockbeinig stelzten die von Fleidl scharf Zurechtgewiesenen in ihre Wohnungen zurück.
Ein ehrlicher Zorn über solche undankbare und verbohrte Starrköpfigkeit kochte in Fleidl den ganzen Tag noch nach, und mit einer Art verbissener Wut hieb er auf die Stämme ein, die zu fällen waren. Er hatte sich ja diese erste Mithilfe am Aufbau der neuen Heimstätten anders vorgestellt, in ganz andrer, freudigdankbarer Stimmung, hatte er gedacht, würden alle geschlossen mit Hand anlegen bei diesem lang ersehnten Werke.
Und nun stand eine ganze Anzahl grollend fern, weil ihnen die Form der Äxte nicht zusagte, mit denen sie schaffen sollten. Und er und die andern, die Hand anlegten, taten das mit Groll im Herzen wegen der kindischen Verbohrtheit und Querköpfigkeit jener.
Erst im Laufe des Nachmittags legte sich Fleidls Erregung, abgelenkt durch das fleißige Hantieren mit seiner Axt, die freilich auch eine echt tirolische war. Und als im frühen Halbdunkel des Wintertages der Amtmann der Gräfin anregte, nun Feierabend zu machen, da stellte sich Fleidl unter eine mächtige Fichte, die der Amtmann wegen ihres stattlichen Wuchses vor dem Fällen bewahrt hatte, und winkte das reichliche Viertelhundert Arbeitsgenossen herzu, daß sie sich im Kreise um ihn her aufstellen sollten. Dann nahm er den großen, schwarzen Filzhut ab, den er gleich den andern Zillertalern auch bei jeglicher Arbeit im Freien trug, und sagte schlicht: »Eh' wir auseinand' gehen, bleibt uns noch schuldig, von Herzen zu danken und zu loben, daß wir diesen Tag erlebt haben, Ihr treuen Glaubensbrüder, und daß der liebe Herr im Himmel droben uns vor jeglichem Unfall bewahrt hat!«
Fromm senkten da die großen, starken Gestalten ihre entblößten Köpfe tief auf die gefalteten Hände herab und sprachen still für sich ein jeder sein Dankgebet.
Es war bei den meisten vor allem ein Dank dafür, daß ihr Leben nun wieder ein Ziel und eine Aufgabe habe.
Und Fleidl dachte: »Nun, du guter Gott, wird's auch wieder aufwärts gehen mit der Gemeinde trotz Querköpfigkeit und Heimweh und Verhetzung, wie Ignatz Heim sie anricht't!« – – –
* * *
Langsam wuchs auf Kommerzienrat Gebauers großem Fabrikhofe das ganz aus Holz errichtete Probehaus der Zillertaler empor und mit ihm auch ein froherer Mut in der Mehrzahl unter ihnen. Aber in demselben Maße wuchs auch der geheime bureaukratische Widerstand in der oberpräsidialen Kanzlei in Breslau gegen die so gefährlich nahe gerückte Ansiedlung der Zillertaler.
Oberpräsident von Merckel, der sich selbst mit seiner Person klug zurückhielt, ließ es vor allem nicht zu der so dringend notwendigen Verteilung von Grund und Boden kommen, sondern warf dem Werke durch seine Räte immer neue Hindernisse in Gestalt von allerhand spitzfindigen Verwaltungsfragen in den Weg.
Da entschloß sich die Gräfin wieder einmal, kurzerhand den gordischen Knoten zu durchhauen: ein flehender Brief an die Prinzeß Wilhelm über die drohende Rückflutung der ewig hingehaltenen und deshalb im höchsten Maße mißgestimmten Zillertaler bewirkte, daß der schnell ins Vertrauen gezogene und von der Prinzessin stark angetriebene Hofprediger Strauß dem Könige über das drohende Scheitern aller seiner wohlwollenden Ansiedlungspläne Vortrag hielt. Das Ergebnis war die unverhoffte Ankunft des Geheimen Regierungsrats Jakobi, der zu der Berliner ›Immediat-Kommission‹ gehörte und vor Jahr und Tag in Innsbruck und Wien die Verhandlungen über die Auswanderung der Zillertaler geleitet hatte. Und einen Tag später traf auch der Oberpräsident in Schmiedeberg ein, voll unwirschen Grimms; denn er trug die bestimmte königliche Weisung in der Tasche, die Ansiedlungsangelegenheit nun zu einem schnellen Ende zu bringen.
Am Tage nach seiner Ankunft gab's eine sehr stürmische Komiteesitzung im ›Blauen Zimmer‹ der Gräfin Reden.
Diese hatte den Oberpräsidenten zusamt dem Geheimrat Jakobi mit ihrem Wagen aus Schmiedeberg holen lassen, merkte aber schon beim Eintritt der beiden Herren, daß sie sich unterwegs stark ›gekämmt‹ haben mußten.
Tatsächlich waren sie auch scharf aneinander geraten, weil sich der Oberpräsident in seiner bissigen Weise höchst abfällig über die ganze bisherige Abwicklung der Zillertaler Angelegenheit geäußert hatte.
Mit einer Kürze, die an Ungezogenheit grenzte, begrüßte er nun die Hausfrau. Den Bürgermeister, der es vorgezogen hatte, zu Fuß nach Buchwald herauszugehen, behandelte er ganz en bagatelle, und den vier Tiroler Deputierten, die sich bescheiden im Hintergrund des Zimmers hielten, knurrte er einen flüchtigen Gruß zu, aus dem Fleidl sich heraushörte: »Möchtet Ihr Euch doch zum Teufel scheren, daß man keine weiteren Molesten mit Euch hätte!«
Man nahm nun um den langen, viereckigen Tisch herum Platz, und der Oberpräsident eröffnete die Sitzung mit einer langausgesponnenen Darlegung der Einwanderungsgeschichte, die allen Anwesenden bekannt und deshalb recht überflüssig erschien. Ihr wohlüberlegter Zweck trat aber dann deutlich hervor; denn der gewandte Diplomat gab dem Ganzen allmählich das Gepräge einer höchst lästigen und im Grunde genommen überflüssigen Einlagerung österreichischer Untertanen in preußisches Gebiet, die mancherlei bedenkliche Nebenwirkungen haben könnte und vielleicht im Laufe der Zeit auch haben würde, vielleicht sogar eine Trübung der guten nachbarlichen Beziehungen der Staaten Österreich und Preußen.
Die Gräfin, der Geheimrat und der Bürgermeister wechselten vielsagende Blicke miteinander, und die Gräfin bedauerte sehr, daß trotz vorgehaltener Lorgnette ihre Augenschärfe nicht ausreichte, Bartholomäus Heims Gesichtsausdruck zu erkennen, der dem Oberpräsidenten gerade gegenüber an der unteren Schmalseite der Tafel saß. Fleidls Gesicht war verschlossen (das erhaschte sie mit einem schnellen Seitenblick nach ihm), so verschlossen-unbeweglich, wie sie's nicht gewöhnt war, an ihm zu sehen.
»Exzellenz verzeihen, wenn ich Ihrer Auffassung der ganzen Angelegenheit doch von Grund aus widerspreche!« unterbrach nach einer Weile der Berliner Geheimrat den Sprecher. »Ich hatte Gelegenheit, wie Exzellenz wissen, die Bewegung an Ort und Stelle und vor dem Zeitpunkte der Auswanderung zu studieren. Und da muß ich denn doch hervorheben, daß sie ein wesentlich andres Gesicht zeigte, als Exzellenz ihr nun aufgeprägt haben. Es war – und das muß denn doch stark betont werden! – ausschließlich eine Glaubensangelegenheit. Und als solche hat sie auch Seine Majestät von Anbeginn aufgefaßt.«
»Weil sie ihm so dargestellt wurde!« knurrte der Alte mit grimmigem Lächeln dazwischen.
»Pardon, Exzellenz! Nicht deshalb, sondern weil sie es tatsächlich war und auch untrüglich als solche in Erscheinung trat, dort in Tirol wie auch in Berlin, als die Abgesandten der Bedrängten um Beistand baten.«
»Ich leugne nicht, daß religiöse Beweggründe mit unterliefen!« gab der Oberpräsident unwillig zu. »Aber zum Auswandern entschlossen sich die Leutchen doch erst, als ihnen Schwierigkeiten im freien Erwerb und Verkauf ihrer Güter gemacht wurden. Mich wundert aber keineswegs, daß man im Verkehr mit unserm Hofe das religiöse Moment so stark in den Vordergrund gestellt hat: die einen wußten's, und die andern fühlten's, daß damit an dieser Stelle am meisten zu erreichen war, trotz Friderizianischen Zeitalters und der großen Revolution. Und es wundert mich auch nicht, daß man hier, im Hirschberger Tal, sich der Sache mit so ungewöhnlichem Feuereifer annimmt.«
»Weshalb das, Exzellenz?« fragte die Gräfin rasch.
»Aber ich bitte Sie, Exzellenz!« erwiderte der Alte und setzte seine ironische Miene auf. »In einem so himmelwärts gerichteten Kreise, in den Leute vom Schlage eines Feldner vor einem Parkett von Fürstlichkeiten ihre Spenerschen, ja vielleicht sogar Hyper-Spenerschen Ansichten verbreiten dürfen, da wird man sich doch eine solche delicieuse ›Glaubens‹-Affäre nebst obligater Rettung gefährdeter Seelen nicht entgehen lassen!«
»Ich schlage vor, Exzellenz,« erwiderte auf diese Anrempelung die Gräfin mit großer Fassung, nachdem sie den Oberpräsidenten einen Augenblick so scharf angesehen hatte, daß dieser das Aktenstück vor sich plötzlich höchst interessiert beäugte, »ich schlage vor, daß wir zur Sache kommen und uns mit der Frage der Ansiedlung beschäftigen, die doch auf unserer Tagesordnung steht.«
»Ganz recht!« stimmte der Alte gewandt zu. »Und da muß ich gleich sagen: der im Schoße des hiesigen Orts-Komitees ausgesonnene Plan erscheint mir von Anbeginn als totgeborenes Kind.«
»Na nu!« stieß der Geheimrat Jakobi mit kurzem Auflachen hervor, während die Gräfin und der Bürgermeister sich in sprachlosem Erstaunen anblickten, das nicht ganz frei von Entsetzen war.
Die Zillertaler aber ließen ein unwilliges Murren vernehmen.
Mit einem kaustischen Lächeln um Mund und Nase blickte sich der Oberpräsident im Kreise um, dann sagte er sehr ruhig: »Gestatten die Herrschaften, daß ich mein hartes Wort durch eine kleine geschichtliche Exkursion begründe! Ich weiß nicht, ob Ihnen die Kolonisationsbestrebungen Friedrichs des Großen auf der rechten Oderseite in der Brieger Gegend bekannt geworden sind. Nein? Tut nichts! Die Sache ist schnell berichtet. Der große König hat hier mitten in stark polnischem Gebiet eine Anzahl kleiner Kolonien deutscher Bauern angesiedelt, um auf diese Weise die etwas weltverlorene Gegend zu germanisieren. An sich, meiner Meinung nach, ein höchst glücklicher Gedanke! Denn diese Gegend hungert förmlich nach stärkerer Bevölkerung und wehrt sich nicht, wie dieses Hirschberger Tal, mit allen Ellenbogen gegen eine noch dichtere Besiedlung. Aber was ist geschehen, oder doch nun schon stark im Gange? Die kleinen deutschen Dörfer mauserten sich recht bald in stark polnische Dörfer um und tun dies ständig mehr. Und weshalb? Weil der sonst so weitblickende König den Fehler beging, dem einzelnen Kolonisten zu wenig Land zuzuweisen. Und so hat die Armseligkeit ihrer Existenz die deutschen Ansiedler wirtschaftlich ohnmächtig gemacht. Daß sie sämtlich zu Holzdieben wurden, mag noch hingehen, obwohl sich's auch nicht gut anläßt, wenn man in manchen dieser Dörfer in Verlegenheit gerät, woher man einen Ortsschulzen nehmen soll, weil unter den Ortsbewohnern kein einziger ist, der nicht schon im Gefängnis gesessen hätte. Schlimmer noch ist, daß diese deutschen Kolonisten eben aus wirtschaftlicher Ohnmacht zum größten Teil zum Polentum umschwenken. Und nun, meine Herrschaften, wollen Sie hier denselben Fehler machen? Weil die Fremden nun unbedingt in diesem dichtbesiedelten Tale festgehalten werden sollen, möchten Sie den Einzelnen mit so lächerlich kleinem Grundbesitz ausrüsten?«
Bei diesen Worten erblaßte die Gräfin Reden bis unter die Stirnlöckchen hinauf, und der Bürgermeister Flügel zuckte mit den Achseln in schmerzlichem Verzicht; denn beide erkannten, wie gefährlich dieser Vorstoß des Gegners war.
Der Geheimrat Jakobi sah etwas ratlos von einem zum andern: er konnte die Absichten Merckels noch nicht klar durchschauen. Die Tiroler aber machten erstaunte Gesichter, mit Ausnahme Fleidls, bei dem das Verhalten des Oberpräsidenten ganz ähnlich wirkte, wie auf die Gräfin und den Bürgermeister.
Denn auch er sah gleich jenen hier ein Wetter heraufbeschwören, das leicht die ganze bisherige Aussaat verhageln konnte. Wenn es dem Alten da nämlich gelang, bei den Zillertalern Begehrlichkeit zu erwecken, dann war's freilich aus mit dem Ansiedlungsplane in diesem Tale voll Heimatluft. Und wenn sie, von solcher Begehrlichkeit verlockt, sich nach Oberschlesien oder Ostpreußen lenken ließen, dann würde nach kurzem Besitzrausch ihnen das Heimweh das Herz abfressen wie der blassen Maria Rahm und Andrä Egger.
Der Oberpräsident sah mit Befriedigung, daß er auf dem rechten Wege sei, und ließ deshalb den Überraschten keine Zeit, sich von diesem Überfalle zu erholen und in Abwehr zu setzen, sondern wandte sich gleich an die Tiroler mit der Frage: »Seid Ihr denn zufrieden mit den kleinen Fleckchen Grund und Boden, die Euch hier überlassen werden können?«
»Jawohl, Herr Oberpräsident!« riß Fleidl gleich den Bescheid an sich. »Wir haben's ja selbst bestimmen g'durft, wieviel jedweder hat haben g'wollt. Und zu mehr reichen ja auch meist unsere Mittel nöt.«
»Nun, dafür gibt's ja Darlehen durch den Staat!« wandte der Oberpräsident beruhigend ein. »Wenn's not tut, auch weit über das hier schon zugesagte Maß hinaus.«
»Die meisten von uns haben auch daheim im Zillertal nöt mehr b'sessen!« verteidigte sich Fleidl weiter.
»Ja, das war doch ein ander Ding! Da habt Ihr unter ganz andern Verhältnissen gelebt. Hier müßt Ihr Euch doch auf eine ganz andere Wirtschaftsweise einrichten, zu der eben mehr Land gehört, als hier zur Verfügung steht.«
»Das kann schon sein!« stimmte nun der starke Brugger zu, der anfing, stutzig und begehrlich zu werden.
»Glaub' nur das nöt!« wies ihn Fleidl eifrig zurecht. »I denk' mir, wir werden hier gar nöt viel anders hausen als im Zillertal. Wir werden hier auch Weide- und Viehwirtschaft treiben. Und wann wir hier auch keine Almen haben, so wird sich doch auf den bescheidenen Fleckln auskommen lassen, wann wir nur sparsam und fleißi sind. Und das – mein i – sind wir in Gott's Namen gewöhnt.«
»Das wohl!« gab der alte Merckel zögernd zu. »Wenn mir aber die Wahl gelassen wird, ob ich meinen Unterhalt sicherer und reichlicher haben kann oder fraglich und kümmerlich, so greife ich doch, wenn ich kein Narr bin, zu jenem.«
»Herr Oberpräsident,« rief da Fleidl und richtete sich mit vor Eifer geröteten Wangen aus seiner üblichen geduckten Haltung straff auf, so daß er mit einem Male so stattlich erschien wie die andern Tiroler, »der Mensch lebt nöt von Brot allein! Wir haben aus Gründen des Glaubens und weil uns unser G'müt dazu trieb, unser Heimatland verlassen, wo uns die g'bratenen Tauben ja auch nöt ins Maul g'flogen sind, sondern wo's von unserm Leben galt, was der Psalmist sagt: ›Wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Müh' und Arbeit gewesen!‹ Und deshalb suchen wir in dem Land', das uns des Königs Gnad' überläßt, nöt bloß Essen und Trinken und scheuen auch keine Müh' und Plag', aber wir suchen dorten das, was uns für G'müt und Glauben heilsam sein könnt'. Und das finden wir hier in diesem Tal, wo's Berge und Wiesen und Bäche gibt wie daheim in Tirol, und Menschen, die's gut mit uns meinen, wie unsere gute Mutter da und der Herr Bürgermeister und die guten Prinzenherrschaften auf den Schlössern rundum.«
»Und die mißgünstigen und eifersüchtigen Bauern und Bürger rundum, wie ist's mit denen?« warf der Oberpräsident dazwischen.
»Die finden wir, mein i, eh' allerorten scho gar!« antwortete Fleidl schlagfertig, sah aber besorgt zu dem alten Heim hinunter, der steif und stumm dasaß und mit keiner Miene verriet, auf wessen Seite er in diesem Ringen eigentlich stehe. Und da faßte Fleidl noch einmal die Angst mit kalter Faust nach dem Herzen, dieselbe Angst, die ihn damals verleitete, sein Lebensglück um den Preis der Bundesgenossenschaft mit dem Alten zu opfern.
Sollte das etwa ganz umsonst geschehen sein?
Sollte es dem kaltblickenden, einflußreichen Manne da, der sie offenbar hier nicht leiden wollte (Fleidl wußte nicht, aus welchem Grunde!), sollte es ihm gelingen, die mühsam wurzelschlagende Gemeinde diesem Boden wieder zu entreißen, der Fleidl ein so trefflicher Nährboden dünkte, und sie zu neuer Wanderung ins Ungewisse zu drängen?
»Dann werden sie sich zerstreuen, wie irrende Schafe!« dachte Fleidl verzweifelt, und unter denen, die im Strudel dieser neuen Verwirrung von ihm weggetrieben wurden, sah er einen Herzschlag lang auch Sara Baggs schwarzes Köpfchen vor seinem innern Blick wegsinken.
Nein, das alles durfte er nicht ohne heftige Gegenwehr geschehen lasten!
»Herr,« wandte er sich deshalb tief aufatmend wieder an den Oberpräsidenten, »bedenkt wohl, was Ihr anrichtet, wann Ihr uns aus diesem gastfreundlichen Tale hinausscheucht! Schon jetzt müssen wir, meine Brüder und ich, Tag und Nacht sorgen und ringen, wie wir des Heimwehs bei unsern Landsleuten Herr werden sollen, das wie ein Wurm an ihren Herzen frißt. Und hier ist's doch noch in vielen Stücken ähnlich wie daheim im Zillertal. I hab's scho vorhin g'sagt! Wie nun erst, wann's in ein Land kämen, wo alles fehlt, was ein Tirolerherz nun einmal braucht, wann's fröhli schlagen soll? Was nutzt dann ein großer Grundbesitz und ein halb Dutzend Rinder mehr? Dahinsiechen werden's bei allem Reichtum an kranken Herzen. Oder verlassen werden's alles, den Wurm im Herzen, und z'ruckhasten werden's ins Tirol und ihren Glauben verleugnen, wie Petrus unsern Herrn Christus, und alles, alles, was wir g'litten und ausg'standen haben, wird umsonst erlitten sein, ganz umsonst!«
Hier fuhr sich der Tieferregte mit der Hand an die bloße Kehle, an der die Adern fingerdick und blau zutage lagen, als müsse er da etwas abwehren, was ihn abwürgen wolle. Und dann sank er wieder in seine übliche gebückte Haltung zurück.
»Das sind alles sentiments, die Ihr da vorbringt,« knurrte der Oberpräsident, »auf die eine zielbewußte Regierung nicht achten kann. Heimweh und Gefallen an der Umgebung! Ich bitte Sie, meine Herrschaften, wo kämen wir hin, wenn wir in unsern Verwaltungsmaßnahmen solche Dinge entscheidend sein ließen?«
»Und doch haben solche ›sentiments‹ einst unsern Staat aus seinem tiefsten Elend wieder herausretten helfen!« sagte die Gräfin mit halblauter Stimme. »Ich bin erstaunt, das ehemalige Mitglied des ›Tugendbundes‹ und einen der Mitretter des Vaterlandes so reden zu hören!«
»Pardon, Exzellenz!« erwiderte der Oberpräsident, fast geringschätzig lächelnd. »Diese Dinge vertragen doch wohl kaum einen Vergleich! Weder die Werte, die damals auf dem Spiel standen, und die, die hier in Betracht kommen, noch die Kräfte zu deren Verteidigung.«
»Das bestreite ich, Exzellenz!« wehrte sich die kluge und tapfere Frau. »Für diese Zillertaler steht nichts Geringeres auf dem Spiel als das, was unser Preußenvolk in der Franzosenzeit verteidigte: nämlich Existenz und Überzeugung. Nur mit dem Unterschiede, daß es damals politisch-nationaler Überzeugung galt und hier religiöser. Es ist freilich eine Charakter- und Geschmackssache, was man höher einzuschätzen bereit ist. Mir persönlich sind die Kräfte, die 1813 am Werke waren, immer deshalb so besonders verehrungswürdig erschienen, weil sie so stark von religiösem Geiste durchhaucht waren.«
Der Oberpräsident winkte kurz abwehrend und nervös abweisend, als wollte er sagen: »Natürlich, immer dieselbe verbohrte Auffassung! Ich weiß besser, was vom Geiste jener Zeit zu halten ist!« Und dann begann er ganz unvermittelt, den Verteilungsplan des verfügbaren Landes durchzusprechen.
Immer wieder zuckte sein Widerwillen gegen die Ansiedlung der Fremden gerade im Hirschberger Tal blitzartig und mit nachgrollendem Grimme auf; aber die menschenkundige Gräfin entnahm doch aus der bloßen Tatsache, daß er den Verteilungsplan überhaupt durchnahm, der Provinzgewaltige schicke sich nun doch an, ins Unvermeidliche sich zu fügen.
Dennoch begrüßte sie's mit Vergnügen, daß er die Besprechung der Verteilung in der Mitte abbrach und auf morgen vertagte: sie empfand es mit den andern als eine Erlösung, aus der elektrisch geladenen Atmosphäre des Verhandlungstisches herauszukommen.
Der Oberpräsident übertrug allerdings diese Spannungsstimmung an die gastliche Tafel, an die die Gräfin ihn, den Geheimrat und den Bürgermeister lud: er konnte sich's auch dort nicht versagen, noch in Gegenwart Karoline von Riedesels dem ihm so sehr unbequemen Berliner ›Immediat-Herren‹ bis an die Grenze der Rücksichtslosigkeit schroff zu begegnen. Nur der hofmännischen Zurückhaltung des Geheimrats und dem mehrfachen, sehr gewandten Dazwischenspringen der Gräfin war's zu danken, daß es nicht zu einem aufregenden Zusammenprall kam. – –
Währenddessen gingen die vier Tiroler stumm nebeneinander über die Wiesen auf Schmiedeberg zu.
Auf den ungewöhnlich harten Winter waren schnell ungewöhnlich warme Vorfrühlingstage gefolgt, und so überflutete die Auen schon jetzt, Ausgang April, in lichten Wogen das Wiesenschaumkraut. Auf dem kurzen Waldwege, der sich zwischen die Wiesen einschiebt, drängten sich rechts und links vom Wege weiß-blaue Anemonen durch das dürre Laub des Vorjahres, und die Ränder der kleinen, schnell dahinrauschenden Rinnsale, die die schweigenden Männer überschritten, besäumte goldgelbes Milzkraut im festlichen Glanze.
Fleidl und seine Genossen hatten freilich für diese lichten Frühlingsboten keinen Blick: sie schritten, tief in Gedanken versunken, dahin, ganz und gar mit dem beschäftigt, was sie eben als so stark beteiligte Zuhörer erlebt hatten.
»Alsdann, wenn man sich's recht überlegen möcht',« sagte endlich der starke Brugger, als sie sich bereits den ersten Häusern der Stadt näherten, »hat der alte Grimmbart eigentlich recht: 's sind arg kleine Fleckln, die wir kriegen sollen.«
»Natürli hat er recht!« stimmte ihm Bartholomäus Heim zu, wie aus tiefem Nachsinnen endlich erwachend. »Und mir scheint, wir haben doch halt eben einen schlimmen Fehler g'macht, daß wir hier her g'wandert sind, Bruder Fleidl. Wir hätten halt doch eh' in die Steiermark ziehen sollen.«
»Nicht doch, Gaschschteiger Bachtal!« wehrte Fleidl leidenschaftlich ab. »Nicht doch! Red' doch so was nöt! Da is doch kein' Ursach' nöt dazu da!«
»Wohl, Winkel-Hansel! Wohl!« entgegnete ruhig der Alte. »Schau, Du sagst selbst, an einem andern Fleck als dahier im Tal frißt uns das Heimweh. Und da geb' i Dir ganz recht. Aber hier, hier fehlt's ja an Grund und Boden für uns! Und d' Leut sind uns aufsässig und neidisch!«
»Nöt mal d' Axt' mögen's uns schärfen!« warf Matthias Rahm leidenschaftlich ein, den seit dem Tode seiner Tochter Maria ohnehin Gewissensbisse über die Auswanderung heimlich folterten, so daß er nun schnell bereit war, sich auf Heims Seite zu schlagen.
»Und was d' Hauptsach' ist,« fuhr der Alte fort: »die Beamten des Königs wollen nix von uns wissen. Und dös is schlimm, Winkel-Hansel, sehr schlimm! Denn mit denen Leuten haben wir's im meisten z' schaffen, nöt mit dem König. Der wohnt weit weg in Berlin und sieht und hört nöt, wann s' uns hier placken und schinden.«
»Das werden s' nöt wagen, Gaschschteiger Bachtal!« rief Fleidl erhitzt. »Nöt wagen werden s' das! Da schützt uns unsre gute Mutter in Buchwald und der freundliche Prinz in Fischbach und viele andre noch.«
»O, die werden's satt kriegen, Hansel, immer für uns z' sorgen. Gib nur acht: wann wir erst fest sitzen und wieder weiter nix nich sind als geringe Bauersleut', dann wird's den Herrschaften langweili mit uns werd'n, und dann hört das ganze Schöntun auf, und dann kümmert sich keine Katz' mehr um uns, ob uns Unrecht g'schieht oder nöt.«
»Nöt glauben mag i das!« rief da Fleidl wieder voll leidenschaftlicher Überzeugungstreue. »Und undankbar ist's, mein' i, gegen unsere Wohltäter hier, so z' denken. Am meisten gegen unsere gute Mutter, die uns eben wieder so tapfer verteidigt hat.«
»Das hat sie wohl!« gab der Alte zu. »Das wohl!«
Aber dann schwieg er wieder beharrlich, und schweigsam setzten die Männer in ihren schweren Gedanken den Weg in ihre Wohnungen fort.
Ehe sie sich trennten, begegnete ihnen Andrä Egger und sah sie im Vorübergehen geistesabwesend an: er kam vom Paß herunter, wo er wieder stundenlang seine Seele auf die Suche nach Heimat, Weib und Kindern geschickt hatte. Und vielsagend blickten sich die Deputierten an. »Der arm' Kerl!« brummte Brugger leise, »'s hat ihm ganz den Verstand verrückt!«
* * *
Zur maßlosen Verwunderung des gesamten Kreises reiste am andern Morgen der Oberpräsident ab, ohne die geplante Besichtigung der Baustellen vorzunehmen, die nicht mehr in Erdmannsdorf, sondern im benachbarten Seidorfer Gebiete lagen.
Die Gräfin und der Berliner Geheimrat fragten sich etwas ratlos, was das bedeuten solle. Ob der Provinzgewaltige damit sein stummes Einverständnis mit ihren Plänen bekunden, oder ob er andeuten wolle, daß er mit der Sache nichts weiter zu tun haben möchte.
Die Gräfin entschloß sich, die ganze Angelegenheit nun unter völliger Ausschaltung des Oberpräsidiums unmittelbar mit der Immediat-Kommission zu Ende zu führen, und handelte dementsprechend.
In der Zeit aber, in der die bis ins Einzelnste ausgearbeiteten Ansiedlungspläne nach Berlin abgingen, und während dann die Gräfin und der Bürgermeister in fieberhaftester Spannung auf die königliche Entscheidung harrten, wurde unter den Zillertalern allmählich der Widerstand des Oberpräsidenten gegen ihre Ansiedlung bekannt, auch, daß er behauptet habe, auf so kleinen Anwesen könnten sie hier nicht bestehen. Auch, daß Fleidl ihm in jener stürmischen Sitzung widersprochen habe, wurde von Brugger und Rahm ausgeplaudert und bald tüchtig entstellt weiter geraunt.
Ignatz Heim war mit Eifer dabei, Fleidls Äußerungen zu dessen Ungunsten zu entstellen, und so währte es nicht lange, bis Fleidl die ersten Anzeichen eines heimlichen Mißtrauens gegen sich zu fühlen bekam.
Eines Tages zu Beginn des Monats Mai, der sich in diesem Jahr an Wonnen gar nicht genug tun konnte, brach die heimliche Verhetzung in Sticheleien und Grobheiten gegen ihn aus auf einem der dunklen Korridore in Gebauers Schürzenfabrik, wohin ihn eine geschäftliche Angelegenheit geführt hatte.
In dieser Brutstätte der Unzufriedenheit schleuderte ihm der bucklige Joseph Gruber, einer der arbeitscheusten Mitläufer der Exulanten, die Beschuldigung ins Gesicht, er führe sie alle, die hier im Elend herumhockenden Zillertaler, an der Nase herum, weil er seinen Vorteil davon habe. Denn ihm werde sicher auf dem besten Fleck eine Wirtschaft ganz umsonst geschenkt, weil er die übrigen Vertriebenen hier festhalte. Und das geschehe nur, damit künftig die Großgrundbesitzer des Tales in den Zillertalern billige Arbeitssklaven hätten. Auf ihren Hungerklitschen würden die ja froh sein müssen, wenn sie bei den Grundherren in Taglohn gehen dürften.
Fleidl sah den verkommenen Patron, der ihm das schäumend ins Gesicht giftete, sprachlos an. Dann sagte er: »Mi lüstet's, Dir Deine faulen Knochen in Scherben und Deine Stockzähn' in den Rachen hineinz'schlagen, Gruber Joseph, bis Du so krumm daherstünd'st, wie der läppische Hahnenstutz auf Dein'm Hut. Aber was tät's nützen? Die Schandfleckerei tät' eh' weiter gehen. I weiß wohl, die sprengt ein andrer gegen mi aus, der auch aus Dir hohlen Nuß heraustrompetet.«
Denn Fleidl war sich längst im klaren, daß Ignatz Heim hier und anderwärts gegen ihn arbeite.
Von dieser Stunde an umschwirrten Fleidl gleich lästigen Hornissen die Klagen seiner Landsleute: »Wir kriegen z'wemg Land! Wir müssen taglöhnern und fronten, wann wir uns hier erhalten sollen!«
Und etwa anderthalb Wochen nach jener unheilvollen Komiteesitzung war's dann so weit, daß ein Dutzend Familien begannen, ihre Habseligkeiten zu packen, um nach der Steiermark abzuwandern.
Die Gewinnsucht war bei ihnen zum Vorspann des Heimwehs geworden, und so gab es kein Halten mehr.
Dieses Mal ging Fleidl die Sache sehr tief.
Denn die, die da wegzogen, waren meist tüchtige Leute, kein Abschaum, wie bei der ersten Rückwanderung. Tausendmal lieber hätte er an ihrer Stelle manchen aus der Schürzenfabrik und vom Anhange Ignatz Heims verschwinden sehen. Aber diese Schimpfer fanden es viel vorteilhafter, immer noch aus des Königs Säckel beköstigt zu werden, statt selbst für sich sorgen zu müssen. Ja, sie trieben die Unverfrorenheit so weit, daß einige von ihnen, die beim Fällen der Bäume zu dem Musterhause in Schmiedeberg mitgeholfen hatten, sogar Tagelohn dafür verlangten.
» Die Sorte klebt!« klagte Fleidl der Gräfin gegenüber. »Aber viele andre gute Leut' sind wurzellocker g'macht durch diesen Wegzug. I fürcht', die Sach' kommt uns g'fährli ins Schieben! Wenn nur bald das Häuserbauen b'ginnen könnt'!« – –
Dieser Wunsch aber ließ sich unmöglich so schnell verwirklichen, als Fleidl heiß begehrte, und als es notwendig gewesen wäre, um den gefährlichen Sturm zu verhüten, der alles mühsam Erreichte hinwegzufegen drohte.
Die Sache kam tatsächlich ›ins Schieben‹ wie Fleidl gefürchtet hatte.
Es war zu Beginn des Juni.
Rund um die Stadt her grünte und blühte alles in einer wahrhaft berauschenden Fülle, und wenn Andrä Egger auf seinem Sehnsuchts-Auslug auf dem Passe droben stand, versank sein Fuß in einer bunten Blütenpracht.
Er spürte aber mit seinen vor Heimweh blinden Augen so wenig von dieser Pracht und hörte mit seinen vor Heimweh tauben Ohren so wenig von dem Jauchzen der Lerchen in der blauen Luft über sich, wie seine Zillertaler Landsleute, die drunten im Städtchen stumpfsinnig in ihren engen Stuben hockten und schier mit Gewalt gegen all die Frühlingswonnen Augen und Ohren verschlossen.
Denn sie schmiedeten ununterbrochen Pläne.
In dem Wahne, es müsse nun, da das Probehaus gebaut werde, auch im Handumdrehen zum Bau der wirklichen Wohnhäuser irgendwo in der Nähe der Stadt kommen, hatte sich niemand mehr um andre Beschäftigung umgetan; mancher hatte sogar voreilig die bisherige aufgegeben. Und so saßen sie nun ziemlich alle müßig und harrten tatenlos von einem Tage zum andern.
Auf dem Boden einer solchen Gemütsumdüsterung schoß die schlimme Saat, die Ignatz Heim so fleißig ausgestreut hatte, üppig ins Kraut, und seit dem Wegzuge der Unzufriedenen wuchs unter der gedrückten Schar immer mehr die Überzeugung, daß auf den Ansiedlungsstellen, die ihnen angewiesen werden sollten, doch nichts andres als Mangel und Frondienst für sie reifen werde.
Und so steigerten sich die leidenschaftlichen Klagen und das verzweifelte Bedauern, daß man sich überhaupt habe hierher locken lassen, von Tag zu Tag, besonders bei den Frauen, während die starken, großen Männer meist stumm brütend in den Ecken saßen.
Andrä Egger aber irrte, wenn er nicht droben am Paß ins Österreichische hinüberstarrte, planlos auf den Straßen umher, blieb bei jedem Blondkopfe stehen, der ihm begegnete, strich ihm liebkosend mit seinen rauhen Händen über das Haar und erzählte dann den starr staunenden Kindern mit rauher Stimme, er habe auch so liebe Blondköpferln daheim im Zillertal zurückgelassen, und gewiß sehnten sie sich nun nach ihm, ihrem Vaterl, und weinten sich ihre Guckerln rot.
Und mancher von den bibelfesten Auswanderern klagte laut oder leise: »Ach, daß wir bei den Fleischtöpfen Ägyptens geblieben wären, da wir Brot die Fülle hatten!«
Nur die Kinder waren recht zufrieden.
Sie fanden im Städtchen allerhand Kurzweil, die ihnen auf den einsamen Tiroler Höfen gefehlt hatte, und der Schulbesuch machte ihnen viel Freude, weil ihnen das Glück einen ausgezeichneten Lehrer in der Person des jungen ›Adjudanten‹ Hartmann beschert hatte.
In das dumpfe Brüten der Alten platzte da eines Tages plötzlich die Nachricht hinein, Andrä Egger habe sich von der Buchwalder Mutter und vom Bürgermeister einen Paß verschafft. Er halte es nicht länger mehr aus, er müsse sein Weib und seine Kinder einmal wiedersehen. Dann wolle er wieder hierher zurückkehren.
»Das wird der Andrä schön bleiben lassen!« sagte Joseph Kreidl zu seinem Bruder Matthias, als er das hörte. »Wenn er erst wieder im Zillertal ist, laßt's den nimmer los. I wünscht' nur, i könnt' a mit!«
»I wünscht' eh dasselb!« seufzte Matthias, und in einem plötzlichen Entschlusse schlug er mit seiner gewaltigen Faust auf den Tisch, daß sich gleich ein Splitter von dessen Platte ablöste. »Hol mi der –! I geh a um einen Paß für mi und meine Leut! Bruder, komm a mit! Warum wollen wir uns dahier vom Heimweh derwürgen lassen, das uns eh schon ganz die Gurgeln zuschnürt, und nachher noch, wann uns das bissel Armut zug'teilt ist, etwan schuriegeln lassen? Joseph Kröll ist eh schon lang derselben Meinung und zieht auf der Stell' mit, wann nur einer von den ordentlichen Leut' den Anfang machte. Dann sind wir schon drei Familien. I wett', es tun noch andre mit.«
Und sie taten's!
Drei Tage später brachte Fleidl der Gräfin die Hiobspost, daß dreißig Personen, zu den besten Familien der Zillertaler gehörig, zur Rückwanderung entschlossen seien. Wenn man sie ins Tirol zurücklasse, wollten sie sogar wieder katholisch werden. Sonst würden sie in die Steiermark ziehen und dort wohl evangelisch bleiben.
»Dann möchte ich unserer evangelischen Kirche schon lieber wünschen, das Innsbrucker Gubernium hätte einmal ausnahmsweise einen lichten Augenblick und öffnete diesen armen Verblendeten die alte Heimat wieder!« sagte die Gräfin darauf. »Denn an solchen Bekennern kann uns wahrlich nichts gelegen sein.«
Fleidl mußte ihr recht geben, bedauerte aber doch tief den Verlust dieser tüchtigen und wirtschaftlich auch gut gestellten Leute, und in schweren Gedanken, welche Folge wohl dieser neue Blutverlust für den ganzen Gemeindekörper haben könnte, ging er den schönen Waldweg am Gneisenauberge hin gegen Erdmannsdorf, um sich einmal umzuschauen, welche Stelle er sich etwa bei der künftigen Verteilung des Grund und Bodens auswählen solle. Denn es war verabredet worden, daß jeder auch darin möglichst freie Wahl haben sollte.
Es war ein Tag von ähnlicher Wärme wie damals, vor nun beinahe Jahresfrist, als Fleidl mit Heim und Koland denselben Weg in umgekehrter Richtung gegangen war, bei ihrem ersten Besuch in Buchwald.
Was hatte sich nicht alles seitdem zugetragen!
Wie ein halbes Menschenalter dehnten sich vor Fleidls rückschauendem Blicke diese neun Monate.
Welche Fülle von Erlebnissen schlossen sie ein!
Welche Unsumme von Arbeit und Verantwortung für ihn, den ›Führer‹!
Und wieviel schwere innere Kämpfe!
Damals hatte er, um der heiligen Sache zu dienen, der er sich gewidmet hatte, auf sein eignes Herzensglück verzichtet. Umsonst, wie's nun den Anschein gewann! Denn der andre sollte es, so schien 's, auch nicht erlangen.
Und auch der Gewinn aus seinem, Fleidls, Verzicht für die ganze Gemeinde erschien nun mehr als zweifelhaft; denn die, die er dadurch zum Mitziehen hierher bewogen hatte, sie erwiesen sich nun als Glieder von recht fraglichem Wert.
Nicht der alte Heim selber!
Der war gewiß immer noch eine Stütze für die andern, wenn er auch voller Bedenken steckte seit jener Komiteesitzung, wo ihm der Oberpräsident so böse Brummer ins Ohr gesetzt hatte.
Aber Ignatz und sein Anhang!
Wenn die fortziehen möchten, dann wär's schon gut. Dann ginge wohl vieles viel leichter!
Und wenn sie bald nicht erst mitgekommen wären, dann gäbe es sicher viel weniger Unzufriedene unter den andern, und er, Fleidl, hätte wohl kaum die Hälfte so viel Kampf und Verdruß gehabt.
Freilich, dann würden auch die Baggs schwerlich mit ins Preußische gegangen sein, sondern säßen nun mit Heim und Ignatz in der Steiermark, und Sara Bagg wäre jetzt vielleicht schon Ignatz' Weib!
Ein wunderlicher Widerstreit erhob sich bei diesem Gedanken in Fleidls Brust.
Da war eine Stimme, trocken-verständig, die sagte: »Ganz gut wär das! Raus wärst Du dann aus allem Zwiespalt. Aus den Augen, aus dem Sinn!«
Daneben aber tönte gepreßt eine andre Stimme wie aus einem verschütteten Schachte: »Unglücklich wärst Du, Johannes, für Dein ganzes Leben! Unglücklich Du und sie durch Deine eigne Schuld!«
Und da kam dem einsamen Grübler unter den ozonhauchenden Tannen des sonnedurchglühten Waldweges der Gedanke: »Es tut nicht gut, unserm Herrgott ins Handwerk pfuschen zu wollen. Man soll sich nicht mit der schwachen menschlichen Schulter in das Rad stemmen, das er selbst zum Rollen gebracht hat, sonst läuft's einem über den voreiligen Fuß!« –
In solchem Grübeln war er bis an den schmalen Steg gekommen, der das Ende des Waldweges am Fuße des Gneisenauberges mit scharfer Biegung über den Eglitzbach und in ein freies Wiesenland hinausleitete.
Sanft stieg dies vom Bache aus gegen die Gebirgsseite hin an, und Fleidl erquickte sich nun, auf dem Stege stehend, an dem Bilde, das er hier genoß, indem er den Blick über die Wiesen hingleiten ließ, hinter denen scheinbar unmittelbar die steile Wand des Gebirges emporstieg, gewaltig und wuchtig zum Koppenkegel emporstrebend.
Und da durchblitzte es Fleidl: dort, auf der nächsten Schwellung der Wiese, vorn heraus den Blick auf dieses liebliche Bachtal und den schön bewaldeten Gneisenauberg und hinten hinaus, von der Galerie herab, die Ausschau aufs Gebirge bietend, soll Dein Haus stehen, und vor ihm eine schlanke Zirbelkiefer, wie sie daheim in Bichl vor Deiner Hütte grünte!
Im Geiste schon das schmucke Tirolerhaus erblickend, näherte er sich auf leise ansteigendem Wege der Stelle, die ihm am geeignetsten erschien, und hielt von hier aus noch eine gründliche Umschau, die ihn in seinem Entschlusse bestärkte.
Dort, an der nächsten leisen Bodenschwelle sollte es stehen, durch sie von der Rückseite ein wenig gegen das Wetter geschützt, ein paar Schritte nur vom Wege abgelegen.
Im Geiste sah er sich schon ein- und ausgehen durch die gastliche Tür und zur Feierstunde auf der Bank neben ihr sitzen, wenn drunten im Bachtal die leisen Nebel sich wie Schleier über die Wiese webten. Und neben sich sah er im Geiste Sara Bagg sitzen mit ihrem zierlichen Vogelköpfchen, auf das der volle Kranz der schwarzen Zöpfe fast zu schwer drückte.
Und es ward ihm warm ums Herz bei diesem holden Truge.
»Schade«, murmelte er vor sich hin, während er dann in tiefen Sinnen Schmiedeberg zuschritt, »schade und ewig zu beklagen ist's, daß i mi selber drum g'bracht hab', daß das je einmal zur Wahrheit würd', was mir's da heute vorgegaukelt hat! Denn dazu kann mir auch die gute Mutter nöt verhelfen, wenn sie's eh auch gern tun möcht'!« –
Auf seinem Heimwege konnte Fleidl von der Straße aus fast die ganze Fläche überschauen, die der König für die Ansiedlung der Zillertaler hergeben wollte.
Von der Straße aus – es war dieselbe, auf der einst der Oberpräsident und der Hofprediger gemeinsam im Postwagen von Hirschberg nach Schmiedeberg fuhren – dehnte sich eine schöne, ebene Flur gegen das Gebirge hin vor Fleidls Blicken. Sie sollte die Mehrzahl der neuen Häuser tragen. Die andern sollten links von ihr auf ansteigendem Gelände nach der Schmiedeberger Seite hin errichtet werden und die kleinste Anzahl hinter den Hügelwellen, die er rechts von diesem Gefilde jenseit des Lomnitztales ins Seidorfer Gelände hinüberstreichen sah.
In dieser weiten, fruchtbaren Aue mit ihren saftigen Wiesen würden sie nun stehen, die saubern Holzhäuser mit ihren blanken, weit über die Wände hervorragenden Schindeldächern, die schwere Steine vor dem Abdecken schützen würden, wenn vom Gebirge her die Frühlings- und Herbststürme brausten, und mit ihrer schmucken Holzgalerie um die Vorder- und Seitenfront her, mit ihren kleinen, freundlichen, blanken Fenstern, deren Rahmen jeder gewiß schön grün oder blau bemalen werde, mit der hübschen Bank vor der Haustür und mit der schrägen Auffahrt zum Heuboden, die hierzulande an keinem Hause sonst zu sehen war, und die es doch möglich machte, so bequem auf den Heuboden zu fahren, der mit Stall und Wohnhaus unter einem Dache sein mußte, wenn man recht traulich mit seinem Vieh zusammen nach der Väter Weise wohnen sollte.
So sah er sie, die künftigen Wohnstätten seiner Glaubensbrüder, nicht eng aneinanderpfercht wie Heringe oder langweilig in eine Reihe gestellt, wie's hierzulande Sitte war, sondern bunt über die Flur verstreut, jedes einzeln für sich stehend inmitten der dazu gehörigen Wiesen und Felder oder gegen den Wald gelehnt, wie die droben an der Schmiedeberger und Seidorfer Grenze.
Und so würde ein jeder um sein Haus her in seinem eignen, abgerundeten Gebiet wie ein kleiner König hausen und sein Gartenland und seine Wiesen pflegen und vor allem sein Vieh und den mißgünstigen Leuten hier zeigen, wie man einen Viehstamm aufziehen könne von ganz anderm Wuchs und von ganz andrer Glätte und von ganz anderm Milchertrag als die armseligen Hascherln, die bisher hierzulande in den dunklen Ställen dürr, bucklig und mit leeren Eutern standen.
Ja, eine Lust würde es sein, in dieser schön besonnten Flur als vorbildliche Landwirte und Viehzüchter zu schaffen und zu wirken, und es waren fröhliche Bilder eines rüstigen Aufblühens und Gedeihens, die der sinnende Mann mit dem kindlich frohen und kindlich frommen Herzen da im Geiste vor sich entstehen sah, und sie umgaukelten ihn auf dem ganzen Heimwege noch so lebhaft, daß Sara Baggs schwarzumzöpftes Köpfchen sich dagegen nicht in seiner Phantasie behaupten konnte. – – – –
In seiner Behausung empfing ihn die Schwester mit der Nachricht, Marie Schieftl sei da gewesen und habe etwas Wichtiges mit ihm besprechen wollen. Was, habe sie nicht sagen mögen, die Wichtigtuerin und z'widre Person.
Sie liebte Marie Schieftl nicht: es war die Abneigung der Schwester gegen die Bewerberin um die Gunst des Bruders, wie sie bei allen Frauen üblich ist, die ihren Brüdern das Hauswesen führen.
Fleidl kannte diese Gesinnung der Verbissenen; deshalb forschte er nicht weiter nach, sondern ging stillschweigend trotz der späten Stunde noch in Schieftls Wohnung.
Es war ein ruhiger, warmer, stiller Abend, einer von den lauen Juniabenden, die den Menschen mit weichen Händen umtosen und den Willen wohltuend entspannen.
Fleidl fand Marie Schieftl allein in ihrem Stübchen, das sie immer so sehr sauber und ordentlich aufgeräumt hielt. Sie saß am offenen Fenster, das auf einen großen Obstgarten hinausführte, in dessen Buchenzaun ein einzelner Fink noch sehnsüchtig schlug.
Ein wenig überrascht durch Fleidls spätes Kommen, schnellte die füllige Gestalt elastisch aus ihrer Versonnenheit auf, und ein klein wenig befangen, wie's sonst gar nicht ihre Art war, nötigte sie ihn, mit am Fenster niederzusitzen, wo's noch am hellsten sei in der schon recht stark dunkelnden Stube.
Fleidl erklärte, weshalb er noch so spät gekommen sei, und fragte, was sie wohl so Wichtiges zu besprechen hätte.
Einen Augenblick sah Marie Schieftl starr zum Fenster hinaus, durch das der sehnsüchtige Schlag des Finkenmännchens schluchzend hereintönte, und Fleidl erblickte dabei gegen den zartlichten Abendhimmel die Umrisse ihres Kopfes mit den runden Wangen und der charaktervollen Nase, die runden Schultern und den Ansatz der schwellenden Arme, und es atmete ihn die ganze Gestalt mit dem Hauch einer so unerschütterlichen Gesundheit an, daß es Fleidl in seinem bäurischen Empfinden höchst wohltuend berührte.
»Fort wollen s'« stieß dann das reife Mädchen wie unter einem plötzlichen Zwange hastig hervor. »Fort! In die Steiermark! Und das wollt' i Dir halt sagen.«
»Fort?« wiederholte Fleidl, tief erschreckt. »Scho wieder welche? Und wer denn alsdann, in Gott's Namen?«
Marie Schieftl nannte eine Anzahl Familien, unter ihnen die Lublasser, die Schnellrieder, die Wechselberger und die Oblasser.
»Ja, um Gott's Willen!« rief Fleidl entsetzt. »Das sind die besten Bauernfamilien! Wann die gehn, geht ja 's meiste Geld mit fort! Da bleibt ja fast nur noch armselig Volk z'ruck!«
Marie Schieftl nickte zustimmend, nicht frei von dem Selbstgefühl, das ihr als Großbauerntochter eigen war.
»Und warum denn, in Gott's Namen, wollen s' mit einem Male fort?« fragte Fleidl angstvoll weiter.
»Weil s' ang'steckt sein!« stieß Marie Schieftl hastig hervor. »Von Andrä Egger, diesem Heimwehnarren, und von Simon Kröll und den dreißig andern, die scho ihre Sachen z'sammeng'packt haben zur Rückwanderung. Sie haben's Warten und Lauern satt, wo man s' hinstecken wird. Manchen verdrießt's auch, daß wir z'wenig Land kriegen sollen. Und andre sind verärgert über die hiesigen Leut'. Im Grund ist's aber 's Heimweh nach 'm Zillertal, das an ihnen rumfrißt. Am meisten scho halt an den Weibern! Und die liegen nun dem Mannervolk in 'n Ohren. Und Ignatz Heim hetzt Tag für Tag an jedem herum, den er z' Gesicht kriegt. Der tragt die meist' Schuld, wann s' fort wollen. Es hören auch verständige Leut' auf ihn. »Und – und mei Vater will a mit!«
Die letzten Worte begleitete sie mit einem vorsichtig lauernden Blick.
»Wie? Auch der?« fuhr Fleidl auf. »Und da red'st Du ihm nöt gründli ab, Marie?«
Das Mädchen zuckte mit den vollen Schultern, als wollte es sagen: »Wie käme ich dazu?«
Fleidl war von dem niedrigen Schemel aufgesprungen und ging ein paarmal hastig hin und her.
Wenn diese Familien fortzogen, überlegte er im Fluge, nahmen sie mindestens die Hälfte der anderthalb hunderttausend Gulden mit, die für den Exulanten in der Berliner Seehandlung zur Aufbewahrung lagen. Dann wurde aus der ganzen Ansiedlung bei Erdmannsdorf und Seidorf, die er sich eben erst so stolz ausgemalt hatte, nur ein elendes Flickwerk ohne jeden ansehnlichen wirtschaftlichen Hintergrund. Dann waren die, die noch zurückblieben, wirklich nicht viel mehr als ein halbes Bettelvölkchen, wie die Ansiedler Friedrichs des Großen, von denen der Oberpräsident so nichtachtend gesprochen hatte. Dann war's ihnen wohl auch unmöglich, unter den Einheimischen sich irgend welches Ansehen zu verschaffen.
Nein, wenn die alle noch wieder gingen, dann war's aus ums Gedeihen der Ansiedlung, die er heute im Geist mit so viel Freude schon hatte emporblühen sehen.
»Marie,« sagte er und sah von seiner stattlichen Größe auf das niedrig hockende, blühende Mädchen herab, und sein Atem ging schwer und ein wenig röchelnd durch seinen starken Gebirgshals, »Marie, auf Dein'n Vater hör'n die andern Großbauern doch sehr!«
»Kann scho sein!« gab sie kurz zurück.
»Und er, er hört auf Di, Marie!«
»Ein bisserl wohl!«
»Aber warum red'st ihm dann in Gott's Namen nöt zu, daß er hier bleibt und die andern halten hilft?«
Das kam fast wie ein Angstschrei von den Lippen des sonst so ruhigen und gelassenen Mannes.
Sie wandte sich langsam zu ihm herum und sah ihn unter der glatten Stirn hervor mit ihren klugen, aber kalten Augen an, und wie er da so vor ihr stand, sein Gesicht vom letzten Schein des sterbenden Tageslichtes überhaucht, doch immer noch so hell beschienen, daß sie die verzehrende Angst um sein mühsames Werk in seinen großen, braunen Augen lodern und seine tiefe Herzenserregung um den scharfgeschnittenen Mund mit den frischen Lippen unter dem kleinen Schnurrbart zittern sehen konnte, da gefiel ihr der Mann, den der Vater gern einen Bettler schalt, vor dessen Geistes- und Charaktergaben er aber doch Ehrfurcht haben mußte, besser denn je. Und mehr als je wühlte in ihr der Wunsch, daß er ihr für immer zugehören möchte.
»Ja, warum sollt' i denn das, Johannes?« fragte sie halblaut, und Fleidl hörte mit Staunen das Beben in der Stimme der sonst so Selbstbewußt-Robusten, gegen das der unverbildete Mann, und gerade der tatkräftigste, ganz wehrlos ist. »Warum sollt i denn das? Was hält mi denn hier in dem fremden Land' unter den mißgünstigen Leuten? Wen hätt' i denn Lieb's hier, der mi halten sollt'? I hab ja nur mein'n Vater. Und wann der mitgeht in die Steiermark, nu, da werd' i a dort scho leben könn'n. So ein einschicht'g's Mensch wie i, das is ja überall gleich gut dran und gleich schlecht!«
Langsam löste sie ihren Blick von seinem Gesicht und wandte ihn wieder in den Garten hinaus, wo der unermüdliche Fink seine Sehnsucht ausschluchzte.
Fleidl stand hart neben ihr und sah wieder auf sie nieder.
Er sah plötzlich, wie viel Begehrenswertes doch eigentlich dieses kerngesunde Weib an sich trug, das er in der Cholerazeit auch in seinem Mut und in seiner Selbstlosigkeit schätzen gelernt hatte, und er hörte nun ihre halb versteckte, schmerzliche Klage über ihre innerliche Verlassenheit, und er wußte ganz genau, daß sie, wenn sie's nur wollte, nicht nur den Vater, sondern auch die andern, die nun abbröckeln wollten, mit ihm von der Rückwanderung abhalten konnte.
Und da stieß er nach kurzem, innerem Kampfe mit dem letzten Reste seines ›eigensüchtigen Glücksverlangens‹ hervor: »Bleib hier, Marie! Bleib mit mir z'sammen hier, i mein: als mein Weib! Wann Du mi armen Schlucker magst, heißt das!«
Eine kleine Weile blieb's totenstill in der nun schon ganz dunklen Stube.
Von draußen klang noch immer das Schlagen des unermüdlichen Finken herein. Plötzlich aber brach es ab.
Und da wandte Marie Schieftl ihr Gesicht zu dem wie erstarrt harrenden Fleidl hin.
»Du willst mi ja bloß nehmen, weil wir Dir nöt aus'm Garn schlupfen sollen, Hans!« sagte sie und lachte dabei kurz ein wenig geärgert auf. »Aber i frag' nöt danach! Denn i hab' Di gern, wann D' auch 'n armer Schlucker bist, wi D' selber sagst. Also: i schlag' ein!«
Damit stand sie auf und reichte ihm ihre männlich-feste Hand entgegen, in die er halb geistesabwesend einschlug.
»Und i steh Dir dafür, daß der Vater hierbleibt und die andern a!« fuhr sie nun schon wieder ganz erheitert fort. »Denn umsonst sollst mi nöt g'nommen haben, Du alter, lieber Glaubenskämpfer Du.«
Fleidl atmete tief auf.
Es berührte ihn sehr wohltuend und herzgewinnend, daß sie sich so freudig zu dem tiefsten Beweggründe seines Handelns bekannte, den die Kluge offenbar ganz durchschaute.
Auch daß sie keine Miene machte, Zärtlichkeiten zu erweisen oder zu verlangen, berührte ihn erleichternd.
Er ging auch bald, weil sie sagte, nun sie miteinander versprochen seien, zieme sich's nicht, daß sie hier noch länger allein in dem stark finstern Zimmer z'sammensteckten. –
Draußen auf der Straße blieb er erst einen Augenblick stehen, als müsse er sich besinnen, wo er eigentlich sei.
Wie im Taumel ging er dann das Städtchen abwärts. Aber auf der Nepomukbrücke stand er noch einmal still und sah wie geistesabwesend flußaufwärts gegen den Waldkamm hin, der geisterhaft wie aus dämmernder Ferne herüberwinkte. Unter der Brücke brauste der Bergfluß, von vorangegangenem Gewitterregen geschwellt.
Fleidl dachte plötzlich daran, daß dieser Fluß an Buchwald vorüberrausche, wo Sara Bagg ihre geschäftigen Hände regte, und an dem Wiesenhange, wo er sein Haus erbauen wollte, vor dessen Tür er sich heut Nachmittag erst im Geist neben der Schwarzhaarigen mit dem niedlichen Vogelköpfchen hatte sitzen sehen.
Und nun war er versprochen mit der andern, die er brauchte, damit das Werk, das ihm über alles ging, ihm nicht zwischen den Fingern zerrann!
»Nein, es reut mi nöt!« sagte er fest und so laut, als müsse er das Eglitzrauschen übertönen. »Es gereut mi nöt! Mag nu kommen, was will!«
* * *
Marie Schieftl hielt Wort: sie hinderte den Vater am Wegzuge und brachte durch ihr und sein Beispiel auch die andern, die fort gewollt hatten, zum Bleiben.
Sie erzwang von dem erst förmlich schäumenden Vater auch die Einwilligung in ihr Verlöbnis, das ihm so durchaus zuwider war.
»So nimm den Bettelmann!« stieß er hervor, als keine Einwendung bei ihr Gehör fand. »Da hat sich der Duckmäuser ja mit seinem Frommgetu ein recht warmes Nestl z'sammeng'heuchelt.«
Marie lächelte fast verächtlich zu diesem Zornausbruche: sie mußte daran denken, aus welchem Grunde Fleidl sie eigentlich nahm.
»Da müssen wir doch erst abwarten, ob er überhaupt was von Dir haben will!« sagte sie.
Na, zur Taglöhnerin werde er seine Tochter doch nicht etwa herabdrücken lassen, erwiderte der Alte, rasch umgestimmt.
»Alsdann, warten wir's nur ab!« schnitt die Tochter kurz und bündig alle Erörterungen durch, und der alte Schieftl mußte sich wieder einmal in gewohnter Weise trösten: »Mit dem Dickkopf ist eh' nichts anzufangen!«
Auch bei Ignatz Heim veranlaßte Fleidls Verlöbnis einen völligen Umschwung im Verhalten: mit demselben Eifer, mit dem er bisher zum Fortziehen angestachelt hatte, warb er nun zum Bleiben. Denn jetzt war die Hoffnung, Sara Bagg zu gewinnen, hierzulande hundertmal berechtigter, als wenn die Baggs mit ihm nach der Steiermark gingen. Ignatz sagte sich, Sara werde ihn nun hier, wo sie Fleidl ständig als Mann einer andern begegnete, leichter nehmen als anderswo. Schon aus Trotz! Aber das sollte ihm gleichgültig sein, wenn er sie nur hatte.
Ja, als in diesen Wochen der König in Erdmannsdorf, das er wegen der Zillertaler zu einem eigenen Kirchspiel machen wollte, einen Kirchenbau beginnen ließ, trat er bei ihm als Handlanger ein.
Wie es schien, sollte er mit seiner Spekulation Recht behalten: Sara Bagg, nachdem sie sich vom ersten Schreck über Fleidls Verspruch erholt hatte, packte ein solch maßloser Zorn über sein Verhalten, daß sie ihrer Mutter andeutete, nun habe sie nichts mehr gegen einen Verspruch mit Ignatz Heim einzuwenden. Am liebsten freilich ginge sie nun doch noch in die Steiermark zurück.
Aber davon wollte nun Vater Bagg nichts mehr wissen; denn wenige Tage nach dem Verspruch Saras mit Ignatz traf die Genehmigung des gesamten Ansiedlungsplanes aus Berlin ein, und nun begann sofort die Vermessung und Zuteilung des Grund und Bodens und der Bau der neuen Häuser.
Da gab's nur so viel Ablenkung und so viel Überlegung und bald auch so viel geschäftiges Treiben, daß Heimwehgefühle zunächst nicht mehr recht aufkommen konnten.
Fleidl insonderheit wurde in diesen Tagen von einer solchen Flut von Arbeit überschüttet, daß er keine Sekunde zur Besinnung kam.
Und das bedeutete für ihn eine große Wohltat; denn nun konnte er doch nicht unablässig in sich die Frage wälzen, ob er recht gehandelt habe, indem er sich mit Marie Schieftl versprach.
In den ersten Tagen nach dem Verspruch bejahte er diese Frage ganz entschieden gegen sich selber. Aber eine sonderbare Scheu hielt ihn davor zurück, der guten Mutter in Buchwald von seinem Verlöbnis zu erzählen. Es war ihm eine rechte Erleichterung, daß sie gerade kurz darauf einige Tage verreiste.
Als er aber von Saras Verlöbnis mit Ignatz erfuhr, kam seine schöne Sicherheit ins Wanken: dieser plötzliche Verspruch machte es ihm gewiß, daß die Gräfin die Wahrheit getroffen hatte, als sie von einer tiefen Neigung Saras zu ihm sprach.
Und nun erst fühlte er in seiner ganzen Schwere, was er geopfert hatte.
Und dann stürmten die Selbstvorwürfe wie eine losgelassene Meute gegen sein Herz an. Er hatte große Mühe, Marie Schieftl nichts merken zu lassen, wenn er sie besuchte, was übrigens mit ihrem Einverständnis nicht sehr häufig geschah.
»Zum Gurren und Täubern sind wir beide scho z' alt und z' verständi!« sagte sie schon beim ersten ›Brautbesuch‹ zu seiner großen Erleichterung.
Aus solcher dunklen Gemütsverfassung riß nun Fleidl das frische Treiben heraus, in das ihn die königliche Ansiedlungs- und Bauerlaubnis verwickelte.
Und an diesem Treiben lag's auch, daß sich die Gräfin mit Fleidls und Saras Herzensangelegenheiten so wenig beschäftigte. Auch sie steckte nun in einer Überfülle von Arbeit. Deshalb hatte sie auch, als sie von Saras Verspruch hörte, nur flüchtig gefragt: »Wie, mein Kind, so schnell bist Du andern Sinnes geworden? Ich denke, Du konntest den Ignatz nicht recht leiden? Bist Du ihm denn nun auch wirklich gut?«
Als das Mädchen hierauf mit einem kurzen, allerdings auch sehr hastigen »Ja« antwortete, gab sie sich zufrieden. – – –
Nachdem aber die erste Hochflut verrauscht und alles auf dem Erdmannsdorfer und Seidorfer Gefilde in stetiger Geschäftigkeit verlief, bekam sie den rechten Blick für Saras und Fleidls verändertes Wesen.
Sie sah, wie matt und blaß das sonst so frische Mädchen umherschlich, und ein paar Mal ertappte sie sie auch mit Tränen in den sonst so kecken Augen.
Das sah freilich nicht sehr nach bräutlichem Glück aus!
Und auch an Fleidl fiel der Gräfin jetzt ein verändertes Wesen auf: es war so viel Hast in dem sonst so ruhigen Manne. Und dann wieder schien's, als läge eine schwere Last mit Zentnerdruck auf ihm und lasse keinen rechten Frohsinn bei ihm aufkommen, trotzdem doch nun draußen in der Ansiedlung alles rüstig vorwärts rückte.
Die Gräfin plante, ihn bei der ersten, besten Gelegenheit tüchtig ins Gebet zu nehmen, um zu erfahren, was das alles bedeute.
Deshalb hielt sie ihn auch an einem der nächsten Tage nach der üblichen Wochenbesprechung über die Verpflegungsbedürfnisse fest und bat ihn, mit ihr zu den Hausbauten hinauszufahren.
Schon auf der Hinfahrt wollte sie ihren Plan ausführen, kam aber nicht dazu. Denn, als habe er ihre Absicht erraten, klagte er gleich über den langsamen Fortschritt der Bauten. Wenn's in demselben Tempo weitergehe, dann komme vor dem Winter nicht die Hälfte der Häuser unter Dach.
»Wann aber unsre Leut' noch einen Winter in den engen Löchern in Schmiedeberg z'sammenhocken,« sagte er matt und hoffnungslos, »dann weiß i nöt, was werden soll. Dann steh i für nix ein! Da bricht die Heimwehseuch' frisch unter ihn'n aus, und dann gibt's kein Halten mehr. Und da wär' halt in Gott's Namen alles umsonst g'schehn! Alles!«
Die Gräfin war höchst betroffen von dieser Nachricht und versprach, alles dranzusetzen, daß der Bau beschleunigt würde. So völlig stand sie unter dem Einfluß dieses Gedankens, daß sie ganz vergaß, weshalb sie Fleidl eigentlich mitgenommen hatte.
Mit ihm gemeinsam fuhr sie nun von einer Baustelle zur andern und freute sich an der heitern Geschäftigkeit, mit der die Zillertaler selbst Hand anlegten beim Bau ihrer Häuser und so die Bauhandwerker tüchtig unterstützten.
So fanden sie gleich an der zweiten Baustelle Adam Egger beim Behauen von Stämmen zum Dachgebälk des Heuschuppens. Das Wohnhaus stand schon unter Dach, ja die Fenster waren sogar schon verglast.
Adam Egger hantierte in Hemdärmeln so eifrig mit dem breiten Zimmermannsbeile an seinem Balken herum, daß er das langsame Heranrollen des Isabellengefährts hinter sich gar nicht hörte. Erst, als der Kutscher nahe neben ihm mit der Peitsche knallte, wandte er sich um, und als er die Gräfin und Fleidl aussteigen sah, hellte sich sein eben noch stark umdüstertes Gesicht rasch auf.
»Da kommt'r eh' zur rechten Zeit!« sagte er, treuherzig die Hand reichend. »Da könnt'r gleich Streit schlichten. Meine haust mit dem Baumeister da drin rum. I bin fortg'gangen, sind eh' Weibersachen, schert mi nöt!«
Er winkte der Gräfin und Fleidl, durch die Haustür einzutreten, und als sie das ein wenig verwundert und befremdet getan hatten, hörten sie aus dem großen Wohnraum nebenan die Eggerin mit dem ›Baukondukteur‹, dem die Aufsicht über alle Zillertaler Hausbauten übertragen war, laut herumkrakeelen.
Der Baukondukteur machte, als er die Gräfin eintreten sah, einen ungeschickten Diener; dann erklärte er auf Befragen, daß das an diesem Morgen nun schon die vierte Zillertalerin sei, die ihm so heftige Szenen mache.
Es handle sich um die Öfen.
Er wolle in die neuen Häuser Öfen setzen, wie sie hierzulande üblich und erprobt seien, und nun kämen diese rabiaten Frauen und verlangten solche Ungetüme von Öfen, wie sie in Tirol Sitte seien.
»Ja, das woll'n wir!« fiel ihm die Eggerin in die Rede. »Und auch den Umbau dran, wie daheim in Tirol!«
»Dazu sind ja Eure Stuben viel zu klein!« erwiderte der Kondukteur hitzig.
»Daheim waren's auch nöt größer!« bellte die Eggerin zurück.
»Und noch mal so teuer sind Eure Ungetüme wie unsre Öfen!« »Tut nix! Dazu muß reichen!«
»Und schlechter sind sie und verschlingen eine Unmasse Feuerung!«
»Dazu muß langen!«
»Könnt Ihr gut sagen, weil Euch der König ohnehin den ganzen Krempel schenkt, Euch – Volk – Euch!«
Die Gräfin hielt's an der Zeit, beschwichtigend einzugreifen.
»Ja», Eggerin,« sagte sie, »da muß ich doch dem Herrn Baukondukteur recht geben. Ihr solltet doch auch drauf sehen, daß die Häuser unserm guten Könige nicht zu teuer kommen.«
»Das scho, gute Mutter!« gab die Eggerin zu. »Aber am Ofen sollt's nöt grad g'spart werden. Wir sind nun einmal unsern Ofen g'wöhnt, und wir müssen immer an ihm hantieren. Und da soll er auch grad so sein, wie daheim im Tirol. Und wir haben uns scho besprochen, die Oblasserin und die Funkhäuserin und die Wechselbergerin und viele andre, und wenn Ihr uns hier nöt den Willen tut mit den Öfen, dann schreiben wir an den guten König, der wird scho ›ja‹ sagen!«
»Eggerin!« rief da Fleidl entrüstet und stampfte mit dem Fuße auf. »Seid nöt ausverschämt!«
Aber die Gräfin lachte jetzt vergnügt aus vollem Halse.
»Da habt Ihr recht, Eggerin!« sagte sie. »Der gute König wird gewiß ›ja‹ sagen. Und, Herr Baukondukteur, auf das wollen wir's nicht ankommen lassen. Setzen Sie nur getrost den guten Leuten ihre gewohnten Tiroler Ungetüme! Sie fühlen sich sonst am Ende doch nicht wohl in ihren Häusern. Und das sollen sie doch vor allen Dingen. Ich werd's beim Komitee vertreten.«
»Zu Befehl. Exzellenz!« erwiderte der Baumensch devot mit ungeschickter Verbeugung. Was er dabei noch zwischen den Lippen murmelte, war nicht gerade ein Kompliment für die Tiroler Dickschädel'. –
»Ja, so sind sie!« sagte Fleidl wie zur Entschuldigung, als er bald darauf an der Seite der Gräfin auf einem weichen Wiesenpfade gegen Erdmannsdorf hinschritt, wohin die Isabellen vorausgeschickt worden waren.
»Querköpfig sind sie!« stimmte die Gräfin lächelnd bei. »Aber das seid Ihr Gebirgsknoten ja alle. Ich weiß manch Liedel davon zu singen. Da brauche ich bloß an die Äxte zu erinnern, die partout so sein sollten, wie Eure Tiroler Sorte. Also, Ihr Männer habt da den Frauen nicht viel vorzuwerfen. Und ich hab mir sagen lassen, Fleidl, die Marie Schieftl, die Ihr Euch nun ausgewählt habt, soll auch ein recht dickes Köpfchen aufsetzen können.«
Da war sie nun bei dem Thema, um des willen sie Fleidl heut hauptsächlich mit auf die Besichtigungsfahrt genommen hatte.
Fleidl aber schwieg zu ihrer Bemerkung über Marie Schieftl.
Da fragte sie recht ernsthaft: »Lieber Freund, wie habt Ihr nur das tun können, nachdem Ihr mir doch damals offenbart habt, was Euch Sara Bagg bedeutet?«
»Es ist mir lieb, gute Mutter, daß ich Euch aufklären kann!« antwortete Fleidl nach kurzer Überlegung. »I möcht' nöt gern, daß Ihr übel von mir denkt. Etwa, weil Marie Schieftl ein reiches, Sara aber ein armes Mädel ist! Drum hört mi an!«
Und nun erzählte er mit ruhigen Worten, durch die doch immer mehr, je länger er sprach, seine tiefgehende innere Erregung durchbrach, von seinem unablässigen Kampfe gegen das Heimweh der einen und gegen die Verhetzung der andern durch Ignatz Heim. Auch davon, wie ein paar Mal das ganze Ansiedlungswerk auf dem Spiele stand, zuletzt am meisten, als Vater Schieftl und sein Anhang zurückwandern wollten, und wie's da nach seiner, Fleidls, Ansicht nur die eine Hilfe gab, daß er Marie Schieftl an sich fesselte, wodurch zugleich Ignatz Heim für immer der Mund gestopft wurde. Deshalb, einzig deshalb habe er sich mit Marie Schieftl versprochen. Nach sich und seinem Glücke dürfe er nicht fragen, hätte er gemeint, nun es sich hier um ein Werk Gottes handle.
Die Gräfin schwieg eine lange Weile, nachdem er geendet hatte, und sah in tiefem Sinnen vor sich hin auf den Rasenpfad, der sie immer näher ans Dorf heranführte. Ihre hellen Augen füllten sich mit Tränen. Es waren Tränen einer tiefen Rührung über den kindlichen Sinn, mit dem sich der große, starke Mann neben ihr für das Werk opferte, das er aus tiefster Herzensüberzeugung heraus ein ›Gotteswerk‹ nannte.
Sollte sie ihn in seinem Handeln irre machen, indem sie ihm sagte, daß er hier Gott wieder mit einem Unrecht habe dienen wollen, und daß sich Gott nicht dienen lasse mit Verbrechen, die der Mensch an seinen besten eignen Gefühlen begeht?
Würde sie damit nicht das sittliche Empfinden dieses Bauern irre machen, wenn sie versuchte, ihm die haarfeine Grenze zu zeigen, auf der er sich hier zwischen einer Gott wohlgefälligen Selbstüberwindung und einer Gott mißfälligen Versündigung am Rechte des eignen Herzens bewegte?
Ihr selbst und ihrem sittlich-religiösen Fühlen lag's ja so nahe, das ›Verleugnet Euch!‹ über alles andre zu stellen, was das Tun des Christen regeln soll. Trotzdem mußte sie schon recht feinhörig und angestrengt den leisen Stimmen ihres Frauenherzens lauschen, um zu vernehmen, daß der brave Mann an ihrer Seite doch unrecht gehandelt habe, wenn er sein und des schwarzhaarigen Mädchens Herzensglück auf dem Altar dieses ›Gottes‹-Werkes opferte, zumal er damit an der dritten, an dieser resolut zufassenden Marie, doch eigentlich unehrlich handelte.
Sagen aber konnte sie ihm das alles unmöglich.
Dazu gehörte eine rücksichtslosere Art, als die ihrige war, wenn es ihr auch da, wo's not tat, nicht am entschlossenen Eingreifen mangelte.
So wandte sie sich denn nun, nachdem sie das alles schnell mit sich selbst ins reine gebracht hatte, mit einem milden, trostreichen Lächeln zu dem stumm neben ihr herschreitenden Fleidl und sagte: »Wer kann behaupten, lieber Freund, ob Ihr richtig oder falsch gehandelt habt? Das Richtige zu treffen, ist in solchen Fällen ja so entsetzlich schwer. Aber das Eine muß Euch trösten und stark erhalten: Ihr hattet den redlichen Willen, damit Gottes Werk zu dienen und nur ihm allein, ohne Rücksicht auf Eures eignen Herzens heiße Wünsche.«
»Das hatt' i!« bestätigte er mit tiefer Inbrunst. »Wahrhaft!, das hatt' i!«
»Nun, das muß Euch und allen genügen, die von Eurem Tun mit betroffen werden!« fuhr sie fort, immer fester werdend im gläubigen Vertrauen, daß sie mit ihrem Zuspruch auf dem rechten Wege sei. »Derer aber sind nicht wenige, lieber Freund! Denn wie das alles ausfällt, das geht nicht bloß Euch und Marie Schieftl und Sara Bagg und Ignatz Heim, den Abscheulichen, an, sondern schließlich die ganze Gemeinde, die auf dieser schönen, grünen, bergumarmten Gottesaue leben und wirken soll, ihr und uns allen – so hoffe und glaube ich – zum zeitlichen und ewigen Segen.«
»Amen, gute Mutter! Amen!« sagte Fleidl und faltete unwillkürlich die Hände; denn es war ihm kirchenfeindlich geworden bei ihren letzten Worten, durch die etwas Priesterinnenhaftes klang.
Und kirchenfeierlich war's auch um sie her auf der weiten Flur, die die Gräfin eben eine ›Gottesaue‹ genannt hatte.
Die Sonne war nicht mehr fern dem Untergehen, und es war ein ähnlicher windstiller, warmer, farbensatter Augustnachmittag, wie jener vor Jahresfrist, an dem das landrätliche Paar von der Höhe des Park-Pavillons aus vom tausendfältigen Reize dieses lichtdurchfluteten Hochtales so tief erfaßt worden war, in jener Stunde, da schon die große Aufgabe, die nun die zarte Frau Tag und Nacht in Atem hielt, bereits den Fuß auf ihre Türschwelle gesetzt hatte.
An dem Waldrücken und an der schönen Pyramide des Kräbersteins, der den beiden Feldwanderern jetzt gerade vor den Blicken lag. warf das satte Sonnenlicht tiefe Schatten von Wipfel zu Wipfel, so daß es zwischen dem saftigen Grün der Tannen wie von tausend dunklen Geheimnissen raunte. Die Felderflur aber, die vom Saum des Waldmantels sich sanft zum Flußtale niedersenkte, leuchtete im Golde einiger noch dicht bestandener Weizenfelder, und die lange Häuserzeile, die sich an diesem unsichtbaren Flüßchen entlang um den Wald- und Felderrücken herum zur freien Ebene des Tales hinausdehnte, leuchtete in ihrem Bunt von Baumgrün und Wandweiß und Dächerrot wie ein vielstimmig lustiges Wanderlied.
Der Linie dieser bunten Zeile folgend, glitt Fleidls Blick bis zu dem neuen Kirchenbau hin, der schon so weit gefördert war, daß der Turm sich aus dem Wipfeldickicht des großen Schloßparkes herausreckte, in dessen grüner Umgebung und nahe seinem eignen Schlosse der gute König dies Zillertaler Gotteshaus errichten ließ.
Und da mußte Fleidl an Ignatz Heim, den die Gräfin eben einen ›Abscheulichen‹ genannt hatte, denken, weil er an diesem Bau beschäftigt war.
Es war das erstemal, daß Fleidl von der Gräfin ein so hartes Urteil über einen Menschen hörte.
Und er mußte es voll unterschreiben, auch wenn er alles zurückdrängte, was ihn persönlich etwa gegen Ignatz aufbrachte!
»Und dem hat sich nun d' Sara ausg'liefert fürs ganze Leben!« dachte er.
Vielleicht, wahrscheinlich um seinetwillen!
Aus Trotz und gekränkter Liebe!
Denn danach sah doch alles verzweifelt aus.
Konnte das auch ein Gott wohlgefälliges Opfer sein?
Und wenn nicht, konnte dann aus seinem, Fleidls, Tun ein Segen erwachsen für das Werk, das er vorhin zu seinem eignen Verwundern ein ›Gotteswerk‹ genannt hatte?
Eine kalte Hand faßte ihm bei diesem Gedanken ans Herz, und er schauderte zusammen, wie unter dem Anhauch eines Bedrohnisses, das er sich unsichtbar ums Haupt flattern fühlte.
Als habe sich Fleidls Empfinden, das sich ja nun so ziemlich auf derselben Straße vorwärts mühte, wie eben vorhin das der Gräfin, mit diesem tastend begegnet, sagte die Gräfin in das lange Schweigen zwischen den beiden hinein: »Gottes Leitungen bleiben noch immer und allezeit wunderbar, und Weg hat er allerwegen, an Mitteln fehlt's ihm nicht. Wer weiß, welchen Ausgang aus alle dem, was uns jetzt noch als Wirrsal erscheint, er vor unsern erstaunten Augen aufreißt.«
»Das wolle er tun!« sagte Fleidl, und es klang wie ein inniges Gebetsflehen.
Dann aber riß er sich entschlossen aus der weichen Stimmung heraus, die ihm auf die Dauer wohl unwürdig erschien, und mit Gewalt sich zum Alltagston zwingend, sagte er: »Sie sind, scheint's, scho recht hoch rauf mit dem Turmbau. 's geht, mein i, schier zu rasch damit.«
»Kein Fehler!« erwiderte die Gräfin. »In einigen Tagen kommt unser guter König zum Sommeraufenthalt nach Schloß Erdmannsdorf; da will er schon was Ordentliches sehen an seinem Kirchenbau. Und deshalb wollte ich mir heut auch mal beschauen, wie weit die guten Leutchen damit sind.«
»Ach so, deshalb wird gar so viel g'eilt!« bemerkte Fleidl nachdenklich. »Wenn das nur auch gut tut! I hab sagen hör'n von einem, der was vom Bauen versteht, beim Turmbauen soll man sich doppelt Zeit lassen. Da wär' Eil' arg vom Übel. Vor allen Dingen dürft' man dabei nöt so rasch aus der Erd' heraus, kommen, sonst fehlt's am tragfäh'gen Unterbau, und es sei eh schon manchem Baumeister, der's zu eili hatt', nach der Spitz'n nauf z'kommen, die ganze G'schicht auf 'n Buckel g'fall'n. Auch hier, sagt' mir der Mann, käm' ihm die Sach' b'denkli vor. In so ein paar Täg', wie man da in Erdmannsdorf am Grund des Turms gemauert hab', das hab' er sein Lebtag noch nöt erlebt. Wenn's da nur nöt was hinterdrein gäben möcht' mit Sprüngen und Rissen und dergleichen! Man brauch' ja nöt grad' gleich an Einstürzen z'denken!«
»Na, das wäre noch schöner, lieber Freund!« lachte da die Gräfin fröhlich-unbesorgt auf und betrachtete das Bauwerk, dem sie sich immer mehr näherten, durch ihre Lorgnette, als müsse sie's doch schnell mal auf seine Festigkeit prüfen. »Einstürzen? Das wär' wohl lachhaft! Da ist doch zu viel sachkundige Leitung bei dem Bau!«
»Na, mir soll's scho recht sein, wenn der Turm aushalten möcht'!« stimmte Fleidl ebenfalls lächelnd zu. »Hinderniss' und Schreckschüss' haben wir g'rad g'nu g'habt mit unsrer Ansiedlung dahier. Da tut's nöt not, daß auch noch der Kirchturm mit einem ›Bums‹ z'sammenkracht. Ja – aber – was ist denn nu dös?«
Mit offnem Munde und schreckhaft aufgerissenen Augen blieb Fleidl wie angewurzelt stehen und deutete entsetzt mit ausgestrecktem Arme nach der Stelle des Kirchenbaues.
Dort erhob sich – nun auch den kurzsichtigen Augen der Gräfin bemerkbar – plötzlich eine dicke Staubwolke an Stelle des Mauerwerks, und nach ein paar Sekunden atemlosen Lauschens drang auch ein dumpfer Knall mit einem länger nachpolternden Dröhnen, wie es stürzendes Mauerwerk hervorbringt, zu den Ohren der beiden, die sich in sprachlosem Grauen anstarrten.
»Der Turm!« stieß dann Fleidl fast gurgelnd heraus. »Der Turm ist z'sammeng'stürzt!«
Und, ganz die Rücksicht auf die schwächliche Gräfin vergessend, begann er, auf dem Wiesenpfade vorwärts zu rennen, auf die Baustelle zu, die etwa noch eine Viertelstunde entfernt sein mochte. Erst, als er einen schwachen Ruf der Gräfin hinter sich hörte, blieb er stehen, kehrte sich um und wartete auf sie, um in gemäßigterem Tempo, das auch sie innehalten konnte, der Unglücksstätte zuzueilen.
»Ist's denn denkbar?« hauchte dabei einmal schwach die Gräfin. »Kann er wirklich eingestürzt sein? Und grade jetzt, da wir davon sprachen? Sozusagen aufs Stichwort eingestürzt?«
Ungläubig schüttelte sie den Kopf, bis Fleidl, scharfen Auges ausspähend, sagte: »'s is nöt anders! Der Staub hat sich nun verzogen, und 's is nix an der Stell' z'sehn, wo vorher der Turm stand.« –
Es war schon so: der Turm war eingestürzt!
Wie aufs Stichwort hin eingestürzt.
War das nun eine von den schnurrigen Kapricen des Zufalls, die man geneigt ist, zu Verlegenheitsmittelchen der Romanschreiber zu stempeln, obgleich das wirkliche Leben von ihnen wimmelt?
Oder war es die Regie einer geheimnisvollen Fernwirkung, die das dem Geschehen voranschwingende Ereignis auf den Gedankengang der beiden auf dem Wiesenpfade ausübte, so daß sie von dem Turmbau sprechen mußten, weil schon das Beben des Zusammenbruchs sein Gefüge durchzitterte? – – – –
»Ignatz Heim!« rief jetzt Fleidl halblaut in atemlosen Vorwärtseilen, und er hatte Mühe, einen häßlichen Wunsch in sich niederzuringen, der plötzlich grinsend aus den dunklen Schächten auftauchte, die in keiner Menschenbrust fehlen. »Er ist beim Turmbau Handlanger!« fügte er zur Erklärung für die Gräfin hinzu.
»Gott schütze ihn und alle, die dran tätig waren!« wünschte die Gräfin mit innigem Tone und mühte sich, mit Fleidl Schritt zu halten.
Je näher sie der Unglücksstätte kamen, von den ersten, verstreut liegenden Häusern des Dorfes an, desto mehr Leute sahen sie von allen Seiten dem Kirchplatze zustreben, alle mit entsetztfragenden Mienen und Worten.
Nun durcheilten sie ein kurzes Stück eines dicht belaubten Parkweges, und nun standen sie, vom schnellen Gehen durch den Blutandrang nach den Augen schier am Sehen gehindert, vor den Ruinen des Turmes, um die noch immer eine leichte Staubwolke wirbelte.
Auf dem Bauplatze aber hastete eine aufgeregte Menge durcheinander, und am Saume des großen Rasenplatzes, über den hinweg man gerade die Vorderfront des Schlosses voll überschauen konnte, lagen eine Reihe blutiger Männer, manche ächzend und stöhnend, offenbar mit gebrochenen Gliedern, die meisten ohne Bewußtsein. Einer aber, Fleidl erkannte sogleich in ihm den buckligen Spießgesellen Ignatz Heims, stieß von Zeit zu Zeit einen schrillen Schmerzensschrei aus, der schaurig von den Wänden des Kirchenbaus widerhallte.
Als suche er nach einem Bestimmten, hastete Fleidl die Reihe der zehn, zwölf Verletzten entlang. Nun trat er zu den Arbeitern, die fieberhaft den Schutt im Innern des eingestürzten Turmes beiseite zu schaufeln suchten, ohne Rücksicht darauf, daß etwa nachbröckelndes Mauerwerk sie selbst treffen könnte. Denn unter den Trümmern ertönte deutlich ersterbendes Wimmern Verschütteter.
Fleidl hörte, wie der leitende Baumeister, der leichenblaß die Leute zur Eile antrieb und selbst immer wieder mit Spaten und Brechstange eingriff, der Gräfin stammelnd berichtete, es müßten noch drei oder vier Leute verschüttet sein, und er nannte auch ein paar Namen, die Fleidl fremd waren, bei der Gräfin aber Tränen und lautes Wehklagen hervorriefen, weil die Genannten Väter kinderreicher Familien seien.
Den Namen Ignatz Heims aber hörte Fleidl nicht, und da rang sich ihm ein halblautes »Gott sei Dank!« von seinen Lippen. Wie getroffen aber fuhr er herum, als er jetzt aus der Menge der gaffenden Frauen, Männer und Kinder hinter sich vernehmlich eine grobe Frauenstimme grollen hörte: »Doas sein die fremda, hargeluffne Leute geroade wart, doaß mir und mir müssa fer die inse Familienväter hengahn (geben)!« Und überall rundum begegnete er feindseligen Blicken.
»Do hoaste ganz recht, Wenzeln!« bestätigte jetzt eine andere Frau jenen Ausfall. »Doas ies a Gereiße im doas fremde Vulk, woas schunt nich meh schien ies! Nu gieht goar schunt die Buchwälder Gräf'n mit da fremda Moannsbildern spoaziern. 's werd immer tälscher. Doas huchmitt'sche Vulk muß ju vullends verdreht im de Köppe war'n. Se troin (tragen) se a su schunt huch genung, doas Battelvulk!«
Auch die Gräfin schien einiges von diesen neidisch-boshaften Reden aufgefangen zu haben; denn sie warf einmal einen schnellen Blick nach der Stelle hin, wo die Schimpfer standen. Aber bald fesselten sie doch wieder die Vorgänge an dem Trümmerhaufen völlig.
Die mit rasender Hast arbeitenden Männer, denen der Schweiß tiefe Rinnsale in den dicken Staubbelag ihrer Gesichter wusch, hatten jetzt einen der ständig Wimmernden freigelegt und zogen ihn vorsichtig hervor.
Es war ein Erdmannsdorfer Maurer, der alleinstehend lebte und auch keine näheren Angehörigen unter der Menge hatte. So konnte man ihn ohne besonderen Aufenthalt zu den übrigen Verletzten auf den Rasenplatz in die warme Sonne betten.
Die Gräfin, die auch die meisten Erdmannsdorfer Frauen den Namen nach kannte, bat eine aus der gaffenden Menge, dem Geretteten, der bald in Bewußtlosigkeit versank, doch Gesicht und Augen auszuwischen und ihm etwas Erfrischendes einzuflößen. Dann eilte sie wieder an den Turm, wo Fleidl mit krampfhaft gespannter Miene zusah, wie man eben wieder einen Verschütteten ausgrub.
Er war offenbar schon tot, und als man endlich den zerschmetterten Kopf notdürftig von Schutt und Kalkstaub befreit hatte, stieß Fleidl, der dank seiner Körperlänge den Arbeitern über die Schultern hinwegsehen konnte, mit einem lauten Schmerzensschrei heraus: »Er ist's! 's ist der Ignatz Heim!«
»Nicht möglich!« rief entsetzt auch die Gräfin aus, die eben neben Fleidl getreten war, setzte dann aber wehklagend-begreifend hinzu: »O du barmherziger Gott!« –
»Ein Zillertaler!« lief's nun mit Raunen und Rufen durch die Menge. »Und tut is a goar! Der erschte Tute is a Zillertoaler!«
Es lag viel Mitleid im Ton dieser Ausrufe, und in Fleidl ebbte dabei die Entrüstung, die ihn noch immer gegen die Menge erfüllte, stark ab. Aber heißer kochte sie in ihm zu loderndem Zorne empor, als er nun die grobe Frauenstimme von vorhin wieder wie fernes, bissiges Hundegebell vernahm: »Warum denn etwan nich? Hee? Die Kerche werd ju ock bloß'g fer die Zillertoaler gebaut, do gehiert sich's, wenn und 's müssa Menscha droan globa, doaß doas Zillertoaler sein.«
Fleidl erfaßte eine schreckliche innere Empörung. Er drängte die Arbeiter mit kräftigem Ruck seitwärts und rief: »Laßt mi ran, Leut'! Den will i beiseit' schaffen: er is der Sohn meines besten Leidensg'nossen! Laßt mi nur, i bitt' Euch!«
Und mit starken Armen hob er die Leiche empor, trug sie mitten durch den Schwarm der Gaffer, gerade an der Frau mit der groben Stimme vorüber, die entsetzt ein paar Schritte gegen die glotzende Menge zurückdrängte, und brachte so den Toten aus dem Bereich der immer mehr anwachsenden Menschenmasse, gegen die er's wie heißen Haß in sich emporschäumen fühlte. Das war der Augenblick, in dem sich's in Fleidls Seele am schmerzhaftesten einbrannte, daß er und seine Landsleute eben doch nur entwurzelte Fremdlinge seien, denen mancher Großdenkende voll Wohlwollen und Güte zur Hilfe bereit war, die von der großen Menge aber mit Neid und Mißgunst betrachtet wurden. Es hat auch vieler Jahre und vieler herzstärkender Erfahrungen bedurft, ehe er dies Gefühl wieder losgeworden ist. –
Ohne daß er sich umzuwenden brauchte, spürte er, daß die Gräfin hinter ihm hergehastet kam.
»Wartet, lieber Freund!« hörte er sie plötzlich rufen. »Da sehe ich die Isabellen kommen. Ich hatte sie zur Kirche hierher bestellt. Das trifft sich gut! Da können wir den Toten gleich nach Schmiedeberg zu seinem alten Vater fahren. Mein Gott, welch' schwere Mission ist das!« – –
Ein paar Minuten später saßen sie in dem geräumigen Wagen nebeneinander, die Leiche auf dem Rücksitz gebettet und ganz in Pferdedecken gehüllt. –
In Fleidl wogten die Gedanken im Wirbel auf und nieder.
Welch wunderbare und dunkle, neue Schickung bedeutete dieser Tod wohl für ihn?
Sollte er nach Gottes Ratschluß vielleicht gar dem Heil der ganzen Gemeinde dienen?
Sollte der alte Heim vielleicht durch das Grab seines Sohnes, den er nun in diesem Tale zur ewigen Ruhe betten mußte, so fest in diesem Lande verankert werden, daß ihm niemals wieder ein Gedanke an Rückwanderung nahekommen konnte?
Nun bedurfte es freilich wohl von seiner, Fleidls, Seite keiner besonderen Anstrengung und keines besonderen Opfers mehr, Heim und seinen Anhang hier festzuhalten.
Und wenn das Unglück ein paar Wochen früher geschah? –!
Fleidl zwang sich mit starker sittlicher Kraft, diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen: er wollte auch im innersten Winkel seines Herzens unschuldig bleiben am Tode dieses seines Widersachers und auch mit keinem Gedanken daran rühren, daß durch diesen Tod Sara Bagg wieder frei wurde.
Wie würde sie das Unglück aufnehmen? –
Auch in der Gräfin rumorte diese Frage, und sie hatte nicht notwendig, sich davon abzuhalten, weiter darüber nachzugrübeln, welches wohl nun die Folgen dieses an sich gewiß schmerzlichen Falles für den braven Mann an ihrer Seite und für das frische, seit ihrem Verlöbnis aber so erbarmungswürdig veränderte Mädchen daheim in ihrem Schlosse sein könnten.
War das nicht ein Fingerzeig der Vorsehung, daß sich das Geschick der beiden lieben Menschen anders gestalten solle, als sie sich's selbst mit eigenen, voreiligen Händen geformt hatten?!
Noch lag ihr ja das Bekenntnis des kindlichen, starken Mannes in den Ohren, das er vor kaum einer Stunde auf dem Wiesenpfade mit der schlichten Erzählung von seiner Selbstaufopferung vor ihr abgelegt hatte. Noch zitterte in ihr die Rührung nach, die das in ihr lebendig gemacht hatte, was dieser schlichte Bauer für sein ›Gotteswerk‹ getan.
Und nun hatte der zerberstende Turm Fleidls mühsames Opferwerk mit zerschmettert.
War sie jetzt vielleicht dazu berufen, mit vorsichtiger Hand die Bruchstücke neu zusammenzusetzen zu einem Gebilde, das mehr im Ratschlusse einer beglückenden Vorsehung lag? – –
So sann die seltene Frau, die das Glücksersinnen für andre zu ihrer Haupt-Lebensaufgabe gemacht hatte, sie sann und sann, wie sie's anfangen müßte, um in dem Hause, das da drüben gegen den Gneisenauberg hin, nicht weit von der Stelle der Straße, auf der sie eben dahinfuhren, langsam aus der Erde wuchs, um in diesem Hause ein tieferes Herzensglück heimisch machen zu können, als es eine Marie Schieftl einem Manne wie diesem Fleidl wohl schaffen konnte.
* * *
Ignatz Heims Tod wirkte ganz so, wie Fleidl es erwartet hatte: der alte Heim fühlte sich nun an die Erdscholle gebunden, in die sein Liebstes gebettet lag, und mit ihm gaben viele unter den Zillertalern für immer ihre Rückwanderungspläne auf.
So auch Kajetan Bagg, obwohl ihm sein Liebling Sara jetzt stark in den Ohren lag, er möchte in die Steiermark zurückziehen.
Was solle er jetzt dort, meinte der Vater, wenn auch nicht Heim und Koland, Brugger und Hechenleitner mitzögen?
Und außerdem wuchs ja nun auch schon seine Mühle langsam an dem frischen Bergwasser aus dem Grunde empor. Es würde ja nur ein sehr bescheidenes Mühlwerk werden; aber die Hauptsache: es würde klappern wie daheim die väterliche Mühle am Zemmbach. Und danach hatte sich Kajetan Bagg gesehnt, schier krankhaft, wenn er's auch nicht so gezeigt hatte, den ganzen Winter hindurch hier im fremden Lande.
Das war sein Heimweh gewesen.
Nun sollte das bald gestillt werden!
Und auf der schönen, grünen Wiese um das freundliche Häuschen her am blumigen Ufer des Baches würde sein Hansel mit den Nachtigallen um die Wette singen können. Und in den großen Wäldern am nahen Gebirge, da kam er selbst gewiß auf seine Rechnung als Jäger.
Denn das war Kajetan Bagg, ein leidenschaftlicher Jäger, der manche Gemse vom steilen Grate herabgeholt hatte, einmal sogar eine, die gerade senkrecht über ihm stand und wie ein Mehlsack in die Tiefe plumpste und ihm nicht nur seinen Hut vom Kopfe streifte, sondern ihn selbst ganz und gar mit in die Tiefe gerissen hätte, wenn er sich nicht schleunigst noch platt an die Felswand drückte.
Freilich: Gemsen fand er nimmer zu jagen, wenn er in diesem preußischen Lande blieb! Aber es mußten ja auch nicht gerade Gemsen sein! Es war ja auch lustig, auf Hirsche und Rehe zu pürschen! Und die gab's hier im Gebirge Gottlob in Menge.
Nein, nun man sich so lange durchgeharrt und durchgehärmt hatte, konnte man's jetzt schon gut für immer hier aushalten, wo man doch vor allem das reine Wort Gott's alle Tage hören und lesen durfte ohne jede Schuhriegelei.
Da mußte die Sara schon auch lernen, ihr Heimweh zu überwinden und auch ohne ihren Ignatz weiterzuleben.
»I wundre mich eh, daß d' Sara dem Ignatz so arg viel gut g'wesen ist!« äußerte er seiner Frau gegenüber; aber diese gab ihm keinen rechten Bescheid, sondern lächelte nur verstohlen vor sich hin, als belustige sie sich gar über sein Verwundern. Dann aber verfiel sie bald wieder in die tiefe Niedergeschlagenheit, die sie seit dem Tode Ignatz Heims erfaßt hatte: sie konnte sich nicht darüber beruhigen, daß die schöne Versorgung ihrer Tochter so mit einem Male der stürzende Turm mit zertrümmert hatte.
* * *
Nun lag das Erdmannsdorfer Unglück schon vierzehn Tage zurück; aber noch immer war unter der Bewohnerschaft der Umgegend, die Zillertaler eingeschlossen, von nichts anderem die Rede. Erst, als die Ankunft des Königs und seines Hofes unmittelbar bevorstand, wandte sich zögernd das öffentliche Interesse von dem Unglück ab und diesem Ereignis zu.
Die einstmals Vertriebenen, nun wieder Seßhaften waren natürlich allesamt höchst gespannt auf den Anblick und die Bekanntschaft des ›guten Königs‹. Denn nach dem, was sie von der Leutseligkeit erfuhren, die er während der Erdmannsdorfer Sommerfrischenwochen zu zeigen pflegte, in der er sich mehr als Gutsherr wie als König fühlte, und nach den Erfahrungen, die sie mit den anderen Schloßgesessenen des Tales gemacht hatten, schien es ihnen außer allem Zweifel, daß sie den König oftmals sehen und auch mit ihm sprechen würden.
Am meisten erhofften natürlich die Deputierten der Gemeinde von diesem Königsbesuche, vor allem Fleidl. Denn sie hatten ja noch so viele Wünsche auf dem Herzen, die die junge Ansiedlung betrafen. Vor allem den Wunsch, daß ihre Häuser schnell fertiggestellt würden.
Auch lebte in Fleidl immer noch ein Funken Hoffnung, es werde dem Könige gelingen, die Dreißig um die Brüder Kreidl und Joseph Kröll her zu bewegen, hier zu bleiben. Man hatte ihnen bisher immer noch die Pässe verweigert mit der Begründung, der König solle selbst über ihre Rückwanderung entscheiden. Immer noch hoffte Fleidl, die Begegnung mit dem Könige werde die Leute zum Hierbleiben veranlassen, obwohl er's mehrfach an sich selber erfahren mußte, zu welch' finsterm Groll sich inzwischen die Heimwehsehnsucht der Hingehaltenen verhärtet hatte.
Auch die Gräfin teilte diese Hoffnung, und da sie noch viel klarer als Fleidl durchschaute, wieviel von den Eindrücken abhing, die der König vom Fortschritt dieses Besiedlungswerkes erhalten werde, das er so recht als seine Herzensangelegenheit betrachtete, sah sie diesem Besuche mit einem Herzklopfen entgegen, dessen sie sich manchmal vor sich selber schämte.
Schon am Tage der Ankunft des Hofes in Erdmannsdorf erhielt sie vom Ober-Hofmarschallamt die Nachricht, daß sie der König am andern Morgen auf einer Fahrt nach Fischbach aufzusuchen gedenke, er ganz allein und möglichst ›freundschaftlich-ungezwungen‹.
Diesem Winke entsprechend, saß sie deshalb am nächsten Vormittag unter einer der großen Eichen des Pavillonhügels, nahe dem Großteiche, an einem runden Tischchen, auf dem sie gern an sonnigen Tagen schrieb. Sie hatte diesen Platz gewählt, weil man von hier aus den Weg nach Fischbach überschauen konnte.
Recht willkommen erschient ihr, daß der junge Lehrer sich mit mehr als zwanzig frischen, gesunden Tirolerknaben am grünen Gestade des Großteiches tummelte, nachdem sie den warmen Sommertag zum Baden ausgenutzt hatten. Einige vergnügten sich mit Kahnfahren, und so boten die Kinder in ihrer bunten Tracht auf dem blauen Wasser ein fesselndes Bild.
Die Gräfin ließ ihre starke innere Erregung in einem Briefe ausströmen, den sie an ihre Schwägerin schrieb, die sie durch tägliche Nachrichten zur treusten Miterleberin ihres Daseins machte.
»Ich erwarte hier im gewöhnlichen Kattun-Morgenkleide«, schrieb sie, »und im weißen Mützchen, schreibend und lesend den König. Der HErr schenke mir nur die rechten Worte, gebe mir Weisheit und sei mir nahe, nicht für mich; denn der König ist mir wohl lieb. Wieviel lieber und höher steht mir aber der König aller Könige! Und diesem darf ich nichts verderben und keine Silbe sprechen zum Wohle der mir Anvertrauten, als wie Er es will und mir eingibt. Leicht ist vielleicht die Stunde nicht; aber man muß durch alles durch.«
Wenn der Oberpräsident von Merckel diesen Brief zu Gesicht bekommen hätte, würde er in seinem Urteil, daß die Gräfin zu den ›Pietisten‹ gehöre, wohl bestärkt worden sein und sich noch widerwilliger in die Rolle geschickt haben, zu der ihn dieser Königsbesuch im ›Pietistenneste‹ drängen sollte.
Die Gräfin hatte kaum die Unterschrift unter den Brief gesetzt, so sah sie auch schon auf dem Parkwege das schlichte Gefährt herankommen, das der König stets während seines Erdmannsdorfer Aufenthaltes benutzte.
Sogleich trippelte sie auf einem schmalen Fußpfade von ihrem erhöhten Platze hinunter zur Parkstraße und wartete hier auf das Herankommen des Wagens, in dessen Innern sie den König ganz allein sitzen sah.
Er mußte auch sie schon bemerkt haben; denn er winkte ihr schon aus einiger Entfernung mit der Hand, gab dem Kutscher ein Zeichen zum Halten, und als der schnell abspringende Lakai den Schlag aufriß, stieg er heraus, die Gräfin aufs herzlichste als ›liebe Freundin‹ begrüßend und ihr artig die Hand küssend, als komme es ihm darauf an zu markieren, daß er hier nur als befreundeter Gutsnachbar vorspreche.
Wenn es ihr recht sei, begleite er sie zu ihrem schönen Schreibplätzchen hinauf, Wagen und Lakai könnten indes zum Schloß weiter fahren, sagte er.
So stiegen sie nun langsam nebeneinander die Matte hinauf zum Tische unter der Eiche. Der König trug dabei unter dem linken Arme ein dünnes Paket, in Papier geschlagen, ziemlich umfänglich, das er dem Wagen entnommen hatte.
Aufrecht, in seiner berühmten guten Haltung schritt er dahin, mit so elastischen Bewegungen, daß sich die Gräfin zugleich wunderte und herzlich freute, und sie gab dem auch Ausdruck.
»Ist Gottes Güte, liebe Freundin!« sagte der König in seiner kurzen, abgerissenen Ausdrucksweise. »Bei meinem Alter tatsächlich eine große Gnade.«
Nun erblickte er das bunte Bild der Tirolerknaben auf dem blanken Teichspiegel und am grünen Wiesenufer und wurde dadurch gleich auf das Thema gebracht, das ihm ebensosehr am Herzen lag wie der Gräfin.
»Muß danken, liebe Freundin,« sagte er, »für das, was Sie an denen da tun.«
»Pardon, Majestät!« erwiderte die Gräfin. »Zu danken habe ich! Für Euer Majestät Vertrauen, das mir mit diesem Auftrage geschenkt wurde.«
»Haben es mehr als gerechtfertigt! Haben sich aufgeopfert! Alles wissen! Haben's aus Glauben getan. Konnten gar nicht anders! Nicht wahr?«
Während die Gräfin halb zustimmend nickte, setzte er sich auf die Bank neben dem runden Tische unter dem schattigen Blätterdache der alten Eiche und betrachtete eine Weile stumm mit sichtlicher Ergriffenheit das wunderbare Naturbild, das sich ihm hier bot.
Er sah hinab auf die saftig grüne Matte der großen Parkwiese um den blauen, klaren Spiegel des Großteiches her, hinter der die künstlerisch verteilten und schattierten Gruppen der Parkbäume und -sträucher durch eine grüne Blätterwand den Beschauer von der Unruhe der ganzen übrigen Welt abschieden und doch nicht festungsartig beengend umschlossen. Denn über sie blickten die blauen Zinnen des Gebirges in die grüne Stille dieses Parkwunders hinein. Und das alles überspannte der satt-klare Augusthimmel und durchhauchte es mit wohliger Wärme, die dem alternden Monarchen so recht wohl tat.
»Ein kostbares Fleckchen Welt!« flüsterte er halblaut. »Überhaupt das ganze Tal und die ganze Provinz. Blut und Mühen wohl wert sein, die an sie gewandt sind. Und konnte uns leicht wieder verloren gehen, damals, in der dunklen Zeit. Müssen allen dankbar sein, die's erhalten halfen. Auch dem alten Bärbeiß da in Breslau!«
Die Gräfin lächelte fein: sie merkte wohl, daß der König in seiner Güte sie mit dem alten Merckel aussöhnen wollte.
Voll Eifer ging er nun auf alle Einzelheiten in der Zillertaler Angelegenheit ein, und die Gräfin merkte mit ebensoviel Freude wie Erstaunen, daß er gänzlich ›im Bilde‹ sei.
Auch vom Einsturz des Kirchturms sprach er, voll milder Versöhnlichkeit in bezug auf den nachlässigen Baumeister und voll schmerzerfüllter Teilnahme für die Opfer des Einsturzes. Daß er schon gestern Befehl gegeben habe zur Unterstützung der Verunglückten und zur Versorgung der Hinterbliebenen verschwieg er freilich.
»Und wie ist's,« fragte er plötzlich, »wollen immer noch fort, die Zillertaler?«
»Einzelne wohl, Majestät!« gab die Gräfin rückhaltlos zu und nannte die Gründe der Leute. »Gerade jetzt wieder will sich eine Gruppe loslösen. Und diesmal sind's wertvolle Glieder der Gemeinde. Fleidl hielt sie gern hier fest. Ich habe eine Abordnung von ihnen heute zu mir heraus bestellt. Wenn Majestät vielleicht –«
»Aber ja! Gern! Sofort!« rief er voll Eifer, ihre unausgesprochene Bitte sofort erratend, und sprang so elastisch von der Bank auf, wie man das seinen Jahren nicht hätte zutrauen sollen.
Das umfängliche Paket wieder unter den Arm drückend, stieg er neben der Gräfin zum Parkwege hinab und wandte sich dem Schlosse zu, eifrig das Gespräch über die Zillertaler fortsetzend. Aber als sie sich der Freitreppe näherten, zögerte er ein wenig und fragte dann, leise in die Befangenheit verfallend, die ihm immer noch von seiner gedrückten Jugend her anhaftete, ob die Besprechung mit den einfachen Naturmenschen nicht lieber in einem der schlichteren Gartenräume erfolgen könne als im Schlosse, wo sie vielleicht befangen wären. Er, der König, liebe ja auch diese lauschigen Gartengemächer des Buchwalder Parkes über die Maßen.
»Mit Freuden, Majestät!« erwiderte die Gräfin, und nach kurzem Nachdenken geleitete sie ihn zum Orangeriegebäude, mit einem schnellen Seitenblick erhaschend, daß der gutgeschulte Kriegel bereits aus dem Schloßportal schlüpfte und ihnen lautlos außer Hörweite folgte.
Durch den Orangeriesaal, in dem sie vor Jahresfrist in der ersten Besprechung über die Zillertaler sich mit dem Oberpräsidenten herumstritt, geleitete die Gräfin den König in das dahinter gelegene Orangeriekabinett, wohin sie sich mit Vorliebe zurückzog, wenn's galt, überlegsame Briefe zu schreiben, und wenn ihr zu diesem Behufe der Weg ins Wiesenhaus zu weit war.
Beim Durchschreiten des Saales blieb der König einen Augenblick vor dem hohen Pfeilerspiegel stehen, der in der Mitte der Rückwand aufragte, und besah sich das Spiegelbild der Schneekoppe, das damals auch Merckel Überraschung abgenötigt hatte.
»In der Tat fein ausgeklügelt, das!« bemerkte der König kopfnickend.
Im Orangeriekabinett aber trat er sogleich an das breite Fenster heran, das ein schön geschmiedetes Gitter zur Hälfte abschloß in der Art einer Brustwehr. Eine bunte Rosentapete umkleidete die Fensternische und die Wände des traulichen, mäßig großen Raumes, den man dieser Wandbekleidung wegen auch das ›Rosenkabinett‹ nannte. Den äußeren Fenstersaum aber umrankten lebendige Rosen verschiedenster Farben, mit ihren Blüten in die Fenster nickend, und ein wahrer Rasen von Rosenblüten spannte sich vor dem Fenster in dem kleinen, ganz verschwiegenen Stückchen Parkland aus, das der ›Pflegegarten‹ hieß.
Voll sichtlicher Freude gerade über die Auswahl dieses Raumes, an dessen Wänden zierliche Glasschränke eines der erlesenen Fruchtstück-Service der Gräfin bargen, ließ sich der König auf einem bequemen Korbsessel an dem Rosenfenster nieder und bat die Gräfin mit Blick und Handbewegung, sich ihm gegenüber auf einen andern zu setzen.
Ehe sie's tat, fragte sie, ob er befehle, daß sie nun die bestellten Zillertaler herholen lasse, und als er zustimmend nickte, zog sie an dem breiten, perlengestickten Klingelbande neben der Tür und übermittelte dem sofort eintretenden Kriegel leise den Auftrag.
Als sie sich dann dem König gegenüber niedergelassen hatte, die schwarze Mantille aus leichtem Seidenstoff ablegend, die Sommer und Winter ihr unvermeidliches Hausbekleidungsstück war, sah sie den König an der Schnur des Paketes basteln, das er bis jetzt immerfort krampfhaft unter dem Arme getragen hatte.
Mit Staunen bemerkte sie, daß aus der Hülle ein gerahmtes Bild zum Vorschein kam, ein Pastellgemälde von Meisterhand. Und nun schoß ihr eine jähe Freudenröte über die bleichen Wangen bis zur Löckchenstirn und unter die weiße Mullhaube hinauf: sie ahnte, daß das Bild ein königliches Geschenk für sie sei und das Tiroler Zillertal vorstelle.
Und so war's!
Vor einem Hintergrunde gewaltiger Alpenriesen, deren hinterste nur im zartesten Blau angedeutet waren, erschloß sich der Blick in ein trauliches Hochtal mit einem rauschenden Alpenbache, an dem aus ein paar Hütten der Art, wie sie nun auf der Erdmannsdorfer Flur gezimmert wurden, lichtblauer Herdrauch aufstieg. Im Vordergrund ein üppiges Wiesenland mit Heu auf Stangengestellen, wie sie nun bald auch im Hirschberger Tal den konservativen Landwirten Kopfschütteln abnötigen würden, und ganz vorn fünf, sechs prachtvoll gemalte, frei weidende Rosse.
Der Gräfin traten die Tränen in die Augen, die sie wegen ihrer Kurzsichtigkeit nahe über das Bild gebeugt hielt. Sie wußte selbst nicht, ob aus Freude über das schöne Kunstwerk und die königliche Dankbarkeit, die es zum Ausdruck brachte, oder aus Rührung darüber, daß der König das Gemälde in seinem keineswegs leichten Eichenrahmen eigenhändig soweit getragen habe, statt es den Lakaien hierher bringen zu lassen.
»Das ist er in seiner ganzen Herzensgüte,« dachte sie, »die auch sein Volk erkannt hat bis hin zum freisinnigsten Verfassungsstürmer. Und deshalb lassen sie den Alternden nun in Ruhe und quälen ihn nicht, sein Versprechen einer Verfassung zu erfüllen, das er damals gab, als es galt, Napoleon zu stürzen, und das er nun aus hundert Gründen nicht einlösen mag.«
Während sie ihm jetzt innigst dankte und er in seiner befangenkurzen Weise den Dank ablehnte, öffnete Kriegel die Tür für die Zillertaler.
Unter Fleidls Führung traten die beiden Kreidl, Joseph Kröll und Andrä Egger herein.
Sie trugen natürlich sämtlich ihren Tiroler Sonntagsstaat, und der König betrachtete mit sichtlichem Wohlgefallen die reckenhaften Männer in ihrer bunten, kleidsamen Tracht. Den kleinen Andrä Egger, der sich schüchtern hinter die breiten Rücken der Brüder Kreidl versteckte, bemerkte er zunächst gar nicht.
Langsam ging er ein paar Schritte auf die Zillertaler zu und bot dann Fleidl, den er sogleich von der Berliner Audienz her wiedererkannte, die Hand.
Treuherzig und unbefangen schüttelte sie ihm Fleidl mit herzhaftem Druck und stellte dann auf eine Frage des Königs seine Landsleute vor, wobei nun auch Andrä Egger zum Vorschein kommen mußte. Bei seinem Anblick huschte einen Pulsschlag lang der Schein eines heitern Lächelns über des Königs ernstes Gesicht: der kleine, verängstete Andrä nahm sich neben seinen stattlichen und offenbar auch recht selbstbewußten Landsleuten auch geradezu komisch aus.
»Welche von Euch sind's denn nun, die wieder fort wollen?« fragte nun der König, und den beiden Kreidls und Joseph Kröll wurde es bei dieser Frage etwas schwül zumut, obwohl der Ton des Königs ruhig und freundlich blieb wie zuvor.
»Mit Verlaub, Herr König«, riß sich Joseph Kreidl zuerst zur Antwort zusammen, »das sind wir alle, wir hier, aber noch eine Mandel andere, für die wir hier halt in Gott's Namen mit sprechen sollen.«
»So?« erwiderte der König. »Und weshalb wollt Ihr fort?«
»Es ist uns z'wenig Land, was wir hier kriegen sollen!« stieß Joseph Kreidl in stark erzwungenem Mute hervor. »Der alte Herr vom Gubernium in Breslau hat's auch g'sagt, daß es z' knapp ist. Und deshalb wollten wir schön um unsere Päss' bitten.«
»Ja, um unsere Päss', lieber, guter Herr König!« echote Andrä Egger hinter Kreidls Rücken hervor.
Der König wandte sich etwas ratlos mit einem fragenden Blick an die Gräfin, die schnell entschlossen einen kurzen, klaren Bericht über Merckels Vorgehen und Urteil bei der letzten Komiteesitzung gab.
Die Miene des Königs veränderte sich dabei um keinen Zug. Gelassen wie vorher fragte er: »Und Eure Meinung, lieber Fleidl?«
»I mein', sell is nöt so schlimm, wie's der Herr Oberpräsident anschaut!« antwortete Fleidl schnell und fügte nun die Begründung hinzu, mit der er schon Merckel entgegengetreten war.
»Leuchtet mir ein!« sagte darauf der König nach einer Pause gründlichen Nachdenkens. »Und dann, Leute, müssen uns nach der Decke strecken. Ist nicht mehr Land vorhanden! Park und Schloß müßt Ihr mir von meiner Herrschaft Erdmannsdorf schon lassen. Alles andre haben sollen!«
Die Gräfin fuhr sich hastig mit ihrem Spitzentuche nach den Augen: die entgegenkommende Güte des Königs feuchtete sie ihr.
»Wär' scho gut!« brummelte nun Joseph Kreidl in einiger Verlegenheit. »Wär' scho gut, wann die Sach' nöt nur noch einen schlimmen Haken hätt'!«
»Welchen?« fragte der König geduldig.
»Ja – hm – wir könn' uns hier nöt z'rechtfinden, Herr König! D' Leut' sind falsch und mißgünsti auf uns. Nöt die gute Mutter da! Beileibe nöt! Die wär' schon recht! Aber die andern, bei den'n wir z'sammenhocken in den engen Kammerln! Und das ganze Land dahier, wann's auch schön ist und Berg' hat wie daheim im Zillertal! Aber so sind halt doch d' Berg nöt und die Matten nöt und der Wald nöt! Und gar erst die Häuser –«
»Sollt Ihr ja bekommen, genau wie daheim!« warf der König begütigend ein.
»Sell sollt' sein'« gab Joseph Kreidl zu. »Aber wann wird's in Gott's Namen dazu? Und ganz so, wie daheim am Ziller kann's eh nöt werden.«
»Und die Glaubensfreiheit, die Euch zur Auswanderung bewog?« fragte der König ernst.
»Ja, die hätten wir scho! Und die ist viel, viel wert, Herr König! Gott lohn Euch das gute G'schenk an uns arme Exulanten! Aber – zur Freud' dran kommt man nöt, so lang's hier sitzt, hier in der Kehlen, Herr König, und würgt und würgt, daß man kaum einen Schnaufer tun kann, und alles um einen rum büßt sein' Farb' und seinen Glanz ein und ist alles so grau wie ein Aschentrumm, und d' Weiber sitzen beim Ofenloch und heulen sich die Schürzen naß, daß 's ihnen 's Herz abstößt zum Gotterbarmen. Ja, Herr König, das ist's, was uns weg treibt; das Heimweh ist's, das sakrische, das Heimweh nach unserm Zillertal! Und deshalb taten wir schön bitten um unsere Päss'!«
»Ja, um unsere Päss', guter, lieber Herr König!« echote Andrä Egger aufs neue und wagte sich nun ein paar kurze Schrittchen näher. »Er hat ganz recht, der Joseph Kreidl: das sakrische Heimweh ist's. Und er hat Weib und Kinder mit hier und Vater und Mutter! Aber i – Herr König, i bin hier ganz einschichtig, ganz verlassen! Mei Weib hab i im Tirol z'ruckgelassen, ein braves Weib, wenn's auch nöt vom papistischen Glauben lassen mag, weil ihr Bruder, der Küster von Mayrhofen, ihr in's G'wissen g'red hat. Und meine lieben Kindern, Herr König, gute, liebe hübsche Bub'n und Mäd'ln! Alle Blondköpperl'n bis auf d' Jüngst, die Ann'marie, die hat ein pechschwarz Köppel. Alle hab' i z'ruckg'lassen, alle Sieben, des Glaubens wegen und bin mit hierher. I hab' g'dacht: 's wird di wohl manchmal zausen, Andrä, 's Verlangen nach Deinem Hof in Dux und nach dem ganzen Zillertal und nach Dein'm Weib und Dein'n Bub'n und Mad'ln. Aber der Herr hat g'sagt: »Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht wert!« Und i wollt' seiner wert sein! Und dann dacht i: wirst ja dort auch dein Häusel haben und deine Wiese und dein Feld, und wenn di dann das Heimverlangen packt, dann fängst du halt in Gott's Namen an z' graben und z' hacken, daß dir 's Sehen und Hören und 's Heimverlangen d'zu vergeht! Aber leider, Herr König, 's is ganz anders mit uns kommen. In der Ecken haben wir hocken g'mußt, Woche um Woche und Monat um Monat, und hab'n nix z' schaffen gehabt als Sinniern und Grübeln und Z'ruckdenken ins Zillertal. Und da hat mi 's g'schmissen, Herr. I geb's ganz gern zu: 's hat mi g'schmissen, mehr als d' andern alle z'samm'n, und i hab' mi vielmal närrisch g'berdet, als hätt' i den Verstand verlor'n. Und sie hab'n ganz recht, die andern, wenn's mi ›den Heimweh-Narren‹ g'schimpft hab'n. I bin dazu g'worden, i, der Andrä Egger von Hinterdux, an den sich sonst niemand mit einer Frotzelei rang'traut hat, wann i auch nöt so ein Kirchturmkerl bin, wie die da. Sie haben ganz recht: i bin zum ›Heimwehnarr'n‹ g'worden!«
Er ließ den kleinen Vogelkopf sinken, daß sein spitzes Kinn auf den roten Brustlatz stieß, und ein paar dicke Tränen tropften ihm auf die gefalteten Hände, zwischen denen er den großen, schwarzen Filzhut gedankenlos drehte.
Die Gräfin sah besorgt zum Könige hin: sie wußte, daß ihm solche Gefühlsausbrüche nicht lagen, daß er sie besonders an Männern nicht schätzte. Mehrfach hatte sie ihn von Männern, mit denen das Gefühl in seiner Gegenwart durchgegangen war, sagen hören: »Poet sein! Nicht leiden mögen!« Und auf dieser Gefühlsrichtung hatte ja auch die große Ungerechtigkeit beruht, die sie einst diesen von ihr so hoch verehrten König an ihrem und ihres seligen Mannes treuem Freunde, dem Freiherrn vom Stein, verüben sah. Aber mit Beruhigung, ja Rührung sah sie, daß der elementare Gefühlsausbruch dieses Naturmenschen ganz anders auf den König wirkte.
»Armer Mann!« hörte sie ihn deutlich murmeln und dann lauter fragen: »Und was wünscht Ihr?«
»Einen Paß, Herr Köni, wann i schön bitten dürft'!« rief Andrä Egger mit auflebender Hoffnung und hob sein Kinn vom Brustlatz, und die Vogelschnabelnase reckte sich wieder zum Gesicht des Monarchen hinauf. »Einen Paß, daß i ins Tirol reisen darf! I will nöt dort bleiben. I darf ja auch gar nöt nach Hinterdux, nöt mal ins Zillertal hinein. Das haben's mir scho g'schrieben. Nur bis Schwatz darf i. Aber dorthin können mein Weib und meine Kinderln kommen, auf ein paar Täg' nur; aber das schadet nix! Wann ich sie nur mal wiedersehn kann und ihn'n durch die Blondhaardln streichen und der Ann'marie durch ihre pechschwarzen Strähndln! Mehr will i gar nöt! Und dann kam i z'ruck und bau mei Häuserl auf wie d' andern a. Aber laßt mi nur reisen, Herr König! Laßt mi, sonst derwürgt mi's noch ganz und gar, das sarkramentschte Heimweh das!«
»Sollt reisen! Sollt Paß haben!« sagte der König und sah mit unverkennbarer Rührung auf den kleinen, verhutzelten Mann herunter, der sich langsam während seines eifrigen Bittens in seiner charakteristischen Weise schief bis zu ihm hingeschoben hatte.
»Herr König! Herr König!« schrie da Andrä Egger jauchzend auf und wollte die Hand des Monarchen erfassen, um sie zu drücken und zu schütteln oder sonst was zu tun. Doch Friedrich Wilhelm legte in der scheuen Zurückhaltung, die ihm oft als Kälte ausgelegt wurde, beide Hände gekreuzt auf den Rücken und sagte mit leiser Zurückweisung im Ton: »Schon gut, lieber Mann! Dank nicht nötig sein! Aber wiederkommen!«
»Aber ja, Herr Köni! Aber ja!« rief Andrä treuherzig, unter Tränen lachend. »Natürli komm' i wieder! Muß ja auch! Wo sollt' i bleib'n? Im Zillertal bei Weib und Kinderln wär's scho viel gut. Aber katholisch werd' i nöt! Das tu i nöt! Da hätt' i ja gar nöt erst fortbrauchen von den Blondköpperln! Na, das tu i nöt! I komm scho wieder! Herr Köni! Da verlaßt Euch drauf!«
»Und Ihr?« wandte sich nun der König an die andern.
In Joseph Kreidl hatte es während des langen Gefühlsausbruchs Andräs gewaltig gearbeitet.
Nun er einmal an einem Zillertaler Manne, an einem Großbauern, der in der Heimat so geachtet dastand, daß es keiner gewagt hätte, ihn auch nur zu frotzeln, obwohl er nur ein schwächliches Männchen war, nun er an diesem die entnervende Wirkung des Heimwehs vor einem Fremden, Hochstehenden so unverhüllt wüten sah, kam es wie eine Scham über den starken Mann, daß er sich auch ›von dieser Seuch'‹ habe unterkriegen lassen. Zugleich aber wartete er voll höchster Spannung auf die Entscheidung des Königs, ob sich dieser verächtlich von dem ›Wins'ler‹ abwenden, oder ob er Verständnis für die Qual des Heimwehsiechen beweisen werde.
Nun dies sich so deutlich, wenn auch in fürstlich zurückhaltender Weise offenbarte, fiel im Innern Joseph Kreidls eine hohe Schranke in sich zusammen, die ihn bisher von diesen ›preußischen Leuten‹ geschieden hatte, deren trocken-verstandesmäßiges Korporal-Wesen ihm bisher oft zuwider gewesen war, und er sah einen Augenblick diesem protestantenhaften Wesen auf seinen wahren, zuverlässigen Grund. Und unter dem Einfluß dieser Entdeckungen und Beobachtungen brach sein Rückwanderungstrotz zusammen, dem es ja ohnehin am rechten Grunde mangelte.
»I, Herr König?« fragte er zurück, erst ein wenig stockend und würgend, dann aber mit frischer Entschlossenheit aus sich herausgehend. »I hab mir's anders b'sonnen! I für mein Teil, i brauch' kein'n Paß nöt! I bleib hier und werd' schon fertig werd'n mit der verwünschten Heimwehseuch' und mit meinem Weib' ihrer dazu!«
»Wann mei Bruder bleibt, bleib' i a!« sagte Matthias Kreidl, und Joseph Kröll, der seinen Hut verlegen zwischen den Händen drehte, fügte etwas kleinlaut hinzu: »I will mit mein'm Weibe red'n. Vielleicht, daß sie sich noch halten laßt! Denn i, i hätt' schon Lust, auch hier z' bleib'n!«
»Nun, haltet das nach Euerm Belieben, guten Leute!« sagte der König, der zu den Worten der beiden Kreidl einmal kurz zustimmend genickt hatte. »Wer zurück will, dem sollen die Pässe nicht verweigert werden, denn gegen das Heimweh kann Euch auch kein König schützen. Aber eine ›verwünschte Seuch'‹ dürft Ihr mir das Heimweh nicht schelten! Ist kein schlechtes Zeichen für Menschen, wenn sie Heimweh haben. Im Gegenteil: wer's nicht kennt, ist ein leerer, charakterloser Tropf!«
Er sah dabei zur Gräfin hinüber, die mit feuchten Augen ihm Beifall nickte und leise bestätigte: »So ist's, Eure Majestät! Nur die Leeren kennen es nicht, das irdische Heimweh, und erst recht nicht das nach droben.«
Jetzt wandte sich der König an Fleidl mit der Frage, wie's um die Fertigstellung der Häuser bis zum Herbst aussähe.
»Übel, Eure Majestät!« antwortete Fleidl freimütig, von dem Erlebnis dieser Stunde gleichsam neu in seiner Tatkraft beflügelt. Und nun trug er dem Könige ohne Scheu alle Klagen und Bedenken vor, die er wegen des langsamen Fortschrittes beim Bau der Häuser schon der Gräfin ausgesprochen hatte.
Als er geendet hatte, sagte der König, dessen Miene sich sichtlich verdüsterte: »Soll anders werden! Werde sorgen, daß Häuser vor Winter bewohnbar sein. Allen zum Trost sagen! Hört Ihr? Euch danken wir, Fleidl, für alle Mühe und Treue. Gott lohn's Euch!«
Bei diesen Worten reichte er Fleidl abermals die Hand und dann auch den andern. Zu Andrä Egger aber sagte er dabei: »Eure Lieben im Zillertal von mir grüßen! Viel Freude am Wiedersehen!«
Andrä Egger wollte etwas erwidern, konnte es aber nicht, weil ihm ein innerliches Schluchzen die Kehle zuschnürte.
Aber es war ein Aufschluchzen vor Glück.
Erst, als er mit seinen Landsleuten schon draußen vor der Tür des Orangeriesaales stand und gedankenabwesend zwischen den Tannen hindurch den Koppenkegel in mittäglichem Glanze aufragen sah, kam ihm die Sprache wieder zu einem Loblied dieses Königs, hinter dessen kühler Hülle er das warmschlagende landesväterliche Herz verspürt hatte.
* * *
Der Erfolg dieser Unterredung wuchs sich zu einer großen Überraschung für die Zillertaler Gemeinde und für die Gräfin und Fleidl zu einer innigen Freude aus; denn außer Andrä Egger, auf dessen Rückkehr man sicher rechnen durfte, forderten etwa nur ein halbes Dutzend andre ihre Pässe zur Rückwanderung. Die andern von der Dreißigerschar um die Brüder Kreidl her wurden mit diesen andern Sinnes. Auch Joseph Kröll ward einmal ausnahmsweise Herr seines sonst unbelehrbaren, starrköpfigen Weibes.
Sehr viel zu diesem Umschläge trug das frische Leben bei, das unmittelbar nach der Audienz im Rosenkabinett auf den Bauplätzen der Erdmannsdorfer Flur einsetzte.
Da zeigte sich einmal deutlich im kleinen, was ein unmittelbar eingreifender Herrscherwille vermag.
An den Oberpräsidenten in Breslau, an den Regierungspräsidenten in Liegnitz und an den Königlichen Hausminister, dem die Verwaltung der Domäne Erdmannsdorf unterstand, waren königliche Handschreiben ergangen, die mit wahrer Blitzesschnelle Maurer- und Zimmermeister und ein kleines Heer von Bauhandwerkern, Maurern und Zimmerleuten auf die Beine brachten, dazu eine Schar Erdmannsdorfer Dominialarbeiter zum Handlangen.
Auch den künftigen Besitzern der Tirolerhäuser wurde jetzt gestattet, mehr als vorher selbst mit am Bauen zu helfen, und so entfaltete sich nun auf den nahezu fünfzig Baustellen ein schier fieberhaftes Treiben, um die Häuser wenigstens in ihren Wohnungsabschnitten bis zum Herbst unter Dach zu bringen.
Auch Fleidls Haus am Wiesenhange gegen den Gneisenauberg hin wuchs immer höher empor.
Mit nimmermüdem Eifer schleppte Fleidl Baumaterialien herzu, da er sonst nicht viel helfen konnte. Die Mitarbeiter am Bau fanden, er treibe es mit der Arbeit zu bunt und legten ihm das als Geiz und überflüssige Antreiberei aus. Sie wußten ja nicht, daß Fleidl jetzt die Arbeit ein Betäubungsmittel sein mußte.
Er hatte ja nun doch eigentlich, so mußte er sich selber sagen, alles erreicht, wozu ihn sein innerer Drang und das Vertrauen seiner Landsleute berufen hatten.
Aber nun konnte er sich dessen kaum freuen: es hatte ihn zu viel gekostet, dieses ›Gottes‹-Werk.
Marie Schieftl war die erste, der das auffiel.
»Du gehst umeinand«, sagte sie eines Tages, als sie sich beim Hausbau eingestellt hatte, um einmal seinen Fortschritt zu besichtigen, »Du gehst umeinand, wie einer, dem 's Korn ganz und gar verhagelt ist. Und Du hast's doch erzwungen, hast doch alles erreicht, was D' eh g'wollt hast. Nun liegen s' fest am Banderl, nun jeder an Haus und Acker z'schaffen hat.«
Fleid sah die grad heraus Redende einmal mit einem langen Blick fragend an, ob sie wirklich so harmlos sei und nicht wisse, daß er selber erst innerlich sich an Fesselung gewöhnen müsse, ehe er sich darüber freuen könne, daß die andern so hübsch ›am Banderl lägen‹. Da bemerkte er aber, daß sie in ihrer praktischen Art sich schon längst wieder äußerlicheren Dingen zugewendet habe, als sich länger mit seinem Gemütszustande zu beschäftigen: den Hausbau studierte sie in allen Einzelheiten.
Sie fand alles ganz hübsch und praktisch, was da geplant und ausgeführt war, nur zu klein sei das ganze Haus. Da werde man sich ja an allen Ecken und Enden die Hüften einstoßen, wenn man drin schaffen wolle, und sie als Hausfrau werde nicht wissen, wo sie mit ihren Sachen und Geräten zu bleiben habe in diesen Mauslöchern von Stuben, Kammern, Fluren und Kellern. Von den Ställen rede sie gar nicht, da habe sie eh' nichts zu schaffen. Für's Vieh zu sorgen, werde ja seine Sach' sein, wie sich's in einer Zillertaler Wirtschaft geziemt.
»Für mein'n Grundb'sitz ist das Haus groß genug!« erwiderte Fleidl. »Schier eh' schon zu stattli wird's für die paar Morgen Land.«
»Ja, warum hast halt so wenig g'kauft, Hannes?« fragte Marie Schieftl da, und ihre Stimme bebte in deutlichem Unmut.
»Sollt' i mi noch tiefer in Schulden stürzen, als eh' schon?« fragte er mißmutig zurück.
»Da wär' doch kein Schuldenmachen mehr nöti!« erwiderte sie, vorsichtig nach Worten suchend, die ihn nicht aufbrächten. »Jetzt, da wir miteinand' versprochen sind! Mein' i! Mein Vater hätt' schon noch ein Stück Geld parat liegen, wann er auch selber hier Land g'kauft hat.
»Das weiß i!« schnitt ihr Fleidl kurz die Rede ab. »Dafür ist Dein Vater ja der reiche Schieftlbauer. Aber was geht das mi an? I will nöt so dastehn, als nähm' i Di Deines Geld's wegen. Was hier an diesem Häusel und drum herum sein wird, das soll mein Hab und Gut sein und nöt erheiratet Frauengut. Verstehst? Und i hab' Dir schon g'sagt, wann D' mein Weib wirst, kannst D' Dir nöt auf ein Herrenleben verspitzen, sondern da mußt schaffen von früh bis spät, wie die andern armen Häuslerfrauen a!«
»Wer sagt denn, daß i's anders haben will?« schmollte Marie Schieftl und dachte dabei in ihrem Herzen: »Arbeiten und schaffen will i wohl, aber nöt die arme Häuslerfrau spielen. Da soll scho g'sorgt sein, daß i nöt lang' auf der Klitschen hier sitz'!«
Und ihre Gedanken schweiften nach dem großen, schönen Anwesen, das ihr Vater droben an der Seidorfer Grenze erworben hatte, wo nun schon ein stattliches Hofgebäude entstand, gegen den rauhen Bergwind geschützt durch eine aussichtsreiche Kuppe. Gar lange werde es dem Vater nicht mehr behagen, dort mit fremden Leuten zu wirtschaften. Dann werde sie ihm den Vorschlag machen: ›Tauschen wir! Nimm unser Häusel am Gneisenauberg' und setz' di darin zur Ruh' und laß Fleidl und mich auf dem Hof wirtschaften. Wir wollen ihn schon hoch bringen.‹
Mit solchen Plänen im Sinn konnte sie wohl ruhig zu Fleidls »damischen« Armutsstolze schweigen. Im Grunde gefiel er ihr ja gerade wegen seines aufrechten Stolzes, und daß er als einer der Ärmeren sich solche Führergeltung in der Gemeinde verschafft hatte.
Fleidls erregtes Gemüt aber hatte diese Unterhaltung empfindlich berührt. Er ließ, nachdem Marie Schieftl den Bauplatz verlassen hatte, die Karre stehen, mit der er den ganzen Vormittag Bausand aus der Eglitz herzugeschleppt hatte, und ging hinauf an die Straße zu seinem Nachbar Johannes Lublasser, dem Zimmermann, wo er sich nach Verabredung mit der Gräfin zu einer Besprechung treffen wollte.
Sie hatte gestern die Absicht ausgesprochen, am frühen Nachmittag zu Bartholomäus Fankhäuser zu sehen, der an Lungenentzündung krank lag, und von da zu Lublasser, um die Schnitzerei zu besichtigen, die der kunstfertige Mann an der Vorderseite der Galerie seines Hauses über der Tür anzubringen gedachte.
Als Fleidl sich dem Hause näherte, das wie alle neuen Zillertaler Siedlungen vereinzelt lag, sah er schon die Isabellen halten und in ihrer gewohnten Weise abwechselnd langsam die Köpfe neigen.
Vor dem Hause auf der Wiese aber fand er Lublasser bei der Arbeit an seinem Schnitzwerk. Er hatte die für die Galerie bestimmten Verschalbretter wagerecht auf den Rasen gelegt und schnitt nun aus dem harzigduftenden Kiefernholz nach einer Vorzeichnung große Buchstaben heraus. Schon stand in tiefem Kerbschnitz sauber herausgearbeitet:
GOTT SCHÜTZE UNSERN KÖNIG FRIEDRICH W ..
Über dem W zu ›Wilhelm‹ mühte er sich eben, und die Gräfin saß neben ihm auf einem Schemel in der warmen Septembersonne und sah aufmerksam durch ihre Stielbrille zu, wie er mit seinen fleißigen, geschickten Fingern die recht groben Meißel und Stichel handhabte.
Erfreut hieß sie Fleidl willkommen und begann gleich, von ihrem Besuche bei Fankhäuser zu sprechen.
Es habe sie geradezu erbaut, wie der starke Mann, der gleich einer gefällten Eiche in seinem Bette lag, die ungewöhnlich großen Hände über der Brust gefaltet, aus der er den Atem nur stoßweise heraufbekommen konnte, Gottes Gnade pries, daß sein Haus droben am Arnsdorfer Walde zuerst unter Dach gebracht worden sei, so daß er nun im eigenen Hause sein Krankenlager haben könne.
Der Zimmermann hörte dem allen stumm zu, fleißig an seinem Schilde weiter schnitzend. Ein ehrliches Verwundern erfüllte ihn, daß die vornehme Frau, bei der der Preußenkönig und sein Bruder und hochgeborene Fürsten, Grafen und Herren ein- und ausgingen als bei einer guten Freundin, hier neben ihm saß und mit ihm plauderte, nicht anders, wie die Nachbarin Oblasser, nur daß sie nicht klatschte und auf die Leute schalt wie diese, sondern bloß Gutes und Liebes an ihrem Tun zu loben fand.
Fleidl aber, der sich dieses Verwundern längst abgewöhnt hatte, brachte nun vor, was er mit der Gräfin in Gemeindeangelegenheiten zu besprechen hatte. Es geschah das – wie immer – mit solcher Übersichtlichkeit und Klarheit im Ausdruck, daß die Gräfin bei sich denken mußte: »Was für ein seltener Mann ist dieser Fleidl doch! Da steht er vor mir in einem Anzuge von allergröbstem Stoff, von unten bis oben verstaubt und schmutzig, verschwitzt und ungepflegt, ein richtiger Arbeitskuli! Und wenn er den Mund auftut, versinkt sofort die Schranke, durch die man sich beim Anblick seines ärmlichen Äußeren von ihm getrennt wähnt. Das ist wohl das Geheimnis der Männer voll rechter Tatkraft und schöpferischen Geistes. Ich kann auch für den Oberpräsidenten kein größeres Interesse aufbringen, als für diesen Bauern-Pantoffelmacher, wenn er mit mir Geschäftliches und Organisatorisches so glatt erledigt.«
Ähnlich wie damals beim Turmeinsturz erfaßte sie in der nächsten Minute eine starre Verwunderung; denn in diesem Augenblick bog von der Straße her eine Extrapost zu dem Isabellengespann herüber, und deren Insasse war – ihr grimmer Gegner, an den sie eben so unvermittelt gedacht hatte. Ein Herr mit einer mächtigen Aktenmappe entstieg nach ihm dem Wagen.
Gar nicht grimmig, sondern mit kavaliermäßiger Artigkeit, über die er wohl verfügen konnte, wenn es ihm angebracht und lohnend erschien, näherte sich der Oberpräsident der Gräfin, stellte seinen Begleiter als den Oberbaurat der Regierung vor und erklärte, sie kämen heut eigens hierher, um den Bau der Zillertaler Häuser zu beschleunigen. Welche Wünsche Exzellenz in dieser Beziehung noch hege, fragte er mit bestrickender Liebenswürdigkeit.
Da dachte die Gräfin bei sich: ›Welch ein Gegensatz zu seinem ungezogenen Benehmen jüngst an meinem Tische! Da muß ein gewaltiger Wind von oben hinterher geblasen haben! Um so besser!‹
Und sie bat nun, daß wenigstens die Hälfte der Häuser vor dem Winter unter Dach gebracht werden möchte, worin Fleidl auf ihre Anregung hin freudig einstimmte.
»Wie? Nur die Hälfte?« fragte der Oberpräsident lächelnd. »Nein, nein, dabei lassen wir's nicht bewenden. Nicht wahr, Herr Oberbaurat? Alle 46, die da in Angriff genommen sind, müssen's sein! Nicht nur, weil Seine Majestät es befehlen, sondern weil es nach Lage der Dinge das einzig Vernünftige ist. Und seien Sie nur ohne Sorge, Exzellenz, es soll schon geschafft werden! Wir werden hier mal ein wenig unter die Baumenschen hineindonnern, daß es ja schnell gehen soll! Sie sind der Deputierte Fleidl, nicht wahr?« wandte er sich nun an diesen, der inzwischen bescheiden zur Seite getreten war und scheinbar gespannt Lublasser bei seiner Schnitzarbeit zuschaute. »Muß Ihnen meine besondere Anerkennung aussprechen, daß Sie Ihr Kriegsvolk so fest beisammen gehalten haben. Denn wenn Sie nun einmal hier bleiben, liegt uns natürlich daran, daß die Gemeinde nicht zu klein wird, weil sie sonst wirtschaftlich ohnmächtig ist. Nun, ich denke, die Sache soll sich in jeder Beziehung gesund entwickeln und dem Tal und der ganzen Provinz zum Segen gereichen. Also, Herr Baurat, beginnen wir mal mit unserm Rundgange durch die Baustellen. Der Herr Deputierte führt uns vielleicht dabei!«
»Gern, Herr Oberpräsident!« rief Fleidl erfreut und ging nun, nachdem sich dieser sehr verbindlich von der Gräfin verabschiedet und um die Erlaubnis gebeten hatte, am nächsten Vormittag noch einmal in Buchwald vorsprechen zu dürfen, mit den beiden Herren Adam Eggers Hause zu, das nur einige hundert Schritt von Lublassers Anwesen entfernt lag.
Die Gräfin aber fuhr heimwärts, ganz erfüllt von Dankbarkeit gegen den, der die Herzen auch der Mächtigen dieser Erde lenkt wie Wasserbäche. –
Und weil es die schöne Eigenart des beglückten Frauenherzens ist, die Beglückung gleich weiter zu strahlen auf andere, sann sie schon auf der Heimfahrt, wie sie's wohl bewerkstelligen könne, daß Fleidl und Sara doch noch zusammenkämen. Denn, daß aus der Verbindung mit Marie Schieftl nicht viel Heilsames ersprießen könnte, war ihr schon lange klar geworden.
»Er versteint mir gar zu sehr, der sonst so offenherzige Mann«, dachte sie, »wenn ich einmal auf dies Verhältnis anspiele.
Wissen muß ich freilich erst einmal, wie sich Sara nun zu ihm stellt.«
Darüber erhielt sie eine ungeahnt schnelle Aufklärung, als sie nach ihrer Heimkehr mit der Schwester Karoline im Pavillon beim Abendbrot saß und ihr treulich die Erlebnisse des Nachmittags berichtet hatte.
Auch die Schwester war glücklich, daß Einwirkungen, die sie gar nicht im vollen Maße überschauen konnten, den Widerstand des Oberpräsidenten gegen die Ansiedlung der Zillertaler überwunden hätten. Denn seine Gegnerschaft würde auch nach der Begründung der Kolonie dieser keineswegs zuträglich gewesen sein und allen die Weiterarbeit recht erschwert haben.
Und als nun die Gräfin auch ihren Fleidl-Beglückungsplan vor der Schwester auskramte, wie's ja zwischen diesen beiden gar nicht anders sein konnte, da ging ein frohes Leuchten über Karoline von Riedesels mildes, bleiches Gesicht.
»Siehst Du, liebe Fritze,« sagte sie lächelnd, »da habe ich nun einmal rascher vorgebaut als Du, die Du sonst immer die Schnellere bist!«
Und nun erzählte sie, wie sie jüngst die Sara in der abseitigen Wäschekammer beim Wäscheausbessern mit dick verweinten Augen gefunden habe. Sie habe sich neben sie gesetzt und tröstend auf sie eingesprochen, ihr auch gut zugeredet, sich ihr bedrängtes Herzchen durch eine offene Aussprache zu erleichtern. Und da habe denn die Sara schließlich gestanden, daß nicht der Gram um den plötzlichen Tod ihres Versprochenen der Grund ihrer Tränen sei. Vielmehr weine sie die Tränen Fleidl nach, der sich mit Marie Schieftl versprochen habe.
Sie habe ihn immer schon geliebt, so lange sie denken könne, schon daheim im Zillertal, und sie habe früher auch immer geglaubt, er warte nur, bis sie zu ihren richtigen Jahren gekommen sei. Dann werde er um sie freien. Aber seit der Rückkehr aus Berlin, damals, als er beim Preußenkönig für sie alle gebeten habe, sei er ganz verändert für sie gewesen, so hart und abweisend. Sie sei ihm wohl nun nicht mehr klug und reich genug erschienen in ihrer Jugend und Armut, und so habe er sich langsam der Marie Schieftl zugewendet, die ja freilich viel älter, aber wohl auch klüger und sicherlich viel reicher sei als sie.
Aber auch hier noch habe sie, die Sara, immer weiter gehofft, er werde sich noch besinnen. Deshalb habe sie den Ignatz auch immer so hingehalten, und mit dem habe sie sich schließlich nur aus Trotz versprochen, weil sich Fleidl mit der Marie Schieftl verlobte.
Sie hätte nun, nachdem Ignatz verunglückt sei, gerne von hier fortgewollt. Aber ihr Vater möchte nicht. Wie sie's nun aber ertragen solle, mit anzusehen, wie Fleidl und Marie in dem schmucken Hause am Gneisenauberge wirtschaften würden, das wisse sie nicht.
»Da fragte ich sie,« fuhr Karoline von Riedesel in ihrer Erzählung fort, »was sie tun würde, wenn sich Fleidl vielleicht doch noch wieder zu ihr zurückfinden sollte?«
»O«, erwiderte sie schluchzend, »das g'schieht nöt! Dazu ist er ein zu ehrenwerter Mann. Der läßt d' Marie nöt sitzen, nachdem er sich einmal öffentlich mit ihr versprochen hat.«
»Und wenn ihn Marie frei gäbe?« fragte ich.
»Die? Ihn frei geben? Na – das tut sie nöt!« rief Sara hastig. »Die nöt! Die haltet wohl fein fest, was sie einmal hat.«
»Und wenn sie's doch täte?« drängte ich. »Würdest Du ihn dann zurückweisen, wenn er um Dich würbe?«
»Wie könnt' i denn das z'stande kriegen?« flüsterte sie und beugte ihr schwarzes Köpfchen tief auf die Leinwand herab. »I hab' ihn ja so lieb!«
»Liebe Karoline!« rief da die Gräfin und sprang hastig von ihrem Stuhle auf. »Da bringst Du mich auf einen guten Gedanken! Das ist der richtige Weg! Wir müssen die Marie Schieftl dazu bringen, daß sie Fleidl freigibt. Denn wir dürfen's nicht mit ansehen, daß hier drei Menschen unglücklich werden für's ganze Leben.«
»So dachte ich auch schon, liebe Fritze, seit mir Sara das gestand!« stimmte Karoline gewohnheitsmäßig zu. »Aber wie fangen wir's an, daß diese Marie Schieftl – Sie scheint mir doch ein sehr energisches Menschenkind zu sein.«
»Ist sie auch!« stimmte die Gräfin zu. »Aber ich halte sie für großherzig. Ihr Verhalten damals in der Cholerazeit spricht dafür. Ich denke, wir lenken noch alles zum Guten, und unser Herr im Himmel wird uns nicht dafür ansehen, als daß wir ihm in seine Schickungen hineinpfuschen.«
»Das schwerlich!« sagte Karoline von Riedesel nachdenklich und nickte herzlichste Zustimmung. –
* * *
Zwei Tage später erhielt Marie Schieftl durch Kriegel die freundliche Aufforderung, sich doch mal zu einer dringenden Besprechung bei der Gräfin Reden einfinden zu wollen.
Eine ganze Stunde lang saß das Mädchen bei der Gräfin im Kinderzimmer des Wiesenhauses, wo man so abgeschlossen von aller Welt plaudern konnte. Und als sie dies Wiesenhaus verließ, glänzten ihre Wangen hochrot vor innerer Erregung, und ihre Augen waren feucht, wie sie ihr Vater seit dem Tode der Mutter nicht mehr gesehen hatte.
Mit raschen, entschlossenen Schritten ging sie der Stadt zu, als habe sie Eile, eine hochwichtige Sache zu erledigen.
Und so war's ja!
Marie Schieftl war entschlossen, schnell zur Ausführung zu bringen, was sie nach hartem Widerstreben schließlich doch der guten, alten Gräfin, die so dringend zuzureden und zu überzeugen verstand, in die schmale, weiße Hand gelobt hatte: sie wollte Fleidl von seinem Verspruchswort entbinden.
Aber so ließ sich das nicht machen, wie die Gräfin sich's dachte!
So war's ihr, der Marie Schieftl, nicht möglich!
So einfach zurückzutreten, weil sie des Glaubens sei, eine andere werde ihn glücklicher machen, und dann etwa gar noch still mit zusehen sollen, wie er die andere heimführte, nein, das ging über ihre Kraft. Dazu war sie nicht selbstlos genug. Und das gestand sie sich auch ehrlich ein, wie sie nun so über die Wiesen heimwärts stürmte. Und auch nicht »fromm genug«, um so etwas nur um Gotteswillen zu tun, wie's die Gräfin ihr nahegelegt hatte.
Wenn sie zurücktrat, mußte es so aussehen, als sei sie die Gekränkte.
Und hier bleiben mochte sie dann auf keinen Fall. Hundert und aber hundert Meilen mußten zwischen ihr und ihm liegen, der ihr dies junge, armselige Ding von Sara vorgezogen hatte!
Sie furchte die Stirn über der männlichen Nase, scharf nachsinnend, wie sie's anfangen solle, mit ihm auseinander zu geraten.
»So geht's!« rief sie halblaut entschlossen vor sich hin, als sie eben die untersten Häuser der Stadt am Schlüsselberge erreicht hatte. »Viel schwer wird's halt sein, den Vater jetzt wegzukriegen, nun ihm scho das neue Fleckl g'fallt, da sein Hof stehen soll. Und dann – wer soll's ihm abkaufen?«
Darüber krampfhaft nachsinnend, betrat sie ihr Stübchen, das zunächst noch, bis zur Fertigstellung des Wohnhauses am ›Schieftlberge‹ draußen im Zillertal ihr Unterschlupf blieb.
Der Vater war noch nicht zurück von der Baustelle, auf der er von früh bis spät mit herumwirtschaftete. Auch das Gespann hatte er tagsüber mit draußen beim Bau; am Abend fuhr er mit ihm zur Stadt zurück.
Teils gewohnheitsmäßig, teils, um sich Ablenkung zu verschaffen, begann Marie Schieftl die Vorbereitungen zum Abendbrot.
Da polterte es eilig die Treppe herauf, und die hübsche Anna Wechselberger steckte den Kopf zur Tür herein.
»Ach, Marie,« rief sie eintretend, »gut, daß D' z'ruck bist! Denk' bloß mal an: Dein Ohm Georg ist kommen! Heut Nachmittag kam er d' Stadt herunterg'fahr'n mit sein'n Kindern.«
»Not mögli!« erwiderte Marie ungläubig. »Du willst mi wohl frotzeln? Der Ohm Georg? Der kommt sicher nöt! Er möcht' scho! Aber sei' Frau, die kommt nöt mit! Ist ja streng katholisch. Und ohne sie wagt's der Ohm nöt der Kinder wegen.«
»Könnt' scho sein!« erwiderte Anna, politisch lächelnd. »Aber weißt', 's g'schehn manchmal Wunderding. Verschreck Di nöt, Marie: Dein' Tanten ist tot! Im Kindbett g'storb'n! Und da hat's Dein'n Ohm nöt länger im Zillertal g'litten. Nach ist er uns! Mi g'freut's! Denn i hab die Judith gar z' gern mit ihren schwarzen Zöpfen und schwarzen, frommen Augen. Mi g'freut's, daß i mei G'spiel wieder hab. Aber, wer weiß, ob's hier bleib'n könn'n! Mein Vater sagt, 's wär' doch nun schon aller Grund und Boden drauß' im neuen Zillertal verteilt. Und fort will doch nu auch keiner mehr, nun d' Häuser bald fertig sind.«
Marie Schieftl sah die hübsche Schwätzerin mit so weit geöffneten, starren und geistesabwesenden Augen an, daß es dieser ganz gruselig wurde, so daß sie schnell, wie sie gekommen war, auch wieder hinausschlüpfte.
In Marie wogte es wild auf und ab.
Das war ja gradezu ein Wink des Himmels.
Dieser Ohm Georg kam ja wie gerufen und bestellt.
Da fand sich ja sofort der geeignetste Abnehmer für das neu erworbene Anwesen draußen in Hohen-Zillertal! Ohm Georg würde es ohne jedes Zögern übernehmen; denn es entsprach ganz seinen Wünschen.
Er hatte eine fast krankhafte Neigung für freie Luft und Sonne. Nun, droben an der ›Schieftlhöhe‹, bot sich ihm beides in Fülle. Und Obstbäume konnte er da auch nach Herzenslust ziehen wie daheim in Hollenzen! Denn auf dem Hügelhange hinterm Hofe würden sie trefflich in der schönen Sonnenlage gedeihen.
Drum war sie auch entschlossen, »der ganzen Sach' ein schnelles Ende zu machen.«
»I will's ihm auch leicht machen, dem Hannes, nachher, wann i fort bin, bald zu der andern zu gehn und sie in sein Häusel z' holen, das mir eh' z' eng gewesen wär'!« sagte sie und kämpfte tapfer einen leisen, rachsüchtigen Widerstand gegen diesen Entschluß in sich nieder.
Rasch wie im Entschließen erwies sie sich nun auch im Handeln.
Gleich nach dem Abendbrot überwand sie in schnellem Anlaufe den Widerstand des Vaters gegen den Verkauf der verheißungsvollen Stelle an der ›Schieftlhöh‹ und gegen die Rückwanderung in die Steiermark.
Und eine Stunde später, als Fleidl die Nachricht von der unverhofften Ankunft Georg Schieftls und seiner Kinder in die Wohnung seiner Verlobten trieb, stellte sie ihm in Gegenwart des Vaters die Wahl: entweder sie oder das armselige Häusel.
»Uns beide,« sagte sie gepreßt, »mi und die enge Kaluppen, wo i mir d' Hüften einstoßen tat, uns beide bringst nöt zusammen! Ehnder kannst Dein Verspruchwort z'ruck haben, Hannes. Was D' mit dem Verspruch hast erreichen g'wollt, is eh' ja erreicht«, fügte sie, ihren Ausfall gegen ihn absichtlich vergiftend, hinzu. »Du hast sie ja hier festg'halten, die dazumal mit uns z'rück wollten ins Österreich.« Die Giftpille wirkte, wie sie wirken sollte. Fleidl sah die Marie eine Weile lange und starr an, und dabei schwollen ihm die Adern am bloßen Halse fingerdick an.
Marie mußte wegsehen: er erschien ihr in dieser männlich-gefaßten Art gar zu gewinnend und so recht zu ihrem eigenen Wesen passend.
Er aber dachte bei sich: »Das soll eine Prob' sein, wer der Stärkere von uns beid'n ist! Gib i in diesem Ding' nach, dann ist's für immer aus mit meinem Manns-Ansehen. Wann i aber nöt nachgebe, dann ist's am End' ganz aus zwischen uns. Ob s' das etwan gar haben will? Scheint mir eh' so, sonst hätt' s' die ganze Sach' wohl nöt gar vor dem Alten aufig'tischt!«
Nun, wenn sie das wollte, sollte sie ihren Willen haben!
Als er blitzschnell zu diesem Entschlusse kam, war's ihm, als ob ein enger, pressender Reifen, der ihm seit Wochen die Brust umklammerte, plötzlich zerspränge.
»Du willst mi los sein, Marie,« sagte er und zwang seine bebende Stimme zur Festigkeit. »Weiß Gott, weshalb! Den G'fallen kann i Dir scho tun. Und so bitt' i Di halt: gib mir mein Verspruchwort z'ruck!«
»Du hast's!« sagte sie, und kein leises Schwanken ihrer Stimme verriet den Aufruhr, den sie jetzt in sich niederdrückte.
»Nun – dann – b'hüt Gott mit'nand!« grüßte Fleidl tonlos und tastete nach seinem Hut. »Und – Gott lohn's Euch auch, daß Ihr mir g'holfen habt, unsere Leut' hier festz'halten. Denn das – das ist mir freili eine wichtige und heilige Sach' g'wesen. Und i hab' glaubt, daß es kein Unrecht nöt ist, wenn – – doch g'nu! – Pfüt s' Gott!« – – – –
Als er gegangen war, stieß der alte Schieftl einen brummenden, mißbilligenden Laut aus, der eine deutliche Verurteilung seiner Tochter ausdrückte. Dann ging er schwerfällig hinaus, um mit seinem viel jüngeren Bruder über den Verkauf zu verhandeln.
Kaum hatte sich hinter ihm die Tür geschlossen, brach Marie auf einem Schemel nieder, warf die Arme weit über die Tischplatte hin und drückte das heiße Gesicht krampfhaft auf sie.
Ein leidenschaftliches Schluchzen durchschüttelte den starken, blühenden Körper des Mädchens, dessen widerspruchsvolles Wesen so typisch war für die ganze Bauerngemeinde, um deren Gedeihen und Heil der eben Verschmähte so viel rang und litt.
* * *
Länger als ein Jahr war seitdem verstrichen.
Man schrieb den 14. Juni 1840.
Es war ein sehr heißer Tag gewesen, wie sich ihn die Zillertaler gerade so zum Heuen wünschten.
Fleidl hatte auf der Wiese vor seinem Hause auf den Geisenauberg zu mit seinem jungen Weibe den ganzen Nachmittag rastlos gearbeitet.
Sara rechte das duftende Heu zu hohen Haufen zusammen, und Fleidl fuhr es im Handkarren über die Wiese und die schräge Auffahrt zum Heuboden hinaus.
Jedesmal, wenn er von ihr weg fuhr, den Karren kraftvoll vor sich her den Wiesenhang hinaufstemmend, sah ihm Sara ein Weilchen versonnen nach, und um ihren kecken Mund spielte dann ein weiches Lächeln tiefinnerlichen Beglücktseins.
Und wenn er nach einer Weile in der breiten Türlücke des Hausbodens wieder aus dessen schwarzen Schacht auftauchte, grüßte er mit einem lauten Juchzer zu dem jungen Weibe hinunter, dem dabei regelmäßig eine jähe Glücksröte schier schamhaft in die Wangen schoß. Denn sie fühlte bei diesem Anruf jedesmal in ihr sich ein junges Leben regen, gleichsam als wolle das seinem jauchzenden Vater entgegenhüpfen.
Und da konnte Sara Fleidl es der guten Mutter dort drüben hinter den hohen Parkbäumen gar nicht genug danken, daß sie's in die Hände genommen hatte, sie halb und halb wider ihren Willen mit diesem Mann zu »verkuppeln«.
Nun, sie hatte sich ja auch nicht ernstlich gespreizt gegen den Bund, den sie im heimlichsten Innern ja immer als ihr größtes Glück ersehnt hatte.
Mit verträumten Blicken, in denen so viel warme Hingabe schwamm, wie's wohl kein Mensch, der sie früher gekannt hatte, der schnippischen Sara Bagg zugetraut haben würde, umfaßte sie den gereiften Mann, der mit so jugendlicher Elastizität den schweren Karren über die Wiese schob, das trauliche neue Häuschen, das zur Klause der schönsten Glücksstunden ihres jungen Lebens geworden war, den ganzen grünen Hang, hinter dem sich das sonnenbeglänzte Gebirge mit seinen hohen Zinnen aufbaute. Und unwillkürlich mußte sie des frischen Lebens gedenken, das überall in der jungen Kolonie da drüben auf der grünen, fruchtbaren Aue zwischen den Riesenbergen sich regte, wie in ihr, der jungen Zillertaler Mutter. – –
»'s ist doch arg heiß heut!« rief ihr Fleidl lachenden Mundes zu, während er den Karren hart auf den Wiesenboden aufplumpsen ließ und sich mit dem weißen Hemdärmel den Schweiß von der Stirn wischte. »I wett', 's kommt zur Nacht noch ein Wetter! Sollt'st di wohl ein lützel abrasten, Sara, daß Dir das G'schuft' nöt etwa gar schaden tät!«
Es trat so viel bange Besorgnis in seine guten Augen, daß sie aus hellem Halse zu lachen anhob.
»Tust grad', Hannes, als ob i 'ne Zuckerpuppen wär'!« rief sie. »I bitt' Di: 's Heuen sollt' mir schaden, wann auch d' Sonn' ein lützel arg brennt? Na – so 'ne Prinzess'n bin i doch au nöt, wannst mi auch arg viel verwöhnst.«
Nun lachte auch er beruhigt mit, zog aber die leicht Widerstrebende zu sich auf den Karrenrand nieder und haschte nach ihrer rundlichen Hand.
»'s is doch gewiß schön dahier, Sara! Nöt?« fragte er. Und als sie kurz nickte, fuhr er sinnend fort: »Und doch hat's so'n Müh' und Schweiß g'kostet, die Lachels hier fest z'halten! Gar arg viel Müh! Und am End' wär's gar bald fehlg'schlagen vor lauter Heimwehseuch'n. Aber i denk', nun sind wir ganz über'n Berg weg! Nun's scho zum zweitenmal zum Heuen kommt auf dem neuen Grund und Boden, da verwachsen's, mein i, immer fester mit ihm. Denn darauf kommt's doch an, daß der Mensch einwachst in den Boden, der ihn trägt und nährt, aus dem ihm sein tägli Brot und seine Sorgen erwachsen und seine Kindern, Sara, seine Kinderln dazu. Meinst nöt auch?«
Sie nickte einmal kurz mit ihrem niedlichen Köpfchen und sah scheu-verschämt zu ihm auf.
Je länger sie seine stetige und sich immer gleichbleibende Güte und Tüchtigkeit aus nächster Nähe anschauen konnte, desto mehr wuchsen in ihr Zutrauen und Verehrung dem verläßlichen Manne gegenüber.
Er sah sich jetzt prüfend am Himmel um, an dem sich über dem Gebirgskamme schnell dunkle Wolken zusammenballten.
Deshalb faßte er nun noch eifriger als vorhin an, äußerte aber kein Wort der Besorgnis, das Wetter könne vor dem Bergen des Heus losbrechen, um Sara nicht zur Eile anzuspornen: er war jetzt ängstlich bemüht, Anstrengungen von ihr fernzuhalten.
Sie merkte aber recht gut, was er dachte und bezweckte, und um ihre frischen Lippen erschien wieder das Lächeln warmherziger Rührung von vorhin: die zarte Rücksicht, mit der dieser Bauer sein junges Weib umgab, hatte ihm nicht zuletzt in ihrer kurzen Ehe eine so unbedingte Herrschaft über die einstmals so Kecke erobert.
Eben, als die junge Frau ihre fleißige Arbeit wieder aufnehmen wollte, kam von der höher gelegenen Straße ihr ›Hätschelhans‹-Bruder quer über die Wiesen gesprungen. Er überschlug sich fast vor Eile und Übermut und warf sich der Schwester, die er täglich zu besuchen pflegte, so stürmisch um den Hals, daß Fleidl unwillkürlich auf die beiden zutrat, um Schaden zu verhüten.
Aber sie nickte ihm beruhigend zu, löste die Arme des stürmischen Jungen von ihrem Halse und drückte ihm einen kleinen Rechen, den sie schon bereit gehalten hatte, in die rundlichen Hände.
Ohne Sperren und sehr geschickt griff der Kleine an, aber schon nach wenigen Minuten begleitete er seine Arbeit mit lautem Geschmetter aus seiner Kehle, die von Woche zu Woche an Stimmkraft zunahm.
Mit einem glücklichen Lächeln lauschte die junge Frau dem triebhaften, unermüdlichen Gesange des Sechsjährigen, dessen kleine Brust wohl hätte bersten müssen, wenn er nicht ihre Liederfülle in der Freiheit dieses Bergtales so ungestört hätte ausströmen lassen dürfen.
Leichtbeschwingt von ihr, schafften nun die Drei mit verdoppeltem Eifer am Heuen, und so verschwand ein Haufen nach dem andern hinter dem dunklen Schachte der offenen Bodentür, während sich über dem Gebirge das Gewölk immer schwärzer auftürmte. Und ehe der erste Donner des lange vorher von Fleidl gespürten Gewitters über das gesegnete Tal hingrollte, war die Wiese abgeerntet.
Viel stärker angestrengt, als sie's ihrem Manne zeigen wollte, schleppte jetzt die junge Frau ihre müden Beine dem Wiesenhang zum Hause hinauf, den immer noch unablässig tirilierenden Bruder an der Hand führend.
Kaum hatten die beiden den engen, ziegelgepflasterten Hausflur betreten, als draußen auch schon das Wetter mit plötzlicher Wucht und so rasend losbrach, wie Sommergewitter in dem Hochkessel zu toben pflegen.
Hansel Baggs Gesang riß plötzlich ab, wie durchgeschnitten, und mit angstvoll aufgerissenen Augen klammerte sich der Junge an die vergötterte Schwester.
Eben wollte sie ihn in die benachbarte Wohnstube führen, da schlurften auf den Steinfliesen unter dem vorstehenden Dache vor der Haustür eilige Schritte, und im Rahmen der Tür erschien Andrä Egger, schon pudelnaß durchgeregnet.
»Grüß Gott!« rief er atemlos, das Wasser von seinem spitzen Hute schleudernd, daß es bis gegen die Küchentür spritzte. »Habt's einen Unterstand? Das is 'n Wetter! Sakra, sakra! Und so eili kommt's daher, schwer, grad so wie daheim, bei uns daheim, wenn sich's am Brandberg z'sammenbraute.«
Mehr erheitert als verdrießlich stieß er das alles hervor, nach Atem ringend. Denn er war schnell vor dem angrollenden Wetter am Gneisenauberge hingelaufen, auf dem Rückwege nach seinem Hause droben an der Straße von Buchwald her, wo er bei der guten Mutter zu schaffen gehabt hatte, wie er nun abgerissen erzählte.
Nur mit Mühe konnte ihn Frau Sara in die Stube hineinbekommen: er wollte ihr durchaus die frischgescheuerten Dielen nicht naß und schmutzig machen. Als er aber endlich hineingenötigt war, schaute er sich mit Behagen in dem geräumigen Zimmer um, dessen Balkenwände in frischem, grauem Ölanstrich reinlich glänzten und das neue Kachelofenungetüm mit seinem grünen Bankumbau, sowie die ganze funkelnagelneue, schlichte Möbelausstattung wohlig umhegten.
»Ganz wie daheim im Tirol!« murmelte er und nickte mehrfach mit seinem komischen Vogelkopf in drolliger Ernsthaftigkeit. »Ganz wie daheim ist's dahier!«
In diesem Augenblick trat Fleidl in die Stube, die eben ein Blitzstrahl so hell durchleuchtete, daß der kleine Hansel aufschreiend sein Gesicht in die Röcke der Schwester drückte. So laut krachend folgte dem Strahl ein lang nachgrollender Donnerschlag, daß Fleidl zunächst gar nicht sprechen konnte.
Dann begrüßte er Andrä Egger mit kräftigem Handschlag und sagte: »Mi wundert's, was das z' bedeuten hat: in Lomnitz läutet's vom Turm. Ist doch sonst nöt Sitte hier beim Wetter.«
»Kann Dir's eh sagen, was das z' bedeuten hat, Winkelhansel«, erwiderte Andrä unsicher. »Mußt Di aber nöt z' arg verschrecken! In Buchwald haben die Glocken a g'läutet, grad als i von dort wegging. Der gute König ist g'storben. I hab's von unserer guten Mutter in Buchwald.«
Fleidl erbleichte, so daß Sara unwillkürlich einen Schritt näher trat und besorgt ausrief: »Hansel, erschrick Di nöt!«
»Je scho wieder gut, Sara!« sagte er beruhigend, sich mit großer Gewalt fassend. »Der gute König tot! sagst, Andrä? Tot soll er sein! Hm, das scheint mi just kaum mögli, so g'nau seh i ihn noch vor mir, g'sund und blühend. Freili, bei Jahren war er halt sehr!«
»Das möcht' sein, Winkelhansel!« stimmte Andrä hastig zu. »Und sein Sohn, der neue König, soll ja a ein frommer Mann sein. So sagt die gute Mutter! Der wird uns nöt verlassen noch versäumen.«
»Sicher nöt!« rief Fleidl aufatmend. »Und zuletzt hab'n wir all'weil ja auch noch den himmlischen König zum Verlaß, von dem Dein Sprüch'l erst recht gilt, Andrä. Also lassen wir fein nöt den Mut sinken! Aber trauern darf man scho recht brav über den toten König! Denn's ist, als ob wir unsern Vater verloren hätt'n, wir fremden Landgäst', und nun bleibt uns nur noch unsere gute Mutter in Buchwald z'ruck. Ist's nöt auch grad, als ob die Natur frei verzürnt wär' über sein'n Tod? Hört doch bloßi!«
Eben hatte wieder ein Donnerkrachen alle Scheiben im Hause erzittern lassen.
Nun hörte aber plötzlich wie abgerissen der Regen auf, der bisher in Sturzbächen niedergeprasselt war, und der Himmel hellte sich schnell wieder auf, während der Donner in der Ferne gegen Hirschberg hin vergrollte.
»Ja, Grund zum Trauern hätt' ma schon bei diesem Abschied!« stimmte Andrä Egger nachdenklich zu. »Er hat's gut mit uns g'meint, der Preußenköni. Und i – i hab' ihn ins Herz g'schlossen, seit der Stund'n in Buchwald, wo er mir den Paß zug'sprochen hat, daß i ins Tirol reisen und meine Blond- und Schwarzköpperln wiederseh'n durft'. G'traut hat er mir, daß i wiederkomm'! Und das vergiß i ihm nöt!«
»Hast ja auch Wort g'halten, Andrä! Und das vergiß i Dir nöt!« sagte Fleidl mit deutlicher Bewegung in seiner ruhigen Stimme.
»Das wär' noch schöner, wann i mein Wort brechen sollt'!« erwiderte der Kleine mit Festigkeit. »Aber die Reis' hat scho ihren guten Nutzen g'habt. I bin seitdem doch die schreckliche Seuchen los. Das Heimweh ja noch lang nöt! Das werd' i a b'halten bis an mei End'. Aber doch die Heim seuchen! Und wenn mir's wieder amal z' bunt wird mit dem Gezaus' da drin nach'm echten Zillertal, na, dann mach' i mi wieder auf d' Strümpf' und b'such mein Blond- und Schwarzköpperln wieder und mein brav's Weib dazu. Denn brav is sie, wenn s' auch katholisch g'blieben ist!«
»Ganz recht, Andrä!« stimmte Fleidl zu. »So denk' i a. Aber deshalb meinst doch a, daß D' dahier hin g'hörst, ins neue Zillertal?«
»Natürli mein' i das!« bestätigte der Kleine voll Überzeugung. »I g'hör hierher und ins Land des guten Preußenkönigs, der uns aus dem G'wiffenszwang g'rettet hat.«
»Für dös Wort b'dank' i mir bei Dir, Andrä!« sagte Fleidl fast feierlich und drückte dem Kleinen kraftvoll die Hand. »Und i bitt' Di: sag das Wort den andern a, die manchmal noch mit beid'n Augen ins Östreich z'ruck schielen, als hätten's da bei den Fleischtöpfen Ägyptens g'sessen!«
»Das will i schon fleißi tun!« versprach Andrä Egger und schickte sich zum Gehen an.
Fleidl begleitete ihn zum Hause hinaus, und Sara folgte den Männern bis zur Haustür mit Hansel, der sich eng an ihre runde Hüfte schmiegte.
Draußen lachte schon wieder die Sonne auf das nasse Strauch- und Baumwerk und auf die abgeerntete Wiese nieder, Millionen von Wasserperlen in glitzernde Rubinen und Smaragde verwandelnd.
Eine so köstliche Frische hauchte das Wald- und Wiesengefilde aus, daß sich die Brust der ins Freie tretenden Männer unwillkürlich weitete, wie von schwerem Drucke befreit.
»Ach, dös tut wohl!« rief Andrä Egger. »Und dös is nu ganz so wie daheim am Ziller, wann's Wetter sich verzogen hat.«
Fleidl nickte zustimmend und ließ die Blicke von der hohen Haustürschwelle wie einheimsend im Kreise wandern.
»Wie? Schon da?« rief er plötzlich und sprang jugendlich-schnellfüßig über die Stufen hinab auf den Grasplan. Dort beugte er sich zur Erde nieder und legte vorsichtig die Halme eines höheren Grasbüschels auseinander.
Da kam ein grünes Nadelschöpfchen zum Vorschein, wie ein winziges Nadelbäumchen aus einer Spielschachtel.
»Schau, Sara, da ist's scho!« rief Fleidl kindlich beglückt und sah rückwärts zu seinem jungen Weibe hinauf, die ihm von der Türschwelle seiner neuen Heimstätte ebenso glücklich zulächelte. »Da sprießt sie schon auf, die Arven! Nun bin i erst recht voll guten Mut's!«
Und sich zu seiner vollen Größe erhebend, erklärte er dem etwas verdutzt dreinschauenden Andrä: »Schau, im verwichenen Herbst hab' i hier einen Samen von der Zirbelkiefer g'pflanzt, den i aus Bichel mit'bracht hab' von der Zirbel, die dort vor mein'm Häusel g'standen ist. Weißt eh'! Und da hab' i mir g'sagt: wann das Korn hier in dem fremden Boden aufigeht, und ein Bäumerl draus wird, dann will i g'trost sein, alsdann wird auch die neue G'meinden hier im neuen Zillertal einwurzeln und g'deihn! Nun schau: da steht's, das Bäumerl! Früher, als i g'hofft hab! Und i bin g'trost, es wird aufiwachsen und mal als'n großer, stattlicher Baum da vor meiner Tür stehn, ein eing'wurzelter Gast aus ein'm fremden Land. Und das soll unsere G'meind auch werden, will's Gott, der sie hierher g'führt hat durch die Güt des frommen Königs, den er nun zu sich g'nommen hat: ein eing'wurzelter Gast soll sie werden, aus einem fremden Land!«
»Da hast das Recht' g'troffen, Winkelhansel!« stimmte Andrä Egger in seiner nachdenklichen Weise zu, und Frau Sara nickte bestätigend, voll stillen Glücks in ihrem sonnenheiteren Gesicht. »Eing'wurzelte Gäst' aus einem fremden Land!«
* * *
Ende.