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4.

Dann geschah eines Tages etwas, was Sara geradezu wunderbar erschien.

Es war am Vormittag. Nachts hatte es geschneit, und überall auf Dächern und Gegenständen lag feiner Schnee wie weiße Daunen. Die Pumpe sah ganz rauh aus. Und die große Ulme mitten im Hofe stand, behangen mit all dem Schnee, so vorsichtig da, als wage sie es nicht, ihre Zweige zu rühren.

Längs des nach Westen gelegenen Gebäudes hatten die Leute in früher Morgenstunde einen schmalen Gang getreten, und Thors Pfotenspuren führten quer über den Hof; im übrigen aber lag der ganze Platz da in seiner schimmernden, kristallklaren Schneedecke.

Hoch und winterblau wölbte sich der Himmel über dem verschneiten Hofe, die Luft war rein, kühl und morgenfrisch. Weiß fiel das Sonnenlicht auf den Hofplatz und die glitzernden Dächer; nur in der Nähe der gen Osten liegenden Außengebäude schimmerte der Schnee bläulich im Schatten.

Hinaus in diesen festlichen Wintertag tritt Sara mit einem Eimer Zentrifugenmilch für die Kälber.

Sie schüttelt sich vor Wohlbehagen. Sie streckt den geöffneten Mund vor, um so recht mit Genuß in vollen Zügen zu atmen. Ihre Augen verkleinern sich. Sie saugt Sonne und Schnee in ihre junge Seele ein.

Und ihr Gesichtsausdruck wird dadurch strahlend.

In ihrem leichten fußfreien Baumwollkleide eilt sie hinüber nach den Ställen.

Dort sieht sie Anders stehen. Er kehrt ihr den Rücken zu und hat ihren leichten Schritt nicht vernommen.

Da hat sie einen Einfall, der sie packt wie eine sündige Lust. Sie hält inne, ihr ganzes Gesicht wird zu einem einzigen großen Lächeln, und sie muß geradezu den Kopf ducken, um nicht laut aufzulachen, vorsichtig setzt sie den Eimer hin, greift in den Schnee, der jetzt die Spuren ihrer Finger zeigt, und formt einen Ball, den sie Anders in den Nacken wirft, gerade unter die Locken.

Das Ganze vollzieht sich in einem Nu. Hastig ergreift sie den Eimer und läuft davon.

Aber Anders folgt ihr auf den Hacken und überschüttet sie mit einer ganzen Lage, daß der Schnee auf Rücken und Brust herabrinnt.

»Uh!« ruft sie laut, aber trotzdem lachend, und fängt nun an, sich zu verteidigen. Sie hat das Glück, gerade Anders Ohr zu treffen, wo der Schneeball sich fest hineinbohrt in all die kleinen Öffnungen und Gänge. Er schüttelt den Kopf und gräbt mit den Fingern – vergebens; wie ein Schaf steht er da und gießt sich das Wasser aus den Ohren. Inzwischen überschüttet Sara ihn in ausgelassener Weise, und ihr Lachen klingt durch die klare Luft.

Nun aber bekommt Sara ebenfalls ihr Teil; Anders wird ganz eifrig. In ganz kurzen Zwischenräumen sendet er ihr Ball auf Ball. Und bald scheint ihm das noch nicht genug zu sein; er nähert sich ihr, füllt beide Hände mit Schnee und schüttet ihn auf Saras großen, dicken dunkelroten Haarknoten, so daß er in kleinen Streifen zwischen den lose aufgesteckten Locken liegen bleibt.

Sie werden hitziger und immer hitziger, alle beide. Der Schnee schmilzt und läuft herab an der bloßen Haut. Den Milcheimer werfen sie um. Aber sie merken nichts anderes als ihr junges Blut, das rascher und rascher durch ihre Adern rollt, und immer lebhafter und klarer werden ihre Augen.

Die Sonne lächelt ihnen zu, aber hinter dem Wohnstubenfenster steht Maren, die Wiesenhofbäuerin, und verfolgt den Kampf mit strengen Mienen.

Sara weicht mehr und mehr zurück. Schließlich wird sie in eine Türöffnung hineingedrängt.

Hier schlingt Anders plötzlich den Arm um ihren Nacken. Sie lehnt sich zurück mit einem feinen Lächeln um den zarten Mund und blickt ihn fragend an mit ihren großen, unschuldigen Augen. Er zieht mit Gewalt ihren Kopf näher an sich heran.

Und mit einem Male gibt sie nach, und zwei Paar Lippen schließen sich fest aufeinander.

So stehen sie einen Augenblick, ganz versunken.

Da rührt sich etwas in ihrer Nähe, und still gehen sie auseinander, jeder nach seiner Seite.

Sara geht umher wie im Traum. Sie bereitet das Essen, sie spricht mit den Leuten, fragt und antwortet, sie sitzt mit bei Tisch und ißt, sie säubert das Geschirr – und erst als sie vor dem frischgescheuerten Tisch des Brauhauses steht und ihre Hände sich nicht mehr regen, wacht sie auf.

Und sie begreift nicht, wie das alles zugegangen ist; sie weiß nicht, daß sie alle Arbeit verrichtet hat. Sie entsinnt sich nur einiger ferner, gemurmelter Worte, des Topfgerassels und des Geräusches der Messer und Gabeln.

Aber eins weiß sie, ein Gefühl beherrscht alle anderen: zwei warme, weiche Lippen auf ihrem Mund.

Ihr Gesichtsausdruck spiegelt diese Empfindung wider; er strahlt noch von dem Wunderbaren, das ihr geschehen ist.

Plötzlich steht die Hausfrau vor ihr und starrt sie an mit ihrem scharfen, forschenden Blick.

Aber Sara ist heute so merkwürdig stark; sie fühlt, es sitzt etwas in ihrer Brust, das sie verteidigt, und daher blickt sie freimütig auf.

»Und du schämst dich nicht?« ruft die Wiesenhofbäuerin.

»Warum sollte ich das?«

»Die Milch vergießen und mit den Mannsleuten dumme Possen treiben – ja, das sind wirklich saubere Mädchen heutzutage!«

Sara schüttelte leicht den Kopf und betrachtete die Bäuerin beinahe mit einem nachsichtigen Lächeln, weil diese nicht versteht, daß das, was Sara erlebt hat, etwas ganz anderes ist.

Wieder schaut Maren sie an, als wollte sie sie in die Knie zwingen:

»Du bist eine alberne Närrin, wie die anderen!«

Aber es macht keinen Eindruck auf Sara. Das ist das sonderbare. Wäre das an einem anderen Tage geschehen, sie wäre dadurch zu Boden gedrückt worden. Aber es ist, als hätte dieser Kuß ihre Seele gereinigt, so daß kein giftiges Wort auf sie wirken kann. Und dann ist ihr auch, als sei alles andere in den Hintergrund getreten im Verhältnis zu diesem einen.

Die Wiesenhofbäuerin verliert die Geduld:

»Wer sollte wohl glauben, daß eine, die so unschuldig aussieht, so frech sein könnte!« Worauf sie zornig davongeht.

Sara ist gar nicht niedergeschlagen; es verdrießt sie nicht einmal. Sie begreift selber nicht, daß sie ihrer Hausmutter gegenüber, vor der sie doch einen so großen Respekt hat, so sein kann. Aber ihre Augen leuchten, und wenn jemand eine Ahnung hätte, welch ein Herrliches ihr, Sara, heute widerfahren ist, so würde niemand solch böse Worte gebrauchen.

Thor öffnet die Tür mit der Schnauze und schlendert über den Fußboden auf der Suche nach einem guten Bissen.

Sara hat sich mit dem Hund angefreundet und streichelt ihn. Sie dreht an seinen Ohren, daß Thor, der an ihr emporgesprungen ist, sein großes Maul mit der hellroten Zunge aufsperrt. Sie vergräbt den Kopf in seinen Pelz und knirscht dabei mit den Zähnen. Dann drückt sie ihn fest an sich.

So spielen sie miteinander im Brauraum, wobei der Hund vergnügt knurrt und Sara lacht.

Boel, die vorbeirast, bemerkt spitz: »Ha, hast du nichts anderes zu tun, du lange Dirn? Dir fehlt wohl einer zum Karessieren!«

Aber Sara lächelt: Boel ist im Grunde so nett, mag sie nun gut oder verdrossen sein.

Dann kommt der Postbote Jens durch den Schnee dahergewandert. Er hat so etwas heimatliches an sich, findet Sara. Er wohnt oben in den Bergen, nicht weit vom Weidenhäuschen entfernt, und dann ähnelt er Saras Vater und den anderen Bergbewohnern. Es ist wie ein Gruß von zu Hause, wie sie ihn sieht.

Der Postbote Jens bekommt jeden Tag seinen Kaffee im Wiesenhof. Das ist eine alte Regel. Meistens ist es Sara, die ihm einschenkt, und wenn er sparsam den dicken, ungeschlachten Finger anfeuchtet, um die Kuchenkrumen des Tisches aufzulesen, damit nichts verloren geht, so ist es ihr grad, als sähe sie ihren Vater vor sich; der würde es auch so machen.

Namentlich heute freut sie sich darüber, Jens zu sehen.

O – die Menschen sind im Grunde so gut alle miteinander. Es ist Sonne in Saras Augen; alles glänzt an diesem Tage.

Und alles geht ihr so leicht von der Hand. Die Arbeit ist nichts. Was sie mit ihren Händen verrichtet und was um sie herum geschieht – der ganze Betrieb des Hofes geht wie von selber.

Und dann ist etwas Neues da, das ihre Brust erfüllt: daß all das nämlich, was da vor sich geht und die Stunden des Tages auszufüllen scheint, daß all dieses gar nicht das Leben ist.

Das ist dagegen etwas ganz anderes, das im verborgenen wächst, das sich hinter all dem Äußeren verkriecht – ja, das ist das eigentliche Leben.

Hiervon träumt Sara in ihrer Kammer. Sie hat ein solches Verlangen danach, allein zu sein an diesem Tage, der so reich und neu für sie ist.

Aber sie kann ihre Gedanken nicht sammeln. Sie sitzt und lauscht und lauscht auf das Große, das da kommen muß.

Sie ahnt mehr als sie versteht.

Zum Fenster hinausblickend, gewahrt sie das wunderbare tiefblaue Himmelsgewölbe mit den funkelnden Sternen; ihr ist, als hätten sie noch nie so geleuchtet. Und noch nie ist ihr ein Abend so still vorgekommen wie dieser.

In diese Stille hinein klingt es dann und wann so festlich und fein, wenn das zerbrechliche Eis auf den Gräben und Teichen und Pfützen zusammensinkt – das tönt so wunderlich.

Wieviel Helles und Schönes und Reines es doch in der Welt gibt.

Aber all dieses Schöne birgt auch so viel Ernstes, so viel, das sie ängstigt. Jetzt beginnt wohl das Leben für sie.

So denkt sie, während sie noch die Süßigkeit des ersten Kusses auf ihren Lippen spürt.


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