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M. Solitaire

Woldemar Nürnberger, der sich als Schriftsteller M. Solitaire nannte, erblickte das Licht der Welt zu Sorau am 10. Oktober 1818 als Sohn des Postdirektors Joseph Emil Nürnberger (geb. 1779 zu Magdeburg, gest. 1848 zu Landsberg a. d. W.), eines hochgebildeten, wissenschaftlich und literarisch stark interessierten Mannes, der sich durch zahlreiche Schriften bekannt gemacht hat. Im Jahre 1829 wurde dieser nach Landsberg a. d. W. versetzt, und dieser Ort ist die eigentliche Heimat Solitaires geworden. Hier hat er bis zu seinem vierzehnten Lebensjahre, ausschließlich von seinem Vater unterrichtet, gelebt, hier hat er, nachdem er von 1832 bis 1838 das Gymnasium zu Stettin besucht und darauf bis 1843 in Berlin, Halle und Leipzig Medizin studiert hatte, sich 1843 als praktischer Arzt niedergelassen und ist bis an sein Lebensende, am 17. April 1869, an diesem Ort tätig gewesen. Nur einige weit ausgedehnte Reisen unterbrachen diesen etwas einförmigen Lebenslauf.

Im Hofe des Vaters geradezu in einer literarischen Atmosphäre aufgewachsen, regte sich schon frühzeitig der Dichter in ihm. Doch das feurige Kolorit seiner ersten Knabenversuche haben den Vater und die Freunde geradezu erschreckt, und man glaubte, das Feuer dämpfen zu müssen. Sein erstes Werk, den »Josephus Faust«, ließ er 1842, als er noch Student war, erscheinen, ein wildphantastisches Gedicht voll Glut und Leidenschaft. Später ließ er noch (nur das Wesentliche sei genannt) einen Band Gedichte »Bilder der Nacht«, eine größere Anzahl Novellen, Reisebilder, einen größeren Roman und ein Lustspiel folgen. Ein vollständiges Verzeichnis seiner Schriften ist am Schluß angefügt. Sich durchzusetzen gelang ihm nicht. Obwohl namhafte Kritiker seiner Zeit die eigenartige Kraft, die in seinen Schöpfungen zum Ausdruck kommt, wohl zu würdigen wußten, war ihm ein nennenswerter Erfolg versagt; und wenn er auch immer seine kleine Gemeinde gehabt hat, die ihn mit Bewunderung las, so ist man doch erst in neuerer Zeit wieder in weiteren Kreisen auf ihn aufmerksam geworden und hat einen Neudruck seiner Schriften verlangt. Seine Bücher, die Storm schon 1874 als Raritäten bezeichnete, sind heute außerordentlich selten geworden, und man kann sie sich nur mit Mühe verschaffen.

Rich. M. Meyers Verdienst ist es, schon 1900 in seiner »Deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts« nach langer Zeit zum ersten Male mit Nachdruck auf Solitaires Bedeutung und auf die Wertschätzung, die ein so kompetenter Richter wie Theodor Storm seinen Schriften entgegenbrachte, hingewiesen zu haben. Es ist bekannt, wie hohe Anforderungen Storm an die Lyrik stellte, und wie unerbittlich er in diesem Punkte selbst seinen besten Freunden gegenüber war. Um so bedeutsamer ist die hohe Anerkennung, die er Solitaires Gedichten zollt. In der Vorrede zu seinem Hausbuche schreibt er: »Ich möchte alle, die das Faustische Element nicht nur als Stoff, sondern auch als Faktor der Dichtung gelten lassen – und es gehört doch wohl zum vollen Menschenleben und kann daher auch in der Lyrik seinen Platz beanspruchen – auf die so wenig bekannten ›Bilder der Nacht‹ hinweisen. Es dürfte unter den deutschen Dichtern kaum einen zweiten geben, in welchem es mit so ergreifender Innerlichkeit und in so lebensvollen, farbensatten, wenn auch von düsterer Glut bestrahlten Gebilden zur Erscheinung gekommen wäre. Mag man immerhin die Anschauungen und den oft schneidenden Pessimismus des Dichters nicht teilen, jedenfalls wird man zugeben müssen, daß die Fackel seiner Poesie von der alltäglichen Oberfläche in Tiefen und Abgründe der Menschenbrust und des Menschenlebens hinableuchtet, vor denen ein ernsterer Mensch die Augen nicht verschließen soll. Daß wir es hier außerdem mit einem Dichter von einer selten kräftigen Eigenart zu tun haben, werden schon die mitgeteilten Proben beurkunden«.

Über Solitaires Novellen spricht er sich an verschiedenen Stellen seines Briefwechsels mit Paul Heyse aus, der seit 1918 gedruckt vorliegt. Er rühmt an Solitaire da besonders »die große, breite Pinselführung, die in unseren deutschen Novellen selten ist«. Anschließen möge sich hier noch ein Urteil aus neuerer Zeit. Fritz Böhme schreibt 1913 in den Anmerkungen zu dem von ihm herausgegebenen Nachtragsband zu Storms Werken (Westermannsche Ausgabe): »Solitaire gehört zu den völlig vergessenen Dichtern. Mit Unrecht, denn er ist ein tiefer Dichter und in den meisten seiner Erzählungen ein seinen Stoff meisterhaft beherrschender Künstler. Ich denke dabei ganz besonders an den großen phantastischen Roman ›Diana Diaphana‹, der mit bewunderungswürdiger Kraft und Schärfe im Charakterisieren, mit einer Shakespeareschen Freude am Urwüchsigen und mit einer Feinheit des Seelenkenners Menschenschicksale in engster Verbindung mit ihrer Zeit (Anfang des 16. Jahrhunderts) darstellt: eine volle und reiche Dichtung, gewachsen aus märchenhafter Phantastik groteskem Humor und lebenssatter Schwermut«.

Es ist eine sonderbare Welt, in die uns Solitaire eintreten läßt, eine Phantasiewelt, die man mit einer Tropfsteinhöhle verglichen hat, in der die seltsamsten Naturbärte von der Decke herunterhängen und triefen und im grellen Fackelschein, der die permanente Nacht durchdringt, schimmern. Das Düstere und Unheimliche herrscht vor. Nacht und Sturm liebt er, die Elementargeister sind ihm Vertraute. Für sonderbare, knorrige, vom Leben zerzauste Gestalten hat er eine Vorliebe. Theophrastus Paracelsus ist eine seiner Lieblingsgestalten, zum Volk der Seeleute und Zigeuner fühlt er sich hingezogen. Dabei verfügt er über eine ungewöhnliche Kraft der Darstellung. Mit leuchtenden Farben und breitem Pinselstrich versteht er es, prächtige Bilder zu entwerfen. Machtvollste und zarteste Töne stehen ihm zu Gebote. Die Treffsicherheit seines sprachlichen Ausdrucks ist oft erstaunlich, nicht minder die Gabe, Situationen und Menschen gegenständlich zu machen und lebensvoll hinzustellen. Seine Kunst zu charakterisieren ist groß, ebenso seine Kunst Stimmung zu erzeugen. Er schlägt auch humoristische Töne an; dann ist es ein wilder, grotesker Humor. Seine Grundstimmung aber ist trübe, melancholisch, weltverachtend. Ein tiefer Pessimismus, der oft sich in schneidenden Dissonanzen äußert, ist ihm eigen. Das kalte Entsetzen tritt ungemildert und rücksichtslos zutage. ›Wilde Situationen‹, in denen eine zerrissene Seele das Hohngelächter der entfesselten Natur hört, sind seine Lieblingsstücke«. (Meyer.)

Wenn er sich auch selbst dagegen verwahrt hat, so hat man doch mit Recht auf seine Verwandtschaft mit E. Th. A. Hoffmann hingewiesen. Ein gut Stück Schauerromantik lebte in ihm. Aber auf der andern Seite zeigt er wieder so viel Züge, die ihn uns fast als modern erscheinen lassen, daß R. M. Meyer ihn treffend ein »wunderbares Gemisch veralteter und verfrühter Kunst« nennt. So mag es wohl begreiflich sein, daß er uns heut viel näher steht und verständlicher ist als seinen Zeitgenossen, die sich an Hackländer und der Marlitt ergötzten und nicht einmal mit Gottfried Keller etwas anzufangen wußten.

So sehr man sich auch durch die hohen Vorzüge seiner Darstellung, die Schärfe der Zeichnung, die Leuchtkraft der Farben, die Kunst der Stimmungsmalerei gefangennehmen läßt, so darf man doch auch nicht übersehen, daß seinen Werken zum Teil Mängel anhaften, die geeignet sind, den reinen Genuß zu beeinträchtigen und die künstlerische Wirkung zu stören. Diese Mängel waren es auch, die den fein empfindenden Heyse dermaßen störten, daß er sich trotz Storms eifrigster Fürsprache nicht dazu entschließen konnte, Solitaire in den Novellenschatz aufzunehmen. Nicht zu leugnen ist, daß der Aufbau und die Komposition der Novellen bisweilen schwach sind, und daß die Motivierung zu wünschen übrig läßt, daß man zum Teil auch starke Unwahrscheinlichkeiten mit in den Kauf nehmen muß. Es kommt auch vor, daß ihn seine Fabulierfreude und Phantasie zu offenbaren Geschmacklosigkeiten verleitet. Man nimmt oft wahr, daß er mit einer unbegreiflichen Sorglosigkeit zu Werke geht und wünscht etwas mehr Selbstkritik und künstlerische Disziplin.

Etwas Besonderes ist sein Stil. Solitaire hat die Gabe des Worts. Treffsicher und ausdrucksvoll weiß er es mit vollendeter Virtuosität zu handhaben. Frappierend ist die Fülle überraschend glücklicher und wirksamer Redewendungen und Vergleiche. Aber er ist schwerfällig und oft dunkel, bisweilen in störender Weise gesucht und verschnörkelt, übertrieben pointiert und manchmal manieriert. Es trifft zu, daß der Leser, wie Ad. Stern sagt, im Gegensatz zu W. Raabes klarer, lichter Darstellung mit sprachlichen Schwierigkeiten und Härten geradezu zu kämpfen habe. In der phantastischen Märchennovelle, Großmutter Schlangenbraut, die hier zum Abdruck kommt, werden die gerügten Mängel den Leser nicht stören. Sie ist eine Reiseerinnerung. Zweimal, zuerst nach Abschluß seiner Studien und dann in der Mitte der fünfziger Jahre, hat der Dichter weite Reisen durch Deutschland, Holland, die Schweiz, Istrien, Italien, Südfrankreich, Algier unternommen. Nach Möglichkeit liebte er es, zu Fuß zu wandern. Die neue Erfindung der Eisenbahn haßte er. Seine Reiseskizzen gehören zum Allerschönsten, was wir von ihm haben. Ergreifend wird er, wenn er vom Meere spricht, zu dem ihn eine ganz besondere Liebe zieht. In unserer Erzählung mischt sich Wahrheit und Dichtung in der köstlichsten Art. Auf der Wanderung zurück ins traute Germanien kehrt er ein im gastfreien Hospiz auf dem St. Gotthard. Wir sehen ihn, wie er im behaglich durchwärmten Zimmer hinter der nußbraunen Zechtafel am Ofen bei einer Flasche Wein müde hindämmert, und erlauschen mit ihm die »etwas, unchristliche« Geschichte von der alten Tebalda und dem wunderlichen Berggeist Bockmilch, die der köstliche Signor Cavallo nun zum Besten gibt. Die Einkleidung, der Hintergrund der Landschaft, das Zimmer, der müde Wanderer in der Ecke, alles gehört dazu, um den wundervollen Stimmungszauber hervorzurufen, der dieses Geschichtchen umgibt. Auch die grelle Dissonanz, welche die Trauerbotschaft von dem verstümmelten Soldaten, dem Bruder der schönen Fiammetta, der im Lazarett zu Bellinzona liegt, in den Abschluß bringt, und die mit harter Hand die Menschen aus dem Märchen in die rauhe Wirklichkeit zurückreißt, ist so ganz im Sinne Solitaires, daß sie notwendig dazugehört. Alles ist so ganz und echt, so klar umrissen und doch so weich in Stimmung getaucht, daß man sich mit Verwunderung klarmacht: Das hat ein deutscher Arzt vor siebzig Jahren auf einer Alpenwanderung gehört und aufgeschrieben und das Buch, in dem es zu lesen ist, ist vergessen und verschollen, in einer Bibliothek vergraben, und kaum einer weiß darum.

Von dem Poeten selber wissen wir nur sehr wenig. Einige gute Bildnisse von ihm sind mir bekannt. Nennenswerte biographische Kunde über ihn ist nicht auf uns gekommen. Auch die Familien- und Ortstradition versagt vollständig. Eine fast sagenhafte Erinnerung an einen sonderbaren Arzt, der auf seinem Schimmel reitend seine Kranken besuchte und einst eine der bekanntesten Persönlichkeiten im weiten Umkreise der Stadt war, der dabei aber allerhand wunderliche Gewohnheiten hatte und ein starker Zecher war, ist so ziemlich alles, was in der Überlieferung seines Wohnortes von ihm lebendig geblieben ist. Von seinem Nachlaß hat sich nichts erhalten.


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