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Etwa zweihundert Schritt von der RVA stand eine alte, seitlich geneigte Blockhütte. Dort wurde die Redaktion der Lagerzeitung »Umschmiedung« untergebracht, zugleich mit ihrem Redakteur Markowitsch, dem Dichter und einzigen etatmäßigen Mitarbeiter Troschin, dem Setzer Mischa und einer kleinen klapprigen Presse. Sobald es mir gelang, mich von dem Wirrwarr der RVA frei zu machen, schlüpfte ich durch das niedrige Türchen der Hütte und erleichterte mein Herz. Dort konnte man sich, weit weg vom RVA-Geschimpfe, verpusten, Moskauer Zeitungen lesen und aus dem Brunnen der »Lebensweisheit« Markowitschs schöpfen.
Über das Lager wußte Markowitsch alles. Er war ein gutmütiger, amerikanisierter Jude, der noch vor dem Weltkrieg nach Amerika emigriert war.
»Wenn Sie in Ihrem Leben keinen richtigen Idioten gesehen haben, dann schauen Sie bitte mich an.«
Ich schaute ihn an. Doch weder in dem schmächtigen Figürchen Markowitschs noch in seinen müde-spöttischen Augen war etwas besonders Idiotisches zu sehen.
Vor etwa sieben Jahren kehrte Markowitsch aus Amerika zurück: »Ich wollte beschauen, sehen Sie, wenigstens ein Stückchen des sozialistischen Paradieses … Wie gefällt es Ihnen? Bin ich denn nicht ein Idiot?«
Er besaß siebenundzwanzigtausend Dollar, die er durch irgendwelche Kommissions- und Vertretergeschäfte in Amerika nach und nach eingespart hatte. Es versteht sich von selbst, daß man ihm an der Sowjetgrenze diese Dollars gegen Sowjetrubel – welche von den vielen, spielt keine Rolle – einwechselte und selbstverständlich nach der Parität: ein Rubel gleich fünfzig Cent.
»Na, Sie verstehen schon, damals war ich wie ein Hammel. Kurzum, man hat mir mein Geld eingewechselt, dann besteuert, dann noch mal besteuert, und zwar so hoch, daß ich zum Finanzamt ging und fragte: ›Was beabsichtigen Sie eigentlich, mir zu belassen?‹ Ich spreche bereits nicht mehr von Dollars, sondern meinetwegen von Rubeln. ›Oder muß ich vielleicht zu meinem Geld noch etwas zuzahlen?‹ Nun, sie haben mich rausgeschmissen. Kurz gesagt, nach einem halben Jahr besaß ich nicht eine Kopeke. Saubere Arbeit … Schöne Späße sind das – siebenundzwanzigtausend Dollar!«
Jetzt redigiert Markowitsch die »Umschmiedung«. Umschmiedung ist ein Lagerterminus, der die Umerziehung bedeutet. Durch die Umschmiedung sollen allerhand Rechtsbrecher zu ehrlichen Sowjetbürgern erzogen werden. Man nimmt an, daß das sowjetistische Strafsystem nicht auf der Bestrafung, sondern auf der Erziehung beruht und daß eine Zwangsarbeit im Lager unter Verbrechern, bei Hunger und Kälte den schöpferischen Enthusiasmus und das Pathos für die »Errichtung der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft« erregt; man nimmt an, daß ein Mensch, der in solcher Art sechs bis acht Jahre durchgehalten hat, wenn er nicht inzwischen krepiert, in die Freiheit zurückkehren wird: hochgefüllt mit Arbeitseifer und »kommunistischen Instinkten«. »Umschmiedung« in Anführungszeichen war berufen, die Umschmiedung ohne Anführungszeichen enthusiastisch hochzupreisen.
Man muß schon der Gerechtigkeit die Ehre geben – die »Umschmiedung« war sogar nach sowjetistischen Maßstäben ein erschütternd schäbiges Blatt. Sein Inhalt hatte nur zwei Teile: Enthusiasmus und Angeberei. Den Enthusiasmus »erduftete« Markowitsch selbst, für die Angeberei hatte man ein ganzes Netz von »Lagkors« – Lagerkorrespondenten, die verschiedene schändliche Tatsachen, wie die »Untererfüllung« der Normen, Liebesaffären, konterrevolutionäre Gespräche, Trinkgelage, Festhalten an den religiösen Bräuchen, Arbeitsverweigerung und übrige Sünden des Lagerlebens, ausschnüffelten.
»Wissen Sie, Iwan Lukjanowitsch«, sagt Markowitsch nachdenklich, seine Schöpfung betrachtend, »entschuldigen Sie den Ausdruck; aber eine solche Zeitung wird man in einem anständigen Lande nicht mal in den Abort hängen.«
»Dann schmeißen Sie sie zum Teufel!«
»Pche, und was werde ich ohne sie tun? Ich muß doch meine Frist auch absitzen. Wenn ich schon mal in das sozialistische Paradies geraten bin, dann muß ich eben auch ein sozialistischer Heiliger sein. Hier ist kein Amerika. Das weiß ich genau – für diese Wissenschaft habe ich fast dreißigtausend Dollar und fünf Jahre Zuchthausarbeit bezahlt … Und noch weitere fünf Jahre habe ich abzusitzen … Warum soll ich besser als Gorki sein? … Nebenbei, sagen Sie bitte, Sie kommen soeben aus der Freiheit – was ist Gorki für einer? Doch ein Schriftsteller?«
»Ein Schriftsteller«, bestätige ich.
»Dann ist er immerhin nicht ganz ein Lump … Na, ich verstehe – ich. Aber ich bin in einem Zuchthaus. Was kenn mer mache? Und wissen Sie, wenn Sie die ›Umschmiedung‹ von Medgora nehmen, dann ist sie, Gott der Gerechte, noch schlimmer als meine. Na, natürlich, ich erröte auch nicht mehr; aber immerhin bemühe ich mich, daß meine ›Umschmiedung‹, nu … nicht allzusehr stinkt. Die Angebereien, die sehr schädlich sein können, die nehme ich nicht auf, und überhaupt … Dafür bin ich aber ein Zuchthäusler. Und Gorki? Was ist mit Gorki? Ist er ohne Geld? Sitzt er im Zuchthaus? Er ist doch ein alter Mann, wozu braucht er unter die Dirnen zu gehen?«
»Man kann annehmen, daß er an all das, was er schreibt, glaubt … Als Sie hierherfuhren, haben Sie auch geglaubt.«
»Na, das lassen Sie man, rund zwei Tage glaubte ich.«
»Ja … Sie glaubten, solange man Ihnen das Geld nicht abgenommen hatte. Gorki glaubte nicht, solange man ihm kein Geld gab … Das Geld bestimmt das Dasein, und das Dasein bestimmt das Bewußtsein«, ironisiere ich.
»Hm, Sie denken also das Geld? Ruhm? Reklame? Ich weiß nicht. Nur, wissen Sie, als ich diese ›Umschmiedung‹ zu redigieren begann, da schämte ich mich anfänglich, im Lager umherzulaufen. Nachher – nitschewo, habe ich mich dran gewöhnt. Für Gorki aber, für den schäme ich mich noch heute.«
»Und nicht Sie allein.«
In das Zimmerchen von Markowitsch, in dem sogar ein Bett stand – ein unerhörter Luxus im Lager –, drückte sich ab und zu von der RVA mein Georg, auch kam manchmal Boris auf einen Sprung von Pogra herüber. Wir machten Feuer im Ofen. Markowitsch und ich drehten uns je ein großes »Rehbein« aus Machorka, löschten das Licht, damit von draußen, sogar durch die mit Papier verklebten Fenster nichts zu sehen war, setzten uns »an den Kamin« und ließen unseren Gefühlen freien Lauf.
»Und Sie sagen – Lager«, begann Markowitsch und blies eine mächtige Machorkawolke in den Ofen. »Sagen Sie mir aber, wer in Moskau hat solch eine Wohnfläche wie ich hier im Lager? Ich frage Sie, wer? Nu, Stalin und noch tausend andere Menschen! Ich habe hier ein separates Zimmer, ich habe ein gutes Mittagessen, natürlich nicht ohne Schiebung; aber ich hab's. Und was meinen Sie – wenn ich morgen eine neue Hose brauche, dann kriege ich Sie nicht? Ich werde sie kriegen: kann denn das sowjetistische Pressewort ohne Hose herumlaufen? Und dann – hören Sie nur aufmerksam zu, Genossen, bin ich hier, bei Gott, gescheit geworden. – Wissen Sie, was im Lager nachgerade gut ist? Wissen Sie? Nein? Dann sage ich's Ihnen: die GPU!« Markowitsch streifte uns mit einem siegreichen Blick:
»Lachen Sie nicht … Wenn Sie in Moskau säßen: die Vorgesetzten erstens, der Berufsverband zweitens, die kommunistische Zelle drittens, das Hauskomitee viertens, der Wohnkonsum fünftens und endlich die GPU als sechstens, siebtens, achtens – sagen Sie, bitte, was sind Sie dann, ein lebendiger Mensch oder ein Stückchen Protoplasma? Und wenn Sie ein lebendiger Mensch sind – dann, wie können Sie sich in zehn Teile zerreißen? Die Vorgesetzten verlangen das, der Berufsverband jenes, das Hauskomitee macht Ihnen das Leben sauer. Die GPU verlangt nichts, sagt nichts, und Sie wissen von ihr nichts, und dann auf einmal bums – und unser Iwan Lukjanowitsch fliegt nach … na, Sie wissen ja selber wohin. Jetzt betrachten Sie sich das Lager. Iljin ist Abteilungschef. Er ist mein Vorgesetzter, mein Berufsverband, meine GPU, er ist mein Zar, er ist mein Gott! Er kann mit mir machen, was ihm einfällt, nu, natürlich, eine hübsche Frau kann er aus mir nicht machen; aber er kann aus mir doch einen »Nichtmann« machen. Kommen Sie auf ein Jahr auf den »Faulen Fluß« zu sitzen, dann will ich sehen, was von so einem Bären, wie Sie sind, übrigbleibt … Es fragt sich aber, warum soll Iljin mich in den Sümpfen verfaulen oder mich gar erschießen lassen? Ich weiß, was er von mir will. Er braucht Enthusiasmus – dann haste Enthusiasmus. Aber warten Sie mal, ich lese Ihnen vor.«
Markowitsch dreht sich um und holt irgendwo hinter dem Rücken von dem Tisch einen Papierfetzen hervor, auf dem eine Schlagzeile abgedruckt steht:
»Also hören Sie: ›Mit feurigem Enthusiasmus entzünden die Stürmler des Weißmeer-Kanalbaues das bolschewistische Tempo Podporog‹. Nicht schlecht, was?«
»Tja, gut gedreht«, äußert sich Boris zweifelnd. »Nur entzünden – ist irgendwie nicht ganz …«
»Nicht ganz? Wird's Iljin gefallen? Es gefällt ihm. Nun dann hol der Teufel Ihr ›nicht ganz‹. Was denken Sie eigentlich? Daß ich mich zu den Nobelpreisträgern emporkriechen will? Gott gebe, daß ich aus dem Lager herauskrieche. Also, ich sage Ihnen … Wenn Sie in Moskau eine Hose brauchen, dann gehen Sie in ein Berufskomitee und erbetteln sich eine Order. Aber Sie kriegen diese Order nicht. Und wenn Sie die Order kriegen, dann kriegen Sie keine Hose. Und wenn Sie ein besonderer Glückspilz sind, daß Sie doch zu einer Hose kommen, dann finden Sie entweder nicht die entsprechende Größe oder erhalten im Winter eine Sommerhose und im Sommer eine Winterhose. Kurzum, das ist für Sie keine Hose. Das ist 'ne Krankheit. Ich komme hier aber zu Iljin, er gibt mir einen Zettel und Schluß: Markowitsch läuft in Hosen und braucht sich nicht zu genieren. Und dann fürchte ich keine GPU: erstens bin ich sowieso im Lager, weshalb ich auf alles mehr oder weniger spucken kann; zweitens, die Lager-GPU, das ist ja Iljin selbst. Und ich kenne ihn wie meine Westentasche. Denn wissen Sie, wenn die GPU eine unerläßliche Notwendigkeit ist, dann soll sie bei mir im Hause sein. Ich werde dann wenigstens wissen, von welcher Seite sie mich beißen will, und von eben dieser Seite mache ich einen fünf Kilometer weiten Bogen um sie …«
Während dieser Zeit erlebte Boris schwere Tage. Wenn es mir bei der RVA zum Erbrechen übel wurde, wo mich die vernichteten Menschenleben in der Form zerfledderter Symbole aus den Kästen und Regalen als »Personalakten« ansahen, dann war Boris gezwungen, bei der »Liquidierung« dieser Menschenleben, die real und ohne jegliche Symbole vorhanden war, zugegen zu sein. Zur Behandlung der Patienten war gar nichts da. Außerdem mußte man täglich in den »Sanitätsbericht« des Lagers eine Zahl eintragen – gewöhnlich eine einstellige Zahl, die von der dritten Abteilung mitgeteilt wurde und welche die Anzahl der an diesem Tage Erschossenen zu bedeuten hatte. Wo und wie man sie erschoß, blieb »offiziell« unbekannt. Diese Zahl war in die Spalte »außerhalb des Lagers Verstorbene« einzutragen, und Boris sollte auf den Personalkarten verschiedene »Diagnosen« vermerken und » exitus letalis« schreiben. Das waren die Erschießungen ganz im geheimen – die verbreitetste Art der Erschießungen in der Sowjetunion.
Boris war nicht so leicht zu entmutigen. Aber selbst ihm wurde es allmählich unmöglich. Er versuchte, sich aus der Sanitätsabteilung herauszuarbeiten, es gab aber sehr wenig Ärzte, und man ließ ihn nicht los. Er schrieb in der »Umschmiedung« die Aufrufe für Sanitätsmaßnahmen im Lager; denn es nahte der Frühling, und wie wird es im Lager aussehen, wenn alle gefrorenen Aborte auftauen werden! Markowitsch hatte große Lust, ihn zu sich herüberzuziehen, um in der Redaktion wenigstens einen gebildeten Menschen zu haben. Er selbst war im Russischen nicht besonders beschlagen; aber dieser Plan hatte sehr wenig Aussicht auf Verwirklichung. Auch Boris selbst wäre nur ungern in der »Umschmiedung« untergetaucht, ganz abgesehen davon, daß seine Paragraphen ein großes Hindernis dafür wären.
»Wozu bloß, Boris Lukjanowitsch, haben Sie sich mit der Konterrevolution abgegeben? Was hätte es Sie gekostet, einfach einen Menschen totzuschlagen? Dann wären Sie hier ein ›sozial nahes Element‹, und alles wäre gut. Mit den Paragraphen, das werde ich schon einrichten, versuchen Sie aus der Sanitätsabteilung auszukratzen. Weiß ich wie? Na, geben Sie einem statt Rizinusöl – Strychnin. Sie haben kein Rizinus und kein Strychnin? Nun, dann irgend etwas Ähnliches, Sie sind doch Arzt, Sie müssen's wissen! Oder schneiden Sie statt eines abgefrorenen ein gesundes Bein ab. Man tut Ihnen nichts – nur des Amtes werden Sie enthoben, dann werde ich Sie sofort bei mir unterbringen … Aber Spaß beiseite, irgendwie muß man doch einander helfen … Wo soll ich aber mit dem Troschin hin? Der sitzt bei mir.«
Troschin war ein Dichter von kolossalem Wuchs und ohrenbetäubendem Baß. Seine mir unbekannten Sünden suchte er in Gedichten wiedergutzumachen, die von einem unbändigen Enthusiasmus vollgesogen waren. Außerdem »stellte er an den Schandpfahl« oder, wie Markowitsch sagte, an die Schandspalten der »Umschmiedung« verschiedene Bummelanten, habsüchtige Baptisten, Verweigerer, Menschen, die beten, und Menschen, die in geschlechtlicher Beziehung pervers sind, und übrige Sünder dieser Welt. Er war strohdumm und brachte Markowitsch oft bis zur Verzweiflung.
»Denken Sie nur, was soll ich mit ihm machen? Gestern hatten wir eine Sitzung im engeren Kreise: Jakimenko, Iljin, Bogojawlenski, so die Spitze, wissen Sie. Auch ich war mit ihm dabei, und was denken Sie? Brüllt er wieder etwas vom flammenden Enthusiasmus … Brüllt wie ein Ochs. Ich trat ihm ein paarmal auf den Fuß: denn es war mir durchaus unbequem, er ist doch mein Mitarbeiter.
»Warum unbequem?« fragt Georg.
»Ach, wie können Sie das nicht verstehen! Den Enthusiasmus kann man ausbrüllen, sagen wir, in der Zeitung, auf einer Versammlung; aber hier waren doch alles ›unsere Leut‹. Meinen Sie, die wissen nicht?«
»Was sollen die wissen?«
»Verstehen Sie doch: wenn ich vor Jakimenko über den Enthusiasmus losbrülle, und im Zimmer ist außer ihm niemand, dann wird er denken, daß entweder ich ein Dummkopf bin, oder daß ich ihn für einen Dummkopf halte. Nachher fragte ich Troschin: wer seiner Ansicht nach ein größerer Dummkopf sei – Jakimenko oder er selbst. Nu, er hat mich nur unflätig angebrüllt. Und Jakimenko fragte mich heute: was ist das bei Ihnen für ein … wie heißt das … Klotz? … Ja, beiläufig, was ist ein Klotz?«
Ich erklärte es.
»Ach so – natürlich ein Klotz, nicht genug, daß er mich diskreditiert, er gräbt mir noch eine Grube. Ich fühle bereits, daß er mir eine Grube gräbt. Da schauen Sie her – eine seiner Notizen – selbstverständlich nehme ich sie nicht auf! Er, sehen Sie, hat die Entdeckung gemacht, daß der Proviantmeister Zucker stiehlt. Ach! Wie gefällt Ihnen diese Entdeckung? Bildet sich ein, Christophorus Columbus zu sein. Als ob niemand außer ihm weiß, daß der Proviantmeister nicht nur Zucker, sondern alles mögliche klaut … Doch zum Teufel mit dieser Notiz. Ich nehme sie nicht auf und punktum! Aber dieser … wie sagen Sie? Klotz? Ja, dieser Klotz läuft im Lager herum und brüllt wie ein Ochse: ›Ach wie klug, wie aktiv ich bin, ich habe den Proviantmeister entlarvt, ich habe den konkreten Träger der Schlechtigkeit entdeckt‹. Ich sage ihm: ›Genosse Troschin, Sie selbst sind ein konkreter Träger des Idiotismus‹ …«
»Aber warum denn Idiotismus?«
»Na, na, entschuldigen Sie mich, Schorschi, aber Sie sind noch sehr jung. Wenn er einmal Proviantmeister ist, wie kann er dann nicht klauen?«
»Ja, wieso nicht klauen?«
»Na, Sie mit Ihrem dauernden Warum. Wissen Sie, wie bei O'Henry: ›Papa, warum gibt es in einem Loch nichts?‹ Deshalb nichts, weil es ein Loch ist. Deshalb klaut er, weil er Proviantmeister ist. Denken Sie, wenn zu ihm der Chef des Unterlagers kommt und sagt: ›Geben Sie mir zwei Kilo‹, dann kann er sie ihm nicht geben? Oder denken Sie, daß der Chef des Unterlagers seinen Tee nur mit dem rationierten Zucker trinkt?«
»Gibt er keinen Zucker, nun dann wird er eben ein anderes Amt bekommen.«
»Au weh! Habe ich nicht gesagt, daß Sie noch ein ganz Junger sind?«
»Danke.«
»Nitschewo, weinen Sie nicht. Arbeiten Sie noch etwas bei der RVA, dann werden Sie schnell noch ein halbes Meter wachsen. Denken Sie denn, der Chef des Unterlagers ist genau so ein Dummkopf wie Troschin? Glauben Sie, der wird dulden, daß so ein amtsenthobener Proviantmeister im Lager herumläuft und sagt: ›Ich habe keinen Zucker gegeben und bin deshalb des Amtes enthoben‹. Haben Sie bei der RVA die Personalkarten gesehen? Solch ein Kärtchen wird dann bei der Zusammenstellung des nächsten Abschubes an irgendeinen verfaulten Waldfluß mit herausgenommen. Na, Sie wissen schon, wie man so was macht. – Nachts wird der Proviantmeister geweckt: Sachen packen? Und morgens fährt er schon zu des Teufels Großmutter. Haben Sie jetzt kapiert?«
»Ja.«
»Und wenn der Proviantmeister für den Chef des Unterlagers klaut, warum soll er dann für den Chef der RVA nicht klauen? Oder warum soll er nicht für sich selbst mitklauen? Das muß man doch verstehen. Wenn Troschin aus der Haut fährt wegen eines Urkas, der die Arbeit schwänzt, während der andere Urka sich umgeschmiedet hat, dann macht das niemand heiß oder kalt. Der eine Urka spuckt drauf – er drückt sich sein ganzes Leben lang, und der andere Urka spuckt drauf – er war ein Dieb und bleibt ein Dieb. Na, und ein Proviantmeister? Ich habe selbst deswegen zehn Jahre bekommen.«
»Was heißt deswegen?«
»Na ja, nicht deswegen. Aber ich meine im allgemeinen. Ich war Leiter eines Manufakturkonsums. Dort gab es auch so was Ähnliches wie unsern Chef des Unterlagers. Wie kann man ihm nichts geben? Dem einen und dem anderen gibst du etwas; aber nicht allen kann man etwas geben. Na ja, ich war noch jung. Ungeachtet, daß ich in Amerika war! Und dann kamen die zehn Jahre!«
»Und das, sozusagen, frei von Sünden?«
»Wissen Sie was, Iwan Lukjanowitsch, um Ihnen zu beweisen, daß ich von Sünden frei bin – wollen wir jetzt Tee mit Zucker trinken. Mischka kann Teewasser aufsetzen. Dann werden Sie sehen, daß ich vor Ihnen nicht mal meinen Lagerzucker verbergen will. Weshalb sollte ich dann meine Manufaktur, für die ich bereits fünf Jahre abgesessen habe, vor Ihnen verbergen? Habe ich sonst keine Manufaktur gesehen? Ich habe aus Amerika so viele Anzüge mitgebracht, daß es für den ganzen Trödlerbetrieb auf der Sucharewka ausgereicht hätte. Jetzt lebe ich ohne amerikanische Anzüge und ohne amerikanische Regel. Oder wie es ein russisches Sprichwort sagt: In ein Kloster geht man nicht mit … eigener Frau Es heißt im Sprichwort richtig: mit eigenen Regeln.. Richtig? Apropos Frau. Nicht genug, daß ich Dummkopf in die Sowjetunion fuhr, habe ich Idiot noch meine Frau mitgebracht.«
»Und wo ist Ihre Frau jetzt?«
Markowitsch schaute nach der Decke.
»Wissen Sie, Iwan Lukjanowitsch, man soll einen Mann, der bereits das sechste Jahr im Lager verbringt, nicht nach seiner Frau fragen. Nach ungefähr fünf Jahren werde ich Sie nach Ihrer Frau fragen«.
Mischka brachte einen mit Schnee gefüllten Teekessel und setzte ihn auf den Ofen.
»Fragen Sie diesen Kerl, was er über unseren ›Dichter‹ Troschin denkt«, sagte Markowitsch zu mir auf englisch.
Sobald Mischka den Teekessel auf dem Ofen untergebracht hatte, begann er einen kürzlich aus einer zerfallenen Blockhütte gestohlenen zersägten Holzstamm in den Ofen hineinzupraktizieren.
»Na, Mischka, wie vertragen Sie sich mit Troschin?« fragte ich.
Mischka hob seinen Strubbelkopf mit dem schwindsüchtigen Gesicht.
»Wie ich mich vertrage, ein Klotz ist ein Klotz. Nur daß er bei der dritten Abteilung ein und aus geht.«
Mischka war ein Bursche von einer erstaunlichen Ruhe. Nach all dem, was er im Lager mit ansehen mußte, gab es wenig Dinge auf dieser Welt, die ihn noch in Erstaunen versetzen konnten.
»Zum Beispiel gestern«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, »kommt er hierher … Niemand war hier, nur ich. ›Du‹, sagt er, ›Mischka, schau mal her, was die Sowjetmacht aus dir gemacht hat. Du warst‹, sagt er, ›Mischka, ein Besprisornik, warst, wie man sagt, ein verbrecherisches Element, und nun hat die Sowjetmacht aus dir einen Menschen gemacht: einen Setzer‹.«
Mischka schwieg und stocherte im Ofen.
»Nu, und weiter?«
»Weiter? Ein Hundesohn ist er – das ist er.«
»Warum ein Hundesohn?«
Mischka schwieg wieder eine Weile.
»Wer hat mich denn unter die Besprisorniki gebracht? Vater und Mutter? Und wodurch habe ich die hochgradige Schwindsucht bekommen? … Eine Belohnung soll das sein, daß man mich nach einem halben Jahr herauslassen will? Wo ich überhaupt nur noch knapp ein Jahr zu leben habe? … Wozu dann dieses Agitieren? Dieser Hundesohn! Hält er mich zum Narren?«
Mischka war ein Bursche von etwa zwanzig Jahren, mager, blaß und strubbelig. Sein Vater war vor dem Krieg Meister auf der Werft in Nikolajew. Ein eigenes Häuschen mit Gärtchen war da. Darin schalteten und walteten die Mutter und die Schwester. Dann kamen die Sowjetjahre. Die Mutter starb vor Gram, der Vater erhängte sich, die Schwestern verschwanden, unbekannt wohin, der kleine Mischka irrte durch das Land und geriet schließlich ins Lager zu den Holzarbeitern.
»So stellte man mich an die normierte Arbeit; hier sehe ich, daß die gesunden, kräftigen, an solche Arbeit gewohnten Bauern nicht mitkönnen. Wo soll ich erst hin? Ich falle um, wenn man mich nur anbläst … Ich versuchte es trotzdem. Man steckte mich schließlich wegen der Drückebergerei in den Strafisolator, setzte mich auf zweihundert Gramm Brot täglich und nichts weiter. Dort wäre ich bestimmt nicht lebend herausgekommen; aber dank einem alten früheren Insassen der Solowetzki-Inseln wurde ich gerettet – er hat mir geraten, kein Wasser zu trinken. Vom Hunger schwillt der Körper an. Gleichzeitig hat man beim Hungern großen Durst – man trinkt Wasser und schwillt noch mehr an. Und wenn diese Anschwellung das Herz erreicht, dann ist es aus. So trank ich sehr wenig – so etwa ein halbes Glas täglich. Trotzdem aber kam die Zeit, wo ich über meine geschwollenen Beine nicht mehr die Hose streifen konnte. Ich saß einen Monat, noch einen und sehe, daß man sich verloren geben muß. Wohin auch? Doch sei der gute Chef bedankt. Er ruft mich zu sich: ›Du bist ein Drückeberger‹, sagt er, ›du willst nicht arbeiten, dein Leben lang bleibst du im Strafisolator, wenn du bis dahin nicht verfault bist‹, Ich sage ihm: ›Sie, Bürger Chef, Sie brauchen sich nur meine Hände anzusehen, wie kann einer mit solchen Händen siebeneinhalb Kubikmeter Holz fällen und zersägen? Ich bin‹, sage ich, ›sowieso verloren – ob so oder so …‹ Nun, er hatte Mitleid und versetzte mich in die ›Schwachkraft‹.«
Aus der »Schwachkraft« wurde Mischka durch Markowitsch herausgefischt, der ihm das Schriftsetzergewerbe beibrachte, und seitdem sind die beiden unzertrennlich.
Doch waren die Lungen Mischkas fast hin. Boris hatte ihn beklopft und betastet und brachte ihm oft Lebertran. Mischka lächelte still in sich hinein und sagte:
»Ich danke Ihnen, Boris Lukjanowitsch, geben Sie den Lebertran lieber einem anderen. Mir hilft er ebenso wie dem Toten der Weihrauchkessel …«
Später beobachtete ich zufällig eine ergreifende Szene:
Mischka sitzt an der Schwelle seiner »Druckerei« in seinem zerrissenen Arbeitsanzug, ganz grün vor Kälte. Zwischen seinen Knien steht ein Mädelchen von den örtlichen »freien« Dorfbewohnern, so etwa zehn Jahre alt, zerlumpt, hungrig und barfuß. Vorsichtig tropft Mischka den wertvollen Lebertran auf Brotschnitten und füttert das Mädelchen mit diesen Butterbroten. Das Kind schluckt gierig, fast ohne zu kauen und bettelt zwischen zwei Schlucken:
»Onkelchen, gib mir doch etwas Brot mit.«
»Nein, ich weiß, du gibst alles der Mutter. Deine Mutter ist schon alt, für sie ist es genau wie für mich besser, zu sterben. So behalte ich mehr für dich, und du wirst was zu futtern haben und ganz groß werden … Komm, iß …«
Boris erzählte Mischka von allerhand schönen Dingen: von der Nützlichkeit einer tiefen Atmung, von dem Sonnenlicht, von den Widerstandskräften eines jungen Organismus. – Eine sozusagen sympathetische Behandlung durch Suggestion. Mischka lächelte dankbar; aber einmal unter vier Augen sagte er mir schüchtern und stockend:
»Gute Menschen sind das – Ihr Bruder und auch Markowitsch. Menschen mit Seele. Nur unnötig geben sie sich mit mir ab.«
»Warum denn unnötig, Mischka?«
»Nach einem Jahr bin ich ja doch tot. Das sagte mir hier ein alter Arzt. Kann ich denn hier mit meinen Lungen am Leben bleiben? In der Freiheit, sagen Sie? Und wie ist es in der Freiheit? Vielleicht wird es noch hungriger sein als hier. Ich kenne die Freiheit. Und zu wem soll ich dort auch gehen? … Und Markowitsch … Auch eine Seele von Mensch. Jedoch er hätte mich damals aus der Schwachkraft nicht herausfinden sollen, dann wäre ich schon längst tot. So quäle ich mich nur. Und noch ein Jahr werde ich mich quälen müssen.«
Im Ton von Mischkas Worten klang ein Vorwurf gegen Markowitsch. Fast einen ähnlichen Vorwurf, nur noch unter mehr tragischen Umständen, mußte ich später hören, diesmal aber an mich gerichtet – von Professor Awdejeff. Im Mai starb Mischka. Er brauchte sich also bei weitem nicht ein ganzes Jahr abzuquälen.
So verbrachten wir unsere seltenen freien Abende am Ofen des Genossen Markowitsch, mal uns in die philosophischen Tiefen des Daseins verlierend, mal zurückkehrend zu den prosaischen Dingen des Lagerlebens, zu Essen und Lebertran. In diesen Zeiten rettete uns der Lebertran vor einer völligen Abmagerung. Wenn schon für einen Durchschnittsmenschen unsere »Kanzleiküche« eine stabile Unterernährung bedeutete, so wurde Georgs Leben durch die Lagermenüs bedroht. Er wog schon hundertsechsundsiebzig Pfund und war erst achtzehn Jahre! Auf legale und illegale Weise, hauptsächlich auf illegale, verschafften wir uns den Lebertran und machten es so: In eine Holzschüssel schnitten wir etwa ein halbes Pfund Brotwürfel und begossen das Ganze mit diesem Fett. Das erschien uns außergewöhnlich schmackhaft. Georg machte sogar den Vorschlag, daß wir später im Ausland, nach der gelungenen Flucht, unbedingt jeden Tag ein solches Festmahl veranstalten sollten. Als wir nun tatsächlich geflohen waren, haben wir es versucht, ließen es aber bald wieder sein.
Zu dieser Zeit klärte sich unser Himmel ganz auf, die Zukunft schien voller Hoffnung; ab und zu gingen wir an die Ufer des Swir, beschauten uns die anliegenden Wälder und bauten Pläne für den Flußübergang – nach Norden zu, um den Ladogasee herum – ungefähr die Marschroute, die später Boris nehmen mußte … Alles schien festgefügt und gut einstudiert.
Einmal saßen wir wieder an Markowitschs Ofen. Er selbst trieb sich wegen seiner Zeitungspropaganda irgendwo herum … Spätabends kehrte er zurück, wärmte am Feuer seine durchfrorenen Hände, schaute durch die nächste Tür in die Setzstube und sagte geheimnisvoll:
»Streng vertraulich: wir fahren ins BAM.«
Wir verstanden selbstverständlich nichts.
»Ins BAM … zum Bau der Baikal-Amur-Eisenbahn. Nach dem Fernen Osten. Ein strategischer Bau … Der Swirbau geht zum Teufel … Podporog geht zum Teufel. Alle Abteilungen lösen sich auf. Alles bis auf den letzten Mann – ins BAM.«
Es fröstelte mich plötzlich irgendwie … Da haben wir die tückische Wende des Schicksals! Träume, Pläne, Marschrouten und die »fast sichergestellte Flucht« – alles flog in die geheimnisvolle und ängstliche Ungewißheit dieses Alarmgeläutes »BAM« … Was wird nun weiter? Eine nähere Information hatte Markowitsch nicht. Es war etwas verworren: der Abteilungschef hätte einen telegrafischen Befehl bekommen – unverzüglich im Laufe von zwei Wochen nicht weniger als fünfunddreißigtausend Mann vom Swirbau ins BAM zu schicken. Elftausend Kilometer Weg. Man wird wahrscheinlich nicht alle dazu beordern, wen aber, ist unbestimmt. Es ist noch nicht bekannt, was eigentlich das BAM ist – ob der Bau des zweiten Schienenstranges der Amurbahn oder eine neue Bahn von der nördlichen Spitze des Baikalsees entlang der geographischen Breite bis zum Japanischen Meer … Sowohl das eine wie das andere war ungefähr gleich schlecht. Am schlimmsten aber – der Weg: nicht weniger als zwei Monate Fahrt …
Ich erinnere mich an die furchtbaren fünf Tage und Nächte unserer Fahrt von Petersburg hierher, ich multipliziere diese fünf Tage mit zwölf und bekomme ein Resultat, bei dem es mir kalt über den Rücken läuft … Zwei Monate? Wer kann das aushalten? Von dieser Neuigkeit ist uns sehr unbehaglich zumute … Als ungeheurer Alpdruck liegen auf uns diese sechzig Tage inmitten schneeverwehter Felder, in dem eisigen, durch die Ritzen und Löcher des Viehwaggons pfeifenden Wind, Tage des Hungers, des Durstes und der Kälte. Und erst das BAM! Irgendwelche Jakutenniederlassungen in der schrecklichen Hinterbaikal-Taiga! Neubauten auf Leichen! Wie es beim Bau des Weißmeerkanals war, von dem mir ein alter Lagerinsasse sagte: »Dort, Brüderchen, auf diesen Dämmen hat man mehr Menschen in den Boden getrieben als Pfähle.«
Allerdings blieb noch ein kleiner Hoffnungsschimmer: Jakimenko wurde zum Diktator dieser Massenverschickung ernannt. Vielleicht wird es gelingen, hier etwas zu kombinieren … Oder vielleicht taucht wieder irgendein »Spiegel« auf. Doch waren alle diese Hoffnungsschimmer weder klar noch greifbar. Das BAM erhob sich vor uns wie eine unheilverkündende und fast greifbare Masse und stürzte sich ebenso plötzlich auf uns wie die Tschekisten im D-Zugwagen Nummer 13 …
Tausende Meter von Plakaten, in und auf den Baracken aufgehängt, quer über die Lagerstraßen gezogen, schreien die Parolen aus: Umschmiedung und Umschmelzung, Aufbau des Sozialismus und der klassenlosen Gesellschaft, Weltrevolution der Werktätigen! Über all diesem aber, über dem ganzen Lager hing wie ein Fanal eine einzige, aber die wirksamste Parole: »Untergang – so oder so.«
Am anderen Tage wurde die »streng vertrauliche« Information über das BAM im ganzen Lager bekannt. Die fast fünfzigtausendköpfige »Werktätigen-Armee« blieb wie angewurzelt stehen. Es war ein Moment der Unschlüssigkeit, der Schwankung – und dann flog mit einemmal alles zu allen Teufeln … Am Tage, als Markowitsch uns mit eben diesem BAM überraschte, kamen aus Petersburg, Petrosawodsk und Medgora neue Truppenteile der GPU in Podporog an. Sämtliche Unterlager wurden mit einem dichten Ring von Kordons und Patrouillen der GPU umstellt. Die Wachtfeuer dieser Kordons umgaben ganz Podporog wie ein Fanal unbekannter Brände. Der Verkehr zwischen den einzelnen Unterlagern wurde unterbrochen. Auf jede menschenähnliche Erscheinung, die sich außerhalb der Wege, Kordons oder Patrouillen zeigte, wurde ohne Anruf geschossen. Auf diese Weise wurden, nebenbei bemerkt, etwa fünfzehn ansässige Bauern getötet; aber bei den allgemeinen Unkosten der Revolution spielten diese Leichen selbstverständlich keine Rolle.
Die Arbeiten im Lager wurden gänzlich eingestellt. Auf den Arbeitsplätzen ließ man Äxte, Sägen, Brecheisen, Schaufeln und Schlitten einfach liegen. In erschreckend großer Menge gab es »Selbsthauer«: alte Lagerinsassen, die, wohl im Bilde, was eine zweimonatige Fahrt im Viehwagen bedeutet, sich die Hände oder Füße abhackten, die Kniescheiben zertrümmerten, um nur in die Ambulanz zu kommen und sich so vor dem Transport zu drücken. Ganz sinnlose Diebstähle und Überfälle auf die Vorratslager und Magazine begannen. – Die Menschen versuchten, in den Strafisolator oder vor Gericht zu kommen, um bloß nicht mit dem Transport zu müssen. Aber es wurde befohlen, die »Selbsthauer« nicht in die Ambulanzen aufzunehmen und Diebe und »Räuber« sofort am Tatort zu erschießen.
Die »Umschmiedung« erschien mit der Schlagzeile: »Die Stürmler des Swirbaues werden das bolschewistische Tempo im BAM entzünden!« Sie schrieb von der großen Ehre, die den künftigen BAM-Erbauern zuteil geworden ist und, was am schlimmsten war – über die Amnestie … Der Befehl der GULAG versprach den Stürmlern des BAM unerhörte Amnestien: Fristverkürzungen um ein Drittel und sogar bis auf die Hälfte, Überführung in den Kolonistenstand, Nichteintragung der verhängten Strafe in die Papiere und so weiter … Diese Versprechungen ertönten im ganzen Lager wie ein Begräbnisgeläute für lebendig Begrabene: die Sowjetmacht verspricht nichts umsonst. Wenn man solche Versprechungen gibt, dann bedeutet es, daß die Arbeitsbedingungen ungeheuer schwer sind, bedeutet aber in keiner Weise, daß man diese Versprechungen halten wird: wann hat denn die Sowjetmacht ihre Versprechungen überhaupt erfüllt? Es war, als ginge der Wahnsinn um in allen Unterlagern.
Eine Kolonne von Zimmerleuten metzelte mit den Äxten einen tschekistischen Kordon auf dem Unterlager 2 nieder, ließ dabei aber selbst elf Tote, brach sich durch und verschwand im Walde. Im Walde lag meterhoher Schnee. Am gleichen Tage noch fingen Schneeschuhabteilungen der GPU die ausgebrochene Kolonne ein und »liquidierten« sie an Ort und Stelle. Nachts wurde im gleichen Unterlager ein Bagger die Böschung hinabgestürzt; er durchbrach mit seinem furchtbaren Gewicht die halbmeterstarke Eisdecke des Flusses und zerschellte an den Felsen des Grundes. Auf dem Unterlager 3 sprengte man zwei Lokomotiven in die Luft. Drei Zugmaschinen – unbekannt, von wem in Gang gebracht – rasten ohne Führer wie eiserne Gespenster durch Pogra – die eine fuhr gegen die Kantinenbaracke und zerdrückte sie, die beiden anderen stürzten in den Swir und zerbrachen … Die »untere Administration« der Unterlager verschleuderte auf geheimnisvolle Weise – wahrscheinlich durch Urkis und die ansässigen Bauern – auf dem Markt in Olonezk Bestände der Lagermagazine und soff Wodka. An der Verladerampe eines Nebenanschlusses wurden Riesenvorräte von Holz in Brand gesteckt. – Auf eine Entfernung von zwei bis drei Kilometer konnte man mühelos beim Feuerschein lesen.
Ungeheure Brandfanale standen wie das Nordlicht am winterlichen Himmel. Das Gewehrfeuer knatterte, und die Explosionen der von Lagerinsassen geplünderten Ammonitpatronen krachten … Es schien, als ob für dieses in den Wäldern verlorene Stückchen Gotteserde die letzten Tage anbrächen …
Es versteht sich von selbst, daß im Abglanz dieser Brandfanale der kurzen Zeitspanne unseres friedlichen Lebens ein Ende bereitet wurde … Wenn auf den Unterlagern etwas Apokalyptisches vor sich ging, dann wurde die RVA ein Irrenhaus. Zentnerweise lagen auf den Fußboden die Papiere der neuangekommenen Lagerinsassen unsortiert umher; die ganze Arbeit der RVA mußte man umstellen: statt auf die »Organisation« mußte man sich auf die »Evakuation« stürzen. Kartothekkarten, Formulare, Kolonnenaufstellungen – all das ballte sich zu einem gigantischen Papierberg zusammen, aus dem die kopflos gewordenen RVA-Mitarbeiter aufs Geratewohl die erstbesten ihnen unter die Hand kommenden Papiere herausholten und in aller Eile die Aufstellungen von neuen Transportzügen machten. Diese Aufstellungen schickte man an die Kolonnenführer, und die Kolonnenführer hatten von den in diesen Aufstellungen aufgeführten Leuten meistens weder etwas gehört noch etwas gesehen. Die Eisenbahn ließ die Transportzüge anrollen, es war aber niemand zur Verladung da. Nachher, als man das »Verladematerial« hatte, waren keine Züge da. Die untere Administration, betäubt und von den »Kampfbefehlen« eingeschüchtert, bewogen durch die gleiche Parole wie die übrigen Lagerinsassen: »Untergang so oder so« – soff und schlief ihren Rausch in allerhand geheimnisvollen Verstecken aus. Auf den toten Geleisen von Pogra lagen bereits sechs Transportzüge. Jakimenko tobte und raste hin und her, er spuckte Gift und Galle.
Die Innenwache brachte zweihundertvierundvierzig bei den Razzias wahllos zusammengetriebene Lagerinsassen an die Transportzüge. Doch weigerte sich die Abnahmekommission des BAM, dieses Treibwild ohne Papiere zu übernehmen. Ein paar gescheite Burschen der Mineure sprengten mit dem gestohlenen Ammonit die kleine Eisenbahnbrücke, die das Pogragelände mit der Haupteisenbahn verband. Über die Wälder heulte der Schneesturm. Ganze Kolonnen bahnten sich mit den Äxten einen Weg durch die tschekistischen Kordons und verschwanden im Walde in der Annahme, sich irgendwo versteckt halten zu können und die Wochen der Verschickung zu überdauern, um dann reumütig zurückzukehren, fünf Jahre mehr aufgebrummt zu bekommen, aber vom BAM verschont zu bleiben.
Als die Planfrist der »Evakuation« kurz vor dem Ende stand, kam von Medgora die Verstärkung: etwa fünfzig Mitarbeiter der RVZ – »Spezialisten der Registrations- und Verteilungsarbeit«, ein weiteres Bataillon GPU-Truppen und hundert Spürhunde.
In den Unterlagern und um sie herum erschoß man schon Menschen wahllos und ohne jegliche Skrupel.
Der Aktiv der RVA arbeitete zum Umfallen und schwamm im Überfluß. Wir schliefen in unseren Arbeitszimmern auf und unter den Tischen und auch dann nur wenige Stunden und oft unterbrochen. Um die RVA tummelten sich geheimnisvolle Gestalten, am meisten die findigen und »sozialnahen« Urkis. Diese Gestalten brachten dem Aktiv Geschenke von solchen Menschen, die hofften, durch eine Flasche Wodka sich von dem Abtransport, mindestens aber von dem Abschub mit den ersten Zügen loskaufen zu können. Jakimenko steckte seine Nase überall in diese Machorka- und Fuseldüfte der RVA, verhängte Arreststrafen, befahl aber gleich wieder die Freilassung. Niemand, außer Starodubzeff und den Seinigen, mochte er sich noch so bemühen, hätte bestimmen können, in ungefähr welchem Winkel die Papiere etwa des dritten oder sechsten Transportzuges sich befanden, die vor ein, zwei Monaten hierhergekommen.
Meine ökonomischen, juristischen und übrigen Forschungen wurden gleich am ersten Tage der BAM-Epoche liquidiert. Ich wurde an die Schreibmaschine versetzt – ein Beruf, in dem hier ein großer Mangel herrschte. Es kam sogar vor, daß ich Tag und Nacht von der Schreibmaschine nicht fortkam – aber mein Gott, was war das für eine Maschine!
Ein Sowjetprodukt des Sowjetwerkes in Kasan, weshalb Georg ihr den Spitznamen »Die Vollwaise aus Kasan Eine rührselige, verwahrloste Spottfigur im russischen Volksmund.« gab. Alles an ihr klapperte, bog sich und wackelte. Am schlimmsten aber waren ihre Mucken. Da sitze ich an dieser Waise, vor Müdigkeit kaum noch lebendig, Jakimenko steht daneben und schaut mir auf die Finger. Nach einem geheimnisvollen Buchstaben löst sich der Maschinenschlitten und saust nach links. Dadurch bleiben von zwölf Exemplaren der in die Maschine eingespannten Aufstellung nur noch Fetzen übrig. Jakimenko unterdrückt einen unflätigen Fluch, die zahlreichen Verwaltungsmitglieder, die auf diese Aufstellungen für das Herausfinden des »Transportmaterials« gewartet haben, stoßen einen Seufzer der Erleichterung aus (sie werden wenigstens etwas schlafen können), ich sitze aber die ganze Nacht durch und tippe die zerfetzte Aufstellung nochmals ab, stets darum bemüht, dem nächsten Anfall dieser sowjetistisch-epileptischen Frühgeburt zuvorzukommen.
Über die kümmerliche Sowjetproduktion hat man bereits Bände geschrieben. Immer und immer wieder wurde ich aber von jenen Wirtschaftlern in die größte Bestürzung gebracht, die da versuchen wollten, das Unfaßbare zu erfassen und mit Zahlen zu belegen, was überhaupt nicht zu belegen ist.
Die Menschen sitzen Nächte hindurch an allerhand »Kasanwaisen«, Zehntausende von Waggons purzeln die Böschung hinab (nach den Berichten von Lazar Kaganowitsch gab es im Jahre 1935 an zweiundsechzigtausend Zugunfälle) – das ist das Resultat der einst so berühmten Produktion von Sormowo und Kolomna! Hunderttausende von Traktoren rosten auf ihren Eisenfriedhöfen, hundert Millionen Menschen arbeiten sich tot bei der stumpfsinnigen und alle Kräfte übersteigenden Arbeit in den verschiedenen sowjetistischen RVA's, auf Bauten, in Sowchosen, Kanälen, Lagern – und das Ganze ersäuft in dem großen Marx-Lenin-Stalinschen Sumpf.
Und das alles gipfelt eigentlich in dem »Qualitätsproblem«: die Qualität der kommunistischen Idee ist unzerreißbar mit der Qualität der Politik, der Verwaltung, der Führung – und der Ergebnisse verbunden.
Auf der Oberfläche dieses Sumpfes aber schimmern als grelle und gespensterhafte Blumen der zerfallene und fast vergessene Turksib-Eisenbahnbau, der arbeits- und absatzlose Dnejprostroj, der für niemand und zu nichts brauchbare Weißmeer-Ostsee-Kanal. Gigantische Werke! Lieferanten für Eisen- und Menschenfriedhöfe … Und in ihren schneidigen Kavalleriemänteln spazieren allerhand stutzerhafte Genossen Jakimenkos! Lieferanten nur für Menschenfriedhöfe.
Allerdings muß ich gestehen, daß damals all diese Gedanken über die Qualität der Produktion – sowohl ideologischer als auch nichtideologischer Art, mir nicht in den Kopf kamen. Eine Katastrophe nahte:
Uns alle erwartete hier etwas ebenso Grausames und Sinnloses wie eben jener Weißmeerkanal. Das im Brandschein aufzuckende Gewehrgeknatter der Unterlager hallte bei uns in den Verwaltungsbüros wider in Form von unübersehbarer Arbeit, ungeheurer Nervenanspannung und wilder, alarmartiger Eile … Das alles war schon wie eine Katastrophe. Natürlich war das Schmerzlichste daran unser eigenes Schicksal. Aber auch die Sinnlosigkeit dieser Katastrophe, sozusagen als »sozialer Querschnitt«, lag wie ein Alpdruck auf unserem Bewußtsein.
Der Befehl lautete: »Zur Verfügung des BAM sind fünfunddreißigtausend Insassen der Abteilung Podporog innerhalb von zwei Wochen zu verladen. In Marsch zu setzen ist verboten: alle ehemaligen Soldaten und Offiziere, alle im Fernen Osten Gebürtige, alle, deren Haft vor dem 1. Juni 1934 zu Ende ist, alle, die diese und jene Paragraphen haben, und endlich alle Kranken gemäß einer besonderen Aufstellung.«
Dieser Befehl konnte eine ganze Reihe von Fragen aufkommen lassen: Waren diese fünfunddreißigtausend Paar Arbeitshände nicht irgendwo näher zum Fernen Osten zu finden, statt sie über die Hälfte des Erdballes herüberzuholen? Konnte man nicht warmes Wetter abwarten, statt diese fünfunddreißigtausend Menschen jetzt schon unter vernichtenden Bedingungen in den Transportzügen zu befördern? Hat die GPU tatsächlich nicht bedacht, daß in der Zeit von zwei Wochen eine solche Evakuation praktisch einfach nicht durchzuführen ist? Und, endlich, konnte denn die GPU nicht begreifen, daß es der Abteilung Podporog absolut unmöglich war, aus den vorhandenen etwa fünfundvierzigtausend Lagerinsassen fünfunddreißigtausend Menschen herauszusuchen, die allen Anforderungen des Befehls entsprachen, ganz zu schweigen von dem Gesundheitszustand all dieser Menschen?
Selbstverständlich wird Jakimenko seinen »Produktionsfinanzplan« mit »eiserner Erbarmungslosigkeit« durchführen: zu einer Stellung, wie Jakimenko sie innehat, können sich nur Menschen emporschlängeln, die eben diese Erbarmungslosigkeit besitzen – denn die anderen werden durch die natürliche Auslese weggefegt. Jakimenko wird die Menschen in die durchlöcherten Waggons, in die völlig leeren Viehwagen treiben. Er wird danach trachten, in diese Transportzüge wen er nur kann – gleichgültig ob krank oder gesund – hineinzupferchen. Die Kranken kommen bestimmt nicht lebendig an, ist es denn aber ein einziges Mal in der Geschichte der Sowjetmacht vorgekommen, daß Menschenleben den scheinbar sieghaften Gang wenigstens eines Produktionsplanes aufgehalten haben?
Die härteste Prüfung für uns in all diesen Wochen war die Gefahr, daß Georg mit ins BAM mußte. Wie sich bald herausstellte, kamen Boris und ich für die Verschickung nicht in Frage. In unseren Formularen war der Paragraph 58,6 (Spionage) verzeichnet, und so konnte Jakimenko uns nicht verschicken, selbst wenn er das wollte; denn die Abnahmekommission des BAM hätte unsere Papiere nicht angenommen. Aber Georg hatte nicht diesen Paragraphen. Folglich stand es um die Sache so: Boris und ich bleiben, während Georg allein verschickt wird. Und das nach seiner Krankheit und seiner Operation im Sommer, nach dem Hungern im Gefängnis und im Lager, nach der zuchthäuslerischen Arbeit im Machorkanebel der RVA, sechzehn bis zwanzig Stunden am Tag. Gleich am Anfang all dieser BAM-Perspektiven bat ich Jakimenko einmal, Georg hierzubelassen. Jakimenko antwortete mir ziemlich kurz, dafür aber sehr unklar. Ein halbes Versprechen, das wahrscheinlich gehalten wurde, im Falle die Norm des Abtransportes mehr oder weniger erfüllt werden konnte. Aber von Tag zu Tag wurde es offensichtlicher, daß diese Norm nicht erreicht werden könnte noch würde.
Nachdem Jakimenko meine literarischen Talente nicht mehr brauchte, übersah er mich wie leere Luft. Ich konnte ihm nicht mehr nützen und war daher ein Mensch, auf den er keine Rücksicht zu nehmen oder mit dem er sich zu unterhalten brauchte. Man muß zugestehen, daß Jakimenko ebenso überanstrengt arbeitete wie wir alle, und daß er verpflichtet war, auch die gesamte Verwaltung der Abteilung, darunter die RVA, mit auf den Weg zu bringen. So war es bei weitem nicht einfach, die alten Mitarbeiter der RVA fortzuschicken und Georg zu belassen … Jedenfalls sanken die Hoffnungen auf Jakimenko von Tag zu Tag mehr und mehr … Sobald die mächtige Unterstützung Jakimenkos schwand, verbissen sich nach und nach in unsere Waden die Aktivisten der RVA und taten es unter den nunmehr eingetretenen Umständen niederträchtig und sehr schmerzhaft. –
Georg und ich hatten soeben die Aufstellungen des dritten Transportes beendet. Sie wurden verglichen, auf die Tische verteilt, und ich mußte sie nach Pogra zu Jakimenko bringen. Es war gegen drei Uhr nachts. Der Passierschein, den ich hierfür erhalten sollte, war nicht ausgefertigt. Hierbleiben durfte ich nicht, und Gehen war gefährlich. Aber ich ging und kam auch an. Als ich in Pogra eintraf und der Verwaltung die Verzeichnisse übergab, entdeckte ich, daß man aus jedem Exemplar vier ganze Seiten gestohlen hatte. Der Abgang des Transportes fiel dadurch ins Wasser. Der findige Aktiv in Pogra sagte Jakimenko, ich hätte diese Seiten verloren. Es wäre nicht schwer gewesen, nachzuweisen, daß es völlig unmöglich war, diese vier Seiten aus jedem der zwölf Exemplare mit Absicht zu verlieren. Für Jakimenko wäre es nicht schwer gewesen, zu begreifen, daß es nicht in meinen Interessen lag, mit Vorsatz diese Seiten herauszureißen, um sie dann nochmals abschreiben zu müssen. Das alles stimmte … Doch war die Unterredung mit Jakimenko, dessen Plan wegen meiner Verzeichnisse durchbrochen wurde, durchaus nicht angenehm – besonders mit Rücksicht auf Georgs Aussichten … Ähnliche Vorfälle, die sich ungefähr jeden zweiten Tag ereigneten, förderten das seelische Gleichgewicht in keiner Weise.
Indessen ging Zug auf Zug … Durch Boris erreichten uns über die Eisenbahner, die er behandelte, Nachrichten von dem Kreuzweg dieser Züge. Bereits auf dem Verladebahnhof Pogra wurden sie mit sehr kargen Brot- und Holzvorräten in Marsch gesetzt – mitunter auch ohne. Man nahm an, daß die GPU-Verpflegungsstellen entlang den Eisenbahnlinien sämtliche Züge mit allem Notwendigen versorgen würden … Aber niemand versorgte sie … Die ersten Züge konnten unterwegs noch einiges auflesen, und die übrigen fuhren – Gott weiß wie. Die Eisenbahner erzählten vom Aufenthalt der Züge auf kleinen, verlorenen Stationen, wo man aus den Wagen Hunderte von Leichen Erfrorener herausgetragen und abseits von der Bahnlinie hoch aufgestapelt habe … Sie erzählten von Zugunfällen, bei denen die wahnsinnig gewordenen Menschen in den umgekippten Holzfallen der Viehwagen wimmerten und schrien – Viehwagen, die zwar keinen Zugstoß aushielten, doch stark genug waren, den bloßen Menschenhänden standzuhalten …
Und es schwebte mir vor, daß man auf so einer verlorenen Station hinter dem Ural auch die erfrorene Leiche Georgs hinaustragen würde aus einem Viehwagen, der die Böschung hinabstürzte in den Brei von verstümmelten Menschenleibern. Ich verjagte diese Gedanken – doch kamen sie immer wieder; mit qualvoller Spannung suchte ich den Ausweg – wenigstens irgendeinen – doch er war nirgends zu finden …
Ich muß mich richtigstellen: daß Georg tatsächlich ins BAM verschickt würde, daran dachte keiner von uns auch nur eine Sekunde lang … Damals im Waggon Nummer 13 hat man es fertiggebracht, uns durch Tee zu betäuben und im Schlaf zu überraschen, ein zweites Mal wird uns das nicht passieren. Wir nahmen uns vor: entweder gelingt es Georg, sich vom BAM loszueisen, oder wir werden irgendein Gemetzel veranstalten, und wenn wir alle drei dabei hopsgehen. Nur Georg sprach mitunter davon, daß wir nicht gleich alle drei umzukommen brauchten. Wenn aus der Sache nichts würde, und er fahren müsse – nehme er unterwegs Reißaus. Doch war dieser Plan eine große Utopie. Einem Arrestantentransport zu entkommen, war fast unmöglich …
Boris hatte eine sehr pessimistische Stimmung. Er kam aus Pogra in einem ganz aufgewühlten Zustand. Körperlich war seine Arbeit leichter als die unsrige – ganze Tage pendelte er zwischen den Unterlagern, Lazaretten und Ambulanzen und verbrachte somit wenigstens einen Teil des Tages in der frischen Luft. Er hatte das Recht, über die Küchen die Sanitätskontrolle auszuüben, und er ernährte sich ausschließlich von »Kostproben«; seine Tagesration – ein Stück Brot und zwei Klümpchen gefrorenen Gerstenbrei – brachte er stets uns. Dagegen war seine moralische Lage – die Lage eines Arztes in dieser Umgebung von »Selbsthauern«, Erschießungen, Verladungen offensichtlich kranker Menschen auf die Züge – geradezu verzweifelt. Boris war überzeugt, daß Jakimenko sein halbes Versprechen Georg gegenüber nicht halten würde und daß wir alsbald, solange wir noch wenigstens etwas bei Kräften wären, die Flucht ergreifen müßten.
Unser Plan zur Flucht fußte auf folgenden Tatsachen: Auf dem Wege von Podporog nach Pogra stand ein tschekistischer Kordon aus drei Mann. Hier waren Boris und ich bekannt – besonders Boris, weil er an diesem Kordon jeden Tag, mitunter sogar zwei-, dreimal am Tage, vorbeigehen mußte. Spätabends wollten wir alle drei unter Mitnahme unserer Sachen Podporog verlassen. Boris und ich sollten an das Holzfeuer des Kordons herantreten und mit der Wache eine Unterhaltung anknüpfen. Im geeigneten Augenblick sollte dann Boris den ihm zunächst stehenden Tschekisten mit einem Faustschlag niederschlagen und sich sofort auf den nächsten stürzen. Gleichzeitig mit der »Liquidation« des Tschekisten Nummer 2 sollte ich den Tschekisten Nummer 3, wenn nicht gerade »liquidieren«, dann mindestens zur vorübergehenden Neutralität zwingen.
Irgendeine Waffe, sei es ein Messer oder eine Axt, dürfte man nicht gebrauchen; der Plan wird nur unter der Bedingung eines blitzartigen Zuschlagens und einer vollen Überraschung ausführbar sein … Ungünstig war nur, daß die Tschekisten lange Schafspelze trugen; manche und dabei die wirksamsten Angriffsarten kamen deshalb in Fortfall. Ganz sicher war ich meiner Kräfte nicht. Andererseits aber war es sehr unwahrscheinlich, daß der Tschekist, den ich zu erledigen hatte, stärker sein würde als ich. Der Plan war sehr riskant, doch immerhin ausführbar.
Nach der »Liquidation« des Kordons würden wir drei Gewehre, etwa hundertfünfzig Patronen und einigen Proviant bekommen, um dann um Podporog herum über den Swir nach Norden zu gehen … Bis zu diesem Punkt war im Plan alles mehr oder minder glatt … Aber dann?
Der Wald ist mit hohem Schnee verweht. Schneeschuhe konnte man schon kriegen, doch keine Jagd-, sondern nur Langlaufschneeschuhe. – Bei dem holprigen Waldgelände, Baumwurzeln und Erdgruben werden sie nicht viel nutzen. Von uns dreien war nur Georg ein Skiläufer von Klasse. Boris und ich waren nur Durchschnittsamateure … Die erschlagenen Tschekisten wird man entweder in der gleichen Nacht oder am frühen Morgen entdecken. Am gleichen Tage wird ein Kommando der »Operationsabteilung« die Verfolgung aufnehmen, begleitet von so guten Spürhunden, von denen die Wildwesttrapper nicht mal geträumt haben. Nach allen Richtungen werden Telephonogramme ausgesandt, einige Kommandos werden versuchen, uns den Weg abzuschneiden …
Wohl werden wir Gewehre haben … Boris ist ein ausgezeichneter Schütze, allerdings mit beschränkter Sichtweite, da seine Kurzsichtigkeit die phantastische Zahl von dreiundzwanzig Dioptrien beträgt (Folgen der Haft auf den Solowetzki-Inseln). Ich bin weniger als ein Durchschnittsschütze, Georg auch … Fast gar kein Proviant, keine Karte, kein Kompaß. Was hat man da für Aussichten auf Erfolg?
In den kurzen Stunden, die mir für den Schlaf blieben, wälzte ich mich auf den nackten Brettern der Stellage und fühlte deutlich: keinerlei Chancen. Wenn aber nichts anderes zu machen ist – dann werden wir nach diesem Plan handeln …
Wir versuchten auch, Markowitschs Lebensweisheit uns zunutze zu machen. Ein paar Projekte – unblutig, dafür aber sehr wacklig, hatte auch er. Allerdings wurde ihm das Projektemachen bald versalzen. Sein Abtransport nach dem BAM stand plötzlich vor ihm auf, und dazu noch in den allernächsten Tagen. Er strengte seine ganze Findigkeit an und versuchte, alle seine Verbindungen auszunutzen. Aber es wurde nichts daraus. Mischka fuhr nicht mit, weil er hier als »zeitweilig abkommandiert« betrachtet wurde und zu dem Personal der Zentraldruckerei in Medgora gehörte. Troschin pendelte im Lager umher, und aus ihm spritzte wie aus einem Hydranten nach allen Seiten Enthusiasmus.
Eines Tages saßen wir in der kleinen, schiefen Druckereihütte alle beisammen: wir drei, Markowitsch, Mischka und Troschin. Die Stimmung war zum Heulen, und dazu faselte Troschin noch sein ekelhaftes Zeug über die BAM-Amnestien, Umerziehung der Werktätigen, über den sozialistischen Aufbau. Es war unbeschreiblich widerlich. Ich rief in seine Tiraden hinein, er solle das Maul halten und sich zu allen Teufeln scheren. Doch begann er, mit mir zu streiten.
Mischka stand am Setzkasten und war mit dem Setzen des nächsten Artikels über Enthusiasmus beschäftigt. Plötzlich ging er seitwärts, als ob er nichts Besonderes vorhätte, pirschte sich an Troschin heran und schlug ihm unter Aufbietung seiner nicht übergroßen Kräfte mit einem Winkelhaken über den Kopf. Vor Überraschung sackte Troschin in die Knie, sprang aber sofort wieder auf, warf sich auf Mischka, stürzte ihn zu Boden und packte ihn an der Gurgel. Ganz phlegmatisch griff Boris Troschin und schleuderte ihn in die Ecke des Zimmers. Mischka stand auf, blaß und vor Wut zitternd:
»Ich werde dir, du bolschewistische Dirne, sowieso den Hals durchschneiden, ich lasse dir, du tschekistischer Arschlecker, die Gedärme heraus … Ich habe nichts zu verlieren, ich bin schon sowieso mit einem Bein im Grabe …« Die Stimme Mischkas überschlug sich vor Wut, doch verriet der Ton eine unbeugsame Entschlossenheit. Schwankend stand Troschin auf. Über die eine Schläfe lief ein dünnes Blutgerinnsel.
»Ich habe Ihnen doch immer gesagt, Troschin, daß Sie ein konkreter Idiot sind«, erklärte Markowitsch, »ich will mal sehen, was für Enthusiasmus Ihnen im Transportzug entströmt …« Der Vorhang über den Enthusiasmus Troschins lüftete sich für einen Moment.
»Wir fahren im Personenzug«, platzte er düster heraus. –
»He, im Personenzug … Vielleicht möchten Sie im Mitropawagen fahren, Genosse Troschin? Mit Bettwäsche und Speisewagen? … Beten Sie zu Gott, daß wir wenigstens einen dichten Viehwagen bekommen. Und einen Ofen … Gestern habe ich einen Transportzug gesehen, die Öfen waren da, doch keine Abzugsrohre … He, Personenzug? Troschin, Sie müssen sich einfach von der Idiotie kurieren lassen.«
Troschin starrte eine Weile das blasse Gesicht Mischkas unverwandt an, dann die Gestalt Boris', überlegte etwas, nahm seine Habseligkeiten unter den Arm und verschwand. Weder ihn noch Markowitsch habe ich seither wiedergesehen. – Bereits am anderen Tage wurden sie verladen. Boris war dabei. Sie kamen in einen durchlöcherten Viehwagen ohne »Ofenrohr«.
Nicht umsonst sagte mir Markowitsch beim Abschied:
»Wissen Sie, Iwan Lukjanowitsch, daß ich hierher, in die Sowjetunion, erster Klasse fuhr? Wenn man in das Paradies fährt, dann mindestens erster Klasse … Und jetzt fahre ich auch ins Paradies … Doch nicht erster Klasse und nicht in das sozialistische … Immerhin ist es interessant zu wissen, ob es ein Paradies überhaupt gibt … Na, bald werde ich es wissen. Wenn Sie wollen, Iwan Lukjanowitsch – dann werden Sie einen eigenen Korrespondenten aus dem Paradies haben. Wie? Denken Sie, daß ich ankomme? Mit meiner Gesundheit? I wo, Iwan Lukjanowitsch, ich weiß doch, wie es auf der Fahrt zugeht … Auch Sie wissen es … Irgendein Bauer, der es von der Kindheit an gewöhnt ist … Und ich – ich bin doch ein Stubenmensch. Nein, nein. Wissen Sie, Iwan Lukjanowitsch, wenn Sie meine Frau sehen sollten – alles ist möglich in dieser Welt – dann sagen Sie ihr, daß sie niemals vertrauensselige Männer heiraten soll. Pche! – sozialistisches Paradies … Auch wir beide bekamen ein kleines eigenes Stückchen des sozialistischen Paradieses …«
Der »Produktionsfinanzplan« des Genossen Jakimenko krachte in allen Fugen. Von zwei Wochen und von fünfunddreißigtausend Menschen war bereits nicht mehr die Rede. Die Eisenbahn ließ entweder gar keine Züge anrollen, oder es kamen solche, die abzunehmen die Abnahmekommission des BAM sich ganz entschieden weigerte – mit Löchern, durch die nicht nur ein Mensch, sondern ein ganzes Pferd hindurchgehen konnte. Die Nachprüfung der Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit ergab schon ganz trostlose Zahlen: nicht mehr als achttausend Mann konnten als zum Abtransport tauglich anerkannt werden und auch diese – »insofern als«. Indessen beschnitt das BBK, von den sehr prosaischen »Wirtschaftlichkeitsberechnungen« ausgehend, – wozu denn bereits fremde Arbeitskräfte noch füttern? – die Verpflegungsrationen bis auf das Niveau einer Operationsklinik. Die Menschen begannen zu Hunderten und Tausenden vor Hunger umzufallen. Wiederum wurden die medizinischen Kommissionen eingesetzt. Durch eine solche Kommission bin ich auch gegangen. Ein altes Doktorchen sieht mit hilfloser Resignation irgendeinen zerlumpten Lagerinsassen an, der ihm sein wassersüchtiges und wie ein Kissen angeschwollenes Bein demonstriert, beklopft und behorcht ihn. An einem Tisch nebenan sitzt ein »Beamter« der dritten Abteilung – er ist die Kommission.
»Nu?« fragt der »Beamte«.
»Wassergeschwülste, wie Sie sehen … Tbc zweiten Grades … das Herz auch.« Und flink schreibt der »Beamte« ins Formular:
»Tauglich.«
Später machte man es noch einfacher: ein halbes Dutzend Urkis wurde mit Radiergummi bewaffnet. Auf der Rückseite der Formulare, wo die Spalten der Arbeitsfähigkeit und der medizinischen Diagnose vorgedruckt waren, wurde alles wegradiert, und man schrieb einfach quer über das ganze Formular: Erste Kategorie – d. h. volle Arbeitsfähigkeit.
Diese Menschen hatten gar keine Aussicht, im BAM lebendig anzukommen. Wir wußten es, sie wußten es, und selbstverständlich wußte es auch Jakimenko. Doch mußte Jakimenko seine Karriere machen, und er führte seinen »Produktionsfinanzplan« auf Kosten von Tausenden von Menschenleben durch. All diese wunderbar mit dem Radiergummi wieder gesund gemachten Menschen schickte man in einen gleich sicheren Tod, als wenn man sie einfach in die Eislöcher des Swir geworfen hätte.
Georg und ich aber schrieben unsere endlosen Aufstellungen weiter. Gegen Nacht leerte sich die RVA gewöhnlich, und wir blieben an unseren Maschinen allein … Die gesamte Kartothek der RVA stand uns zur Verfügung. Von zwölf Exemplaren der Aufstellungen unterschrieb Jakimenko nur drei und prüfte nur eins. Die unterschriebenen gingen: eins in die Verwaltung des BBK, das zweite an die Verwaltung des BAM und das dritte an die GULAG in Moskau. Die übrigen Exemplare wurden zur Aufstellung des Transportes, für die Verpflegungsabteilung und so weiter verwendet. Fast gleichzeitig faßten wir einen sich uns von selbst aufzwingenden Plan. – In den ersten drei Exemplaren sollte alles, wie es sein mußte, belassen werden – in den restlichen neun wollten wir die Namen der offensichtlich kranken Menschen (dazu war die Kartothek da) durch nicht vorhandene Namen ersetzen, oder alles so durcheinanderbringen, daß niemand daraus klug werden sollte. Bei dem Chaos, das auf allen Unterlagern herrschte, bei dem vollkommenen Durcheinander in den Kolonnen selbst und in ihren Aufstellungen, bei der Verdrehtheit und dem ununterbrochenen Suff der unteren Verwaltung wird niemand dahinterkommen: war es eine bewußte Unterschlagung, ein zufälliger Fehler oder der gewohnte Urkiwirrwarr? Im gegebenen Augenblick wird es auch niemand zu entziffern versuchen.
Eine große Verführung lag in diesem Plan. Doch hatte ich noch etwas anders dabei. Es ist schon eine Sache für sich, den eigenen Kopf zu riskieren, eine noch ganz andere Sache aber ist es, in dieses Risiko seinen eigenen Sohn, dazu noch einen Jüngling, mit hineinzuziehen. Auch ohnehin war mein Gewissen mit all dem, was bisher geschah, schwer belastet: mein »technischer Fehler« mit Frau E. und mit Mister Babenko, das von Tag zu Tag immer mehr einfallende Gesicht Schorschis, das Schicksal Boris' und noch vieles andere. Noch etwas: eine große Müdigkeit und das Bewußtsein dessen, daß all das eigentlich so kraftlos und zwecklos war. Was nützt es, wenn wir aus mehreren Tausend einige Dutzend Menschen herausfischen, mehr wird uns nicht gelingen! Und sie werden anstatt nach einem Monat im Transportzug, nach einigen Monaten irgendwo in der »Schwachkraft« des BBK sterben. Das wäre alles. Lohnt sich dann das Spiel?
Eines Frühmorgens kehrten wir aus der RVA in unser Zelt zurück. Draußen war es still und frostig. Die leeren Straßen von Podporog lagen unter einer dicken Schneedecke.
»Wa, ich meine aber doch«, sagte Georg ganz unvermittelt, »man muß es machen … man fühlt sich irgendwie …«
»Wir kommen aber dafür in die Spalte ›außerhalb des Lagers Verstorbene‹ Schorschi«, erwiderte ich.
»Na, dann Gras über uns … denkst du denn, daß wir viel Chancen haben, hier lebendig auszukratzen?«
»Ich denke doch.«
»Und ich glaube, gar keine. Noch einen Monat, und wir sind mager wie Skelette … Egal … Es handelt sich aber nicht darum.«
»Worum handelt es sich denn?«
»Darum, daß es irgendwie nicht menschlich ist. Können wir die Leute retten? Wir können es! Nachher soll man uns meinetwegen erschießen. Sowieso holt sie der Teufel. Es ist auch kein Vergnügen, sich in diesem Paradies herumzutummeln …«
Früher, noch bevor wir im Lager waren, sprach Georg oft davon, daß er sich schon längst erschossen hätte, wenn es ganz gewiß wäre, daß es uns nicht gelingen würde, aus der Sowjetunion zu entkommen. Wenn das Leben ausschließlich aus Unannehmlichkeiten besteht, dann hat es keinen Zweck zu leben … Doch worin kann bei einem achtzehnjährigen Jüngling der Zweck liegen und was weiß er überhaupt vom Leben?
Georg blieb stehen und setzte sich in den Schnee.
»Wollen wir hier nicht etwas sitzen, wenigstens unsere Lungen von der RVA-Machorka auslüften?«
Ich setzte mich zu ihm.
»Ich weiß, Wa, du bist mehr meinetwegen bange.«
»Brauchst keine Bange zu haben.«
»Fabelhaft einfaches Rezept!«
»Und wenn es dazu kommt – und es kommt dazu – gegen die Bolschewisten mit dem Gewehr in der Hand vorzugehen, dann wirst du wegen des Risikos doch nichts einzuwenden haben?«
»Wenn es dazu kommt«, zuckte ich die Achseln.
»Gott gebe, daß es dazu kommt! Natürlich, wenn wir von hier verschwinden.«
»Wir werden schon verschwinden«, sagte ich.
»Ach«, seufzte Georg. »In der Freiheit konnten wir nicht verschwinden, mit Geld, mit Waffen … Mit allem. Und hier?«
Wir schwiegen eine Weile. Sooft haben wir schon dieses Thema besprochen.
»Siehst du, Wa, wenn wir diese Sache nicht unternehmen, ich meine mit den Listen, dann werden wir uns nachher selbst wie die Lumpen vorkommen … Haben's gekonnt, aber der Mut reichte nicht aus …«
Wir schwiegen wieder. Georg erhob sich von seinem weichen Sitz und reckte sich.
»Dann also los, Wa? Wie? Im Namen des heiligen Nikolaus.«
»Los!« sagte ich.
Wir drückten uns fest die Hände. So! … Ganz ohne Vaterstolz war ich doch nicht.
Besonders große Ergebnisse kamen dabei zwar nicht heraus, aus dem einfachen prosaischen Grunde, daß ein Mensch nicht ohne Schlaf sein kann. Denn für unsere Manipulationen mit den Kartothekkarten und Aufstellungen blieben nur jene vier bis fünf Stunden täglich, die wir für den Schlaf übrig hatten. Hätte jeder von uns einzeln zu handeln gehabt, dann hätte er höchstwahrscheinlich diese Manipulationen gleich nach den ersten schlaflosen Nächten bleiben lassen; solange aber wir beisammen waren, wollte niemand von uns den Rückzug blasen. Immerhin gelang es uns, aus jeder Aufstellung etwa fünfzehn, mitunter sogar zwanzig Menschen herauszuklauben. Das war ein ziemlich hoher Prozentsatz – jede Aufstellung enthielt fünfhundert Namen –, und man fing in Pogra bereits darüber zu sprechen an, daß bei der RVA etwas nicht in Ordnung sei.
Die Beziehungen zu Jakimenko wurden dauernd schlechter. Denn Georg und ich konnten vor Müdigkeit und Schlaflosigkeit kaum noch auf den Beinen stehen, und wir brachten schon so, ohne unsere vorsätzliche Absicht, die Aufstellungen genügend durcheinander, so daß auf den Verladestellen oft ein nicht zu enträtselnder Wirrwarr herrschte. Auch zwischen Jakimenko und Boris entstanden Reibereien, die bei den gegebenen Umständen nichts Gutes vorausahnen ließen und über die Boris mit verhaltener Wut, doch sehr unbestimmt, sich äußerte. Der Oberarzt der Abteilung erkrankte, Boris wurde zu seinem Stellvertreter ernannt und, soweit ich verstand, mußte er mit seiner Unterschrift die wegradierten Diagnosen und die neuen Vermerke »tauglich« bestätigen. Auch an diesem Frontabschnitt war auf einmal dicke Luft.
Eines Morgens kommt Boris in die RVA. Übernächtig, ungewaschen und unrasiert, verquollen und verdreht, wie wir alle. Er steckt mir seine tägliche Gabe zu – einen gefrorenen Klumpen Gerstenbrei. Etwas Besonderes liegt in seinem Wesen, sein Auge blickt entschlossener denn je … Ich merke, er will aufs Ganze gehen. Unruhe schleicht mir in die Seele. Ich will ihn fragen, was eigentlich los ist, aber schon betritt Jakimenko das Zimmer. In der Hand irgendeinen Wisch zum Abschreiben. Er sieht verkehrt und gereizt aus: er arbeitet wie wir alle, und doch schrumpft der »Produktionsfinanzplan« jeden Tag mehr und mehr zusammen. Kaum hat Jakimenko Boris erblickt, als er sich scharf an ihn wendet:
»Was soll das, Doktor Solonewitsch? Die Leute von der dritten Abteilung in der Musterungskommission sagten mir, daß Sie aufsässig wären … Ich warne Sie – solche Beschwerden will ich nicht mehr hören …«
»Ich habe selbst, Bürger Chef, eine Beschwerde gegen diese Leute vorzubringen …«
»Ich pfeife auf Ihre Beschwerde!« – Das kalte und sonst beherrschte Gesicht Jakimenkos verzieht sich plötzlich. »Doppelt und dreifach pfeife ich darauf. Hier ist ein Lager und keine Universitätsklinik. Sie sind verpflichtet, das auszuführen, was Ihnen die dritte Abteilung befiehlt.«
»Die dritte Abteilung hat das Recht, mir als Häftling zu befehlen, sie hat aber kein Recht, mir als Arzt Befehle zu erteilen. Die dritte Abteilung kann auf meine Diagnosen Rücksicht nehmen oder auch nicht, ich aber werde die Diagnosen dieser Abteilung nicht unterschreiben!« Das Gesetz stand auf Boris' Seite. Ich sehe, daß hier zwei Meister in punkto »aufs Ganze gehen« aufeinandergestoßen sind – allerdings mit allen Chancen auf Jakimenkos Seite. Die Adern auf seiner Stirn schwillen an.
»Bürger Chef gestatten, zu melden, daß ich mich ganz entschieden weigere, unter die Beschlüsse der Musterungskommission bei den gegebenen Umständen meine Unterschrift zu setzen.«
Jakimenko heftet seinen Blick auf Boris und steckt die Hand in die Tasche. In meinem erregten Kopf blitzt der Gedanke auf, daß Jakimenko nach dem Revolver greifen will – ein völlig unsinniger Gedanke! Ich fühle, wenn Jakimenko mit dem Revolver oder mit dem Geschimpfe zu operieren versuchen wird, dann haut Boris zu, dann ist es der letzte »Produktionsfinanzplan« in der Verwaltungs- und Lebenslaufbahn Jakimenkos gewesen. Seine, von Jakimenko nicht angenommene Beschwerde nimmt Boris aus der rechten in die linke Hand, und die rechte hängt nunmehr scheinbar schlaff herunter. Ich kenne diese Geste vom Ring her – die Hand hängt herunter, um dann von unten an das Kinn emporzuschnellen … Die Gedanken überstürzen sich. Boris wird zuschlagen, Aktivisten und Tschekisten werden sich wie eine Meute dazwischenstürzen, Georg und ich lassen unseren Fäusten auch freien Lauf – und in fünfzehn Sekunden sind alle unsere Probleme endgültig gelöst.
Eine stumme Szene. Die RVA atmet nicht. Von der Ofenbank, auf der unter dem Mantel der Stellvertreter Jakimenkos, Chorunschin, ein gutmütig-grausamer und ausgesucht virtuosenhafter Schimpfbold, schlief, erschallt plötzlich eine ganze Tonleiter von unbeschreiblichem Geschimpfe. Der gesamte Wortschatz Chorunschins besteht nur aus Schimpfworten. Sogar wenn er mir den Inhalt der Mitteilung, die ich an die Hauptverwaltung schreiben muß, angibt, – dann wird er in einem solchen Stil wiedergegeben, daß ich daraus nur die Präpositionen und Konjunktionen gebrauchen kann.
Sein Geschimpfe ist an niemand gerichtet. Er wird einfach durch diese blöden Kommissionen dauernd in seinem Schlaf gestört … Er dreht sich auf die andere Seite und zieht den Mantel über den Kopf.
Jakimenko holt aus der Tasche eine Zigarettenschachtel und hält sie Boris hin. Ich traue meinen Augen nicht.
»Danke, Bürger Chef, ich bin Nichtraucher.«
Jetzt wird die Schachtel mir vorgehalten.
»Gestatten Sie die Frage, Doktor Solonewitsch«, spricht Jakimenko in einem trockenen und scharfen Ton, »warum, zum Teufel, gingen Sie dann an die Arbeit in der Kommission? Das ist doch nicht Ihre Spezialität. Sie sind doch Sanitätsarzt. Kein Wunder, daß die dritte Abteilung Ihren Diagnosen nicht traut. Der Teufel soll sich da auskennen … Wenn die Menschen sich mit fremden Sachen befassen.«
Diese ganze Motivierung ist keinen Pfifferling wert. Jakimenko tritt offensichtlich den Rückzug an, und den muß man ihm weitgehendst erleichtern.
»Ich habe es ihm wiederholt gesagt, Genosse Jakimenko«, mische ich mich ein. »Das Ganze hat eigentlich Doktor Schukwetz eingebrockt.«
»Da haben wir's, diese alte Schlafmütze, Doktor Schukwetz.« Jakimenko ergreift den Rettungsanker, um sein Vorgesetzten-»Gesicht« zu wahren … »Also, ich werde heute noch den Befehl erteilen, Sie von der Arbeit in der Kommission zu befreien. Befassen Sie sich mit der Sanitätsausrüstung der Transportzüge. Und geben Sie acht: für jede Kleinigkeit sind Sie mir persönlich verantwortlich … Keinerlei Ausreden … Daß mir die Transportzüge Ia ausgerüstet werden!«
Die Transportzüge konnte man nicht mal einigermaßen, geschweige denn Ia ausrüsten – aus dem einfachen Grunde nicht, weil überhaupt keine Ausrüstung da war. Doch antwortet Boris:
»Gehorsamst, Bürger Chef.«
Aus der Ecke schaut mich das wüste Gesicht Starodubzeffs an, und ich lese deutlich in ihm:
»Der Teufel soll das verstehen.«
Eigentlich verstehe auch ich nicht viel.
Am Abend gehen wir zusammen und holen unser Mittagessen. Boris sagt:
»Ja, wie dem auch sei, es ist doch angenehm, sich mit einem klugen Menschen zu unterhalten. Sogar mit einem klugen Lumpen.«
Die Gleichung mit dem unbekannten Grund des Rückzuges Jakimenkos habe ich bereits gelöst. Als wir um unser Mittagessen Schlange standen, habe ich eine Denksportaufgabe gestellt: jeder von uns sollte den Rückzugsgrund formulieren, und dann wollten wir die einzelnen Formulierungen einer gemeinschaftlichen Beratung unterziehen.
Georg unterbricht Boris, der gerade seine Lösung vorbringen will:
»Haltet mal, Brüderchen, laßt mich nachdenken … Und dann sagt ihr mir, ob's richtig ist oder nicht.«
Nach dem Mittagessen trägt Georg im Tone der Erklärungen Sherlok Holmes an Doktor Watson vor:
»Was wäre geschehen, wenn Jakimenko Boris verhaftet hätte? Erstens kommen sie mit den Ärzten sowieso nicht aus. Zweitens, was hätte Wa getan? Wa hätte nur das eine tun können – denn es wäre nichts anderes übriggeblieben: zu der Abnahmekommission des BAM zu gehen und zu erklären, daß Jakimenko sie systematisch begaunert, indem er krepierende Arbeitskräfte liefert … Jemand aus der BAM-Kommission wäre dann zu der Hauptverwaltung in Medgora gefahren und hätte dort Skandal gemacht … Ist es richtig so?«
»Fast«, sagt Boris. »Nur, daß die BAM-Kommission sich nicht nach Medgora, sondern an die GULAG gewandt hätte. Seitens der GULAG hätte Jakimenko eins draufbekommen für Unkosten der Leichentransporte und seitens des BBK ebenfalls – für ungenügende Fingerfertigkeit. Außerdem, wären Wa und du nicht hier, dann hätte Jakimenko mich aufgefressen und sich nicht mal verschluckt.«
Gleichlautend war auch meine Erklärung. Immerhin scheint es mir aber bis heute noch, daß es mit Jakimenko nicht so einfach war … Am gleichen Abend höre ich aus dem Nachbarzimmer wieder seine Stimme:
»Solonewitsch, Georg, kommen Sie mal hierher!«
Georg erhebt sich von der Maschine, wir tauschen besorgte Blicke aus.
»Haben Sie diese Aufstellung geschrieben?«
»Jawohl.«
Mir wird ungemütlich. Das ist eine unserer gefälschten Aufstellungen.
»Gestatten Sie mal die Frage, woher haben Sie diese Namen genommen – wie heißt das … Abburrachmanoff … Diesen Namen fand ich in der Kartothek überhaupt nicht.«
Mein Herz beginnt mir in die Schuhe zu rutschen.
»Ich weiß nicht, Genosse Jakimenko, irgendein Durcheinander wahrscheinlich.«
»Durcheinander? … Bei Ihnen im Kopf ist ein Durcheinander.«
»Ja, freilich«, gibt Georg bereitwilligst zu, »auch in meinem Kopf.«
Schweigen. Mit angehaltenem Atem lausche ich auf den kleinsten Laut.
»Durcheinander? … Ich werde Sie eine Woche in den Strafisolator setzen.«
»Dann werde ich mich dort wenigstens ausschlafen können, Genosse Jakimenko.«
»Sofort diese Aufstellungen umschreiben. Starodubzeff! Alle Aufstellungen nachprüfen! Jede Aufstellung mit der Unterschrift des Prüfenden versehen! Verstanden?«
Georg kommt ganz blaß aus dem Kabinett Jakimenkos zurück. Seine Finger treffen die Tasten der Maschine nicht. Ich fühle, daß auch meine Hände zittern. Aber es scheint, daß es diesmal vorübergeht … Doch, wann wird der Moment kommen, wo es nicht mehr vorübergeht?
Unsere Kombinationen zerplatzten von selbst. Allerdings wären sie auch ohne die Einmischung Jakimenkos zerplatzt: Ganz ohne Schlaf ging es doch nicht. Aber was wußte oder was vermutete Jakimenko?
Ich bringe nach Pogra die Aufstellungen des nächsten Transportzuges und schlendere dann im Lager umher. Es ist scharfer Frost, aber nach der Räucherbude der RVA ist es sehr wohltuend, aus voller Brust zu atmen. Das Unterlager ist nicht wiederzuerkennen … Schon lange schickt man niemand in den Wald – aus Angst, daß die Menschen auseinanderlaufen werden – obwohl man nirgendwohin entlaufen kann; das Brennholz ist aufgebraucht. Und so geht all das, was mit so viel Mühe, mit so viel Opfern und so eilig vor drei Monaten gebaut wurde, in den Ofen, zum Schornstein hinaus. Zum Feuern werden Baracken, Magazine und Küchen abgebrochen. Wie ein schneeverwehter Schrotthaufen liegt ein von unbekannter Hand gesprengter mächtiger Dieselmotor da, den man hierher für den Dammbau gebracht hat. Achtlos liegen verbogene Bohrrohre umher. All das ist Importware, mit Devisen bezahlt … An der Baracke, wo wir einst vom Tauwasser begossen wurden, steht dicht gedrängt ein Haufen von Häftlingen – ungefähr vierhundert Mann. Er ist von einer Kette der GPU-Schützen umgeben. Sie stehen in einiger Entfernung, ihre Gewehre nach dem GPU-Reglement waagerecht unter dem Arm haltend. Außer den Gewehren drohen auf Dreigestellen zwei leichte Maschinengewehre herüber. Vor dem Menschenhaufen ein Tischchen, daran die hiesige Obrigkeit.
Einer ruft gleichmütig aus:
»Iwanoff?«
Die Menge schweigt.
»Petroff?«
Wiederum Schweigen.
Diese Operation trägt einen technischen Namen – die Probe auf Ausdauer. Die Menschen des Unterlagers sind durcheinandergekommen, haben ihre »Arbeitskarten« – der einzigste Personalausweis jedes einzelnen Lagerinsassen – entweder verloren oder fortgeworfen. Und wenn nun aus der ganzen Kolonne jemand aufgerufen wird, der für den nächsten Transport nach dem BAM bestimmt ist, dann zieht er vor, sich nicht zu melden. Danach wird die ganze Kolonne aus der Baracke an die frostige Luft getrieben, mit einer Schützenkette umgeben, und das Aufrufen beginnt von neuem. Die Kolonne schweigt sich aus. Die Vorgesetzten lösen sich ab, die Schützen werden ausgewechselt, nur die Menge steht da, immer im Frost. Allmählich, einer nach dem anderen, beginnen die Schweiger sich zu ergeben – zunächst die Arbeiter und die Intelligenz, dann die Bauern und endlich die Urkis. Sehr oft ergeben sich die Urkis bis zum Schluß nicht: einer fällt in den Schnee, und man schleppt ihn, erfroren, entweder in die Ambulanz oder in die Grube, die schon vorher für ein Massengrab ausgeworfen wurde. Das Ausschweigen ist im allgemeinen ein völlig hoffnungsloses System des Widerstandes … In der wimmernden Menge sind schon mehrere Menschen umgefallen. Man wird sie nicht sogleich aufheben, damit kein »Simulieren« aufkommt … Man erzählt, daß eine Kolonne von Erdarbeitern einen Rekord aufgestellt hat: zwei Tage und zwei Nächte hat sie die Probe auf Ausdauer ausgehalten, und knapp die Hälfte hat sich gemeldet … Und die andere Hälfte? Es ist nicht viel davon übriggeblieben …
Auf dem Anschlußgleis steht ein halbabgefertigter Transportzug. Das Gelände um diesen Gleisanschluß ist mit Stacheldrahtverhau umgeben und wird mit Maschinengewehren bewacht. Ich habe aber einen Passierschein und komme an die Wagen heran. Einige sind schon besetzt; aus den anderen kehren die künftigen Passagiere Schnee, Sägemehl und Reste von Steinkohlen heraus, dichten die Löcher ab, legen die Stellagen – kurzum, der Aufbau des Sozialismus ist in vollem Gange …
Plötzlich irgendwo hinter mir eine schallende Stimme:
»Hallo, Iwan Lukjanowitsch! Genosse Solonewitsch, hallo!«
Ich drehe mich um. Mit erstaunlicher Behendigkeit springt jemand aus dem Wagen. Er trägt einen nicht zu sehr abgerissenen Buschlat und hat einen dichten, fuchsigen Vollbart. Rufend und die Mütze schwenkend läuft er auf mich zu. Ich bleibe stehen.
Er kommt heran und schüttelt mir begeistert die Hand. Er hat Finger wie Eisen.
»Guten Tag, Iwan Lukjanowitsch, wissen Sie, ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Wohl verstehe ich, daß es meinerseits eine Schweinerei ist, die Freude zum Ausdruck zu bringen, wenn man einem alten Freund an solchem Ort begegnet. Doch der Mensch ist schwach. Warum soll ich ›die Harmonie der allgemeinen Gleichheit‹ stören und zu den Übermenschen streben?«
Ich betrachte ihn aufmerksam. Nicht zu erkennen! Ein fuchsiger Bart, lustige, schalkhafte Augen. Im ganzen das Aussehen eines niemals kopfhängerischen Menschen.
»Na, hören Sie mal«, tönt es entrüstet aus dem Vollbart, »erkennen Sie mich wirklich nicht? Haben Sie denn tatsächlich solche hohen administrativen Gipfel erklommen, daß es für Sie solch einfache Lagerinsassen wie einen Hendelmann nicht mehr gibt?«
Als ob jemand mit einem nassen Schwamm über das Gesicht des rothaarigen Mannes fuhr und mit einem Male den Bart wegwischte, dann den Buschlat auszog, erschien plötzlich unter all diesem Beiwerk Hendelmann Der Name ist geändert. so, wie ich ihn von Moskau her kannte: aus lauter Muskeln, Munterkeit und Schalkhaftigkeit zusammengesetzt. Natürlich auch meinerseits ist es eine »Schweinerei«, doch freue ich mich sehr, ihn zu sehen. So stehen wir da und drücken einander die Hand.
»Also, Sie sitzen endlich«, beginnt Hendelmann munter. – »Ich habe es Ihnen prophezeit, allerdings haben Sie auch mir dasselbe prophezeit. Was für scharfsinnige Menschen wir sind! Wie war es nur möglich, daß dieser Scharfsinn nicht ausreichte, am Sitzen vorbeizukommen? Erstaunlich, was? Doch man muß stark sein und sich über diese persönlichen kleinen Schicksale und spießigen Erlebnisse erheben. Wenn unsere Anführer, die Besten der Besten, die eiserne Garde des Leninismus, die größte Hoffnung der kommenden Menschheit – wenn die sich in GPU-Verließe setzen, wie die Fliegen auf ein Honigbrot, dann, was sollen wir sagen? Wie? Wir müssen sagen: Herzlich willkommen, Genossen.«
»Halt – unterbreche ich, »es sind doch Menschen um uns herum.«
»Eh, nitschewo. Brave Kerle. Unsere Kolonne besteht aus Bauern vom Ural: Kerle von Schrot und Korn. Prachtvolle Kerle. Also: nach welchen Paragraphen von existierenden und nicht existierenden Gesetzen sind Sie hierhergeraten?«
Ich erzähle. Der schalkhafte Glanz in den Augen Hendelmanns erlischt.
»Ja–a, das ist schlimm. Das nennt man Pech haben.« Hendelmann schaut sich um und geht zur deutschen Sprache über: »Sie werden doch fliehen?«
»Bis jetzt haben wir es für selbstverständlich gehalten. Aber nun diese Geschichte mit dem Verschicken meines Sohnes. Na, Hendelmann, strengen Sie ihren Kopf an und erfinden Sie etwas.«
Hendelmann fährt mit den Fingern in seinen Bart und beschaut sich die Wagen, den Drahtverhau, den Tannenwald, den Schnee, als ob er dort irgendeine Lösung suche.
»Haben Sie schon versucht, sich an die BAM-Kommission heranzuschleichen?«
»Auch daran habe ich gedacht. Aber das ist hoffnungslos.«
»Vielleicht nicht ganz. Sehen Sie, Vorsitzender dieser Kommission ist ein gewisser Tschekalin, ich kenne ihn aus dem Lager von Wischera. Erstens ist er Kommunist aus der Zeit vor der Revolution, und zweitens ein durchaus nicht dummer Mensch. Wenn ein nicht dummer Kommunist mit solchem Parteidienstalter bis jetzt keine Karriere gemacht hat – was er jetzt hat, ist doch keine Karriere – so bedeutet es, daß er ein an sich anständiger Mensch ist und daß er in dieser Eigenschaft früher oder später sitzen wird. Natürlich weiß er selbst dies auch. Jedenfalls sind es greifbare psychologische Möglichkeiten.«
Eine ziemlich unerwartete Idee. Aber was für psychologische Möglichkeiten können in diesem Irrenhause sein? Tschekalin ist ein stachliger, nervöser, hastiger und abgearbeiteter Mensch, halb irrsinnig von dem ewigen Zank mit Jakimenko.
»Oder versuchen Sie, mit uns zu kommen. Unser Zug wird wahrscheinlich morgen abgehen, oder, für den äußersten Fall, bringen Sie Ihren Sohn bei uns unter. Bei uns wird er schon nicht umkommen! Ich habe regelmäßig Pakete bekommen und bin für den Weg mehr oder weniger versorgt. Wie? Denken Sie mal nach.«
Ich drücke Hendelmann dankend die Hand, doch sagt mir sein Angebot nicht zu.
»Und nun halten Sie Ihren ›Vortrag‹!« sage ich.
Der Ausbildung nach war Hendelmann Ingenieur, dem Beruf nach – Sportinstruktor. Das ist eine in der Sowjetunion ziemlich häufige Erscheinung: ein Ingenieur hat etwas mehr Geld, dafür aber eine ungeheure Verantwortung – selbstverständlich vor der GPU – »auf der Linie« des Schädlingswesens, der Wirtschaftsschloddrigkeit, der Nichterfüllung von Direktiven und Plänen, auch auf vielen anderen Linien, und selbstverständlich hat er – kein menschenwürdiges Leben. Ein Sportinstruktor hat manchmal weniger, manchmal auch mehr Geld, fast keinerlei Zusammenstöße mit der GPU und schließlich und endlich – die Möglichkeit, ein einigermaßen menschliches Leben zu führen. Außerdem kann man insgeheim in seinem ursprünglichen Fach noch etwas nebenbei verdienen. Hendelmann war ein glänzender Sportsmann und ein sehr guter Organisator. Doch ist selbst die Immunität des Sportes vor der GPU eine ziemlich relative Sache. In Verbindung mit der »Politisierung« des Sportwesens, von der ich bereits schrieb, wurden etwa fünfhundert Sportinstruktoren verhaftet und nach allerhand schlechten und nicht gerade wohnlichen Orten verschickt. Unter ihnen auch Hendelmann.
»Eigentlich habe ich nichts vorzutragen. Man packte und schleppte mich zur Haupt-GPU in die Lubjarikastraße. Man setzte mich fest … Nach drei Monaten werde ich zum Verhör gerufen. Selbstverständlich weiß die Bande schon alles, absolut alles: daß ich ein alter»Sokol«-Organisator Sokol: Allgemeine slawische Sportorganisation, auf deutsch »Falke«. bin, daß ich in meinem Bezirk alte Sokolmitglieder unterbrachte, daß ich in Korrespondenz mit dem internationalen Sokolverband stand, daß ich sogar ein Begrüßungstelegramm dem allgemeinen Sokol-Zusammenflug sandte. Ich sitze und höre immer zu, dann sage ich: ›Also, Genossen, Sie wissen alles?‹ ›Natürlich wissen wir alles.‹ ›Auch die Statuten des Sokol?‹ ›Auch die.‹ ›Dann gestatten Sie mir, zu fragen, warum Sie nicht wissen, daß ich überhaupt kein Sokolmitglied war?‹
Wissen Sie, was mir der Untersuchungsrichter darauf antwortete? ›Ach‹, sagte er, ›ist es Ihnen nicht gleich, Bürger Hendelmann, wofür Sie sitzen – für den Sokol oder etwas anderes?‹ Was für eine geniale Einsicht in die Tiefe des menschlichen Herzens! Stellen Sie sich vor – es soll mir wahrhaftigen Gotts ganz gleich sein, warum ich sitze, wenn ich schon sitze …
Warum ich als Zimmermann arbeite? Warum soll ich's nicht? Erstens verdiene ich mir dabei echte, schwielige, proletarische Hände. Zweitens, ich bin gesund (man schickt mir Freßpakete), und es ist schon besser, ich behaue Holzstämme, als daß ich mir in irgendeinem Lagerbüro Hämorrhoiden verdiene. Drittens habe ich es dabei nicht mit dem Sowjetaktiv, sondern mit anständigen Menschen – mit Bauern zu tun. Das sind ehrliche Menschen und gute Kameraden und nicht irgendein sowjetistisches Lumpenpack. Drei Jahre habe ich schon abgebrummt – es sind noch zwei geblieben. Bittschrift wegen Strafverkürzung?«
Hier wurde die Stimme Hendelmanns hart und ernst:
»Na, wissen Sie, Iwan Lukjanowitsch, von Ihnen habe ich einen solchen Rat nicht erwartet. Diese Banditen haben mich ohne jegliche Schuld, absolut ohne jegliche Schuld ins Zuchthaus gesteckt, mich von Frau und Kind getrennt – das Kind war erst zwei Wochen alt – und dann soll ich mich vor ihnen erniedrigen, bei ihnen etwas erbetteln!«
Die sonst schalkhaften Augen Hendelmanns sehen mich jetzt zornig an:
»Nein, Iwan Lukjanowitsch, nichts zu machen! Ich, so Gott will, sitze meine Zeit ab und komme raus, und dann – dann wollen wir sehen … Gott gebe, daß wir es noch sehen … Schauen Sie sich nur diese Bauern an – welch eine Kraft in ihnen!«
Es dämmert. Die Patrouillen gehen den Zug entlang und treiben die Lagerinsassen in die Waggons. Ich muß mich von Hendelmann verabschieden.
»Überbringen Sie Boris und Ihrem Sohn, den ich leider nicht sehen konnte, meine besten Sportgruße, wenn es nicht zu ironisch klingt. Im übrigen, Kopf hoch! Und wegen Tschekalin, das überlegen Sie sich mal.«
Am nächsten Tag habe ich versucht, nochmals nach Pogra zu gehen, um im Gespräch mit Hendelmann mein Herz zu erleichtern. Es kam aber anders. Abends sagte mir Georg, daß Jakimenko morgens für zwei, drei Tage nach Medgora verreist sei, und daß danach der pfiffige RVA-Aktiv ihn, Georg, in eine Zusatzaufstellung für den nächsten Transportzug mit eingetragen hat; daß die Aufstellung von dem Abteilungsleiter Iljin bereits unterschrieben sei, und daß heute abend die Wache komme, um ihn abzuholen, was sonst bei den einzelnen Lagerinsassen bis jetzt nicht gemacht worden ist. All das hat Georg von einem Tschekisten aus der dritten Abteilung erfahren, dem er seinerzeit die Briefe an seine Geliebte in Versen schrieb; poetischer Stimmung unterliegen manchmal auch Tschekisten.
Mein Ausweis für Pogra war bis zwölf Uhr nachts gültig. Ich händigte ihn Georg aus, und er verschwand mit seinen Sachen nach Pogra mit der Weisung, »den Umständen entsprechend zu handeln«, für den Fall aber, daß es ihm nicht gelinge, sich verborgen zu halten, sollte er im Wagen Hendelmanns die letzte Zuflucht suchen.
Doch war der Transportzug, mit dem Hendelmann fuhr, bereits unterwegs. Boris versteckte Georg in der Leichenhalle des Lazaretts, wo er zwei Tage und zwei Nächte verbrachte. Der Aktiv suchte ihn im ganzen Lager. Die Erlebnisse dieser beiden Tage zu schildern, ist mir seelisch unmöglich.
Zwei Tage später kehrte Jakimenko zurück. Ich sagte ihm, daß Starodubzeff entgegen seiner direkten Anordnung auf Schleichwegen Georg in die bewußte Aufstellung habe aufnehmen lassen, daß dadurch die Vorbereitung für den nächsten Transportzug unmöglich geworden sei (eine Schreibmaschine konnte nicht bedient werden), und daß Georg sich einstweilen außerhalb der Reichweite des Aktivs versteckt halte.
Jakimenko sah mich düster an und sagte:
»Rufen Sie mir Starodubzeff!«
Ich holte ihn. Nach etwa fünf Minuten kam er von Jakimenko in einer Verfassung zurück, die an Hysterie grenzte. Er wollte mir etwas sagen, aber die übergroße Wut verschlug ihm die Sprache. Er deutete nur mit dem Finger an die Tür des Kabinetts von Jakimenko. Ich ging hinein.
»Ihr Sohn fährt jetzt nicht nach dem BAM. Er soll zu seiner Arbeit zurückkehren. Mit dem letzten Transportzug aber wird er wahrscheinlich fahren müssen.«
Ich sagte:
»Genosse Jakimenko, Sie haben mir aber versprochen …«
»Und was ist dabei, wenn ich es versprochen hatte! … Sieh mal einer an, was für ein Schatz Ihr Georg ist.«
»Für … für mich – ein Schatz …« Ich fühlte ein Würgen in der Kehle und ging hinaus.
Starodubzeff, der offensichtlich an der Tür gehorcht hatte, sprang zurück, und seine wahren Gefühle für mich kamen in einem hämischen Ausspruch zutage:
»Schatz, h–ä–ä …«
Ich packte ihn an der Gurgel, vom Aktiv rührte sich niemand. Starodubzeff ergriff krampfhaft meine Hand und blieb fast daran hängen. Als ich die Finger löste, sank er wie ein leerer Sack zu Boden. Der Aktiv schwieg.
Ich fühlte – noch eine solche Woche, und ich werde verrückt.
Ein Zug nach dem anderen fuhr ab, und unsere Lage verschlimmerte sich immer mehr. Die Kräfte schwanden. Die Gefahr für Georg wuchs. Auf die Versprechungen Jakimenkos durfte ich nach all diesen Vorfällen nichts mehr geben. Boris bestand auf der sofortigen Flucht. Doch hatte ich große Angst davor. Es wäre reiner Selbstmord; aber es war außer diesem Selbstmord nichts anderes in Sicht.
Selbst in den kurzen Stunden, die mir nach der Zuchthausarbeit bei der RVA blieben, konnte ich nicht mehr schlafen. Ein Plan nach dem anderen entstand und wurde wieder verworfen. Es schien mir immer, daß irgendwo hier, greifbar nahe, unter der Hand irgendein Ausweg sei, lächerlich einfach, völlig klar – und ich sehe ihn nicht – laufe drumherum, stolpere über Karl-May-Romantik – aber das Brauchbare entschwindet. Endlich in einer dieser schlaflosen Nächte kam die Erleuchtung über mich – der Vorschlag Hendelmanns, den Vorsitzenden der Abnahmekommission des BAM, den Tschekisten Tschekalin aufzusuchen! Ich begriff, dieser Tschekist ist der einzige Rettungsanker und dabei ein ganz brauchbarer.
Mit allerhand Detektivkunststücken erfuhr ich seine Adresse. Tschekalin wohnte am Ende des Dorfes in einer karelischen Hütte. Spätabends schlich ich mich wie ein Dieb über die Schneewehen an seine Hütte. Auf mein Klopfen trat die Bäuerin an die Tür, sie wollte jedoch nicht öffnen. Nach etwa zwei Minuten kam Tschekalin selbst hinzu.
»Wer ist da?«
»Von der RVA zum Genossen Tschekalin!« Die Tür ging spannweit auf. Aus dem Spalt, direkt auf meinen Bauch gerichtet, ragte der Lauf eines Parabellums. Das Licht einer elektrischen Taschenlampe fiel auf mich.
»Sind Sie Häftling?«
»Ja.«
»Was haben Sie?« Die Stimme Tschekalins war scharf.
»Bürger Chef, ich muß Sie in einer ernsten und wichtigen Angelegenheit dringend sprechen.«
»Dann sprechen Sie!«
»Bürger Chef, diese Besprechung kann ich nicht durch den Türspalt führen.«
Jetzt richtete sich der Strahl der Lampe auf mein Gesicht. Ich stand da, blinzelte in das Licht der Taschenlampe und dachte, daß die kleinste Unachtsamkeit mich das Leben kosten konnte.
»Haben Sie Waffen?«
»Kehren Sie die Taschen aus.«
Ich tat es.
»Treten Sie ein!«
Ich trat ein.
Tschekalin hielt die Lampe mit den Zähnen und, ohne die Rechte mit dem Parabellum zu senken, betastete er mich mit der linken Hand. Man merkte die große Erfahrung.
»Gehen Sie vor!« Ich machte drei Schritte und blieb unschlüssig stehen.
»Rechts … rauf … links«, kommandierte Tschekalin. Ganz wie auf den Korridoren der GPU … Ja, die Erfahrung!
Wir betraten ein ärmlich eingerichtetes Zimmer. In der Mitte ein roher Holztisch … Tschekalin ging um ihn herum und, immer noch den Parabellum in der Rechten, fragte er mich in gleich scharfem Ton:
»Also, was wollen Sie?«
Der Anfang der Unterredung war wenig versprechend, und doch hing sehr viel davon ab … Ich bemühte mich, meine ganzen Kräfte zu sammeln.
»Bürger Chef, die letzten Transporte setzt man aus Menschen zusammen, die das BAM bestimmt nicht erreichen werden.«
Mein Atem stockte.
»Nu?«
»Für Sie als Abnehmer der Arbeitskraft hat es doch keinen Zweck, die Wagen mit Halbtoten zu verladen, die unterwegs als Leichen rausgeworfen werden …«
»So?«
»Ich möchte Ihnen gern die Listen der Kranken aushändigen, die vom BBK als Gesunde mit auf die Transporte verladen werden … In Ihrer Kommission ist auch ein Arzt. Er ist freilich nicht imstande, den Gesundheitszustand aller Insassen zu prüfen, doch kann er die in meinen Listen enthaltenen Menschen untersuchen …«
»Welche Paragraphen haben Sie?«
»58, Absatz 10 und 11, 59, Absatz 10.«
»Wie lange?«
»Acht Jahre.«
»So … Was bewegt Sie, so zu handeln?«
»Alles mögliche. Im besonderen wohl die Angst, daß auch mein Sohn mit nach dem BAM abtransportiert wird.«
»Ist das der, der neben Ihnen arbeitet?«
»Ja.«
Tschekalin sah mich mit einem durchdringenden, doch nichtssagenden Blick an. Ich fühlte, daß es mir vor Nervenanspannung im Munde trocken wurde.
»So–o …« sagte er nachdenklich. Dann, etwas zur Seite gewandt, sicherte er seinen Parabellum und steckte die Waffe in die Pistolentasche.
»So–o«, wiederholte er, als ob er etwas überlegte. »Sagen Sie mal, dieses Durcheinander mit den verdrehten Namen – habt ihr es verzapft?«
»Wir.«
»Und warum das?«
»Ich denke, daß sogar eine Revolution auf die Unkosten verzichten kann, die gar keinen Sinn haben.«
Ein Ruck ging durch Tschekalin.
»So«, sagte er sarkastisch. »Und als Millionen von Werktätigen an den Fronten der sinnlosen imperialistischen Abschlachterei umkamen – handelten Sie damals auch so aufgeklärt?«
Die Frage kam wie aus der Pistole geschossen.
»Ebenso wie jetzt war ich auch damals machtlos gegen den Wahnsinn der Menschen.«
»Halten Sie die Revolution für Wahnsinn?«
»Ich sehe keinen Grund, vor Ihnen diese traurige Tatsache zu verbergen.«
Tschekalin schwieg eine Weile.
»Ihr Angebot ist für mich annehmbar, wenn Sie es aber für irgendwelche anderweitigen Ziele, Protektion oder sonst was benutzen werden, dann rechnen Sie nicht auf Gnade.«
»Meine Lage ist so aussichtslos, daß die Gnadenfrage mich wenig interessiert … Mich interessiert das Schicksal meines Sohnes.«
»Und wofür sitzt der?«
»Eigentlich zur Gesellschaft … Beziehungen zu Ausländern.«
»Wie denken Sie, diese Kombination technisch durchzuführen?«
»Vor der Abfertigung jedes Transportzuges werde ich Ihnen die Listen derjenigen Kranken übergeben, die Ihnen das BBK als gesund ausliefert. Diese Listen kann ich Ihnen nicht bringen. Ich werde sie in dem Abort der RVA verstecken, in der Ritze zwischen den Stämmen, oberhalb des Türbalkens, genau in der Mitte. Sie verkehren bei der RVA und können die Listen jeweils mitnehmen …«
»So. Das ginge. Sagen Sie noch, an diesen Unterschlagungen, diesen Aufstellungen hat sich Ihr Sohn auch beteiligt?«
»Ja, eigentlich ist das seine Idee gewesen.«
»Aus den gleichen Gründen?«
»Ja.«
»Und ist er sich klar darüber …?«
»Vollständig.«
Das Gesicht und die Stimme Tschekalins wurden etwas weniger hölzern.
»Sagen Sie, glauben Sie nicht, daß die GPU Sie schuldlos festgesetzt hat?«
»Vom Standpunkt der GPU aus – nicht.«
»Und von welchem Standpunkt aus – ja?«
»Außer den Standpunkten der GPU gibt es noch manche andere. Ich glaube aber nicht, daß es einen Sinn hat, diese jetzt einer besonderen Erörterung zu unterziehen.«
»Umsonst denken Sie das! Ein dummer Gedanke! Wegen Jakimenko, Starodubzeff und dem übrigen Lumpenpack zahlt die Revolution diese, wie Sie eben sagten, sinnlosen Unkosten. Und das deshalb, weil Sie und die Ihrigen nicht mit der Revolution gehen wollten … Warum gingen Sie alle nicht mit?«
»Starodubzeff hat vor mir den Vorzug, daß er jeden Befehl ausführt; ich aber führe nicht jeden Befehl aus.«
»Weiße Handschuhe?«
»Kann sein.«
»Na, dann vertragen Sie sich mit Jakimenko weiter.«
»Sie sind anscheinend nicht einer ganz besonders hohen Meinung über Jakimenko?«
»Jakimenko ist ein Karrieremacher und Schuft«, schnitt Tschekalin kurz ab. »Er denkt, daß er was wird.«
»Wie es scheint, wird er auch was.«
»Soweit das von mir abhängt – nicht. Und es hängt von mir ab. Über diese Transportzüge wird auch die GULAG unterrichtet … Die Stapel von Leichen an den Strecken braucht die GULAG nicht.«
»Ich dachte, die Stapel von Leichen haben bis jetzt die GULAG nicht gestört.«
»Jakimenko macht keine Karriere«, setzte Tschekalin fort. »Lumpenpack haben wir ohnehin genug. Na, das geht Sie aber nichts an.«
»Doch, sogar sehr. Und gerade – mich und ›uns‹ …«
Wieder zuckte Tschekalin zusammen.
»Also näher zur Sache. Der nächste Transportzug geht in drei Tagen ab. Können Sie mir bis übermorgen die erste Liste anfertigen?«
»Kann ich.«
»Also werde ich die Liste übermorgen, gegen zehn Uhr abends im Abort der RVA, in der Ritze über der Tür finden?«
»Ja.«
»Gut. Wenn Sie ehrlich handeln, wenn Sie diese Listen nicht für irgendwelche Kombinationen gebrauchen – dann bürge ich dafür, daß Ihr Sohn nicht nach dem BAM fährt. Garantiere es vollständig. Warum sollen Sie eigentlich nicht mit nach dem BAM fahren?«
»Die Paragraphen gestatten es nicht.«
»Das ist Quatsch!«
»Und dann ist es nicht gerade eine Vergnügungsreise.«
»Quatsch. Wenn ich Sie einlade, werden Sie doch nicht im Viehwagen fahren!«
Ganz entgeistert starrte ich Tschekalin an und wußte nicht, was ich antworten sollte.
»Wir brauchen kultivierte Kräfte«, sagte Tschekalin, das Wort »kultivierte« besonders betonend. »Und wir wissen diese zu schätzen. Nicht wie beim BBK.« In dem Pathos Tschekalins wurde ein starker amtlicher Unterton hörbar. Ich wollte fragen, was mir eigentlich die Ehre dieser Einladung verschaffte, doch unterbrach mich Tschekalin:
»Na, wir werden uns noch darüber unterhalten. Ich finde also die Listen übermorgen dort. Überlegen Sie sich meinen Vorschlag einstweilen!«
Als ich wieder auf der Straße war, gelüstete es mich, offen gestanden, einige Tanzschritte zu machen. Doch, überreich an allerhand Erfahrungen, habe ich vorgezogen, diese ganze Situation einer, mit Verlaub zu sagen, »marxistischen Analyse« zu unterziehen. Die marxistische Analyse ergab durchaus günstige Resultate. – Ich erweise Tschekalin einen großen Dienst: nicht deshalb, weil ihm jemand die unterwegs aufgestapelten Leichen vorgeworfen, sondern deshalb, weil man ihn der Fahrlässigkeit beschuldigt hätte … ließ sich faule Ware andrehen und merkte nichts. Vom Standpunkt der sowjetistischen Sklavenhändler aus wäre es ein sehr tadelnswerter Fehler.
Der große Familienrat der Familie Solonewitsch oder der »drei Musketiere«, wie man uns im Lager nannte, bestätigte meine Erwägungen darüber, daß Tschekalin uns nicht verraten wird. Unter den verschiedenen psychologischen Erwägungen und Berechnungen war eine besonders hervorstechend. Durch die Verbindung mit mir, einem Häftling, durch die Benutzung dieses Häftlings als Spion gegen die Lagerverwaltung kommt Tschekalin in eine ziemlich zweifelhafte Lage. Wenn er uns melden will, dann wird er sich vorher wohl überlegen, daß ich wahrscheinlich selbst zu den verzweifeltsten Kombinationen greifen werde – bin ich doch auch zu ihm gegangen mit den bewußten Listen. Die Beweise dieser verbrecherischen Verbindung aber in den Händen zu behalten, dafür werde ich schon sorgen! Komme ich in eine aussichtslose Lage, so werde ich diese Beweise der dritten Abteilung vorlegen. Und Tschekalin befindet sich auf dem Gelände des BBK. Kurzum, jetzt wo er sich einmal mit dieser Sache eingelassen hat, muß er sie bis zum Schluß mitmachen.
Alles in der Welt ist sehr relativ. Kaum hatte sich die nächste Gefahr, die uns drohte, verzogen, und schon erschien uns das Leben leicht und von Hoffnungen erfüllt, trotz der zuchthäuslerischen Arbeit in der RVA und obwohl die Listen für Tschekalin uns die letzten Stunden Schlaf raubten.
Allerdings hat Georg diese Listen gleich von vornherein vereinfacht: wir schrieben keine Namen, sondern lediglich die Nummer der betreffenden Aufstellung und die laufende Nummer, unter welcher in der betreffenden Aufstellung der Name des jeweiligen Häftlings stand. Diese Listen begannen die Abfertigung der Transporte zu untergraben, Jakimenko spie Gift und Galle, doch gab uns jeder durchgefallene Transport eine kleine Atempause: solange man die Papiere der Ersatzleute suchte, konnten wir uns ausschlafen. Zu all dem bereitete mir Jakimenko eine zwar unerwartete, aber augenblicklich überholte Überraschung. Ich saß an meiner Maschine und trommelte. Jakimenko war im Nachbarzimmer.
Ich höre seine gedämpfte Stimme:
»Genosse Twerdun, legen Sie die Papiere von Solonewitsch Georg zum Haufen ›Medgora‹; er fährt nicht nach dem BAM.«
Noch am Abend des gleichen Tages paßte ich einen geeigneten Augenblick ab und bedankte mich bei Jakimenko, doch ziemlich ungeschickt und verworren. Er hob den Kopf von den Papieren, sah mich mit einem merkwürdigen, ironisch-fragenden Blick an und sagte:
»Nichts zu danken, Genosse Solonewitsch.«
Und steckte seine Nase wieder in die Papiere.
Ich habe nie erfahren, was Jakimenko eigentlich zu dieser Haltung bewog.
Es kam ein ruhigeres Leben, wenigstens die Zeit über, als dauernd Transportzüge durchfielen; nachher aber, als Jakimenko heimlich die Menschen, die Tschekalin bereits einmal – und mehr – zurückstellte, wieder in die neuen Aufstellungen hineinbrachte – wuchs die Arbeit aufs neue an. In dieser Zeit hatte ich ein Erlebnis, an sich ein unbedeutendes, doch prägte es sich ganz tief in mein Gedächtnis ein.
In der Morgendämmerung, kurz vor dem Auszug der Häftlinge auf ihre Arbeitsstellen, und abends, während des Mittagessens erschienen vor unseren Zelten einige Dutzend Bauernkinder, um sich verschiedene eßbare Abfälle zu erbetteln. Es war etwas sonderbar, diese Kinder der »freien Bevölkerung« anzusehen, dieser Bevölkerung, die sogar ärmer war als wir Zuchthäusler; denn unsere anderthalb Pfund Brot bekamen wir jeden Tag, die Bauern aber hatten nicht mal das.
Unser Proviantmeister war Georg. Er holte Brot und Mittagessen. Er war es auch, der unter die Kinder die Abfälle verteilte. Wir hatten einen riesigen, etwa zehn Liter fassenden Aluminiumtopf, der bereits der Begleiter unserer beiden vorherigen Fluchtversuche war und auch des späteren dritten werden sollte. In diesem Topf sammelte Georg all das, was von der Kohlsuppe in unserem ganzen Zelt übrigblieb. Sie wurde gewöhnlich aus halbverfaultem Weißkohl und Heringsköpfen gekocht – ich habe nie erfahren, wohin die Heringe gerieten, die zu diesen Köpfen gehörten … Nur wenige Häftlinge hatten den Mut, diese Suppe zu essen, und so kam sie stets an die Kinder. Viele Lagerinsassen teilten auch ihre Brotrationen mit diesen armen Würmern.
Ich kann mich nicht genau entsinnen, wie es geschah. Georg und ich verließen wohl zwei, drei Tage hintereinander die RVA nicht, und unsere Nachbarn gossen gewohnheitsgemäß ihre Eßabfälle in unseren Topf. Einmal, als ich mich von der RVA frei machte und nach dem Mittagessen ging, um wenigstens etwas die Beine zu vertreten, entdeckte ich, daß unser Topf, der unter den Pritschen stand, bis an den Rand gefüllt und sein Inhalt zu einem großen Eisklumpen gefroren war. Ich beschloß, den Topf in die Küche zu tragen, ihn dort auf den Herd zu stellen; wenn das Eis dann etwas aufgetaut war, wollte ich den ganzen Klumpen auskippen und in dem leeren Topf unsere Rationen Gerstenbrei in Empfang nehmen.
Ich nahm das Geschirr und trat aus dem Zelt. Es war fast Nacht. Durchdringender frostiger Wind heulte in den Telegraphendrähten und trieb den Schneestaub in die Augen. Niemand war um die Zelte zu sehen. Die Kinderscharen, die um die Zeit des Mittagessens hier herumhuschten, waren bereits fort. Plötzlich stürzte ein schemenhaftes Figürchen hinter einem Schneehaufen hervor auf mich zu, und ein heiseres, völlig erkältetes Kinderstimmchen piepste:
»Onkelchen, Onkelchen, vielleicht ist noch was übrig, Onkelchen, gib's mir! …«
Es war ein Mädelchen von vielleicht elf Jahren. Ihre Augen unter den zerzausten Haarsträhnen glänzten hungrig. Und das Stimmchen winselte automatisch, gewohnheitsmäßig und ohne jeden Ausdruck in einem fort:
»Onkelchen, g–i–i–b!«
»Ich habe nur Eis hier im Topf.«
»Von der Suppe.«
»Nitschewo, Onkelchen, gib nur her … ich werde ihn gleich, bei Gott, gleich … erwärmen … Und dann läßt er sich ausschütten …«
In der Stimme des Mädelchens war Hast, Gier und die Furcht vor einer Absage zu hören. Ich stand unschlüssig da. Das Kind riß mir den Topf fast aus den Händen … Dann schlug es sein zerlumptes Bauernkittelchen auf, unter dem nichts war – nur die nackten, scharf umrissenen Rippen stachen hervor. Es drückte den Topf ans nackte Körperchen, wie eine Mutter ihr Kind, schlug den Kittel darüber und setzte sich in den Schnee.
Ich war im Zustand einer solchen Abgestumpftheit, daß ich nicht einmal versuchte, die Erklärung zu finden, was dieses Mädelchen eigentlich vorhatte. Nur für einen Augenblick flimmerte die Vorstellung von einem Mutterinstinkt vorüber, der wie durch ein Wunder selbst in dem ausgemergelten Körperchen dieses Mädchens lebte … Ich ging in mein Zelt, ein anderes Geschirr für »unser täglich Gerstenbrei« zu holen.
Im Leben jedes Menschen gibt es Minuten eines großen Tiefstandes und der Selbsterniedrigung. Einen solchen Augenblick erlebte ich, als ich, unter den Pritschen auf der Suche nach irgendeinem Geschirr auf den Knien rutschend, endlich gewahr wurde, daß das Mädchen mit der Wärme ihres verhungerten Körpers diesen zwanzig Pfund schweren Eisklumpen zu schmelzen vorhatte, den Klumpen einer widerlichen Schweinenahrung! Und daß in diesem Skelettchen die Wärme nicht ausreichte, um nur den vierten Teil dieses Eisklumpens aufzutauen.
Schwer schlug ich mit dem Kopf gegen ein Querholz unter der Pritsche, und fast betäubt von dem Schlag, dem Widerwillen und der Wut stürzte ich aus dem Zelt. Das Mädelchen saß immer noch auf derselben Stelle, und ihre Zähnchen schlugen hörbar aufeinander.
»Onkelchen, nimm's nicht weg!« schrie sie auf.
Ich packte sie zusammen mit dem Topf und trug sie ins Zelt. In meinem Kopf wirbelte es wie toll. Ich entsinne mich, daß ich etwas sprach, glaube aber, daß meine Worte denen eines Irrsinnigen glichen. Das Mädelchen riß sich weinend aus meinen Händen los und stürzte dem Ausgang des Zeltes zu. Ich fing sie jedoch wieder auf und setzte sie auf die Pritsche. Fieberhaft, mit zitternden Händen begann ich an den Wandbrettern und unter den Pritschen herumzutasten. Fand einige Eßreste, eine halbe Ration von Georgs Brot und noch etwas. Das Mädelchen hatte gar nicht erwartet, daß ich ihr das reichen würde. Krampfhaft packte sie eine angebissene Brotscheibe und begann, sie sich in den Mund zu stopfen. Über ihr schmutziges Gesichtchen liefen die Tränen von der noch nicht überstandenen Furcht. Ich stand vor ihr, niedergeschlagen und fassungslos, voll eines großen Widerwillens gegen alles in der Welt, auch gegen mich selbst. Wie konnten wir nur, wir erwachsenen Menschen Rußlands – dreißig Millionen Männer – es mit den Kindern unseres Landes soweit kommen lassen? Warum kämpften wir nicht bis zum Schluß? Wir Gebildeten wußten doch, was die »große französische Revolution« war, wir konnten uns vorstellen, was eine ebenso große Revolution bei uns mit sich bringen würde! … Wie kam es, daß wir nicht bis zum Schluß kämpften? Wie kam es, daß wir nicht alle Mann die Gewehre ergriffen? Wie im Blitzlicht erschien vor mir auf einen Augenblick das ganze Problem des Bürgerkrieges und der Revolution mit erbarmungsloser Klarheit.
Wo sind die Gutsbesitzer? Wo die Kapitalisten? Die Professoren?
Die Gutsbesitzer sitzen in London, die Kapitalisten im Volkskommissariat des Handels, die Professoren in der Akademie der Wissenschaften. Ohne Villen und ohne Limousinen – doch sie leben …
Aber was ist mit unserer Jugend, unseren Jungen und Mädchen? … An sie sollten wir in erster Linie denken – denn sie sind die Zukunft unseres Landes … O Schande auf uns, wir haben sie vergessen! Auf ihren kleinen Skeletten – Millionen Skeletten armer ausgehungerter Kinder – wird das sozialistische Paradies gebaut.
Ich dachte an Karamasoffs Frage nach der Fahrkarte fürs Leben … Nein, wenn es ihnen hundertmal gelingen sollte, ihr Paradies aufzurichten – auf diesen Skeletten – dann will ich nicht darin leben.
Ich entsann mich eines Bildes von Lenin, das ihn wie einen Christus inmitten von Kindern darstellte: »Lasset die Kindlein zu mir kommen …« Welche Niederträchtigkeit. Welch heuchlerische Niederträchtigkeit! …
Viele schreckliche Dinge habe ich auf den sowjetistischen Gefilden gesehen. Schlimmere als das Mädchen mit dem Eistopf. Vieles ist halb vergessen. Doch dieses Mädchen werde ich nie vergessen. Es ist ein Symbol für mich, ein Symbol dessen, was aus Rußland geworden ist.
Tag um Tag verging. Vor wie nach fuhren die Transporte ab. Die Verpflegung verschlechterte sich. Unsere Pakete plünderte der Aktiv in der Post des Lagers mit konstanter Regelmäßigkeit aus – es bestand ja kein Risiko mehr: es ging so oder so nach dem BAM. Auch von unseren »Kameraden« der RVA ging einer nach dem andern. Twerdun, der zwar eine zweitrangige, doch immerhin eine wirksame Rolle bei der Hetze gegen uns spielte, versoff in dem üblichen Verdrehtsein seine letzte Lageruniform und weinte mir in die Weste über sein verfehltes junges Leben. Er war ein polnischer Komsomolez, der nach der Sowjetunion auf illegalen Wegen anscheinend aus Wilna kam und unter unbekanntem Verdacht auf fünf Jahre nach hier verschickt wurde … sogar Starodubzeff ließ uns unbehelligt und schnüffelte die Umwege aus, um von den BAM-Perspektiven verschont zu bleiben. Mit großem Bedauern habe ich später erfahren, daß Starodubzeff sich von der Fahrt nach dem BAM irgendwie gedrückt hat.
Die Kräfte schwanden weiter. Mit jedem Tag wurde ich hinfälliger und stumpfsinniger …
Georg und ich beendeten unsere nächsten Aufstellungen. Es war gegen zwei Uhr nachts. Die RVA war leer. Georg hatte soeben eine ellenlange Aufstellung beendet.
»Geh doch ins Zelt, Schorschi, und leg dich schlafen!«
»Nitschewo, Wa, es sind ja nur noch Augenblicke, dann gehen wir zusammen.«
Ich hatte ungefähr noch fünf Minuten zu tun. Als ich die letzten Bogen aus der Maschine spannte, sah ich, daß Georg sich auf den Fußboden gesetzt hatte und, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, eingeschlafen war. Ihn wecken wollte ich nicht. Ins Zelt tragen? Dazu langte es nicht. Im Zimmer stand eine Ofenbank, auf der wir alle ein Nickerchen hielten, wenn wir gelegentlich eine halbe Stunde frei hatten – auch Jakimenko tat dies. Georg auf diese Ofenbank legen, das wird richtig sein, dort wird ihm warm und er kann weiterschlafen. Auf dem Fußboden darf ich ihn unter keinen Umständen liegenlassen. Durch die Ritzen bläst der kalte Wind. Er hat schon dünne Schneestreifen an den Leisten aufgeweht.
Ich bücke mich und hebe Georg auf. Das erste, was mir auffiel, ist seine furchtbare Schwere. Woher? Dann begreife ich: nicht seine Schwere, sondern meine Schwäche ist es. Das Gewicht Georgs von etwas über anderthalb Zentner erscheint mir heute schwerer als früher drei Zentner.
Die Ofenbank war ungefähr 1,70 m hoch. Meine Kräfte reichten nur, um Georg in Brusthöhe zu heben. Ich legte ihn wieder auf den Fußboden und versuchte, ihn zu wecken, aber es gelang mir nicht. Das war kein Schlaf mehr, das war, sportlich ausgedrückt, ein Kollaps …
Endlich schaffte ich es doch. Ich zog an die Ofenbank eine große Holzkiste heran, nahm Georg wieder auf die Arme, bestieg mit ihm die Kiste, stützte mich mit beiden Händen auf den Rand der Ofenbank und ließ Georg wie auf Verladehölzern herunterrollen. Im Rollen schlug Georg mit der Schläfe an den Rand des mit Ziegelsteinen ausgelegten Kopfendes der Ofenbank … Ein dünner Blutstreifen lief ihm über das Gesicht. Mit einem Stückchen Zigarettenpapier verklebte ich die Wunde. Georg wurde keinen Augenblick wach. Sein Gesicht glich dem eines Toten, der nach langer, schwerer Krankheit starb. Die roten Blutflecke unterstrichen noch mehr die bläuliche Blässe des Gesichts. Ganz eingefallene Augen, zugespitzte Nase, trockene Lippen. War das das Ende? … Der Eindruck war so fürchterlich, daß ich mich über ihn beugte und nach seinem Herzen horchte … Doch das Herz schlug … Nicht gut, nicht rhythmisch, doch schlug es … Dieses augenblickliche, nur ein paar Sekunden lange Entsetzen betäubte mich endgültig. Der Kopf schwindelte mir und die Beine gaben nach. Wie gut wäre es, nirgends hingehen zu müssen, sondern einfach auf der Stelle hinzufallen und einzuschlafen. Aber ich überwand es. Verließ schwankend die RVA und begann die Treppe herunterzusteigen. Unterwegs entsann ich mich der letzten Liste für Tschekalin. Die Liste betraf den Transport, der morgen oder genauer gesagt, heute abgefertigt werden mußte. Natürlich hat Tschekalin diese Liste, wie auch die frühere, bereits an sich genommen. Und wenn nicht? Quatsch, warum denn nicht? Und wenn er sie doch nicht mitgenommen hat? Das war unsere Rekordliste – einhundertsiebenundvierzig Mann enthielt sie … Soll ich sie bis morgen in der Ritze lassen? Am Tage wird sie vielleicht entdeckt … Und dann? …
Unschlüssig stapfte ich auf der Treppe und kletterte dann doch wieder hinauf. Ich klinkte die Tür zum unbeschreiblichen RVA-Abort auf und tastete mit der Hand. Die Liste war da. Ich riß ein Streichholz an. Ja, das war unsere Liste (mitunter waren dort auch Zettel von Tschekalin – ein wertvolles Dokument für alle Fälle; sehr unvorsichtig war Tschekalin). Warum hat Tschekalin die Liste nicht mitgenommen? Konnte er es nicht? Keine Zeit? Was nun? Eigentlich sollte ich sie Tschekalin bringen.
Aber bei dem Gedanken daran, daß ich jetzt zwei Kilometer lang bis zur Hütte Tschekalins über Schneewehen stampfen mußte, fröstelte mich bereits, Und wenn ich nicht gehe? Dann fahren diese einhundertsiebenundvierzig Mann morgen nach dem BAM …
Abgerissene Gedanken und Begründungen für und wider kreisten in meinem Kopf. Ich trat auf die Vortreppe.
Die Fenster der RVA warfen weiße Lichtrechtecke auf den Schnee. Dort, hinter diesen Rechtecken heulte der Schneesturm einer Polarnacht. Zwei Kilometer! Komme nicht hin … Hol's der Teufel! – Das BAM, die Liste und die Menschen. Sie kommen sowieso um – wenn nicht auf dem Wege nach dem BAM, dann irgendwo am Faulen Fluß … Werde ins Zelt gehen und ordentlich pennen. Dort knistert es lustig in dem Öfchen, ich werde mich in die Decke einwickeln, sogar in zwei Decken, denn Georgs war frei … Werde einschlafen und an das Land denken, wo es keine Erschießungen, kein BAM, kein Mädchen mit Eistopf, kein Totengesicht des Sohnes gibt … Werde träumen von einem merkwürdigen Leben, kann sein, einem sehr einfachen, vielleicht sehr ärmlichen, doch einem freien Leben. Von einem kaum glaubhaft freien Leben … Und die Liste?
Nicht ohne Mühe wurde ich gewahr, daß ich, mit angelehntem Rücken, die Beine von mir gestreckt, auf der letzten Stufe sitze; der Schnee hat die Beine bis zu den Fußspitzen bereits verweht.
Ich sprang auf, als ob mich etwas emporgeschleudert hätte. So idiotisch umkommen? Erfrieren auf dem Wege von der RVA zum Zelt? Habe ich denn die Nerven eines Mondsüchtigen? Zur Teufels Großmutter damit! … Werde zu Tschekalin gehen. Schläft er, dann wecke ich ihn auf! Der Teufel soll ihn holen!
Ich ging. Ich tappte in der Dunkelheit über die Schneewehen, erwischte endlich das Flechtwerk eines Zaunes, an dem ich weitertanzen konnte. Meine Gedanken waren einzig und allein damit beschäftigt, wie komme ich heil an, ohne mich zu verirren oder vorher umzufallen. Der plötzliche Anruf: »Halt, Hände hoch!« ließ mich ganz gleichgültig. Ich empfahl dem Anrufenden, in die Hölle zu fahren, und schleppte mich weiter. Die Stimme schrie abermals: »Sind Sie das?« Mit gleichem Scharfsinn antwortete ich: »Aller Wahrscheinlichkeit nach bin ich es.«
Aus dem Schneesturm tauchte eine Gestalt mit dem Revolver in der Hand auf: »Wohin wollen Sie? Zu mir?«
Jetzt erst erkannte ich die Stimme Tschekalins.
»Ja, zu Ihnen.«
»Bringen Sie die Liste? Gut, daß ich Sie getroffen habe … Soeben angekommen, wollte ich sie mir holen. Gut, daß Sie sie selbst bringen. Aber hören Sie mal – Sie sind doch ein intelligenter Mensch! Man darf doch nicht so schreiben. Der Teufel weiß was das ist: nicht nur Namen, selbst die Zahlen kann man nicht entziffern.« Bereitwilligst gab ich zu, daß meine Handschrift noch schlechter sein kann, doch nicht oft.
»Gehen wir jetzt zu mir, dort werden wir schon dahinterkommen.« Tschekalin machte kehrt und tauchte in der Dunkelheit unter. Nur mit Mühe konnte ich ihm folgen. Wir wateten durch zahlreiche angewehte Schneehaufen, stolperten über Baumstümpfe. Endlich hatten wir uns bis zu ihm geschleppt …
Wir erstiegen eine dunkle ächzende Treppe. Tschekalin machte Licht.
»Da, sehen Sie her«, sagte er mit seiner knarrenden gereizten Stimme. »Was soll das sein? Hier, was ist das – eine Vier, Eins, Sieben oder Neun? Nicht zu entziffern. Hier haben Sie einen Bleistift. Setzen Sie sich und korrigieren Sie so, daß man es lesen kann.«
Ich nahm den Bleistift und setzte mich. Meine Hände zitterten vor Hunger und Kälte. Der Bleistift tanzte zwischen den Fingern und die Zahlen verschwammen vor meinen Augen.
»Haben Sie sich aber gehen lassen«, sagte Tschekalin tadelnd. Doch seine Stimme war nicht mehr so knarrend. Ich antwortete etwas …
»Geben Sie schon her, ich werde es verbessern. Sie brauchen mir nur zu sagen, was Ihre Krähenfüße bedeuten.« Es waren doch nicht so viel Krähenfüße, wie es zuerst schien. Nachdem alles dechiffriert war, fragte mich Tschekalin:
»Sind das alle Kranken des morgigen Transportes?«
Ich winkte ab:
»Ach was, alle. Ich weiß nicht, ob in diesem Transport überhaupt Gesunde sind.«
»Warum haben Sie denn in die Lifte nicht alle Kranken aufgenommen?«
»Wissen Sie, Genosse Tschekalin, selbst das schönste Mädchen kann nichts Gescheites schenken, wenn es keine Zeit zum Schlafen hat.«
Tschekalin sah auf meine Hand.
»Tja«, sagte er gedehnt. »Können Sie sich bei der RVA auf sonst niemand verlassen?«
Ich sah Tschekalin bestürzt an.
»Ach, ja«, verbesserte er sich, »entschuldigen Sie den Unsinn. Wieviel Gesunde sind nach ihrer Meinung noch da?«
»Meiner Ansicht nach – gar keine. Genauer gesagt, nach der Ansicht meines Bruders.«
»Ein famoser Kerl, Ihr Bruder«, sagte Tschekalin unvermittelt. »Vor ihm haben sogar die Mitarbeiter der dritten Abteilung Angst … Ja … Dann sagen Sie also, daß die Reserven Jakimenkos erschöpft sind?«
»Sogar mehr als erschöpft. Neulich offenbarte mir mein Sohn eine nette Sache: In die letzten Aufstellungen hat die RVA Menschen ausgenommen, die Sie bereits zweimal von der Abnahme zurückstellten.«
Tschekalin hob die Augenbrauen.
»Oho? So ist es sogar? Sind Sie dessen sicher?«
»Sie haben wahrscheinlich noch die alten Listen. Wollen wir mal vergleichen. Einige Namen habe ich im Kopf.«
Wir verglichen. Mehrere sich wiederholende Namen fand Tschekalin auch von allein.
»So also, dann geht Jakimenko bereits auf einen vollen Betrug aus. Das bedeutet, daß er tatsächlich keine Gesunden mehr hat. Da soll sich der Teufel auskennen! Schluß jetzt mit der Abnahme! Solche ›Verluste‹ kann ich nicht verantworten.«
»Sind die Verluste unterwegs sehr groß?«
Ich war vorbereitet, daß Tschekalin mir wie voriges Mal antwortet: »Das geht Sie nichts an«, zu meinem Erstaunen aber zuckte er nervös die Achseln und sagte:
»Ganz ungeheure Verluste … Ach so«, unterbrach er plötzlich sich selbst, »wie ist es mit meinem Vorschlag? Fahren Sie mit nach dem BAM?«
»Wenn Sie gestatten, dann nicht.«
»Warum?«
»Zwei Hauptgründe sind es: der erste – hier bin ich nicht weit von Petersburg und kann Besuche erhalten; der zweite: – wenn ich mich an Sie anklammere, gerate ich automatisch unter Ihre Protektion.« Tschekalin nickte bejahend mit dem Kopf. »Sie sind ein Parteimensch, folglich allen Mobilisationen und Versetzungen unterworfen. Die Protektion wird eines schönen Tages verschwinden, und ich werde auf Gnade und Ungnade den Menschen ausgeliefert, denen diese Protektion und die Bevorzugung schon längst ein Dorn im Auge war.«
»Die erste Erwägung ist richtig, aber die zweite ist nichts wert. Dort, in der GPU des BAM werde ich doch diese ganze Geschichte mit den Listen, mit Jakimenko und Ihrer Rolle dabei erzählen.«
»Danke. Das bedeutet, daß die GPU des BAM mich bei der erstbesten passenden oder unpassenden Gelegenheit in die Verlustliste eintragen wird.«
»Was heißt das denn?«
Ich sah Tschekalin erstaunt und mitleidig an: so einfach und doch nicht begriffen …
»Weil aus diesem allem ziemlich klar ersichtlich wird: der Kerl versteht die Zähne zu zeigen, aber gehört nicht zu uns. Gestern verriet er das BBK und heute vielleicht uns.« Tschekalin wandte sich mir voll zu.
»Haben Sie niemals in der GPU gearbeitet?«
»Nein. Die GPU hat an mir gearbeitet.«
Tschekalin steckte sich eine Zigarette an und schaute zu, wie ihr Rauchfaden von dem kalten Luftzug des Fensters hin und her schwankte.
Ich entschloß mich, einige Klarheit in die Sache zu bringen:
»Das ist nicht das System der GPU allein. Darüber hat auch Machiavelli geschrieben.«
»Wer ist Machiavelli?«
»Ein Italiener aus der Renaissance-Epoche. Hat sozusagen ein Lehrbuch des Bolschewismus herausgegeben. Dort steht über ihn ziemlich ausführlich geschrieben. Fünfhundert Jahre ist es schon her.«
Tschekalin zog die Stirn kraus …
»Ja–a, eigentlich hat sich das menschliche Leben in fünfhundert Jahren nicht um vieles gebessert« – sagte er, als ob er etwas erklären wollte. – »Und solange wir den Kapitalismus nicht liquidieren, wird sich auch nichts bessern … Wegen des BAM haben Sie vielleicht auch recht … Obwohl nicht ganz. Dahin hat man unsere besten Kräfte geschickt.«
Ich versuchte nicht aufzuklären, von welchem Standpunkt aus »diese besten Kräfte« die besten waren … Es wurde auch Zeit fortzugehen, ehe man es mir sagte. Aber es war so schwer, sich zu erheben. Wie im Nebel saß ich da und hatte große Lust, hier auf dem Schemel einzuschlafen … Trotzdem versuchte ich, mich emporzurichten.
»Bleiben Sie sitzen, wärmen Sie sich« – sagte Tschekalin und reichte mir die Zigaretten. Ich rauchte eine an. Tschekalin setzte sich etwas gekrümmt auf den Schemel, seine Pose erinnerte mich merkwürdigerweise an das Mädchen mit dem Eistopf von letzthin. In dieser Pose, im Gesicht, in der müde auf dem Tisch liegenden Hand war etwas Finster-Hoffnungsloses, Müdes, Einsames. Es war das Gesicht eines Menschen, der gewohnt war, wie man sagt, mit zusammengebissenen Zähnen zu leben. Reichlich sind sie vertreten – diese steinharten Parteifanatiker – Enthusiasten und Gefängniswärter, Opfer und Henker, Erbauer und Zerstörer … Aber lichtlos ziehen die Jahre vorüber – der Enthusiasmus verwittert. Immer schmerzhafter bedrücken die kommunistischen Autodafés das Gewissen; die eigenen Opfer und die fremden. Was für ein düsteres, aussichtsloses Leben haben sie, diese Enthusiasten! … Nicht umsonst gehen sie einer nach dem anderen ins Jenseits (freiwillig und unfreiwillig) oder auf die Solowetzki-Inseln, nach Mittelasien, in die politischen Isolatoren der GPU, was eigentlich das gleiche ist: anscheinend können sie sonst nirgends hin.
Tschekalin hob den Kopf und fing meinen forschenden Blick auf. Ich machte auch keine Anstalten, diesen Blick für eine Zufälligkeit auszugeben. Ein schmerzliches und verzerrtes Lächeln huschte über sein Gesicht: »Studieren Sie? Was meinen Sie, wie alt ich bin?«
Die Frage traf mich etwas unvorbereitet. Ich machte eine Korrektur in bezug darauf, was in der offiziellen Sowjetmedizin »sowjetistische Abnutzung« genannt wird, sowie auf die Notwendigkeit eines Zusatzes der Aufmunterung und sagte: »Etwa fünfundvierzig Jahre.« – Tschekalin hob die Schultern:
»Ja? Und ich bin erst vierunddreißig. Da haben Sie einen Tschekisten!« Wieder verzerrte sich sein Gesicht zu einem schiefen Lächeln, als er hinzufügte: – »Henker, wie Sie sagen.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Mir nicht, aber den anderen bestimmt. Oder wenigstens dachten Sie es …«
Es wäre dumm, in Abrede zu stellen, daß derartige Gedanken tatsächlich vorhanden waren.
»Es gibt verschiedene Henker. Jene, die aus Liebe zur Sache handeln, bleiben am Leben. Jene aber, die lediglich von Überzeugung angetrieben werden, kommen um. Ich denke mir, daß Jakimenko sich sehr wenig über die Verluste in den Transportzügen beunruhigt.«
»Und warum meinen Sie, daß ich mich beunruhige?«
»Nun ja. Sie schleppen sich doch nachts in die RVA, um meine Listen abzuholen … Jakimenko würde es nie tun. Und überhaupt – man sieht das … Wenn ich es nicht gewußt hätte, wäre ich nicht zu Ihnen mit diesen Listen gekommen.«
»So? Sehr interessant … Wissen Sie was – Offenheit gegen Offenheit …«
Ich horchte auf. Trotz der vielversprechenden Einleitung hielt Tschekalin betreten inne, überlegte etwas und sagte dann, als ob er sich nunmehr endgültig entschlossen hätte:
»Denken Sie nicht, daß Jakimenko wegen Ihrer Kombinationen mit den Listen nicht Verdacht geschöpft hat?«
Ich wurde unruhig. Jakimenko mochte mich verdächtigen, wenn aber von seinen Verdächtigungen auch Tschekalin etwas wußte – dann könnte die Sache eine ganz ernste Wendung nehmen.
»Vor einigen Tagen hatte Jakimenko angeordnet, daß mein Sohn nicht mit nach dem BAM solle.«
»So? Das ist ja ganz amüsant …«
Verständnislos sahen wir uns an.
»Was wissen Sie eigentlich über die Verdächtigungen Jakimenkos?«
»Ach, eigentlich nichts Bestimmtes … Schwer zu sagen. So ein paar Andeutungen oder sowas …«
»Warum hat uns dann Jakimenko nicht liquidiert?«
»So einfach ist das nicht. Die Lager haben auch ihre Gesetze. Natürlich wissen Sie ja selbst, daß man diese Gesetze nicht immer befolgt, doch sind sie da … Und wenn der Mensch die Zähne zu zeigen versteht … einem solchen Menschen gegenüber … und ihr habt alle drei Haare auf den Zähnen … da ist es nicht so leicht zu liquidieren … Jakimenko ist ein vorsichtiger Mensch. Man weiß ja nicht, was ihr für Verbindungen habt … Und bei uns, in der GPU, wird für die Nichtachtung des Gesetzes …«
»… In bezug auf diejenigen, die Verbindungen haben?«
Tschekalin sah mich unwillig an:
»… wird keine Nachsicht geübt.«
Die Erklärung Tschekalins rief die Notwendigkeit hervor, eine ganze Reihe von Dingen zu überlegen, besonders auch, ob es in dieser Lage nicht besser wäre, das Angebot Tschekalins, mit nach dem BAM zu fahren, anzunehmen, als hier unter dem Kuratel Jakimenkos zu bleiben. Doch war es ein Augenblick des Kleinmuts, eine Versuchung, den Grundsatz: »alles für die Flucht« zu verraten. Nein, selbstverständlich: »alles für die Flucht«. Irgendwie werden wir schon mit Jakimenko fertig … Es lohnt sich nicht mal, zu dem Thema BAM zurückzukehren …
»Wissen Sie, Genosse Tschekalin, es hat doch keinen Sinn, über das Gesetz, und daß es keine Nachsicht gibt, zu reden.«
»Ich antworte Ihnen mit der Frage von neulich: warum sitzen auf den verantwortlichen Stellen Jakimenkos und nicht Sie mit Ihresgleichen? Das ist Ihre Schuld.«
»Und ich erwidere Ihnen auch mit der Antwort von neulich: weil Jakimenko um des Befehls willen, oder richtiger, um der Karriere willen, rücksichtslos zu jedem Mittel greifen wird. Nicht aber ich.«
»Jakimenko ist nur ein Schräubchen eines riesigen Apparates. Wenn jedes Schräubchen überlegen wird …«
»Fürchte, daß Sie z. B. doch überlegen. Ich auch. Wir sind immerhin ›Produkte einer individuellen Schöpfung‹. Erst, wenn man dahinterkommt, die Menschen auf dem laufenden Band wie die Schrauben und Muttern herzustellen, dann wird es eine andere Sache.«
Tschekalin zuckte verächtlich die Achseln:
»Fauler Individualismus! Menschen wie Sie haben kein Vorwärts.«
Das ärgerte mich: warum kein Vorwärts? Im beliebigen Land gäbe es für mich immer ein Vorwärts …
»Genosse Tschekalin«, sagte ich gereizt – »für Sie gibt es auch kein Vorwärts. Denn mit jedem Zoll der Vertiefung der Revolution braucht die Macht mehr und mehr Menschen, die nicht überlegen und die keine Gewissensbisse haben – sie braucht Starodubzeffs und Jakimenkos. Eben deshalb gibt es auch für Sie kein Vorwärts, oder sind die Transportzüge und dieser Stall als Vorwärts zu bezeichnen? Sie haben kein Vorwärts, genau so wenig, wie die ganze alte Leninsche Garde. Sie sind dem Untergang geweiht, wie auch die Garde. Daß ich etwas früher ins Lager geraten bin als Sie – entscheidet nichts … Nur, daß ich im Lager keine Ursache habe, mich reumütig an die Brust zu schlagen … Dagegen werden Sie es tun müssen. Und das aus vielen Ursachen. Darin liegt meine ganze und auch Ihre Tragödie, aber auch gleichzeitig die Tragödie des Bolschewismus im ganzen genommen. Und das Ganze geht mit Volldampf einem Abgrund zu. Wer früher stürzt, wer später – die Frage ist im Prinzip die gleiche …«
»Oho« – hob Tschekalin die Augenbrauen – »Sie entwickeln wohl ein ganzes politisches Programm!«
Ich begriff, daß ich mich hinreißen ließ, wenn nicht in Worten, dann im Ton, es wäre aber dumm, den Rückzug anzutreten.
»Dieses Thema haben Sie und nicht ich angeschnitten. Wir sind hier nicht in der Lagerbaracke mit ihren ›geheimen Mitarbeitern‹ und mit der entzündbaren ›Masse‹. Wozu brauche ich vor Ihnen die gekränkte Unschuld zu markieren? Und noch dazu bei meiner Verurteilung zu acht Jahren?«
Es schien, als ob Tschekalin sich des tschekistischen Tones, der in seinem Ausruf mitklang, schämte:
»Übrigens, warum hat man Ihnen die merkwürdige Zeit von acht Jahren gegeben, nicht fünf oder zehn?«
»Offensichtlich hat man angenommen, daß für meine Umschmiedung zu einem ehrlichen sowjetistischen Enthusiasten genau acht Jahre erforderlich sind … vorausgesetzt, daß ich diese acht Jahre aushalte …«
»Natürlich halten Sie es aus. Ich glaube sogar, daß Sie hier Karriere machen werden.«
»Mich hat die Moskauer Karriere nicht interessiert, und was die Lagerkarriere anbetrifft, entschuldigen Sie, Genosse Tschekalin, auf die spucke ich. Werde mich schon durchschlängeln. Im großen und ganzen ist das sowieso eine verlorene Sache. Das Leben ist nun mal verdorben … Nicht durch das Lager, natürlich. Das Ihrige – auch. Denn Sie, Genosse Tschekalin, sind einer der letzten Mohikaner des ideellen Bolschewismus … Man braucht gar nicht darüber zu diskutieren – es genügt völlig, ihr Gesicht anzusehen …«
»Darf ich fragen, was Sie in meinem Gesicht gesehen habend
»Vieles, zum Beispiel ihre unrasierten Borsten. Jakimenko bestellt sich jeden Tag den Lagerfriseur, rasiert sich, bespritzt sich mit Parfüm. Sie aber haben sich mindestens zwei Wochen nicht rasiert und wollen von Parfüm nichts wissen.«
»Man kann ein tüchtiger Mensch sein und die Schönheit der Nägel trotzdem nicht außer acht lassen« – deklamierte Tschekalin aus einem alten Gedicht.
»Ich sage nicht, daß Jakimenko nicht tüchtig ist, es gibt aber Augenblicke, wo ein anständiger Mensch und dazu noch ein tüchtiger für die Nägel und das Rasieren nicht viel übrig hat … Sie wohnen, weiß der Teufel, in einem Stall … Nicht mal geheizt ist es bei Ihnen … So wird Jakimenko nicht wohnen. Auch Starodubzeff nicht … Selbstverständlich, wenn es ihm irgend möglich ist … Sie haben doch die Möglichkeit, den Lagerfriseur zu sich zu befehlen oder den Ofen heizen zu lassen.«
Tschekalin schwieg. Ich fühlte, daß meine grenzenlose Müdigkeit in eine Gereiztheit überging. Es wäre besser, fortzugehen. Ich erhob mich.
»Wollen Sie schon fort?«
»Ja, ich möchte wenigstens etwas schlafen … Morgen wieder diese Listen …«
Schwerfällig erhob sich Tschekalin von seinem Schemel.
»Morgen gibt es keine Listen«, sagte er fest. »Ich werde morgen eine totale Nachprüfung des gesamten Transportzuges machen und nehme ihn nicht ab … Und überhaupt mache ich mit der weiteren Abnahme Schluß …« Er reichte mir die Hand. Ich drückte sie. Tschekalin hielt meine Hand fest.
»Auf jeden Fall«, sagte er in einem Vorgesetzten-, doch etwas aufgeregten Ton, »auf jeden Fall, Genosse Solonewitsch, muß ich mich bei Ihnen für diese Listen bedanken … im Namen eben derselben kommunistischen Partei, von der Sie solcher Meinung sind … Sie müssen verstehen, wenn die Partei die Menschen nicht schont, dann schont sie auch sich nicht …«
»Sprechen Sie lieber in Ihrem eigenen Namen, dann wird es mir leichter sein. Ihnen zu glauben. Verschiedene Menschen sprechen im Namen der Partei. Wie in Christus Namen sowohl Apostel als auch Inquisitoren sprachen.«
»Tja–a–a …«, dehnte Tschekalin nachdenklich … Wir standen in einer lächerlichen Pose an der Türschwelle, ohne die Hände loszulassen. Es schien, als ob Tschekalin unschlüssig wäre. Ich drückte nochmals seine Hand und wandte mich zur Tür.
»Wissen Sie was, Genosse Solonewitsch«, sagte Tschekalin. »Auch das noch … Keine Zeit zum Schlafen … Und hast du ein Stündchen frei, dann findest du keinen Schlaf. So sitzt man hier im Dreck …«
Ich sah mich in dem großen kalten, fast leeren, mehr einer Scheune ähnlichen Zimmer um. Sah auch Tschekalin an. In seinen Augen stand die Einsamkeit.
»Ist Ihre Familie im Fernen Osten geblieben?«
Tschekalin machte eine hoffnungslose Gebärde:
»Was heißt hier noch Familie? Bei unserer Arbeit? Sie wollen also gehen? – Wissen Sie was? Morgen haben Sie keine Listen zu schreiben. – Ich nehme keinen einzigen Transport mehr ab. Punkt. Zum Teufel! Wir wollen uns setzen und etwas plaudern, ich habe auch Kognak. Zum Beißen ist auch noch etwas da. Wie?«
Für Kognak hatte ich augenblicklich kein Interesse, um so mehr aber für »etwas zum Beißen«. Wohl war der Hunger schon zu einer chronischen Krankheit geworden und rief keine besonders schmerzhaften Empfindungen hervor, doch Lust zum Essen war immer da … Für die Dauer einer Sekunde erschienen mir die Motive dieser außergewöhnlichen Einladung verdächtig; ich schaute Tschekalin in die Augen und sah, daß meine Absage für ihn etwas tief Beleidigendes, eine Kränkung seiner Einsamkeit sein würde. Ich seufzte:
»Kognak, das wäre nicht schlecht …«
Das Gesicht Tschekalins klärte sich etwas auf:
»Dann ist ja alles in Ordnung … Setzen wir uns und schwatzen wir eine Weile … Einen Augenblick noch …« Tschekalin wurde geschäftig, langte unter das Bett, zog von dort einen abgeschabten Holzkoffer hervor, entnahm ihm eine Literflasche Kognak und eine große, etwa fünf Liter fassende Blechdose, die, wie sich herausstellte, Amur-Lachs-Kaviar enthielt (roten Kaviar).
»Unser Kaviar aus dem BAM«, erklärte Tschekalin. »Wenn man hierher fährt, dann muß man Proviant mitnehmen. Fremder Amtsbereich … Und die Konkurrenz dazu … Um die eigenen Amtsinteressen mit Erfolg wahrzunehmen, muß man seine amtliche Ration stets bei sich haben … Denn es könnte so sein: nimmst du den Transport nicht ab, gibt man dir hier nichts zu essen …«
Aus einem schiefen, abgeblätterten und leeren Spind holte Tschekalin ein Trinkgefäß aus trübem Sowjetglas und ein irdenes Schälchen. Wischte sie mit einem Stück Zeitungspapier sauber. Suchte noch die leeren Bretter des Spindes ab, entdeckte ein Stück trockenes Brot – etwa ein Pfund, legte es auf den Tisch und schaute zweifelnd drein.
»Mit dem Brot ist es, glaube ich, Essig … Will noch mal nachsehen.«
Mit dem Brot war es tatsächlich Essig.
»So ein Pech … Bleibt nichts anders übrig, muß zur Wirtin … Wecke sie aber nicht gern … Werde mal selbst nachsehen, vielleicht findet sich was …«
Tschekalin ging nach unten … Ich blieb sitzen und versuchte, mit meinem müden Gehirn die auseinanderlaufenden Gedanken zu sammeln und unserer heutigen Unterredung eine halbwegs vernünftige Deutung zu geben …
Eine dieser Deutungen ging mir gleich durch den Kopf: Wieviel dieser vernichteten kommunistischen Seelen gibt es heute im heiligen Rußland, die sich mit ihnen wesensfremden Dingen befaßten, schweigend und mit zusammengebissenen Zähnen umkamen und doch irgendwo in den tiefsten Tiefen ihrer Seele von der blauen Blume träumten … Von der blauen Blume, die später einmal als Resultat … als Resultat »all dessen« das Proletariat der ganzen Welt besitzen wird. Von dieser blauen Blume spricht man nicht, sie ruht tief in der Brust verwahrt. Mit den Starodubzeffs darf man über sie nicht sprechen … Aber auf der schwarzen Erde der guten russischen Seele, begossen mit gutem russischem Wodka – entfalten sich diese blauen Blumen auf den bunten Teppichen schönster Träume … Wieviel hat man in meinem Sowjetleben auf diese Blume getrunken! …
Für einen Augenblick kam und verschwand der flüchtige Verdacht, daß Tschekalin mich verraten könnte; aber es gab eigentlich nichts zu verraten, und ich fühlte, daß die Einladung Tschekalins von »reinem Herzen«, von der leeren Einsamkeit seines Lebens ausging …
Dann sprangen meine Gedanken auf anderes über … Ich bin im D-Zugwagen Nummer 13. Die Hände sind gefesselt und geschwollen. Auf der Seele lastet ein quälender, bohrender Ärger gegen mich selbst: so danebenzuhauen … so einen Idioten zu spielen … Und eine endlose Sehnsucht nach dem, was dahin ist und nie wiederkehren kann …
Auf einer Station bringt einer der wachhabenden Tschekisten das Mittagessen – wider Erwarten ein durchaus genießbares Mittagessen … Ich entsinne mich, daß ich im Rucksack eine Feldflasche mit reinem Weingeist habe. »Ach, jetzt einen trinken dürfen!«
Ich sage zum Tschekisten: »Möchte zum letztenmal einen trinken!«
»Hören Sie auf mit Ihrem jämmerlichen Theater … Sie kommen in Ihrem Leben noch genug zum Trinken … Kann aber mal fragen.«
Der Tschekist geht ins Nachbarabteil:
»Genosse Dobrotin, der Verhaftete bittet um Erlaubnis …«
Aus dem Nachbarabteil erscheint das runde, verschlafene Gesicht Dobrotins. Er betrachtet mich prüfend:
»Werden Sie im betrunkenen Zustand keinen Skandal machen?«
»Ich werde nie betrunken. Trinke einen und versuche, einzuschlafen …«
»Na, dann meinetwegen …«
Der wachhabende Tschekist schleppt meinen Rucksack herbei, holt Flasche und Becher heraus.
»Wie wollen Sie's haben, halb und halb? Sonst nehmen Sie zwei Becher so, dann schlafen Sie schon ein!«
Ich trinke zwei Becher. Einer der Tschekisten bringt mir meine zusammengerollte Decke und legt sie mir unter den Kopf.
»Versuchen Sie zu schlafen … Wozu sich umsonst quälen. Nein, die Handschellen dürfen wir nicht abnehmen, haben kein Recht dazu … Legen Sie aber Ihre Hände so hin, dann wird es bequemer …«
… Idyll …
*
Tschekalin kam zurück. Auf einem Holzteller brachte er riesige gebackene Rüben und auf einem anderen Sauerkraut.
»Brot gibt es nicht«, sagte er verlegen lächelnd. »Aber die Rüben sind auch nicht schlecht.«
»Gar nicht schlecht«, platzte ich heraus, »unsere Genossen, Proletarier aller Länder, haben jetzt nicht mal Rüben« – doch fühlte ich gleich, daß es abgeschmackt und nicht am Platze war.
Tschekalin blieb plötzlich stehen, die Rüben in der Hand.
»Entschuldigen Sie, Genosse Tschekalin«, sagte ich offen. »Das ist mir so entschlüpft … Dachte, ich würde was Witziges sagen und unseres guten Lagerlebens halber …«
Tschekalin unterdrückte einen Seufzer, legte die Rüben auf den Tisch und goß Kognak ein – mir ins Glas, sich selbst in das Schälchen.
»Na, dann los, Genosse Solonewitsch, trinken wir auf die Zukunft, auf die unblutige Revolution … Jedem sozusagen das Seine – ich trinke auf die Revolution und Sie – auf die unblutige …«
»Gibt es auch solche?«
»Wollen wir hoffen, daß die Weltrevolution unblutig wird«, lächelte Tschekalin ironisch.
»Und auf die kommende russische Revolution wollen Sie nicht trinken?«
»Och, Genosse Solonewitsch«, sagte Tschekalin ernst, »beschwören Sie kein Unheil … Beschwören Sie es nicht! Sonst werden Sie nachher selbst die Stalinschen Zeiten beweinen. Na, ich sehe, daß Sie auf keine Revolution trinken wollen – das heißt auf die Weltrevolution, und auf die kommende russische will ich nicht. Aber der Kognak wird, wie man sagt, warm … Trinken wir denn auf ›Allgemeines‹.«
Wir stießen an und tranken auf das »Allgemeine«. Der Kognak war prächtig – aus alten Kellern Armeniens. Mit Holzlöffeln schöpften wir den Kaviar. Ein Kaviarklumpen fiel vom Löffel Tschekalins auf den Tisch … Er begann mechanisch die einzelnen Körnchen aufzulesen …
»Dritte Revolution, dritte Revolution … Was ist da zu verbergen … Nichts ist zu verbergen. Wir wissen's natürlich, daß drei Viertel der Bevölkerung diese Revolution erwartet, den Untergang der Sowjetmacht erwartet … Dummheit ist das … Nicht nur deshalb dumm, weil unsere Kräfte und Geschmeidigkeit ausreichen, um diese Revolution nicht zuzulassen, sondern auch deshalb, weil wir jetzt unter Stalin eine Zukunft haben. Gegenwärtig wäre eine Konterrevolution Faschismus, Diktatur des Auslandkapitals, Umwandlung des Landes in eine Kolonie – so ungefähr wie Indien … Wie können die Menschen das nur nicht verstehen? Von unserem rückständigen Bauerntum darf man selbstverständlich kein Verständnis verlangen … Aber die Intelligenz? Sie werden dann zu irgendeinem getarnten Berufsverband laufen und ihn um Schutz gegen irgendeinen amerikanischen Burschui bitten. Heute ist das Leben schlecht, aber dann wird es trostlos. Dann gibt's vorne ein Nichts. Aber jetzt noch zwei, drei Jahre, vielleicht fünf – und Sie werden sehen, wie alles aufblüht …«
»Haben Sie die ›Prawda‹ oder die ›Iswjestija‹ so im Jahre 1927 oder 1928 gelesen?«
Tschekalin sah mich erstaunt an:
»Aber selbstverständlich habe ich sie gelesen … Und?«
»Och, nichts Besonderes … Ein Freund von mir – ein großer Witzbold … Im vergangenen Jahre auf einer Versammlung in Moskau wurde über eine Anleihe diskutiert; ich glaube, es war die Anleihe für den zweiten Fünfjahresplan … Der Freund trat an das Rednerpult und las den Leitartikel der ›Prawda‹ aus der Zeit des Anfangs des ersten Fünfjahresplanes vor … Dort stand, wie schön man am Ende des ersten Fünfjahresplanes leben wird …« Tschekalin sah mich verständnislos an:
»Und was denn?«
»Ja, nichts Besonderes, man setzte ihn fest … Heute sitzt er im Zwangsarbeitslager an der Wischera: du sollst kein Gedächtnis haben!«
Tschekalin machte ein verdrießliches Gesicht:
»Das ist eine spießerische Meinung … Ein spießerischer Standpunkt … Angst vor Mühe und vor Opfern … Wir sagen ehrlich, daß die Opfer unvermeidlich sind … Wir wissen aber, wofür wir die Opfer verlangen und auch selbst bringen.«
Wieder kam mir der Aphorismus von Woodworth in den Sinn über die genialste Erfindung der Weltgeschichte: von dem Esel, dem man vor das Maul ein Heubündel band. So stampft der arme Esel und bringt Opfer. Das Heubündel aber – gleich schnapp ich's – bleibt immer, wo es war … Tschekalin füllte unsere »Pokale« wieder, und sein Gesicht wurde hart und verschlossen.
»Wir gehen vorwärts, wir machen Fehler, wir stolpern; aber wir schreiten nach dem höchsten Ziel, das sich die Menschheit jemals steckte. Und Sie, Sie alle, statt zu helfen, sitzen still und reißen Zoten … sabotieren und werfen Knüppel zwischen die Beine …«
»Na, wissen Sie, es ist doch schwer zu sagen, daß ich besonders komfortabel sitze.«
»Ich spreche nicht von Ihnen, nicht von Ihnen persönlich. Ich spreche von der Intelligenz im allgemeinen. Sicherlich kommen wir ohne sie nicht aus, und doch sind sie Lumpen … Sie sind auf Kosten des Volkes aufgewachsen, für das Geld der Werktätigen haben sie studiert … Gerade sie, die Intelligenz, rief das Volk zur besseren Zukunft auf, zum Kampf gegen das Böse, gegen jedwede Ausbeutung, gegen Aberglaube … rief es auf zu einem menschlichen Leben auf Erden. Und als es mit dem Aufbau dieses Lebens beginnen sollte? Feige wurde sie, klemmte den Schwanz ein und lief zu all diesen Koltschaks, Wrangels und Deterdings … trübte das Wasser, wo sie nur konnte … Ließ uns allein mit den Starodubzeffs, mit Bauernanalphabeten … Und jetzt haben wir's: ach, was machen diese Starodubzeffs?! … Diese Starodubzeffs vernichten Tausende und Hunderttausende von Menschen, und Sie, der Intellektuelle, schieben mir Ihre dämlichen homöopathischen Listen zu und denken dabei: ach nein, was für eine anständige Frau bin ich … Weniger als für eine Million gebe ich mich nicht hin … die schmutzige Wäsche meines Landes will ich nicht waschen. Sie brauchen eine Million, um die Wäsche nicht waschen zu müssen und damit Ihre Händchen zart und sauber bleiben. Sie haben einen, hol euch alle der Teufel, einen besonderen Stolz … Sie wollen jetzt behaupten, daß nicht Sie die eitrigen Geschwüre am Körper des alten Rußlands aufstachen, nicht Sie Latrinenparolen verbreiteten. Und doch waren Sie es und nur Sie … Sie sprachen, daß der Kaufmann ein Lump, der Zar ein Narr sei, daß die Generale altes Gerümpel seien … Warum sagten Sie das? Ich frage Sie« – die Stimme Tschekalins wurde wieder scharf und schneidend – »ich frage Sie, warum sagten Sie das? … Haben Sie geglaubt, daß der Kaufmann Ihnen seine Kapitalien, der Zar seine Macht, die Generale ihre Orden so mir nichts dir nichts abgeben werden, ohne den Kampf, ohne die Schlägerei, ohne die ausgeschlagenen Zähne auf beiden Seiten? Glaubten Sie denn, daß auf dem Wege zu dem menschlichen Leben, zu dem Sie die Massen aufriefen, Ihnen keine Lumpen an die Gurgel springen würden? – Massen habt ihr aufgewühlt, hol euch dieser und jener … Und als die Massen sich erhoben, habt ihr sie verraten und verkauft … Sozialisten? Hol euch der Teufel. Schmarotzer seid ihr alle!«
Die Stimme Tschekalins wurde kreischend, er fuchtelte mit seinem »Butterbrot« aus Rüben, der Kaviar flog nach allen Seiten, doch merkte er es nicht … Endlich besann er sich …
»Entschuldigen Sie, daß ich so schimpfe. – Ich habe nicht Sie persönlich gemeint. Wollen wir nicht noch einen trinken?«
Wir tranken aus.
»… nicht persönlich. Sie erschießen, das könnte jeder Tropf. Sie sollen mir aber antworten!«
»Antworten könnte man schon, doch ist es nicht mein Thema. Ich, sehen Sie, war niemals in meinem Leben, nicht eine Sekunde, Sozialdemokrat!«
Tschekalin starrte mich verblüfft und verwirrt an. Seine ganze Philippika traf ins Leere, wie eine Kartätsche ins Blaue.
»Ach – so … Dann, entschuldigen Sie … Ich wußte nicht … Was waren Sie denn? …«
»Schön, zu Ihrer Orientierung, ich war Monarchist … Worüber Ihre ehrenwerte Anstalt Gemeint ist GPU. erschöpfend im Bilde ist. So daß ich keine Veranlassung habe, besonders bescheiden sein zu müssen …«
Es war zu offensichtlich: Tschekalin fühlte, daß er mit seinem ganzen Zorn gegen die Sozialisten in eine dumme und deshalb hilflose Lage geraten war. Etwas ratlos glotzte er mich an:
»Hören Sie mal … Ihre Papiere habe ich gesehen … in dem Sie betreffenden Aktenstück. Sie stammen doch von Bauern ab. Oder – sind Ihre Papiere nicht echt?«
»Meine Papiere sind in Ordnung … Doch muß ich Sie im guten warnen – wegen der Klassenanalyse versuchen Sie nicht anzufangen … Marx kenne ich nicht schlechter, als es Bucharin tut, und wenn dabei was rauskommt, dann bei weitem nicht nach Marx … Versuchen Sie also mit dieser Analyse gar nichts …«
Tschekalin zuckte die Achseln:
»Ne, in diesem Querschnitt ist für mich die Monarchie – die vierte Dimension … Ich verstehe die Vertreter der adligen Landbesitzer … Dort waren direkte Klasseninteressen. Was hatten Sie von der Monarchie?«
»Vieles. Hauptsächlich das, daß die Monarchie der einzige Grundstock des Staatslebens war … Nicht besonders dick, doch immerhin der einzige.«
Tschekalin erholte sich etwas von seiner Verwirrung und sah mich mit offensichtlicher Neugierde an – so, wie ein Gelehrter ein interessantes Fossil betrachtet hätte:
»S–o–o–o … Sie sagen – der einzige Grundstock … Und nun, soll das jetzt heißen, daß wir uns von diesem Stock losgerissen haben und zum Teufel fliegen?«
»Wollen wir nicht ein für allemal abmachen, keine Phrasen zu dreschen. Hier gibt's doch keine ›Massen‹. Die Weltrevolution ist offensichtlich geplatzt. Also, wo fliegen wir denn hin?«
»Zum Aufbau des Sozialismus in einem Land«, sagte Tschekalin, doch klang seine Stimme nicht besonders überzeugt.
»So … Finden Sie aber nicht, daß das alles bedeutend näher zu irgendeiner grausamen asiatischen Despotie steht, als zu irgendeinem ganz abgedroschenen Sozialismus … Und wieviel Volk wird man noch vernichten müssen, um diesen Sozialismus aufgebaut zu haben, so wie er jetzt aufgebaut wird, das heißt mit Maschinengewehren … Und werden zu guter Letzt auf der menschenkahlen russischen Erde nur zwei wahrhaftige Sozialisten bleiben – ohne jegliche Abweichungen – Stalin und Kaganowitsch? …«
»Das, entschuldigen Sie, ist ein dummes Fragespiel. Ohne Opfer ist nichts zu erreichen. Sie sagen Maschinengewehre? Was ist dabei? Man hat doch seinerzeit den Bauern das Pflanzen von Kartoffeln mit Bajonetten beigebracht … Man soll das Menschenleben nie zu hoch einschätzen. Wenn die Regierung eine Eisenbahn baut, dann bringt sie auch Menschenopfer. Statistisch hat man sogar berechnet, daß auf soundso viel Kilometer Bahn soundso viel Menschenopfer jährlich entfallen. Ginge es nach Ihnen, dann braucht man keine Eisenbahnen zu bauen. Was? Hier ist nichts zu machen! Mathematik! So auch mit unseren Transportzügen … Selbstverständlich ist es schwer … Sie zum Beispiel haben den Prozentsatz dieser Unfälle etwas herabgesetzt, doch im allgemeinen sind es Kleinigkeiten … Ein Kommandeur, der in der Schlacht nicht an den Sieg, sondern an die kleinstmöglichen Verluste denken wird, der ist nichts wert, den soll man Schafe hüten schicken … Und Sie sagen Bestialitäten der Revolution. Ein leeres Wort. Bestialitäten bleiben Bestialitäten, wenn sie zwecklos sind. Wenn sie aber das Ziel erreichen, dann sind sie ein heiliges Opfer. Eine Armee, die nach der Schlacht zehn Prozent verloren und das Ziel nicht erreicht hat, verlor diese Prozente umsonst. Wenn sie aber neunzig Prozent verlor und die Schlacht gewann, dann sind ihre Verluste geschichtlich gerechtfertigt. Dasselbe auch mit uns. Wir denken nicht an die Verluste, sondern an den Endsieg. Ein Rückzug ist nichts für uns … Wir scheuen keine Opfer … Denn wenn wir nur bis auf einen Zoll den Sozialismus nicht erreichen, dann wird all das nur bestialisch, nichts weiter. Dann wird die Idee des Sozialismus diskreditiert auf immer. Für uns gibt es kein Stehenbleiben … Noch zehn Millionen! Noch zwanzig Millionen, egal! Es gibt keinen Weg zurück. Wir müssen vorwärts gehen … Doch«, fügte er hinzu, nachdem er in sein leeres Schälchen hineingeschaut hatte – »wollen wir nicht weiterwirken?« …
Ich nickte. Tschekalin füllte unsere Gefäße. Wir stießen schweigend an …
»Ja«, sagte ich, »halb sind Sie im Recht: zurück gibt es tatsächlich keinen Weg. Zugeben müssen Sie aber, daß vorne auch nichts zu sehen ist … Für den Sozialismus hat der Herrgott den Menschen nicht geschaffen. Vielleicht ist es nicht ganz bequem, doch ist es wahr. Der Mensch lebt mit den gleichen Instinkten, mit welchen er noch zu Zeiten des römischen Imperiums lebte … Das römische Recht ging von der Voraussetzung aus, daß der Mensch vor allem als guter Familienvater, cum bonus pater familias, handelt, das heißt, daß er vor allem am stärksten in seinem und seiner Familie Interesse handeln muß.«
»Philosophie des spießigen Egoismus!«
»Erstens – gar keine Philosophie, sondern Biologie … So ist eben der Mensch eingerichtet. Er hat keine Flügel, das ist sehr schade, und wenn Sie ihm die Beine abschlagen, dann wird er deshalb nicht fliegen können … Versuchen Sie mal über die Jahre nachzudenken, die Jahre der Revolution – wo Kommunismus, da ist Hunger. Wo hundertprozentiger Kommunismus – da hundertprozentiger Hunger! Das Leben beginnt nur dort sich zu entwickeln, wo der Kommunismus zurücktritt: NEP, Hausgärten, Akkordarbeit. Auf den Gefilden des reinen Kommunismus wächst aber nicht mal das Gras … Mir scheint, daß das zu den an sich nicht vielen offensichtlichen Dingen gehört …«
»Ja, die Reste des kapitalistischen Bewußtseins in den Massen erwiesen sich viel tiefer sitzend, als wir es vermutet hatten … Die Umarbeitung des Menschen geht sehr langsam vor sich.«
»Und hoffen Sie, ihn umzuarbeiten?«
»Ja, wir werden einen neuen Typ des sozialistischen Menschen schaffen«, sagte Tschekalin im Ton einer Parteirede – fest, doch ohne große innere Überzeugung.
Ich wurde wütend:
»Umarbeiten? Oder, wie in solchen Fällen die Kirche sagt, den alten Adam austreiben? Mein Gott, ist das ein Quatsch! Die Umarbeitung des Menschen versuchten viel größere und tiefere Organisationen als die kommunistische.«
»Wer denn?«
»Zum Beispiel die Religion. Und sie hat vor Ihnen ganz unermeßliche Vorzüge.«
»Religion – vor dem Kommunismus?«
»Aber freilich … Die Religion hat vor Ihnen den Vorzug, daß ihre Versprechungen im Jenseits realisiert werden sollen. Gehen Sie mal hin, prüfen Sie nach! Doch Ihre Versprechungen konnte man schon nachprüfen. Um so mehr, da Sie es nicht so eilig damit haben … Das sozialistische Paradies sollte bei Ihnen schon fünfmal kommen: nach dem Sturz der Burschui-Regierung, nach der Enteignung der Fabriken und des übrigen, nach der Vertreibung der Weißen Armee, nach dem ersten Fünfjahresplan … Jetzt – nach dem zweiten Fünfjahresplan …«
»Das ist alles richtig – die Geschichte ist ein stures Weib. Doch versprechen wir keinen Mythus, sondern eine Realität.«
»Aber sagen Sie mir bitte – war für den mittelalterlichen Menschen Paradies und Hölle ein Mythus und keine Realität? Dazu war es noch nicht das kurzschwänzige sozialistische, nur für eine Lebensdauer und auf fünf Pfund Brot (statt eines) berechnete Paradies. – Das war ein tatsächliches Paradies – unendliche Seligkeit, auf unendlich lange Zeit … Oder umgekehrt – die Hölle. Und selbst das hat nicht geholfen … Keiner wurde umgearbeitet … Ein beliebiger Christ des zwanzigsten Jahrhunderts lebt und handelt nach genau den gleichen Trieben, wie es ein Römer vor zweitausend Jahren tat – wie ein guter Familienvater.«
»Bleibt auch von uns nichts übrig?«
»Auch von Ihnen bleibt nichts übrig. Es sei denn etwas Nebensächliches und ganz entschieden durch nichts Vorgesehenes …«
Tschekalin lächelte – müde und spöttisch:
»Nun ja, trinken wir dann meinetwegen auf das Nichtvorgesehene … Bleibt also nichts, sagen Sie. Vielleicht. Aber wenn in der Geschichte der Menschheit etwas bleibt, dann von uns und nicht von Ihnen. Ihr lebt auf Erden dahin wie die blinden Würmer, man wird über euch weder Märchen erzählen noch Lieder singen …«
»Offen gestanden, was die Lieder anbetrifft, darauf spucke ich in hohem Bogen. Ob man über mich Lieder singt, ob nicht, ob man Denkmäler baut, ob nicht – das ist mir ganz gleichgültig. Ich weiß, ein Denkmal hat für die Menschen etwas Verführerisches … Geheimnisvoll und doch verführerisch … Und jeder will auf seinem Hals ein Denkmal auftürmen. Freilich ist das Leben unter ihm nicht bequem, dafür hat man aber ein Denkmal … Mir ist der Preis zu hoch. Ein Denkmal auf dem eigenen Halse und mit eigenem Blut aufbauen? Damit nachher irgendeine sich langweilende und schon ganz gehirnlose Amerikanerin mit ihrem Kodak die auf meinen Knochen aufgetürmten Stalinschen Pyramiden knipsen kann? An diesem Spiel werde ich mich nach Möglichkeit nicht beteiligen …«
»Werden Sie nicht spielen – dann wird man mit Ihnen spielen …«
»Darin haben Sie recht. Da ist nichts zu verbergen. Tatsächlich, man spielt … Und nicht nur mit mir … Eben deshalb haben sich die ehrenwerten Herren, die die Kultur- und Christenwelt im zwanzigsten Jahrhundert nach Christi bevölkern, in die Pfütze des Weltkrieges, der Krisis, des Kommunismus und des übrigen gesetzt.«
»Eben deshalb bauen wir den Kommunismus auf.«
»Sozusagen – ein Keil treibt den anderen.«
»Jawohl!« …
»Und doch hinkt Ihr Vergleich … Wenn man einen Keil mit dem anderen austreibt, dann nur dafür, um am Ende alle beide rauszuschlagen …«
»Das wollen wir ja gerade – jedweden Staatsinstinkt austreiben … Und aufbauen – eine freie menschliche Gesellschaft.«
Ich seufzte. Die Unterredung nahm eine langweilige Wendung … Freie menschliche Gesellschaft?!
»Ich weiß, Sie glauben nicht daran …«
»Glauben Sie daran?«
Tschekalin hob schweigend die Schultern.
»In den Kirchenbüchern haben Sie wohl nie geblättert?« fragte ich.
»Woher denn?«
»Schade! Dort gibt es sehr tiefsinnige Dinge. So zum Beispiel – das bezieht sich auch auf Sie – ›Ich glaube, o Herr, hilf meinem Unglauben‹ …«
»Wie sagten Sie?«
Ich wiederholte. Tschekalin sah mich nicht ohne Neugierde an …
»Gut gesagt. Ich wußte nicht, daß die Popen so was zu sagen fähig waren.«
»Sie gehören zu den Menschen, die keinen inneren Glauben haben, sich aber an ein Glaubensbekenntnis anklammern … An ein Bekenntnis, das vielleicht einst gewesen ist … Und sie werden immer weniger und weniger. Als Ablösung für Sie erscheinen jetzt die Jakimenkos, die an kein Paradies glauben, und die auf alles, außer der eigenen Karriere, spucken, und für die Sie, Tschekalin, ein Dorn im Auge sind. Die Zukunft bleibt verborgen – für Sie und auch für mich. Einstweilen aber entwickelt sich der Revolutionsprozeß zugunsten der Jakimenkos und nicht der Ihrigen … Menschen mit Überzeugung, gleichgültig, was für Überzeugungen es sind, sind heute nicht am Platze. Auch Sie sind nicht am Platze. Auf all die Revolutionen, Verdienste und Parteidienstalter spuckt Stalin und so weiter. Er braucht nur eins – nicht widersprechende Vollzieher …«
»Ich verhehle auch nicht, daß ich selbst ein Opfer auf dem Wege zum Sozialismus bin.«
»Das ist Ihre subjektive Empfindung, und objektiv werden Sie deshalb untergehen, weil Sie sich den Jakimenkos, dem Apparat und dem Stalinschen Absolutismus in den Weg stellen.«
»Erlauben Sie mal. Sie haben doch selbst gesagt, daß Sie Monarchist sind – folglich sind Sie auch für Absolutismus.«
»Die Selbstherrschaft war kein Absolutismus. Und außerdem ist eine Monarchie nicht unbedingt die Selbstherrschaft … Der russische Zar trat während der Krönung zum Volke hinaus und verbeugte sich vor ihm dreimal. Es war natürlich ein Symbol, doch etwas hat es auch bedeutet. Versuchen Sie aber Ihren Stalin zu zwingen, sich vor dem Volke in irgendeinem Sinn zu verbeugen … Und schon wird man sagen: Wo denken Sie denn hin, zum Teufel! … Das ist doch ein Genie! Ein Halbgott! Denken Sie nun bloß daran, was für eine beängstigende Speichelleckerei er um sich herum gezüchtet hat. Es ekelt einem, wenn man das ansieht.«
»Ja … Stalin ist aber unser Grundstock. Man hat den Zaren entfernt, und das ganze alte Regime ging zum Teufel. Entfernen Sie jetzt Stalin, und die ganze Partei geht zum Teufel. Wir haben auch unsere eigenen Kerenskys … Sie werden einander an die Gurgel springen.«
»Erlauben Sie mal, wie ist es aber dann mit den Massen? Die, wie heißt das – unbeschränkt ergebene …«
»Hören Sie mal, Solonewitsch, lassen Sie Ihre Demagogie. Was haben hier die Massen zu suchen? Wer und wann nahm Rücksicht auf die Massen? Und wenn die Massen aufsässig werden, dann geben wir ihnen eins drauf, daß ihnen Hören und Sehen vergehen wird. Es handelt sich nicht um die Massen, sondern um die Führung. Mit Nikolaus dem Letzten habt ihr Pech gehabt, wahrhaftig Pech, und wir mit Stalin haben auch Pech. Ein sturer Tölpel und nichts weiter … Einem Prellbock rennt er mit vollem Dampf entgegen …«
»Aha«, sagte ich, »endlich erkannt …«
»Was soll man auch … Die deutsche Revolution haben wir verpaßt, die chinesische Revolution … Den Bauern ausgeplündert, den Arbeiter abgestoßen, das Parteigerippe zertrümmert … Und jetzt, Gott bewahre uns, der Krieg … Nach ihm wird keiner von uns bleiben … Aber auch von Rußland wird dann im allgemeinen nicht viel bleiben. Sie sprachen da von der dritten Revolution. Wissen Sie denn aber sachlich, was die dritte Revolution bedeutet?«
»Ungefähr weiß ich es …«
»Ist's wahr? Dann geht der Bauer an die Aufteilung der Kolchose, das wird er unbedingt tun und dazu noch mit den Knüppeln … Es werden sich verschiedene Petljuras und Machnos erheben. Diverse Sauerkrautrepubliken werden wie die Pilze emporschießen … Nicht auszudenken! Und Sie sagen, die dritte Revolution? Pah, hat man sich angespannt, dann muß man auch ziehen, nichts zu machen … Freilich, ob wir den Karren noch rausziehen, das kann man nicht wissen. Vielleicht wird diese Last die Kräfte übersteigen …«
Tschekalin schaute in sein Schälchen, dann in die Flasche, und nachdem er dort nichts entdeckt hatte, kroch er schweigend unter das Bett nach dem Koffer.
»Noch nicht genug?« fragte ich.
»Ach was«, antwortete Tschekalin in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Ich widersprach ihm auch nicht. Tschekalin suchte auf dem Tisch herum:
»Wo ist mein treuer kommunistischer Begleiter?«
Ich reichte ihm den Korkenzieher. Tschekalin entkorkte die neue Flasche, füllte Glas und Schälchen, wir taten je einen Schluck und rauchten. So saßen wir und schwiegen … An der einen Seite des Trinktisches (allrussische überparteiliche Plattform!) – ein Zwangsarbeiter und Konterrevolutionär, an der anderen – ein Tschekist und Kommunist. Hinter dem Fenster heulte der Schneesturm. In meinem Kopf wirbelte es von verschiedenen Gedanken. Auch Tschekalin wurmte offensichtlich etwas. Er trank sein Schälchen aus, erhob sich, trat ans Fenster und starrte in die schwarze stürmische Nacht, als ob er dort irgendeinen Ausweg, wenigstens einen Lichtblick zu erspähen suche.
Dann kam er wieder zurück, füllte unsere Gefäße von neuem, sog langsam ein halbes Schälchen aus, stellte es auf den Tisch und fragte:
»Sagen Sie mal, diese Sache da, der Zar verbeugte sich vor dem Volk, ist das Tatsache oder eine Dichtung?«
»Nein, das ist wahr. Ein alter Brauch …«
»Interessant … Kann sein, daß unsere, wie Sie sagen, ›ehrenwerte Anstalt‹ die gegenwärtige Gefahr nicht richtig einschätzt … Kann sein, daß die Gefahr uns gar nicht von den Sozialrevolutionären oder Sozialdemokraten droht … Ich entsinne mich, es war vor einem Jahr. Ich arbeitete in einem Zwangsarbeitslager in Sibirien, nicht weit von Omsk … Da ging durch die Dörfer das Gerücht, daß eine Großfürstin irgendwo als Magd dient … Auf einmal wurden alle Kolchosen leer – die Bauern waren davongerannt, um sich die Großfürstin anzusehen … Ja … Und wer wird rennen, um sich die Sozialisten anzusehen? … Ein Quatsch sind die Sozialisten – nur störend wirkten sie – sowohl bei uns als auch bei Ihnen … Ja … Vieles haben sie gestört … Jetzt? Weiß der Teufel … Kurzum, was ist da noch zu sagen: Sehr schädlich ist das alles … Sie machen aber doch einen Kapitalfehler … Sie denken, daß, nachdem uns der Hals gebrochen ist – das Leben besser wird? Wohl gibt es mehr Brot … Ob weniger Transportzüge – weiß ich nicht … Denn, jedenfalls, für Stalin werden an die fünf Millionen kämpfen … Dann kommt's umgekehrt. Jetzt bewirte ich Sie mit Kognak, später vielleicht werden Sie mich bewirten … in irgendeinem weißgardistischen Zwangsarbeitslager … Besonders fröhlich wird es auch dann nicht sein … Nur daß mit uns allen auch die Träume über die bessere Zukunft der Menschheit zu allen Teufeln gehen werden. Irgendein großes Schwein setzt sich auf den Weltthron dieses Traumes und wird die Menschheit zum Mittelalter, zum Papsttum, zur Inquisition zurückreißen. Freilich auch wir – wir waten selbst bis an den Bauch im Blut … Und denken, daß es einen Himmel gibt … Vielleicht aber gibt es gar keinen Himmel? … Nur die Erde – und das Blut bis an den Bauch! Wenn die Menschheit aber sieht, daß es keinen Himmel gibt und gab? … Daß diese Millionen gar umsonst umkamen?« …
Tschekalin hielt mir sein Schälchen hin, stieß mit mir an, goß ein volles Schälchen hinunter und fuhr aufgeregt und verworren fort:
»Ja, gewiß, es ist viel Blut geflossen, zuviel … Und ob es uns gelingt, sich darüber hinwegzusetzen – weiß ich nicht. Vielleicht auch nicht … Wir sind zu wenig – Ihr seid zuviel … Und zwischen den Beinen – allerhand Starodubzeffs … Von wegen die Weltrevolution – da können Sie schon Briefe schreiben: verpaßt! Jetzt wenigstens noch Rußland zum Ziel bringen … Damit der Stab der Weltrevolution bleibt.«
»Ist für Sie Rußland nur der Stab der Weltrevolution und nichts weiter?«
»Und wenn es kein Stab ist – wer braucht es dann?«
»Viele, zum Beispiel ich.«
»Sie?«
»Sind Sie mal im Ausland gewesen? Dann versuchen Sie's mal. Denn wenn Sie an eben diesen Stab glauben – dann nur deshalb, weil er ein russischer Stab ist. Wäre es ein deutscher oder ein chinesischer Stab – dann hätten Sie für ihn keinen Pfifferling gegeben, geschweige denn das Leben …«
Tschekalin stockte etwas …
»Ja, so, natürlich, vielleicht sind Sie im Recht. Aber was ist zu machen – nur bei uns, in unserer Partei blieb der Idealismus bewahrt, blieb die allgemein menschliche Idee … Das westeuropäische Proletariat ist weiter nichts als Bonzentum … Unsere brüderlichen kommunistischen Parteien machen weiter nichts, als sich die eigenen Taschen vollzustopfen … Wir reichten ihnen die Kameradenhand, und sie reichten uns die Kameradenhand … Nur mit dem Unterschied, daß wir ihnen die Hand hilfsbereit ausstreckten, sie uns aber – haben Sie vielleicht ein paar Mark übrig? …«
»Wollen wir die Sache nicht von einem anderen Standpunkt aus betrachten? Gar kein Proletariat hat Ihnen die Hand gereicht. Die Hand reichte Ihnen eine Schar von Spitzbuben und Tagedieben – sie ist aber auch in der russischen kommunistischen Partei reichlich vertreten. Was ihren Idealismus anbetrifft, den gestatten Sie mir schon zu bezweifeln … In ihr gibt's nur das gegenseitige Halsabschneiden um die Vormachtstellung, und weiter gar nichts. Hat etwa Ihr Jakimenko wenigstens für einen Groschen etwas von einer Idee? – Und sei es auch die einfachste? Stalin zielt auf die Weltdiktatur, nicht auf die Parteidiktatur – denn diese hat er bereits in Rußland aufgefressen, sondern lediglich auf seine eigene. Sie werden doch nicht in Abrede stellen, daß heute an die Parteispitzen sich im allgemeinen – einfach Lumpenpack – heranpirscht und nichts weiter … Wo ist Rakowski, Trotzki, Rykow, Tomskij? … Übrigens, von meinem Standpunkt aus, sind auch diese nicht viel besser – doch immerhin sind es, wenn Sie wollen, Fanatiker, und auch eine Idee hatten sie. Hat denn ein Litwinow-Finkelstein, ein Sulimanow, ein Akulow irgendeine Idee? Ganz zu schweigen von denen aber, die noch tiefer stehen …«
Tschekalin antwortete nicht. Er goß unsere Gefäße wieder voll, tastete den Tisch durch die daraufliegenden Zeitungen ab. Die Rüben waren bereits aufgegessen, es blieb nur Kaviar und Sauerkraut.
»Ja, auf der Vorspeisenfront haben wir leider Durchbruch … Es bleibt nichts übrig, als zum Sauerkraut zu trinken … Nu, nitschewo – dafür haben wir Revolution«, lächelte er sauer. »Tja–a, Revolution … Sie haben's gut – abseits zu stehen und zu grinsen … Sie geht das auch nichts an! Mich aber doch … Vom sechzehnten Lebensjahre bin ich bei der Revolution … Dreimal verwundet. Ein Bruder fiel an der Koltschak-Front – von weißer Hand … Der andere – an der Wrangel-Front – von roter Hand. Der Vater, der Eisenbahner war, starb, wohl aus Hunger … So war es … Auch eine Frau war da … Alles in allem – achtzehn Jahre. Nicht ein einziges Mal in diesen achtzehn Jahren ein Tag eines richtigen menschlichen Lebens!? Kein Deut davon … Denken Sie denn, daß ich nach all dem sagen kann – alles umsonst gewesen, jetzt wollen wir zurück, ihr Brüder? … Und solcher wie ich sind Millionen …«
»Nicht doch, bei weitem keine Millionen …«
»Doch Millionen … Nein, Genosse Solonewitsch, jetzt gibt es kein Zurück! Zuviel Lumpenpack? Was denn? Auch das beuten wir aus. Und dann haben wir noch einen Verbündeten, den unterschätzen Sie ja ganz.«
Ich sah Tschekalin fragend an …
»Ja, einen großen Verbündeten – die bürgerlichen Regierungen … Sie arbeiten für uns. Ob sie wollen oder nicht, sie arbeiten dennoch … So daß, vielleicht kommen wir hoch, nicht ich natürlich, für mich ist es bereits zu spät – für mich bleibt nur, Transporte abzunehmen.«
»Sie denken, daß die bürgerlichen Regierungen ein Spielzeug in Ihren Händen sind; ist es nicht umgekehrt?«
»Selbstverständlich spielen wir mit ihnen«, sagte Tschekalin überzeugt. »Bei uns ist alles in einer Hand vereinigt: die Politik, die Armee, die Aufträge, Export und Import. Dort drücken wir die Preise, dort ködern wir mit einem Auftrag, dort erteilen wir den Auftrag. Und keinerlei parlamentarische Anfragen. Eine saubere Arbeit, nicht wahr?«
»Kann sein … Ein schlechter Trost ist es, zu versuchen, durch die Organisation einer Kaschemme mit Weltausmaßen das verlorene Spiel wieder wettzumachen … Wenn Sie in Rußland alles auf den Kopf gestellt haben, wird Europa Ähnliches keinen Augenblick aushalten. Das, was Sie sagen, ist wohl möglich, wenn Stalin bis zum nächsten europäischen Krieg noch bleibt; dann wird er ihn natürlich auch ausnützen. Vielleicht wird er ihn sogar provozieren. Das aber bedeutet den Untergang der gesamten europäischen Kultur.«
Tschekalin sah mich mit der List eines Betrunkenen an.
»Auf die europäische Kultur, teurer Genosse, darauf husten wir … Was haben die werktätigen Massen von dieser Kultur gehabt? Haben Arbeiter und Bauern von Ihrem Zaren viel gehabt?«
»Nicht allzusehr; aber auf jeden Fall unermeßlich mehr, als sie von Stalin haben.«
»Stalin ist eine Übergangsperiode. Ich mit Ihnen – auch eine Übergangsperiode. Oder nach Lenin: die Epoche der Kriege und der Revolutionen ist angebrochen …«
»Und da freuen Sie sich?«
»Jeder Mensch, Genosse Solonewitsch, will leben. Ich auch. Ich möchte gern Frau und Kinder – ein Familienleben haben. Aber was nicht ist, ist nicht. Vielleicht gedeiht der Aufbau auf unseren Knochen – gut wenigstens ist der Gedanke, daß es unseren Enkeln besser gehen wird.«
Tschekalin lächelte plötzlich verschmitzt und schaute mich an, als ob er in mir etwas entdeckt hätte:
»Das wird aber interessant … Ich habe keine Kinder, dann werde ich auch keine Enkel haben. Sie haben aber einen Sohn, und so kommt es zu guter Letzt, daß ich mich für Ihre Enkel plage …«
»Bei Gott, es wäre viel einfacher, wenn Sie sich um Ihre eigenen Enkel sorgten und die Sorge um die meinigen mir überließen. Dann würde es den Ihren und den meinen leichter.«
»Na, mit meinen steht die Sache schief. Mit den Enkeln ist es bei mir Schluß. Solches Leben, wie ich hatte, rächt sich.«
Dieses Geständnis überraschte mich. Das kommt vor, sehr oft sogar – das wußte ich, doch gestehen es nicht viele …
Mir kamen die Verse von Selvinski ins Gedächtnis:
Der böse Gott, der wußte es voraus,
Er dachte ihnen eine Rache aus –
für die sogar, die 's Bajonett verschonte,
die Laus verließ und die der Priester segnete
Ja, es gibt eine Vergeltung … Tschekalin sah mich an, als ob er sagen wollte: da haste! Doch statt des Mitgefühls stieg in mir der Haß auf. Hol sie alle der Teufel – all diese Idealisten, Enthusiasten und Fanatiker. Mit eisernem und stumpfem Starrsinn, Jahrhundert ein – Jahrhundert aus, von Generation zu Generation befassen sie sich nur damit, sich selbst, noch mehr aber den anderen das Leben zu verderben … All diese Torquemadas und Savonarolas, Robespierres und Lenins … Mit geheimnisvoller Kraft greifen sie nach dem Idiotischen im Menschen. Da vor mir auch eine dieser idealistischen Seelen. Bis zum Nabel im Blut, auch in seinem eigenen … Er wird natürlich vorwärtswaten, weiter waten, jedwedes Leben um sich herum zerstören und sich und die anderen der Religion des organisierten Hasses opfern. Gibt es eine reale und nicht ausgeklügelte Liebe zu diesen vielgerühmten »Werktätigen«? War noch etwas vom Evangelium in den Scheiterhaufen der Inquisition und in den Religionskriegen? Und was ist die Liebe zur Menschheit? Eine Realität? Oder ein goldener Traum, den die Wahnsinnigen herbeizauberten, die tatsächlich die Menschheit liebten, aber eine ausgeklügelte, in der realen Welt nicht existierende Menschheit … Wohl ist Tschekalin mit seiner Liederlichkeit, mit seinem Hundeleben, Einsamkeit und Aussichtslosigkeit sehr kläglich dran … Zu gleicher Zeit ist er aber auch furchtbar, fürchterlich in seinem Starrsinn und auch dadurch, daß ihm tatsächlich nichts mehr übrigbleibt, als vorwärtszurasen. Und er wird rasen …
Doch konnte sich Tschekalin meine Gedankengänge nicht mal vorstellen.
»So ist es … Und Sie sagen – Henker … Na ja«, verbesserte er sich hastig, »wenn Sie's nicht sagen, dann denken Sie's … Denken Sie auch, daß es leicht ist, so bis an den Nabel im Blut zu waten?! Sie denken, daß es ein großes Vergnügen ist, in den Zwangsarbeitslagern zu wirken. Ich muß aber wirken, die Partei hat mich geschickt … Wir roden sozusagen die Reste des Kapitalismus aus …«
Tschekalin goß ins Glas und in das Schälchen die Reste der zweiten Flasche ein. Er war bereits stark angeheitert. Seine Zunge wurde schwer, und die Hand zitterte.
»Doch dann, wenn wir nun alles restlos ausgerottet haben, dann kommt die Frage: Was ist geblieben? Kann sein, daß in der Tat nichts übrigbleibt … Ein ödes Land. Auch Kaganowitsch wird nicht bleiben: ›weicht ab‹ – und aus mit ihm … Das Leben war, und hin ist es. Für die Katz' war es. Futsch … Ganz schön, Genosse, haben wir uns hineingesetzt – in den Schlamassel … Wenn man nach hundert Jährchen nochmals geboren würde, um dann zu schauen, was nun geworden ist? Und wenn nichts geworden? Nein, hol's der Teufel, ist schon besser, nicht mehr geboren zu werden. Kommst noch mal auf die Welt, schaust dich um – nur Disteln und Trümmer. Und was dann? Häng dich auf! … Und doch hätte man leben können, einen Sohn haben – so wie Ihr Junge … Nur etwas jünger … Ja, Pech … Schlamassel … Ach was, saufen wir noch eins! … Auf Ihre Enkel. Wie? Und auf meine? – Lohnt nicht – 'ne schiefe Sache …« Tschekalin trank aus, ging schwankend an das Bett und zog seinen Koffer hervor. Doch blieb ich diesmal hart:
»Nein, Genosse Tschekalin, mehr kann ich nicht, entschieden nicht. Es reicht auch – pro Nase ein Liter. Ich muß arbeiten morgen.«
»Gar keine Arbeit kriegen Sie. Ich habe doch gesagt – ich nehme keine Transporte mehr ab.«
»Nein, ich muß gehen.«
»Bleiben Sie bei mir doch über Nacht. Wir richten uns schon ein.«
»Das geht nicht. Am Tage sieht jemand, daß ich Ihre Behausung verlasse, und das könnte böse Folgen haben.«
»Ja, das ist richtig … Was ist das für ein lumpiges Leben!«
»Sie haben sich doch mit bemüht, das Leben lumpig zu gestalten …«
»Ich nicht, aber die Epoche … Was bin ich? Das machten Millionen. Ein lumpiges Leben! Na, egal, es bleibt ja sowieso nicht mehr viel davon. Sie gehen also fort? Schade.«
Wir drückten uns noch mal die Hände und traten an die Tür.
»Entschuldigen Sie, wenn ich die Sozialisten so runterputzte.«
»Ach was! Ich bin ja kein Sozialist.«
»Ach ja, ich habe es vergessen … Es ist auch gleich – alles zum Teufel. Sozialisten und Nichtsozialisten … Halt! Warten Sie mal«, besann sich plötzlich Tschekalin und trat ins Zimmer zurück. Ich blieb unschlüssig stehen … Eine Minute später kam Tschekalin mit etwas in Zeitungspapier Eingewickeltem zurück und stopfte es mir in die Tasche meines Buschlats. »Das ist Kaviar«, erklärte er. »Für Ihren lieben Jungen. Nein, keine Widerrede … Sozusagen für die Enkel, für Ihre Enkel … Meine – hat der Teufel. Warten Sie mal, ich leuchte Ihnen.«
»Nein, lieber nicht – es könnte jemand sehen …«
»Ist auch wahr … Verdammt … Ein Sch … leben!« Draußen heulte immer noch der Schneesturm. Heftig schlug der Wind die Tür hinter mir zu. Ich blieb eine Weile auf dem Vorbau stehen und kühlte mein heißes Gesicht an der frischen Luft. In der Ausstellungsgalerie der Opfer der kommunistischen Fleischhackmaschine erschien eine neue Figur: Genosse Tschekalin – ein abgenütztes und von Blut durchrostetes Schräubchen dieser in der Geschichte beispiellosen Maschine.
Ungeachtet des Schneesturmes, der Nacht und des Kognaks habe ich mich nicht ein einziges Mal in Schneehaufen und Zaunflechtwerken verlaufen. Endlich sah ich, hinter einem kleinen Hügel hervortretend, die erleuchteten Fenster der RVA. Unser improvisiertes Elektrizitätswerkchen arbeitete die ganze Nacht hindurch und in den letzten Nächten eigentlich nur für uns beide – Georg und mich. Die Bauernhütten erhielten keinen Strom, und der Lagerstab schlief. Flüchtig dachte ich daran, daß man eigentlich in dieses Werkchen gehen und die Leute schlafen schicken sollte. Doch mußte ich vorher nach Georg sehen.
Die Tür der RVA war verschlossen. Ich klopfte. Professor Butko machte auf, jener Professor der »Reflexologie«, von dem ich schon sprach. Vor etwa zwei Wochen wurde ihm eine Beförderung zuteil – er wurde Abortwächter. Das war ein »Beruf« der physischen Arbeit, der ihm unter anderen Vorzügen noch hundert Gramm Brot pro Tag mehr verschaffte.
Im ersten Zimmer der RVA war kein Licht, doch brannte der Ofen ganz hell. Der Professor stand vor mir, nur mit einer zerrissenen Jacke bekleidet und mit dem Schüreisen in der Hand. Man sah, daß er in traurige Gedanken versunken soeben noch am Ofen gesessen hatte. Sein nach unten hängender ukrainischer Schnurrbart gab ihm das Aussehen wehmütiger Hoffnungslosigkeit.
»Wollen Sie sich noch betätigen?« fragte er etwas ironisch.
»Nein, ich will nur nachsehen, was Georg macht.«
»Schläft … Nur den Kopf hat er sich irgendwo blutig geschlagen.«
Beunruhigt ging ich in das nächste Zimmer. Georg schlief. Das Kopfende der Ofenbank war mit Blut verschmiert – anscheinend hatte sich mein Pflaster aus Zigarettenpapier gelöst. Georgs Kopf war mit einer Art von Handtuch verbunden, die Füße mit dem Lagermantel zugedeckt – offensichtlich mit dem Mantel des Professors Butko. Und der Professor, anstatt schlafen zu gehen, sitzt da und heizt den Ofen, weil es zu kalt wäre, ohne den Mantel zu schlafen, und einen anderen Schlafdeckenersatz besaß er nicht. Ich schämte mich.
Bis vor kurzem war Professor Butko, wie er selbst erzählte, Oberlehrer an einer provinzialen höheren Schule. In der Zeit der Ukrainisierung und des »Vorschubes der neuen wissenschaftlichen Kader« wurde er zum Professor befördert, was in der Sowjetunion sehr leicht und unbekümmert gemacht wird, und was niemand zu etwas verpflichtet. In dem pädagogischen Institut der Stadt Kamenez-Podolsk dozierte er die nicht besonders scharf umrissene Wissenschaft, die man Reflexologie nennt. In diese Wissenschaft hinein zwingt man je nach Bedarf auch die Pädagogik, Berufswahl und die Reste der nunmehr verbannten und dahinsiechenden Psychologie und vieles andere. Professor Butko nahm diese Professur und die Ukrainisierung als echt an, zu ernst – ohne gleich hinter diesen Dudelsack ganz prosaischer und recht banaler Sowjetchalture zu kommen.
Als das politische Bedürfnis an der Ukrainisierung vorbei war und die Parole »von den Kulturen, die der Form nach national und dem Wesen nach proletarisch sein sollen« auf den nächsten Schutthaufen geworfen wurde – fuhr mein Professor Butko, zusammen mit sehr vielen Kollegen ins Zwangsarbeitslager – auf fünf Jahre und mit dem überaus üblen Spionageparagraphen (Paragraph 58 Absatz 6). Seine Familie verbannte man irgendwohin nach Sibirien – nicht in ein Zwangsarbeitslager – sondern stellte sie auf sich allein: Mach, was du willst. Dorthin sollte auch nach Abbüßung der Strafe Butko fahren, höchstwahrscheinlich auf ewige Zeiten: Da kannst du leben, dich vermehren, aber in deine Ukraine darfst du nicht mal die Nase stecken. Die Aussicht, nie mehr seine Heimat sehen zu können, bedrückte Butko mehr als die fünf Jahre Zwangsarbeitslager.
Professor Butko, wie auch sehr viele von diesen kleinen Separatisten war fest davon überzeugt, daß man die Ukraine verwüstet hat, und daß ihn in das Zwangsarbeitslager nicht Bolschewiken, sondern die »Kazapen« Verächtlicher Spitzname für Großrussen in der Ukraine; Kazap heißt ukrainisch Ziegenbock. verbannt haben. Über dieses Thema stritten wir bereits mit ihm, und ich sagte, daß ich vor allem kein Kazap, sondern hundertprozentiger Weißrusse sei, daß ich aber trotzdem mich sehr freue, daß man mich die russische Sprache und nicht das weißrussische Platt gelehrt habe, und daß man die weiten Gefilde unseres Imperiums nicht durch irgendeinen Bezirks-Patriotismus »mit einem Parlament in Wilna oder Minsk« ersetzt habe, und schließlich, daß ich eben durch diese Ausbildung nicht zu solch einem Herrgottstölpel ausgewachsen sei, wie zum Beispiel er selbst.
Sündiger Mensch, liebe ich doch nicht all diese Kulturen im Kleinstaatmaßstab, all diese Versuche, die allrussische Kultur – wie sie auch sei, in die Fetzen von allerhand Sauerkraut-Separatismen zu zerreißen. Doch der Satz von dem Herrgottstölpel war dumm und grob. Dumm deshalb, weil Professor Butko, obwohl er das zu verbergen suchte, doch nach Puschkin erzogen war; grob deshalb, weil Butko selbstverständlich kein Herrgottstölpel war. Er war einfach ein Provinzromantiker. In der zuchthäuslerischen Umwelt der RVA und des übrigen langten aber die Kräfte nicht immer aus, um die eigenen Nerven im Zaum zu halten. Butko fühlte sich beleidigt und war im Recht. Ich habe mich nicht entschuldigt und war im Unrecht. Und doch sitzt dieser Mann da und schläft nicht, schläft deshalb nicht, weil er mit seinem Lagermantel einen Kazapenjungen zugedeckt hat.
»Wozu denn das, Genosse Butko? Nehmen Sie Ihren Mantel. Ich laufe ins Zelt und hole die Decke …«
»Das lohnt sich nicht mehr. Bald wird es hell. Ich setze mich hier an den Ofen und werde mich wärmen … Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?«
Ich hatte keine besondere Lust zu schlafen. Das kam von der ungewohnten Aufregung, hervorgerufen durch Kognak, durch die Unterhaltung mit Tschekalin, durch eine wilde nervöse Gereiztheit und von der Vorahnung einer heftigen nervösen Reaktion nach all diesen Wochen der unermeßlichen Nervenanspannung.
Wir setzten uns an den Ofen. Butko schnupperte erstaunt. Ich griff nach Machorka in die Tasche, fand aber nichts. Das war verdrießlich, hatte ihn wahrscheinlich bei Tschekalin vergessen. Es kann aber sein, daß er unter das Kaviarpaket geraten war. Ich holte es hervor. Das Zeitungspapier war an einigen Stellen durch und aus den Löchern quoll der Kaviar. Unter dem Kaviarpaket fand ich noch ein unerwartetes Geschenk Tschekalins – drei Schachteln Zigaretten »Trojka«, eine Sorte, die nur in den prominentesten »Verteilungsläden« zum Preise von sieben Rubel fünfzig Kopeken je zwanzig Stück verkauft werden. Ich hielt eine Schachtel Professor Butko hin. In seinen Augen stand ein mißtrauisches Erstaunen. Er nahm eine Zigarette und fragte zaghaft:
»Wo haben Sie sich bloß so vollgeschlaucht, Iwan Lukjanowitsch?«
»Merkt man was?«
»Nicht allzusehr. Nur das Lüftchen. Ein gutes Lüftchen, muß man sagen – so nach gutem Kognak!«
»Ja, Kognak.«
Butko seufzte.
»Und alles deshalb, weil Sie Großmacht-Chauvinist sind. Gleich und gleich gesellt sich gern. Ihr Moskowiter seid alle Imperialisten: Bolschewiki, Menschewiki, Monarchisten und was sonst noch. Das habt ihr im Blut.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich in meinen Adern nicht einen Tropfen großrussischen Blutes habe …«
»Dann haben Sie sich angesteckt. Imperialismus färbt leicht ab.«
»Der alte Geschichtsschreiber schrieb über die Slawen, daß sie es vorziehen ›einzeln zu leben‹. Das liegt meinetwegen im Blut. Können Sie sich aber einen Deutschen vorstellen, der einen Krieg wegen irgendeines bayerischen separatistischen Staates führen würde? Dabei unterscheidet sich die Sprache des bayerischen und preußischen Bauern mehr als die Sprache des großrussischen und des ukrainischen Bauern.«
»Was ist denn Gutes dabei, daß Preußen sich ganz Deutschland unterordnete?«
»Für uns bestimmt nichts Gutes. – Eventuell das Risiko, daß die Ukrainer genau so, wie seiner Zeit die Wenden und noch ein paar kleine slawische Völker verschluckt werden.«
»Bei der heutigen Lage der Dinge ist es schon besser, wenn uns die Deutschen verschlucken. Unter ihnen werden wir wenigstens nicht hungern und auch nicht in den Zwangsarbeitslagern sitzen müssen. Für uns Ukrainer sind Ihre Kazapen schlimmer als das Tartarenjoch. Nicht mal bei Batu-Chan war es so schlimm.«
»Hat jemand unter den Zaren in der Ukraine gehungert?«
»Das gerade nicht, aber unser Volk, unsere Kultur hat man unterdrückt. Das habt ihr im Blut« – wiederholte Butko mit ukrainischer Hartnäckigkeit – »nicht bei Ihnen persönlich – Sie sind ein Renegat, ein Abtrünniger Ihres Volkes.«
Ich dachte an den Lagermantel und bezwang mich:
»Lassen Sie es genug sein, Taras Jakowlewitsch – in Weißrußland habe ich meine Anverwandten wohnen – Bauern. Wenn ich annehme, daß die russische Kultur, allgemein russische Kultur, Gogol einbezogen, mir persönlich den Weg in die breite Welt eröffnete, warum soll ich dann kein Recht haben, den gleichen Weg auch für meine Anverwandten zu wünschen … Ich wohnte oft und lange auf dem Lande in Weißrußland und es ist mir niemals in den Kopf gekommen, daß meine Anverwandten keine Russen sind – und umgekehrt … In der Ukraine verbrachte ich sechs Jahre – und wie oft habe ich gelegentlich den ukrainischen Bauern Zeitungen und Regierungsverordnungen aus der ukrainischen in die russische Sprache übersetzen müssen, weil das Russische ihnen verständlicher war.«
»Da schneiden Sie aber auf, Iwan Lukjanowitsch!«
»Keinesfalls. Selbst Skrypnik Volkskommissar der ukrainischen Sowjetrepublik – später in Moskau beging er unter geheimnisvollen Umständen »Selbstmord«. war schließlich gezwungen, die offizielle ukrainische Sprache von galizischen Einflüssen zu reinigen, die in der Ukraine niemand außer den Spezialisten versteht. Das ist doch nicht Schewtschenkos Sprache.«
»Konnte denn unter der Moskauer Herrschaft die ukrainische Sprache sich entwickeln?«
»Ob ja, ob nein, ist ganz nebensächlich … Heute aber hat der weißrussische und der ukrainische Separatismus einen, wohl unausgesprochenen, kann sein sogar unbewußten Beweis dafür, daß viele Ministerstellen für die Menschen geschaffen werden, die nach ihrem inneren Wert in keiner Weise den Posten eines allgemein russischen Ministers beanspruchen können … Und der Bauer – der weißrussische und der ukrainische – braucht diese überflüssigen Minister, Botschafter und Generalposten genau so wie ein Wagen das fünfte Rad. Den Separatisten wird der Bauer nicht nachlaufen. Er hat genug Erfahrung. Wer ging im Namen des Separatismus mit Petljura? Niemand … Es blieb beim alten: ›im Waggon das Direktorium, darunter – das Territorium‹ …«
»Heute werden alle gehen.«
»Jawohl, das werden sie. Aber nicht gegen die Kazapen, sondern gegen die Bolschewiken.«
»Auch gegen Moskau werden sie gehen.«
»Gegen das heutige Moskau, ja. Gegen die russische Sprache – niemals. Denn heute will der ukrainische Bauer nicht ukrainisch lernen; er sagt, daß die Bolschewiken ihm die ›Herrensprache‹ vorenthalten, damit er dummer Bauer bleibt.«
»Das Volk hat's noch nicht erkannt.«
»Aber ihr, genau wie die Bolschewiken, die ukrainischen Separatisten, die Menschewiken und die Sozialrevolutionäre. Ihr alle habt wundervoll erkannt, was dem Bauern nötig ist – nur der Bauer selbst nicht! Auch so ein einsichtiger Mann …« – Beinahe wäre mir der Name Tschekalin entschlüpft, doch biß ich mich rechtzeitig auf die Zunge … – »was gibt es Einsichtigeres als Kommunisten. Wohl werden sie das ganze Land verwüsten, aber nicht simpel, sondern auf der Basis einer neuzeitlichsten, wissenschaftlichsten, soziologischen Theorie …«
»Sie brauchen aber nicht gleich hochzugehen.«
»Wie nicht hochzugehen? … Wir beide sitzen Gott sei Dank im Zwangsarbeitslager und da sollen wir noch nicht hochgehen … Und wenn wir hier nicht klüger werden, das ›einzeln leben‹ nicht verlernen, dann wird uns jedes Lumpenpack von Lager zu Lager ziehen … Liebhaber dafür finden sich schon …«
»Wenn Sie an die Macht kommen, dann wird man auch Sie unter den Liebhabern finden.«
»Mich nicht. Sprechen Sie die Sprache, die Sie wollen und stören Sie niemand zu sprechen, wie er will. Das ist das Ganze.«
»Das geht nicht an … In Moskau die Sprache, die Sie wollen. In der Ukraine aber nur ukrainisch.«
»Also – mit Zwang?«
»Ja, in erster Zeit mit Zwang.«
»Die Bolschewiken auch ›in erster Zeit mit Zwang‹ …«
»Wir kämpfen für das Unsrige, für unser Haus. In Ihrem Hause können Sie machen, was Ihnen beliebt – in unserm Haus – das überlassen Sie mal uns allein …«
»Und in wessen Hütte lebte Gogol?«
»Gogol ist auch ein Renegat« – sagte Butko düster.
Das war eine unnötige und hoffnungslose Debatte … Butko war einer von den »Märtyrern der Idee«, einer von denen, die im Namen der Idee den eigenen Kopf wagen, von den fremden Köpfen gar nicht zu sprechen. Doch hat Butko die Erleuchtung Tschekalins noch nicht erreicht. Er war noch nicht unter den »Siegern«, und für ihn war der kommende Separatismus das gleiche irdische Paradies, das zu seiner Zeit für Tschekalin »der Sieg der werktätigen Klasse« war.
»Wäre all das, was heute vor sich geht, möglich bei dem Regime einer selbständigen Ukraine?« – fragte Butko finster. – »Ukraine ist für euch alle nur das Hinterland eures Imperiums, weiß oder rot, das ist ja gleich. Versteht sich wohl, daß das, was heute der rote Imperialismus tut, dem zaristischen Imperialismus nicht einmal in den Sinn kam … Nein, mit Moskau wollen wir unser Schicksal nicht verbinden. Zu teuer ist die Sache … Genug haben wir von Rußland. Wir bekamen von ihm die Leibeigenschaft, auf unserem Brot hat sich das zaristische Imperium aufgebaut und heute tut es das Stalinsche. Es reicht, genug! Bei uns in der Ukraine hat man bereits vergessen, die Lieder zu singen … Soweit ist es. Und unser Volk – teils in Sibirien, teils hier im Lager und teils im Jenseits …«
In der Stimme Butkos lag eine große Liebe zu seinem Vaterland und ein großer Schmerz über dessen gegenwärtiges Schicksal. Butko tat mir leid – womit kann ich ihn aber trösten?
»Im Lager und im Jenseits sind ja nicht nur die Ukrainer allein. Dort sind die Großrussen, die Sibirier, die Weißrussen und auch die anderen …«
Doch schien es, als ob Butko auf die letzten Worte gar nicht hörte …
»Bei uns blüht jetzt die Steppe …« – sagte er und sah versonnen auf die verglimmenden Kohlen …
Ja, es war auch Anfang März. Tatsächlich begann jetzt in der Ukraine die Steppe aufzublühen. Und hier – der Schneesturm … Doch muß man wenigstens ein Stündchen schlafen …
»So ist die Sache, Iwan Lukjanowitsch« – sagte Butko. – »Unser Streit ist kein langer Streit. Einerlei, wir kommen alle in das gleiche Grab – ob Ukrainer, ob Moskowiter, ob sonst wer … Und sogar nicht in das Grab, sondern einfach in eine Massengrube.«