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Der Versuch, Heinrich Manns Stellung in der deutschen Dichtung dieser und früherer Zeit zu umreißen, kann mit mancherlei Mitteln aufklärender und abgrenzender Wirkung unternommen werden, vielleicht aber nicht grundlegender und weitreichender als durch Feststellung der Tatsache, daß die Stoffe und Probleme seiner Romane in radikalster, ausschließlichster Diesseitigkeit befangen sind. Gott und Jenseits, Himmel und die Seligkeit bleiben unbetastet, unbesprochen, ungestaltet. Kaum, daß ihnen einmal da und dort, in einer Novelle manchmal, ein ironisch flackerndes Licht entlockt wird. Das Rationale allein ist Vorwurf und damit auch Maßstab jeder Gestaltung. Der Mensch in seiner Zeit und Zeitlichkeit, der Mensch mit seinen Ecken und Enden und in seiner Endlichkeit ist die Figur, an der sich das Geschehen abzeichnet und, was an Sinn und Welt sich in diesem Geschehen verkörpert, gestaltvoll offenbart. Heinrich Mann sucht nicht Gott, sondern findet Mensch und Mensch und wieder Mensch und sucht nun, vor und für Gott, die rein weltlichen Mysterien zu ergründen. Dieses Ergründen wird mit einer Leidenschaft vorgenommen, die sich in jede Breite und Tiefe ergießt, in alle gesellschaftliche, soziale und auch geographische Breiten und in alle seelische und intellektuelle Tiefen. Natur und Kultur der Menschen werden von Grund auf, von ihrem primitivsten Grund bis zu ihrer raffiniertesten Höhe und bis zur letzten Unabmeßbarkeit durchforscht. Dieses zähe und heiße Natur- und Kulturforschertum ist die stolzeste und seltenste Eigenschaft des Romanschreibers Heinrich Mann und hebt ihn aus der Menge der epischen Schriftsteller zur Einsamkeit eines wahrhaften Epikers, des deutschen Romanciers hinauf.

Diese Höhe aber gibt Aufschluß und Erklärung über das Wesen der Gottlosigkeit seiner Romane.

Ein Mensch, ganz angezogen und vollgesogen von der Schöpfung, schafft sie in leidenschaftlichstem Triebe noch einmal. Der Zwang liegt auf ihm, selbst das Auge und die Hand Gottes für den Umkreis seiner Werke darzustellen und jeden göttlichen Sinn und Zweck nicht erst in dem zu schaffenden Menschenbild, sondern schon in dem schöpferischen Akt selbst aufzubrauchen. Gott wird und ist ausgeschaltet, weil hier von einem Menschen, der sich des Weges wohl bewußt ist, in seinen Spuren gewandelt wird. Der Dichter hat den metaphysischen Furor schon in dem Plan erschöpft, Gottes Schöpfung zu erneuern, zu erklären und ins Zeitliche zu wandeln. Der liebe Gott geht durch den Wald der Erscheinungen, man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht, er predigt nicht und wird nicht gepredigt. Es ist keine Akustik und keine Optik für ihn da, denn die Ewigkeit, die seine Zeit und sein Raum wäre, ist ausgeschaltet. Das Absolute ist abgelehnt. Die sechs Schöpfungstage heben aufs neue an. Ihr Ziel und Werk ist: nicht eine Ewigkeit zu schaffen, sondern als bewußtestes Gegenteil eine genau und scharf abgegrenzte Zeit, die von da bis dahin reicht und nicht weiter.

Eingeschüttet in das Gefäß dieser Zeit wird alles, was an Kreatur auf zwei Beinen geht, was zu denken und zu handeln, zu träumen und zu spekulieren, zu lieben und zu hassen, anzubeten und zu fluchen sich vermißt. Jede Vermessenheit dieser einen Zeit und ihrer Geschöpfe wird an ihr und ihnen selbst gemessen und nur dadurch tragisch, komisch, bitter, ironisch oder sonstwie immer. Die Zeit wird zum Maßstab ihrer selbst sublimiert. Sie wird aus sich selbst heraus erkannt, Gott ist nicht in ihr. Und also auch nicht in diesen Romanwerken, die für sie (und gegen sie) dastehen. Dies erst ist der wahre Grund für die Gottlosigkeit Heinrich Manns. Dieser Neuschöpfer einer Zeit sah den Allschöpfer nicht in ihr und braucht ihn daher nicht. Seine Zeichnertreue gegen das Milieu schließt Metaphysisches aus. Was sein Auge nicht sah, das glaubte nicht sein Herz. Es gehört mit einer Ausschließlichkeit, die seine Größe ausmacht, den Gesichten dieser einen Zeit. In ihnen geht es auf, mit ihnen brennt es zu einer Einheit zusammen, die nur noch Werk heißt und nicht mehr Mensch.

Dies heißt: so tief und dicht sind Heinrich Manns Romane in die Zeit, der sie dienen, hineingelagert, daß die Persönlichkeit, das nur Subjektive des Dichters schattenhaft, fast wesenlos wird. Er wird in harter Selbsterziehung und Selbstentäußerung so ausschließlich Diener am Werk und an der Zeit, daß er mit zunehmender Reife sein Menschliches, sein Persönliches ohne Rest in die Gestalt der Zeit aufgehen läßt. Diese steht vor uns, um ein barockes Bild zu gebrauchen, als ein ragendes Denkmal, umwimmelt von vielen Figuren. Die Hauptfigur und die Beifiguren zeigen in Gesicht und Haltung nur noch einen letzten Widerschein, eine leiseste Erinnerung, eine ironisch gefaltete Mitgift vom Wesen des Dichters.

Er hat sich der Zeit geopfert. Von ihr aus muß er, muß sein Wert erkannt werden.

*

Heinrich Mann ist im Jahre 1871, zwei Monate nach Begründung des Deutschen Reiches geboren. Sein Leben ist also eingebunden in die geschichtlichen Ereignisse von Beginn und Aufstieg, vom Niedergang und Ende des deutschen Imperiums.

Dies ist eine für sein Lebenswerk entscheidende Tatsache.

Der Dichter ist in Lübeck, also in einer, wenn auch der kleinsten, deutschen Hansestadt geboren, einem Milieu, in das sich das Getriebe des deutschen wirtschaftlichen Aufschwungs wie in ein Sammelbecken ergoß, ohne aber die Sprödigkeit und Bedachtsamkeit hanseatischen Bürgertums zu sprengen. Lübeck muß auf den heranwachsenden Knaben wie eine gutbürgerliche Stube gewirkt haben, in die der Lärm der großen Wirtschaft hineinfiel und aus der die Blicke unmittelbar über die große Welt schweifen konnten.

Das Hineinwachsen in größere Verhältnisse wirtschaftlicher und politischer Art war hier, in der Hansestadt, durch Tradition, Streben und Erfolg von Jahrhunderten organisch vorbereitet. Parvenütum war ausgeschlossen oder wenigstens stark zurückgedrängt. Das Problem des deutschen Bürgers unterstand hier den Erfahrungen und Gesetzen einer selbstsicheren kaufmännischen Aristokratie. Das neue Kaiserreich schuf hier nicht eine Welt neuer und verblüffender Möglichkeiten, sondern erweckte und erregte alten Besitz und Erwerb.

Die Distanz zwischen dem neuen Deutschland und dieser stillen Hansestadt war durch deren konservativen Geist gesichert und festgelegt. Lübeck, überdies neben den Schwesterstädten am Meer einigermaßen stiefmütterlich bedacht, war und blieb als Wirtschaftsmittelpunkt eine peripherische Erscheinung. Dies ermöglichte und legte eine irgendwie kühle und skeptische Betrachtungsweise gegenüber dem mächtigen, sich förmlich überstürzenden deutschen Aufschwung nahe.

Ein guter Wohnsitz also und Standpunkt für den heranwachsenden Betrachter und Gestalter seiner Zeit!

Die äußeren und inneren Lebensumstände Heinrich Manns sicherten ihm überdies einen Platz über den Dingen und Vorgängen der Zeit. Dem Sohn eines deutschen Kaufmannes und einer fremdländischen Mutter wurde Blick und Instinkt für die Erscheinungen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens eingeboren. Fremdes Blut der Mutter und sachlicher Sinn für die Wirklichkeit vom Vater her nützten dem Hang und der Begabung zum Beobachten. Die Realität des Volkes war von dem Sohn des Großkaufmanns abgerückt und ihm zugleich wie etwas Neues, Reizvolles und Erregendes dargeboten.

In Lübeck, d. h. in der Jugend, mag das Leben, das sich rundum in dem weltläufig gewordenen Deutschland und in der großen Welt selbst entfaltete, auf den werdenden Dichter nur in Ahnungen und traumhaften Umrissen eingewirkt haben, nicht stark genug jedenfalls, um die Entwicklung des Heranwachsenden zu verwirren oder gar zu stören. Desgleichen stellten sich nicht überwichtige und überwiegende Interessen des väterlichen Geschäftes gegen ihn und seinen Beruf. Er konnte, als die Zeit herankam, gelassen und unverwirrt die Schule und Lübeck verlassen und Student werden. Er ging nach Berlin.

Literarisches und Philosophisches an der Hochschule lernend, wurde der junge Heinrich Mann Student der großen, kulturarmen, marktfreudigen, laut lärmenden und in immer größere Turbulenz hineintaumelnden Stadt Berlin. Als er hier ankam, war er schon Dichter. Er bedurfte nicht der Erweckung. Er war, die ganze Jugendzeit hindurch, auf die romantische und spielerische Art, die ihm seine Natur und Umgebung nahelegte, Dichter. Seine Spiele gehörten dem Theater, seine Träume hatten die Stille und Abgeschiedenheit der Vaterstadt. Und nun konfrontiert mit Berlin! Was bedeuteten vor dieser harten, scharfen kontrastvollen Gegenüberstellung die dichterischen Ahnungen, Entwürfe und auch Manuskripte des jungen Menschen!

Student in Berlin sein – dies hieß für Heinrich Mann: einer neuen, fremden und befremdenden Welt ins Auge und Herz sehen, dies hieß für ihn: vor ein Rätsel und vor eine Aufgabe gestellt sein und seine Aufgabe darin erkennen, dieses Rätsel zu lösen. Schreiben heißt nun Vorbereitungen treffen, sich üben und Exerzitien machen für die Gestaltung von Problemen, die nun schon, die sofort, aus dem bloßen Kontrast heraus, aus dem Kontrast der Welt der Jugend und dieser neuen Welt der Stadt Berlin, sich ballten und den jungen Studenten erfüllten.

Ein psychologischer Familienroman, heute nicht mehr gedruckt, und völlig vergessen, wurde geschrieben. Ein Tribut an die damalige Zeit und Mode, an den damals gerade höchstgespannten Glauben, die Geheimnisse des kleinen Lebens psychologisch nicht nur entschleiern, sondern auch zur Weltbedeutung steigern zu können. Daneben entstand die erste Novelle »Das Wunderbare«.

Sie ist ein Abschied von einem schön umzirkten, traumvollen, geradezu idyllischen Dasein des Körpers und der Seele. Eine Sehnsucht nach einer goethischen Existenz lebt in der Erzählung und zugleich eine frühreife, wehmütige Resignation, daß man mit dem Wunderbaren zusammen nicht leben, sondern höchstens der Erinnerung daran treu bleiben und sie als verklärenden Trost ins Leben hinüberretten könne.

In dieser Novelle ist alles Gefühl – und das Gefühl ist eine sanfte, milde Vorbedingung und Konsequenz des Lebens, das von ihm wie von zartem Licht umleuchtet und überglänzt wird. Hinter dieser Anschauung tun sich viele Wege in die Zeit und in das Schicksal auf. Aber es sind die Wege eines stillen, mehr versonnenen als besonnenen Menschen und sie werden, möchte man glauben, durch romantisches Land und verklärendes Licht laufen.

Aber es war, wie gesagt, ein Abschied. Das neue Deutschland ergriff durch die Kralle Berlin von dem jungen Dichter Besitz, riß ihn – vorläufig wenigstens – aus aller Romantik, Besinnlichkeit und Träumerei heraus und warf ihn einer Ruhelosigkeit in die Arme, die stärkstes Symptom der Zeit war.

Die erste größere Arbeit, die nun aus Heinrich Manns Hand zum Druck kam, heißt »Im Schlaraffenland«. Der neue Belami, ein leicht erkennbarer, fast ein gespiegelter Bruder seines Vorläufers in Maupassants Gestaltung, wurde dem innersten Wesen und Unwesen jener Zeit, wurde dem aufgerührten, dem gezuckerten und gepfefferten Menschenbrei des Berlin der Jahrhundertwende entrissen. Mit realistischen, aber doch schon deutlich durch dichterische Ironie verschärften Mitteln entstand ein Mitläufer und Parasit des wilhelminischen Zeitalters, so wie die Figur Maupassants aus dem Milieu des Paris des dritten Napoleon geschaffen war. Der Stoff und sein deutlicher Mangel an Geist und Kultur scheint den Dichter, den noch nicht durch Erfahrung gewappneten, förmlich überrumpelt zu haben. Fratzen und Larven, Tierisches und Snobistisches, Salonlöwen und allerhand Getier des Bohème-Affenhauses treiben in diesem Roman, von den, wie es scheint, fassungslosen Händen des Dichters ans Licht gezogen, ihr läppisches, frivoles und dummes Spiel. Geld und Ruhm, Literatur und Geschäft, Entfesselung und Genuß mischen sich zu einem qualligen Bild, vor dem der langsam zum Bewußtsein aufsteigende Schmerz und die Bitterkeit des Dichters sich in eine witzige und witzelnde Ironie flüchtet.

Hier beginnt, vorläufig noch versteckt und in ihrer noch zaghaften Entschlossenheit zur Form nicht sonderlich sympathisch, die Mission des Dichters Heinrich Mann. Durch die – man sollte meinen: unüberbrückbare Kluft zwischen dem »Wunderbaren« jener Novelle und der restlos entzauberten Welt dieses Romans wird die Entwicklung Manns, wird sein publizistisches Schicksal, wird sein Weg und Ziel deutlich. Durch einen kühnen Sprung setzt sich der Dichter mitten in seine Lebensaufgabe und wird, angekommen, nicht nur zum dichterischen Problematiker, sondern auch zum Problem einer ganzen Zeit, an und in dem Generationen ihre Lebensformen und Weltanschauungen erkennen.

*

Für das Problem Heinrich Mann läßt sich eine zeitlich deutliche Parallele aufstellen: sie heißt Balzac. Dieser neben Dostojewski größte Romancier aller Zeiten und Völker ist in dem Jahre geboren, in dem Napoleon, von Ägypten heimkehrend, die Herrschaft in Frankreich an sich riß. Sein Geburtsjahr ist zugleich das Geburtsjahr des Empire. Und seine Gestalten sind fast ausnahmslos Kreaturen dieser Macht- und Expansionsepoche. Hintergrundsfiguren des Riesentableaus, dessen Zentralfigur der große Eroberer und Welterneuerer ist. Aus ihr fließt jenen die Fülle, die Dämonie und ein Anteil von Weltbedeutung zu. Es mußte ein Napoleon ins Leben, in die große Erscheinung und Wirkung getreten sein, um die große epische Form Balzacs zu ermöglichen.

Und so auch ist die Begründung des Deutschen Reichs die grundlegende Voraussetzung für das Schaffen Heinrich Manns. Die zeitlichen Übereinstimmungen sind hier mehr als ein chronologisches Zufallsspiel. Sie legen vielmehr ein Lebensgesetz aller Epik großen Stiles bloß.

Das Epos ist im primitiven, auf Held und Gott als die bestimmenden Faktoren alles Geschehens gestellten Kulturzustand der Völker ein Lob- und Preislied auf Kämpfer und Götter. Während die ersten lyrischen Ergüsse naturgemäß in die Seele des Helden untertauchen, während das Drama vollends diese Seele in einen Konflikt mit Gott oder Volk zu setzen trachtet, hebt die Epopoe den Helden zum Vor-Bild des Volkes und zur Nach-Bildung der Götter empor. Der epische Held bleibt dem Volk so sehr verbunden, daß es mit ihm in die Erscheinung tritt, und wird den Göttern so nahe gerückt, daß sie durch ihn erst dem Volke verbunden erscheinen. Er ist demnach im Gegensatz zu dem lyrisch verklärten Helden, soweit es ihn in den frühen Literaturen überhaupt gibt, und zu den dramatisch isolierten eine soziale Erscheinung, förmlich ein erhöhendes Gleichnis des Völkischen, eine künstlerische Verwirklichung, Verdichtung und Symbolisierung des Volkes.

Dies besagt: das Volk ist ein Element der Epik, vorerst durch die es verkörpernden Helden, dann aber, wenn der Fortgang der Geschichte den Begriff des Helden aufgelöst oder verflacht hat, durch seinen eigenen Körper. Dieser geht in das epische Volumen über, wird dessen Inhalt, Atmosphäre und Bedeutung. Epik heißt nun ausgewählter Bericht über die geistigen und dinglichen Zuständlichkeiten einer Gemeinschaft. Je mehr »Volk« in solchem Bericht enthalten, verarbeitet und gestaltet ist, desto deutlicher und wirkungskräftiger stellt sich seine epische Wesenheit dar, desto erfüllter, wichtiger und größer wird seine Gestalt. Denn diese Gestalt ist ideell identisch mit der Form irgendeiner Gemeinschaft: einer Familie, einer Stadt, eines Volks, einer Völkerfamilie.

Aus diesem Umkreis tritt, was man wiederum den Helden des Romans zu nennen sich gewöhnt hat, in das Licht der Epik. (Hier darf, wenn es auch nicht mehr als äußere Bedeutung hat, daran erinnert werden, daß Heinrich Mann mit einem Roman aus der Familie begonnen und von da über novellistisches Sichversenken und Sicherinnern zum Roman einer Stadt vorgeschritten ist, die bereits, wenn nicht als Symbol, so doch als Extrakt eines Volkes genommen wurde, und von da hinwiederum zur Darstellung eines, wenn auch abseitigen Volksschicksals gelangt ist). Hier scheidet und unterscheidet sich die dramatische und epische Welt besonders augenfällig: der dramatische Held wird es dadurch, daß er sich von seinem Volk abtrennt und ihm gegenübertritt, der epische, indem er dieses Volk ins Geschehen und Schicksal trägt. Der dramatische Held ist ein Einzelner, eine singuläre Erscheinung, der epische ist einer von und unter vielen, der Ausdruck der Vielen durch Einen! So auch besteht das Wesen des Dramas in der knappen Auswahl, das des Romans in einer Art von Häufung des Stoffes. Jene Auswahl erzwingt die Gestalt des Helden von der Idee, diese Häufung läßt sie aus einem Gewimmel und Gewirre herauswachsen. Dieser ästhetische Tatbestand läßt sich etwa so formulieren, daß das Drama Kunstform der Subjektivität, der Roman die Kunstform der Objektivität geworden ist. Dort Synthese, hier Analyse! Dort mehr Biologie, hier mehr Biographie!

Je höher ein Romanwerk aufwachsen soll, desto tiefer muß sein Autor in das Leben und die Zeit, die er beschreibt und durch seine Beschreibung neugestaltet, eingesponnen, desto tiefer muß er mit ihnen verwurzelt und verwachsen sein. So tief, daß er in Leben und Zeit selbst eingemischt, daß er ihr Inhalt geworden ist, wie sie der seine. Es besteht das Verhältnis gegenseitiger Aufopferung und Preisgabe, gegenseitigen Aufgehens und Erhöhens.

Der heutige Epiker, der seine Zeit und sein Volk bedichtet und besingt, sieht nicht mehr deren Vertretung und Symbol im Helden. Die heldische Erscheinung ist von der Entwicklung aufgelöst und verwischt. Die jeweilige Gegenwart zumal laßt sich nicht mehr durch eine Gestalt repräsentieren. Im Gegenteil: ihr Wesen besteht – ästhetisch – darin, daß sie »ungestalt« ist. Der Held moderner Romane ist nicht mehr Extrakt von Zeit und Volk, sondern ihr Produkt. Also ein Erzeugnis und Wesen späterer Folge, etwas Nachgeborenes, fast möchte man sagen: ein Ersatz. Der moderne Romanheld ist im Gegensatz zum Helden ursprünglicher Epik nur noch eine Gestalt in und aus Volk und Zeit.

Der neue und wahre Held des Romans aber ist+... der Dichter! Kostümiert mit dem bunt und schwer gewirkten Kleid der Zeit. Gestalt und Gestalter der Zeit. Ihr Bejaher und Verneiner in Einem. Ihr Geschöpf und Schöpfer. Ihr Gefäß und Inhalt. Desto deutlicher und heldischer, je restloser er sich im Werk aufgerieben, in die Zeit eingemischt und in ihre Gestalten verflüchtigt hat.

Der Romancier ist der eigentliche Zeitdichter. Und bis er zur Dichtung, bis er zu seiner Form gelangt, muß jeder Widerstreit und Einklang der Zeit in ihm zur vollen Wirkung gekommen sein. Sie muß seine Heimat, seine Ruhestatt+... seine Folter geworden und gewesen sein. Er muß sich in sie vergraben haben und aus ihr auferstanden sein. Kurz: er muß, bevor sein Wort sie tönend verkündet, sein Menschliches für sie gemordet und ihr Menschliches auferweckt haben.

Dann erst bringt er, er selbst, die Zeit, mit der er nun verkettet ist, in den Roman mit. Denn er ist für den Roman die Figur seiner Zeit und seines Volkes. Abseitiger Romanschriftsteller ist Ästhet, Geschmäckler, Experimentierer, ein Künstlicher der Kunst. Der wahre Romancier findet und sieht in Zeit und Volk seine Anschauung, seine Philosophie, seine Form. Er entlarvt sich mit ihnen. Denn er bildet mit ihnen ein Unteilbares. Er türmt sie zu sich selbst heran und herauf. Er formt sie zum eigenen Element um und sich zu ihrem Höhepunkt und Helden.

So tat es Balzac, so Zola, so auch tut es Heinrich Mann. Die Jugendjahre überwunden, rüstet er sich, das Diktat der Zeit und des Volkes, denen er Auge und Ohr geliehen hat, Auge und Ohr gewesen ist, niederzuschreiben.

*

Berlin war der Mittelpunkt des rotierenden Kreises einer neuen Zeit. Der Dichter kam von einem Punkte der Peripherie in dieses kochende, kreisende und kreißende Zentrum, er kam in den Wirbel. Hier war die Frage: unterzugehn oder fortgeschleudert zu werden. Er wurde fortgeschleudert. Er floh nach dem Süden des Reiches und fand hier wieder und erst recht die Distanz, das zu sehen und zu schildern, was ein Zufall oder eine höhere Schickung, was Zeit und Ort seiner Geburt und was Geschichte zum Inhalt seines Lebens gemacht haben.

Heinrich Mann, nicht genug, daß ihn seine Neigung und sein Gefühl nach München führten, kam auch, um Heilung von einer Krankheit zu finden, im Jahre 1893 nach Lausanne und seitdem immer wieder nach dem romanischen Süden. Von da her und von seinen Studien der französischen Literatur, zu deren Vorbildern ihn hinwiederum das Gefühl der Form- und Wesensverwandtschaft treiben mußte, erweiterte sich ihm das ethische Bild der Zeit aus dem Sozialen und Gesellschaftlichen ins Mondäne und Politische. Was er in Berlin und im Reich an nacktem Um- und Auftrieb der Geschäfte, des Strebens und der Streberei sah, wurde ihm in den Gesichten des Südens durch den Gegensatz von Idylle und Romantik, von Pathetik und Phantasie in neues Licht gerückt.

Nach dem »Schlaraffenland« schrieb Heinrich Mann die drei Bände seiner »Göttinnen«. Welch ein Sprung einer Entwicklung! Die Linie dieses Vorspringens nachzuzeichnen, ist kaum möglich. Ein Dreißigjähriger, der eben einen Berliner satirischen Roman geschrieben hat, taucht in italischer Landschaft, in abseitiger Romantik des Gesellschaftslebens, des politischen Lebens, des Geschlechtslebens, unter. Der die durchsichtigen Abenteuer kleiner und großer Geistes- und Geschäftsschieber beschrieben hat, entwirft nun aus der großen Gestalt einer Frau heraus ein unerhört buntes Gemälde von südlichen Temperamenten und Lebensspielen, eine Überfülle von Figuren, in die er das Wesen des italienischen Volkes schöpft und in denen er dieses ihm in wenigen Jahren erschlossene Wesen erschöpft.

Was in den »Göttinnen« an innerem und äußerem Geschehen enthalten ist, bewegt sich auf einer Ebene, die über die Zeit und Wirklichkeit, in der der Dichter lebte, absichtsvoll hinausgehoben ist. Ein phantastischer Roman entwirkt sich wirklichen Menschen, die durch die Art ihres Lebens die Brücke zu einem geradezu unwirklichen Dasein gefunden haben. – Sonne, die scheint, Meer und Land, die ineinander übergreifen, Menschen, die nach Phantomen jagen, deren Merkwürdigstes ihr eigenes Ich ist, nach dem sie jagen und von dem sie gejagt werden, – all das zusammen ergibt ein Entrücktes, ergibt einen Mythos. Die Unrast und Entwurzelung der Figuren des Romans ist ins Metaphysische gehoben, in eine Sphäre, in der die Realität ihre bedeutsamsten Umrisse dadurch gewinnt, daß sie der Irrealität, dem Wunsch und Traum, gleichgesetzt wird. Dies soll nicht besagen, daß irgendein Mensch, der in den drei Büchern Gestalt wird, und daß insbesondere die Frau, an der sich die Haupthandlung entzündet, nicht »aus dem Leben gegriffen sei«. Aber der Griff des Dichters ist so scharf und so weithin angelegt, daß die Menschen zugleich dem Leben entrissen und in eine Welt hineingehoben werden, die nur noch von des Dichters Gnaden da ist – eine Ausgeburt seiner höchsteigenen Phantasie.

Diese Phantasie aber ist mit das wertvollste Gut, das Heinrich Mann in die deutsche Dichtung eingeführt hat, ein Gut, das er kaum mit noch einem andern deutschen Epiker teilt: es ist seine gesellschaftliche Phantasie. Ihr Wesen und ihre Wirkung besteht darin, daß sie es vermag, aus dem Zusammensein, aus dem Dialog, aus dem Mitfühlen und Gegeneinanderfühlen mehrerer Menschen eine innere und äußere Welt, irgend etwas Soziales, Gesellschaftliches oder Mondänes herzustellen. Die Beziehungen von Mensch zu Mensch werden in jedem Sinne fruchtbar. Sie sind nicht mehr bloß das Mittel, Charaktere auszudeuten – psychologische Vehikel –, sondern sie bauen über den Menschen ein Weiteres, ein Größeres auf: eine Gemeinschaft. Und zwar eine Gemeinschaft, die alles Menschliche in sich eingesogen hat und an ihm und durch es nun zu einer Architektur aufwächst, in der die Einzelmenschen wiederum als Bausteine und Mosaik wirken.

Voraussetzung für diese Wirkung ist eine erstaunliche Empirie im Menschlich-Figürlichen, die mit Balzacs Reichtum an Menschengestalt sich messen kann. Voraussetzung ist ein Geöffnetsein für das Kleinste und Größte, was in der Schöpfung an Anthropomorphem vorhanden ist. Voraussetzung ist ein Durchdrungensein einerseits von der einzigartigen Kraft des Seelischen im Menschen und anderseits von seiner schicksalhaften Hingebung an ein Ganzes, an ein Mehr, als er, der Einzelne, darzustellen und zu verkörpern vermag.

Aus diesen Voraussetzungen wächst den Menschen der »Göttinnen« jener Zauber innerster Erhabenheit zu, die das Märchen in der Wirklichkeit und die Wirklichkeit im Märchen enthüllt. Die Menschen werden, was man Romanfiguren nennt. Sie werden ungewöhnlich, geheimnisvoll, gefühlsgesättigt, plänevoll und daher unermeßlich ergiebig für die Phantasie und Entrücktheit des Lesers. Sie sind nicht wir, sie sind ganz anders, nicht einmal so, wie wir werden könnten oder möchten, aber sie ergeben und schaffen eine Atmosphäre und ein Milieu, in die wir – die Leser! – unsere Bedrückungen und Sehnsüchte abladen können. Sie unterhalten, spannen und erheben.

Sie erweitern die Welt, in der wir leben, um ein bedeutendes Stück. Um ein bedeutendes Stück Psychologie der Frau und des Mannes, der Stände und der Völker. Um ein bedeutendes Stück Wissen über die Verquickung von Erotik, Ehrgeiz, Komödianten- und Abenteurertum mit Politik. Was daraus entsteht, formt sich in den kundigen Händen des Dichters zu höchst merkwürdigem und irgendwie beängstigendem Schicksal für Menschen und Völker, das weit vor unserer Zeit zu liegen und zu walten scheint. Aus Jahrhunderten, in denen noch vulkanisch brodelte, was inzwischen den Anschein geordneter Schichtung bekam, reichen diese Romane in unser Jahrhundert herüber und stellen es so auf elementare Art in Frage. Es wird an den untersten Grundlagen politischen Aufbaues gerührt. Das zutiefst Chaotische der Gemeinschaftsbildung wird aufgezeigt – und nicht nur dieses Chaotische, sondern zugleich auch das Komische, Unzulängliche, Gemachte, Gekrampfte, Gekünstelte im Leben der Völker.

Wie eine Flucht des Dichters des »Schlaraffenland«, in dem er nur äußere Polituren mit scharfen Säuren behandelt hat, ins Ursprüngliche, wie eine große Reise zu Studienzwecken wirken die »Göttinnen«. Heinrich Mann, der Ankömmling aus dem stillen, abgewandten Lübeck, hat hier, in den südlichen, sozial und historisch entlegenen Zonen der »Göttinnen«, einen neuen peripherischen Punkt außerhalb der Zeit gefunden, die ihn, den Dichter, umfaßt und die er zu umfassen sich anschickt. Und von hier aus neue Möglichkeiten, seiner Zeit hinter das Gesicht und bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken, entdeckt. Zugleich aber auch tat er so seiner Sehnsucht nach dem Romantischen Genüge, zugleich diente und lebte er hier seinen Drang nach Schönheit, nach Sonne, nach Fröhlichkeit aus.

Hier hatte er in einem dreigeteilten und doch einheitlichen Gefäß alles versammelt, was an Reichtum des Stoffes und der Form schon in ihm war. Dies aufgespeichert, konnte er nun mit festerer Hand zugreifen, konnte er Ziele wählen, konnte er Milieus suchen. Die »Göttinnen« sind Heinrich Manns großes episches Experiment und Exerzitium, durch das er sich und die Welt von seiner Berufung zum epischen Dichter überzeugte. Er war nun schon Epiker und nichts Episches war ihm fremd+...

Und doch war sein nächster Roman nur »Die Jagd nach Liebe«. Ein amüsantes, turbulentes Buch, das sich weder um menschliche noch um künstlerische Zucht kümmert. Mensch um Mensch wird gegeneinander gewirbelt, gedreht, gestoßen, gezüchtigt, geschmeichelt. Dieses Buch ist von einem Künstler geschrieben, den seine Laune dazu verführt, Fratzen statt Gesichter zu bilden. Mit diesem Buch hat der Dichter seiner neuen Heimat, der schönen und irgendwie närrischen Stadt München, seine Reverenz erwiesen: ein Karneval des Menschlichen entstand. Künstler und Komödianten, Huren und Schieber führen hier ihre tollsten Tänze in einer weichen, lauen Atmosphäre auf. Irgendwie ist der Dichter unter ihnen, irgendwie nimmt er an dem Wirbel teil, irgendwie ist er ihm dankbar für seine Lockungen und Lösungen. Er genießt nicht nur die Figuren selbst, sondern er genießt auch mit ihnen. Er liebt sie, wie man Tiere liebt oder Bucklige oder Verirrte. Sich mitzufreuen, wo und wie immer Freude ist, ist er da. Ethos? – Nein! Soziales Gefühl? – Nein! Überhaupt Menschlichkeit? – Nein! Nein und nein und nein, was das Leben einengen, disziplinieren oder unbequem vertiefen könnte. Das Leben, wie es nun einmal sein kann und ist, hat recht und wird in seiner närrischen Buntscheckigkeit entfaltet. Jener stille, melancholische Sänftling, der im Mittelpunkt des Romans steht, ist die einzig wahrhaft komische Figur. Für die anderen Figuren und für den Dichter selbst eine »Wurzen«! Jene, denen seine morbide Melancholie Raum und Gelegenheit zu ihren tollen Sprüngen gibt, sind die Überlegenen, sind die nicht Überlegenden, sind die wahrhaft Freien, sind, im Stile dieses Romans, die eigentlich und wirklich »Seriösen«.

In der »Jagd nach Liebe« wiederholt sich mit schwächerer Dynamik, was sich schon in den beiden vorhergehenden Werken vollzogen hat. Der Dichter wird ein Opfer des Milieus. Er gibt sich dem Neuen, Unerhörten, Niegesehenen so ganz hin, daß er sich in ihm aufzulösen scheint. Aber indem er sein Persönliches in das Milieu ausgießt, gelingt es ihm, es sich anzueignen und zu gestalten. So steht Berlin vor uns, so ein abenteuerlicher Süden, so auch die Stadt München, die in der Mitte zwischen diesen liegt. Indem der Dichter gestaltet, läßt er sich selbst von dem Stoff eine neue Gestalt geben. Das Milieu saugt seinen, des Dichters, eigenen Reichtum ein und lebt durch ihn um so strotzender und willkürlicher auf.

Diese Haltung (oder Mangel an Haltung) des Künstlers seinem Objekt gegenüber nannte man damals Impressionismus. Das künstlerische Resultat war eine gespiegelte Wirklichkeit, die mehr körperliche Farbe als seelische Form, mehr weltliche Tendenz als ethische Eigenkraft, mehr Pointe als Gewicht hatte. Ein impressionistisches Gebilde im verwegensten Sinne ist »Die Jagd nach Liebe«. Die Spiegelung wird künstlerische Essenz. Es kommt nur auf sie an. Der Stoff wird zerdichtet, zerfärbt, zerformt. Ein fröhlicher Subjektivismus dominiert – amüsant und leicht. Ein Zwischenspiel!

Der nächste Roman aber heißt »Professor Unrat«. Nun hat der gereiste und gereifte Dichter wieder heimgefunden. Der Roman spielt in Lübeck. Also in einer kleinen deutschen Stadt, in der alles nahe beieinander ist, das eine dem andern ins Gesicht schaut und es als das eigene erkennt. In solch kleinem Ring ordnen sich die Gesichter und Gesichte streng nach Wert und Wesen. Der Dichter selbst, unter ihnen beheimatet, fühlt sich brüderlich angezogen und angesprochen, sieht sich im Besitz aller Geheimnisse und Heimlichkeiten, hat Ehrfurcht vor jeder Straße, jedem Haus, jedem Stein, jedem Licht und ist durch diese Ehrfurcht gezwungen, Farbe und sich selbst zu bekennen.

Mag ein deutscher Dichter noch so weltfroh und weltläufig sein, er wird, wenn er seine kleine Stadt zu schildern unternimmt, selbst wieder Kleinstädter mit aller Treue und Liebe zu heimatlichem Gestein und heimatlicher Luft. Die Menschen der großen Welt, so sehr er an ihnen hängen mag, treten zurück, und er stellt sich wieder erinnerungsvoll in den Kreis derer, mit denen er den beglückenden Besitz der kleinen Stadt teilt. Dieser Mitbesitz aber beglückt ihn um so tiefer, je mehr er andere Kreise und Kulturen kennengelernt hat. Seine Jugend steht in ihm auf und zwingt ihn zur Einfachheit und Sachlichkeit zurück.

Der Lübecker Heinrich Mann baute also in den ihm vertrauten Häusern und Gassen ein Schicksal auf, ein Symbol für die winklige Enge der Vaterstadt. Es konnte nach allem, was an Leben und Erleben, an Kenntnissen und Erkenntnissen vorausgegangen war, kein Idyll werden. In die kleine Stadt mußte ein Gegensatz, mußte die Dämonie des Ungemäßen hineingetragen werden. So entstand die Figur des Professors Raat, eine der größten Romanfiguren der deutschen Literatur, eine erschütternde Heldengestalt, von Ironie und Trauer umflossen, ein erratischer Block Mensch, Repräsentant aller geknechteten und geächteten Kreaturen und zugleich das heroische Bild eines zur Selbstbefreiung bereiten Kleinstädters.

»Das Ende eines Tyrannen« heißt der Untertitel des Romans. Er verstärkt das tendenziöse Epigramm »Professor Unrat« ins Kämpferische, Menschliche und Symbolische. In der kleinen Stadt leben Menschen ihr Leben, das der Stadt gemäß ist. Sie entfalten ihre Kleinheit, Schrulligkeit und Unreifheit und finden ihr Glück. Alles an ihnen und in ihrem Leben bleibt kleinlich, reinlich und so nebenher ein bißchen peinlich. Sie haben mit ihren unansehnlichen Tugenden und Lastern Platz im kleinen Bauch der Stadt. Unter sie aber tritt Unrat, ein Großer, ein von der Grammatik und Problematik einer weiteren Welt aufgerührter Kerl, ein in die kleine Stadt Verbannter, ein Fremdling also und ein Feind der Stadt.

Dieses soziologische Motiv, mit einer klassischen Überlegenheit in die einzelnen Menschen aufgeteilt, gibt der Handlung den großen Auftrieb. Von Anfang an ist Unrat nicht bloß ein bissiger Philologe, sondern ein Attila, eine Geißel, ein ins Unwirkliche gesteigertes Phantom, vor dem die Wesenheit der Stadt in ihren Grundfesten erzittert. Dieses Phantom aber wächst im Kampf mit der Stadt in ein großes, jede sittliche und soziale Schranke sprengendes Schicksal hinein. Es wächst über die kleine Stadt hinaus und ragt in eine Welt hinüber, in der das Abenteuer, die menschliche Willkür und Ungebundenheit alleiniges Maß geben. Die schlichte Haltung der Stadt löst sich in der Person des Professors Unrat in unbegrenzte Möglichkeiten auf. Die große Welt grinst in die kleine Stadt hinein, verändert Menschen und ihre Schicksale, untergräbt Existenzen, zertrümmert Charaktere, verwahrlost Traditionen, kurz: die große Welt zerstört die kleine Stadt.

Eine Komödie von unendlichem Humor, in den eine irgendwie endliche, eine von der Konvention bedingte Tragik eingebaut ist!

Nun ist Heinrich Mann auf der Höhe seiner dichterischen Kraft bereits angelangt, der Weg führte ihn durch stoffliche Probleme zur großen epischen Form. Sie bewährte sich zuerst an diesem in engen Häusern, Gassen, Schicksalen und Charakteren eingepflanzten und eingeschachtelten Stoff. In seiner Gestaltung fand der Dichter, durch die große Welt gewandert und bewandert, jene fast heitere, genialische Ruhe und Sicherheit, die das Merkzeichen der Meisterschaft sind. Die Worte und Sätze stehen wie gewachsene Bäume da, gewachsen aus einer Humanität, die es nicht mehr bei der Einteilung des Menschlichen bewenden läßt, sondern erst in der Gleichsetzung und Lobpreisung all und jedes Menschlichen ihr Genügen und ihre Erfüllung findet. Die beste deutsche und französische epische Tradition setzt sich in diesem Roman fort: die Liebe zum Kleinen und Idyllischen, die Lust am Romantischen und Absonderlichen vermählt sich mit tieflotender, entlarvender Psychologie. Dieses Ausschreiten aller epischen Möglichkeiten gibt dem Werk seine Ruhe und Würde, seinen vorbildlichen Stil des Zeichnens und Erzählens, seine Farbigkeit und Rundheit.

Der Stoff, der Stoff war es, der den gereiften Epiker wiederum zu seiner Form gezwungen hat. Äußeres hat sich nun zwangvoll und endgültig zum Innersten gekehrt und den Romanschriftsteller Mann zu seinem Wesen erweckt.

Dieses Wesen aber heißt schlicht: Dichter sein!

Heinrich Mann begann seinen Weg nicht eigentlich als Dichter. Die Glut der Zeit und Welt, der unverwechselbaren Zeit des zu Ende gehenden neunzehnten Jahrhunderts und der europäischen Welt hat den schriftstellerischen Furor in ihm entzündet. Die Gestalten taumelten ihm aus dieser Zeit und Welt zu und er stellte sie in sein bestimmtes Gesichtsfeld, in dem er die Objekte zu zeichnen sich vorgenommen hatte. Es war Tendenz in ihm. Er sah nicht bloß Welt und Ding an als Göttliches, wie Dichter tun, sondern er sah, ein beflissener Schriftsteller, über sie hinweg, nach moralischen, sozialen, politischen Gesichtspunkten. In »Professor Unrat« verschmolz sich ihm alles zu einem. Vorher sah er die Welt in Bildern, aus denen er ein schriftstellerisches Ganzes zusammenfügte, nun aber sieht und zeigt er sein Weltbild. Vorher schrieb er Dichterisches, nun aber dichtete er. Nun hat er sein Talent an so vielem geübt, daß es stark und geschmeidig geworden ist für alles.

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Es ist kein Zufall, daß etwa die gleiche Zeit, die den »Professor Unrat« reifen ließ, den Dichter auch zur Novelle trieb, zu dieser edelsten und abgewogensten aller Kunstformen, und zum Essay, zu diesem Mittel des dichterischen Menschen, Kontrolle über sein Geistiges, über seine Herkunft und seinen Weg zu üben. In der Novelle wird das Abenteuerliche und Besondere des Stoffes, das im Roman immer wieder Abgründe aufreißen und Brücken schlagen hilft, zu seiner eigenen Schwere und Beseeltheit zurückgezwungen. Es tritt als ein Ganzes, als eine Totalität auf und verlangt nach Gestaltung, die seine Einheitlichkeit im Seelisch-Menschlichen erweist. Die Novelle hat stofflich keinen größeren Ehrgeiz als: Episode zu sein, menschlich dagegen erstrebt sie, im Episodischen den Ablauf und die Auswirkung eines Schicksals zu zeigen.

Heinrich Mann ist nun mit dem starken Gefühl für alles Schicksalhafte und desgleichen mit dem Spürsinn für schicksalträchtige Stoffe so ausgestattet, daß er den Voraussetzungen der novellistischen Form ganz und gar gewachsen ist. Mit wenigen Sätzen schon bricht er ein Thema an und führt es in fast eleganter Linie seinem Ziele zu. Sein vielgestaltiger Kampf mit epischen Stoffen und Formen, sein hingebendes Untertauchen in ihnen hat ihn zu einer Kraft in der Novelle hinreifen lassen, die, auf menschliche und künstlerische Zusammenraffung gerichtet, das Letzte an Verdichtung und Entschwerung des Stoffes erreicht. Er greift fast wahllos nach allen Erscheinungsformen des Lebendigen und zwingt es zur Novelle. In ihr kann er endlich frei schalten: jede menschliche Nuance, Motive des gewöhnlichen und ungewöhnlichen Lebens formen sich ihm rasch und leicht. Er ist als Novellist im Besitz artistischer Fertig- und Fähigkeit. Und so reiht er dem »Professor Unrat« eine Anzahl von Novellen an, die mit diesem auf gleicher künstlerischer Höhe stehen und in der deutschen Literatur wenig ihresgleichen haben.

Zugleich bietet sich ihm, dem nun das Instrument der Sprache zu jedem Zwecke gehorcht, die Möglichkeit, das ins Wort zu fügen, was ihn, jenseits des ausschließlich schöpferischen Antriebs, bewegt. Er wird Essayist. Er beginnt seine Anschauungen von literarischen Vorbildern, seine menschliche und künstlerische Anschauung von ihnen in dichterisch erregten Essays niederzulegen. So entsteht das schöne Prosagedicht »Eine Freundschaft « und der ebenso ausschlußreiche wie spannende und packende Essay über Zola. Ein Dichter spricht da brüderlich von seinen Brüdern. Mit der menschlich rührenden Ehrfurcht und Bescheidenheit des nachgeborenen Bruders, zugleich aber auch aus dem unwiderstehlichen Drang, in jenen Großen sich selbst und das eigene Ziel zu erkennen.

Der Zola-Essay insbesondere ist ein unsterbliches, menschliches und dichterisches Dokument von ebenmäßiger Schönheit der Form, der Empfindung und der Erkenntnis. Die Gestalt Zolas wandelt in ihm, neu gesehen und neu geschaffen, einher. Wir erleben dieses Dichters Wesen und Wirken, seinen Kampf und Sieg, sein Menschen- und Künstlertum. Aber nicht genug: wir erleben auch, durch all dies hindurch, die ergriffene und ergreifende Liebe des deutschen Dichters zu dem ihm wahlverwandten französischen. Wir sehen, wie auf der Brücke nachfühlenden und gleichschaffenden Verständnisses die beiden Dichter im geschlossenen Ring der Generationen sich begegnen, wie die Nachfolge durch den Nachfolger dokumentiert wird, wie der Sinn des Werkes jenes Verstorbenen von diesem Lebenden aufgenommen und aufs neue ausgerufen und verkündet wird. In den Schatten Zolas fließt Blut von einem Geistesverwandten und rötet ihn.

Der Zola-Essay ist im Gesamtschaffen Heinrich Manns deshalb von kaum zu überschätzender Wichtigkeit, weil in ihm früh und rechtzeitig genug die unausgesprochene und deshalb um so beredtere Erkenntnis des Dichters von seiner eigenen Mission sich kundgibt. Heinrich Mann galt damals, mittewegs zu seinem Ziel, als Artist und als beflissen und ängstlich, sein Outsidertum gegenüber der Gesellschaft zu wahren. Man sah ihn so, wie wenn er mit verächtlichem Blick über die Gemeinschaft hinweg sähe und sich in eine sterile Einschichtigkeit verpuppe. Man hatte noch nicht den großen und selbstsichern Plan seiner Lebensarbeit, die damals freilich noch Bruchstück war, erkannt. Und die nächsten Werke schienen denen Recht zu geben, die ihn als den Dichter des besonderen Einzelfalles zu nehmen geneigt waren. Man sah immer wieder bei ihm fremde und ferne Stoffe behandelt, Stoffe aller Welt und Stoffe aus einer Welt von Menschen, die am Rande oder jenseits des Randes der bürgerlichen Gesellschaft sich bewegen. Dieser Dichter aus Lübeck, der in Italien und Frankreich lebte oder in dem vollends suspekten Schwabing, schien eine Literatenangelegenheit zu sein und bleiben zu wollen. Die Konvention des deutschen Romans war nicht dazu angetan, ihn zu decken und zu beglaubigen.

Was waren denn die Menschen, die er bisher geschildert hatte? Abenteurer, Künstler und dämonisierte Kleinbürger, alle also unbürgerlich. Wann und wo aber wäre in Deutschland ein Romandichter vom Volke aufgenommen und als einer der Seinigen anerkannt worden, der nicht das Bürgertum, gerades Wachstum des Landes und seiner Leute geschildert hätte? Der vortreffliche Gustav Freitag saß dem Lesepublikum noch tief in den Knochen, im Gemüt und im Urteil. Es verlangte, daß ein Deutscher Deutsches bedichte, daß er, was an Sorge, Arbeit und Freude überall im Lande lebt, sich zu eigen mache, es neu anschaue und verkläre. Thomas Mann, bei all seiner Lust für novellistische Ausflüge ins Abenteuerliche, Besondere des Berufs und Blutes, fügte sich in seinen Romanen diesem Zirkel ein. Heinrich Mann blieb außerhalb desselben, ein Fremder, geliebt von einer kleinen Gemeinde, darüber hinaus aber bestenfalls mit Achtung oder gar nur als der »Bruder« genannt. Ein verzweifelter Fall!

Und dieser selbe Outsider besang nun in jenem Essay Zola, den Dichter der Arbeit, den Dichter des sozialen und politischen Auftriebs, den J'accuse-Helden. Dies war eine deutliche Wimpel, die Heinrich Mann über seinem noch unvollendeten Lebenswerk hißte. Sie gab zu erkennen, daß er auf dem Weg und willens war, dem Volke zu geben, was des Volkes ist, und auf seine Weise ihm an Form zurückzuerstatten, was er an Inhalt von ihm empfangen hatte.

Der nächste Roman ging schon näher ans Herz des Problems heran. Er heißt »Zwischen den Rassen«. Es ist ein melancholiches, fast bitteres Buch, schweift äußerlich zwar über Kontinente hin, gräbt aber doch die bisher noch schlummernde Frage nach der Zugehörigkeit des Menschen zu einem Volke und zu einer Rasse aus. Heinrich Mann rührte damit an die Problematik seines eigenen Wesens, in dem sich deutsches und fremdländisches Blut, ihn und andere beunruhigend, mischte. Zu Lola, der Hauptperson des Romans, machte er alles Labile eines Menschenschicksals lebendig, von dem er selbst ein gut Teil in sich trug und austragen mußte.

Sie ist in einem fernen Weltteile von einem deutschen Vater und einer exotischen Mutter geboren, kommt als Kind nach Deutschland, soll hier einwurzeln und kann es nicht. Ihr Schicksal ist: umhergeworfen zu werden, ungestillte Sehnsucht in sich zu tragen, nach vielem und allem, nach Heimat, nach Fernen, nach Liebe, nach Kunst. Die Tragik des Menschen, den ein Schicksal verhindert, sein Wesen und Leben im Kreise der Bürgerlichkeit zu vollenden, drängt zur Gestaltung. Der Fall der Herzogin von Assy, in der sich schon Abenteurertum mit Ruhe- und Heimatlosigkeit tragisch mischte, ist gleichsam spezialisiert, auf einen deutschen Fall angewandt, man könnte fast sagen: irgendwie mit dem Fall der kleinen Stadt des »Professor Unrat« verbunden. Jedenfalls versuchte der Dichter in diesen Roman eigenstes Schicksal einzumischen und dabei das Problem, das aus Persönlichem ihm zufloß, so weit wie möglich zu fassen. Dies gibt dem Werk eine Unsicherheit der Linie und der Gestalten, die äußerlich durch den Hang zu Lyrismen verstärkt, innerlich aber durch die Weichheit und Zartheit der wechselnden Stimmungen wieder aufgehoben erscheint. Überdies klingt in dem Roman zum erstenmal das Motiv der sentimentalen Liebe stark und voll auf. In diesem Sinne ist er ganz deutsch.

Aber dieses deutsche Element und die anderen vom Pathetischen bis zum Karikaturistischen reichenden Elemente des Romans verbinden sich nicht zu einer Einheit. Was bleibt, ist ein an Originalitäten und an Empfindsamem reiches Lesebuch, ein Buch schlummernder Widersprüche und noch auszutragender menschlicher Beschwerden eines Dichters, dessen Problematik keine Ruhe und Lösung findet. Darum ist dieser Roman besonders aufschlußreich für den Menschen Heinrich Mann, der nichts weniger als ein ausgeglühter und kühler Literat ist, und für den Dichter insofern, als man ihn mit dem Menschlichsten ringen und seine Zuflucht zu dem einfachsten, zartesten, im Bürgerlichen und Unbürgerlichen gültigen Gefühl nehmen sieht: zur Liebe als Erlösung.

Neuerdings aber erholt er sich von dem Kampf mit der Problematik durch eine Flucht ins Südliche, Romantische, Komödiantische und+... Kleinstädtische. Er schreibt »Die kleine Stadt«. Die Labilität, die zwischen den Rassen herrscht, wird abgelöst durch die Stabilität einer einzigen, glückhaften, lebenskundigen und lebensfrohen, der südlichen Rasse. Das heimatliche Milieu des »Professor Unrat« wird in einem Milieu aus der italienischen Wahlheimat erneuert. Hier ist alles in seinen geordneten Bahnen und Grenzen, hier ist eine vertraute Landschaft, hier sind Häuser und Gassen, die vertraute Sprache sprechen, vertrautes Schicksal einschließen, vertraute Liebe erwidern. Hier ist in der Tat, von neuem, Heimat!

Und wiederum steilt sich die menschliche und dichterische Kraft Heinrich Manns in diesem umhegten und umpflegten Bezirk zu einer Meisterleistung auf. Er erbaut in deutscher Sprache eine italienische Stadt, die, einmal im Buch durchwandert, dem Leser ebenso zur Heimat wird, wie sie es dem Dichter geworden ist. Wie liebt man die Bürger, die genannten und ungenannten, die Straßen und Häuser, ob genannt oder ungenannt, dieser kleinen Stadt! Wie ist man ihren Schicksalen, ihren Geheimnissen, ihren Zerstreuungen unterworfen. Die Welt des Lesers wird durch die Dichtung um eine wunderschöne Stadt mit allem, was dazu gehört, bereichert. Man kennt nun hundert und mehr Städte, die man besucht hat, und diese eine dazu, die ein Dichter auferbaut hat. Welch eine Wirkung, welch ein Erfolg! Wie reich ist dieser Dichter und wie bereichert er uns! Wie lebt er in Schönheit und wie läßt er sie uns miterleben! Menschen, gefragt, welchen Roman Heinrich Manns sie am liebsten selbst gedichtet haben möchten, müssen antworten: »Die kleine Stadt«. Denn so täuschend den lieben Gott, der die Welt erschaffen hat, nachahmen zu können, so bis ins Kleinste schöpferisch sein zu können, wie verlockend, wie beneidenswert, wie beglückend, wie groß ist dies!

Aber diese kleine Stadt ist nicht nur ein bis zum Zerspringen angefülltes Gefäß für Mensch und Ding, sondern auch ergiebigster Nährboden für den Dichter bewegende Probleme. Zwei hat er hier in einer epischen Gestalt gelöst, zwei, die mit ihm geboren sind und ihn nie verlassen: das Problem des Politikers und das Problem des Komödianten. Wiederum, wie in »Professor Unrat«, wird die kleine Stadt einem Anprall ausgesetzt. Dort war es die groteske Dämonie eines einzelnen Menschen, hier ist es die spielerische Dämonie einer Komödiantengruppe, die das verschämt Unterste der Stadt zum schamlos Obersten kehrt. Auch diesmal werden Grundlagen erschüttert, Schicksale bewegt, Menschen ins Ungemeine gelockt. Aber an irgendeinem Punkte findet in der kleinen Stadt eine Verschmelzung und Verständigung statt. Sie ist nämlich mit ihrem unruhigen Bürgervölkchen aus ein bißchen sozialer Gesinnung und sozialem Willen und aus viel persönlichem Ehrgeiz heraus politisiert, in immerwährender, durch den Alltag hinschaukelnder Bewegung. In diese wird durch die Ankunft der Komödianten haushoher Wellenschlag gebracht. Liebe, Geschäft und Weltanschauung geraten ins Toben und bilden ein furioses Schauspiel in den Gassen und Häusern, das mit dem auf der Bühne in Wettbewerb tritt, dieses aber schließlich als seinen Höhepunkt anerkennt. Das Volk wird lebendig, Volk etwa aus den »Göttinnen« und darüber hinaus Volk, das aus rührenden, spielfreudigen Kindern besteht. Volk der ewig und notwendig Unmündigen und Naiven, Volk, das sich selbst unaussprechlich liebt und sich nicht kennt. Zärtlich wird es geschildert, zärtlich geliebt, gelobt und belächelt. Es spielt ja vor sich selbst und vor der übrigen Menschheit und vor Gott Komödie. So sehr, daß die Komödianten im Vergleich mit ihm echt und von vollbürtiger Menschlichkeit erscheinen! Das Volk hat ja auf diese nur gewartet, um sich seiner Lust, selbst Komödie zu spielen, ganz hinzugeben, und erschrickt nun geradezu, daß in sein Komödienspiel sich unversehens Ernstes, echte Liebe und Leidenschaft verirrt. Katastrophe muß kommen: Brand! Ist dies Ernst oder Schauspiel? Man weiß es nicht. Da aber steht der Priester, ein Abseitiger und Kämpfer der kleinen Stadt, auf und verkündet den Ernst des Schauspiels, verkündet Ergebung und Vergebung, verkündet die Liebe. Wiederum die Liebe! Sie leuchtet aus dem Komödienspiel hervor und ins Leben hinein, sie verklärt, zurückstrahlend, was an Bösem oder Unrechtem gesagt oder getan ist. Die kleine Stadt, scheinbar in eine Hölle verwandelt, empfängt zum Schluß die Gnade des Himmelslichtes und steht nun verklärt, versonnt, verschönt vor uns.

Aber irgendwo im Hintergrund, von den Rebbergen her, die zu ihr niederfallen, tönt ein gedämpftes Lachen: Dies ist Volk, dies ist Menschheit, dies ist, was sich ernst nimmt und die geduldige Erde anfüllt mit dem Lärm seiner Freuden und Schmerzen? Eine leise Resignation des Dichters liegt über dem Werk, ein Zweifel an dem innern Bestand und an der tiefen Vernunft menschlicher Gemeinschaft und eine Tröstung damit, daß Komödie exzelliert, wo Menschliches unzulänglich bleibt.

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Das Komödiantenmotiv, das in der »Kleinen Stadt« fast apotheosenhaft eingeführt und abgewandelt wird, beschäftigt Heinrich Mann nun immerzu. Der Sinn dieser Tatsache ist leicht zu fassen. Heinrich Mann umkreist immer wieder den Bürger, fast voll Scheu, ihn gestaltend anzupacken, dafür aber unentwegt auf der Suche nach Kontrasten oder Übergängen und Vorbereitungen zu ihm. Da bietet sich ihm als Verkörperung und Brechung zugleich des Bürgerlichen und Abenteuerhaften die Figur des Komödianten dar. Diesem benachbart ist am ersten der Bürger des Südens, als Mann der ausholenden Geste und des volltönenden Wortes. Die Nüchternheit und Sachlichkeit des deutschen Bürgers stößt ihn noch zurück. Es gibt nun noch keinen Roman, höchstens die eine oder andre Novelle, in der kein Komödiant vorkäme. Immer wieder braucht er ihn dazu, um eine Gleichung zum Bürgerlichen herzustellen, wobei das Bürgerliche die Unbekannte, das der Errechnung und Auflösung harrende X darstellt. Für den wilden Professor Unrat brauchte er sogar das Varieté. Des Dichters zärtliche Liebe gehört den Menschen, die zwischen gemalten Kulissen Worte reden und Figuren darstellen, die sie nicht sind, deren Kostüm und Atem aber sie ins Leben mitnehmen. Das Leben wird bunter und offener durch sie. Es wird zugleich mit Geheimnissen übersät und entschleiert. Der Komödiant ist der Mensch, der mit raschesten, ungehemmten Fingern die Attribute des Lebens handhabt, mit ihnen jongliert und überhaupt ein fröhliches Spiel treibt, um sie schließlich wieder mit feierlicher Hand in ein wirkliches oder eingebildetes Dunkel des Schicksals zurückzustellen.

Der Komödiant ist der Träger des Tragikomischen und dieses eben ist von Anbeginn an das Element des Dichters Heinrich Mann, des eifrigen Suchers von Problemen und Freuden, von Unzulänglichkeiten und Schönheiten des Lebens. Zu sich erwacht, muß er selbst das Tragikomische in sich geschaut und erlebt haben: Hanseat mit südlicher Blutbeigabe, Kaufmannssohn mit ausschließlicher Hinneigung zur Kunst, Mitleidender im Zeitalter des egoistischsten Umtriebs, Deutscher mit Sympathien für romanischen Geist. All diese freilich nicht harten Gegensätze konnten ihn im jähen Widerstreit zum Tragiker machen, aber die Kraft seiner Menschlichkeit, die Gelassenheit seiner Seele, und auch die Treue seiner Beobachtung ließen ihn die Sphäre des Tragischen überwinden und zum Tragikomischen gelangen. Er erkannte den Reiz der menschlichen Komödie und suchte sie auf, wo sie am buntesten und lautesten sich aussprach. So stellte er sich neben und hinter den Komödianten, redete ihn als Bruder an und verband sich mit ihm durch fröhliche Gestalten.

Auf diese Weise mußte Heinrich Mann schließlich auch als Dichter bei der Bühne anlangen. Er ist nicht das, was man einen geborenen Dramatiker nennt. Schon daß er dem Tragischen sich entwunden hat und hinwiederum das Komische nicht in seiner Reinheit und Ungebrochenheit erlebt, deutet darauf hin. Er ist zu nuancenfreudig und zu sehr hingegeben an menschliche Zwischenerscheinungen, um sich zur dramatischen Gestaltung, die vereinfachende und sogar vergröbernde Formulierung des Menschlichen verlangt, gedrängt zu fühlen.

Was ihn an der Bühne zuerst reizt, ist vielleicht dies, daß er auf ihr selbst das Komödiantenmilieu sich entfalten lassen möchte. Als seltsamstes Produkt dieses Verlangens entstand der Einakter »Varieté«. Hier wühlt sich der Dichter in das ganz Morbide, in die tiefste und unheimlichste, zugleich aber auch lächerlichste Dämonie der Schaustellerei hinein. Das Menschliche zerfault und zerfällt. Ein Leichengeruch bleibt übrig und ein Gelächter aus Gräbern. So unbarmherzig läßt sich Heinrich Mann auch hier von dem Sinn und der Sinnlosigkeit des Milieus anpacken, daß alle Gefühle und Gestalten dessen Farbe und Duft annehmen: Körper und Seelen sind in Auflösung und tanzen vor ihrem endlichen Zerfall einen schaurig fröhlichen Totentanz der Eitelkeit. Die Verzweiflung spielt dazu auf. Wertvolle Menschen, die in diesen Wirbel geraten, sinken in Lachen und Weinen dahin, in einer unseligen Glückseligkeit. Unwissende, die durch den ihnen bereiteten, durch den sich selbst bereiteten Untergang erst wissend werden und Sehnsucht bekommen nach sich selbst. Das Komödiantische entlarvt sich an ihnen und sie entlarven sich an ihm. Ob da nun eine große Schauspielerin oder ein Star des Varietés im Mittelpunkt steht, der Kreis solchen Lebens füllt sich mit Wehmut, mit Schwermut, mit Mutlosigkeit.

Es hat den Anschein, als ob Heinrich Mann Krisen seines eigenen Innern oder wenigstens Erlebnisse kritischer Art in eine Form umgesetzt hätte, von der er wünschte, daß sie ihm größtmögliche Distanz zum Objekt sichere. Er liebt daher die szenische und dialogische Pointe, die Versetzung alles Seelischen in Sinnliches und geradezu die Gleichsetzung von Seelischem und Sinnlich-Körperlichem. Damit aber war er hinter ein Geheimnis der Bühne gekommen, das ihn weiterführen konnte, als die bisher gehandhabte epische Form. Den Übergang fand er in einigen Novellen, die fast ausschließlich aus Dialog bestanden, und die sich dann als technisch einwandfreie Einakter entpuppten. Beim Theater einmal angelangt, fühlte sich der Dichter nun in die neue Welt mit dem ihm eigenen Respekt vor neuen Möglichkeiten künstlerischer Wirkung ein. Die Freude an der Pointe, die sich auf der Bühne in körperliche Haltung und Bewegung umsetzt, auch die Freude an der Entfaltung großer Gesellschaftsbilder, in denen sich seine schon erörterte gesellschaftliche Phantasie ausleben konnte, genügten ihm bald nicht mehr. Es erwachte etwas Neues in ihm oder vielmehr: ein bisher schon vorhandenes Element seines Künstlertums, das aber in der epischen Form nicht den ihm gemäßen Raum und Rahmen finden konnte, stellte sich nun durch Bühne und Drama ein: die Neigung zum Pathos.

Heinrich Manns Romangestalten nähern sich von Anfang an dem Pathos auf vielen Wegen. Sie nehmen es als Kostüm und Verbrämung ihrer Komik oder ihrer Hilflosigkeit oder sie steigern sich aus schmerzlicher oder freudiger Erregung zu ihm empor, oder sie ergreifen es auf der Flucht vor der Wirklichkeit. Pathos ist in jedem Sinn Überwindung der Realität, des Milieus, des Schicksals oder einer Leere. Armut und Überfluß verdichten sich in ihm zu einer gesteigerten Lebensform. Pathos aber ist hinwiederum die eigentliche und urtümliche Lebensform der Bühne. Was auf erhöhten Brettern an Leben und Gestalt sich entfaltet, ist dadurch schon zum Pathetischen erhoben. Die Bühne ist die Plattform der Lebensüberwindung und Lebenssteigerung. Es ist ein fast organisch notwendiger Vorgang, daß der Epiker, der immer wieder in die Materialien, in die Objekte des Daseins untertauchen muß, zu der Erhöhung durch die Bühne sich hingedrängt fühlt.

Heinrich Mann ist nun im Epischen ganz reif geworden. Er hat einen vielgestaltigen Vorrat an Realität aufgehäuft und durch die Form aufgearbeitet. Von Tendenz ausgehend, ist er ins Menschliche eingedrungen. In der großen und kleinen Welt hat sich seine bildnerische Hand bewährt, hat er jede Fröhlichkeit und Seligkeit der Vermischung und Entrückung ausgekostet und der Zeit, die er zu schildern sich vornahm, Opfer gebracht und Opfer entrissen. Er ist im buchstäblichen Sinn des Wortes dichterisch »fertig« mit ihr. Es ist zwischen ihr und ihm eine Gleichgestimmtheit und Abgewogenheit, die dem Stofflichen seine Reibungen nehmen muß. Neuer Weg muß gefunden, neues Ziel erkannt werden. Wiederum stellt sich vor den Dichter die Tendenz hin. Nun aber ist sie nicht mehr etwas vor dem Menschlichen Gegebenes, sondern eine Konsequenz von ihm. Sie ist nun erhöht und sublimiert zur Idee. Der Dichter hat nun das Menschliche, das er in unerhört vielfacher Gestalt bezwungen hat, bis zu seinem innersten geistigen Gehalt durchleuchtet. Geist wird ihm nun zur Voraussetzung, Idee zum Antrieb. Auch auf diesem Wege steht die Bühne wie eine Brücke in die Zukunft da, die Bühne als Gefäß und Heimat, wie auch als Produkt und Ergebnis der Idee.

Und überdies ist sie als Institution mitten ins Volk hineingebaut, Kampf und Schauplatz der gesellschaftlichen, sozialen und politischen Kräfte und Strömungen. Man könnte sagen: Heinrich Mann ist über sie hinweg, die in festgefügter Tradition vor dem Bürgertum aufgerichtet ist, zum Bürger, zur deutschen Sozialität gelangt. In ihrem Spiegel sieht er Gesellschaft, Volk auf neue Weise. Und durch dieses Gesicht hindurch verwesentlicht sich ihm die Bühne, und zwar so, daß das Sinnliche an ihr sich versittlicht, das nur Komödiantische sich vermenschlicht, das äußerlich Asoziale ihrer Erscheinungen sich als zutiefst sozial und dem Volke verbunden enthüllt.. Die Bühne, zuerst nur ein lockendes Vehikel seiner skeptisch-pessimistischen Stimmung, hat Heinrich Mann zu sich, zu ihrer Idee hinaufgezogen. Der bunte Flitter fiel, und dieses Schauspiel blieb: ein Künstler steht einer neuen Form gegenüber, er erkennt in ihr die Trägerin des gesellschaftlichen, des politisch-sozialen Pathos.

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Es ist nun notwendig, daß die Grundlage, die dieser Betrachtung gegeben wurde, indem wir Heinrich Mann als Epiker in die Zeit, in seine Zeit schicksalhaft hineinstellten, sich rechtfertige. Wir haben ihn in der großen und in der kleinen Stadt, wir haben ihn mitten unter Völkern und lassen gestaltend am Werk gesehen. Immer gipfelte es darin, die sozial bindenden und lösenden Kräfte darzustellen. Wir sahen ihn als dichtenden und dichterischen Soziologen. Aber sein Weg und Werk lief immer am Rande des eigenen, des deutschen Volkes hin. Es schien, als ob der Dichter dieses sein Volk umkreise, ohne den Mut zu finden, es selbst zu fassen und zu gestalten.

Die Jahre endlich, die der großen deutschen Schicksalswende vorausgingen, sehen ihn mit dem Problem des deutschen Volkes beschäftigt. Alles vorher war Vorbereitung, Übung und Aufbau zu diesem Beginnen. »Im Schlaraffenland« gab einen schmerzlich bittren Aufriß. Dann gestaltete sich das Soziologische in mehr oder weniger abseitigen und peripherischen Bezirken. Das Menschliche der sozial und politisch aufgerührten Zeit zu erkennen und kenntlich zu machen, diesem Ziel strebte Mann auf Umwegen zu. Das Problem des deutschen Volkes wurde nur von fernher betastet. Nunmehr drängten die Umstande aber, es scharf und unzweideutig anzugehen. Es entstanden die Romane »Der Untertan« und danach »Die Armen«, jener ein politisch-satirisches, dieser ein sozialkritisches Buch.

Mann hielt nun die Idee des Volkes fest und sicher in Händen und er hielt sie hoch empor wie einen großen und klaren Spiegel, in dem sich das deutsche Volk erkennen sollte. Er hatte sie sich in mühsamer und keinen Umweg scheuender Wanderung errungen, er hatte sie in vielen kleinen und großen Phänomenen des menschlichen Zusammenlebens gesucht und erkannt. Nun trat er mit ihr vor das seit einigen Jahrzehnten in einem festgefügten staatlichen Gebilde lebende deutsche Volk hin. Es bestand nicht, es konnte nicht vor der Idee bestehen. Macht und Mensch hatten sich in ihm getrennt und entfremdet. Das Volk war zerrissen. Die Macht drückte von oben, der Mensch lehnte sich gegen sie auf. Im Zeichen der Sozialität war hier nicht Friede und Einklang zum Menschlichen erhöht, sondern Kampf und Zwietracht ins Äußerliche und Sterile gespreizt. Es gab Untertanen, die ihren sklavischen Stolz dareinsetzten, einem ebenso hohen wie hohlen Herrn zu gehorchen, und es gab Arme, die sich bedrückt und geknechtet fühlten, und somit auch Reiche, die der Versuchung erlegen waren, zu bedrücken und zu knechten.

Dies gestaltete Mann in jenen zwei Romanen. Wieder ist er ein Ankömmling, ein nunmehr zu seinem Volk Zurückgekehrter, und er steht, die Idee des Volkes vor seinem Geist, mit ernüchterten Augen die Erdrückung und Zerstörung dieser Idee und dichtet sich nun seine Enttäuschung und seinen Zorn von der Seele. »Der Untertan« und »Die Armen« sind die zornigsten, grimmigsten Bücher, die seit Jahrzehnten geschrieben wurden. Sie sind Dokumente eines zähneknirschenden J'akkuse, das eine gegen den Imperialismus, das andere gegen den Merkantilismus gerichtet. Beide stehen an Form hinter den früheren Schöpfungen zurück, übertreffen sie aber durch den menschlich heißen Impetus, mit dem sie ihr Sentiment mitten in der Seele des Volkes aufrichten. Mann übt an dem deutschen Volke Kritik, indem er dessen Mangel an Menschlichkeit, sein gieriges Abenteurertum und sein hohles Komödiantentum aufzeigt. Er ist nun Bürger unter Bürgern. Er fühlt sich mit verantwortlich und mit betroffen. Er wehrt und salviert sich. Er scheidet sich ab von dem Unzulänglichen und weist mit diktatorischer Geste auf die Kluft hin, die ihn von den äußeren Repräsentanten seines Volkes trennt. Als er den »Untertan« schrieb, ahnte er schon den Zusammenbruch. Denn er sah und wußte, daß der Bürger ein Parvenu war, ein in die Abenteuer des Geldes und der Macht verstrickter Komödiant des Staates und der öffentlichen Meinung. Heinrich Mann entlarvte den Bürger und zog sich, nach der bisherigen Nichtachtung oder Geringschätzung, seinen Haß zu. Er verfolgte in den beiden Romanen, die untrennbar zusammengehören, den Aufstieg und den Verfaulungsprozeß der Generationen, die den menschlichen Unterbau des jungen und schon in der Vergreisung begriffenen deutschen Imperiums bilden sollten. Der Unterbau war morsch. Aus speichelleckenden Untertanen werden ausbeuterische Herrenmenschen. Wie ist es um ein Volk bestellt, das aus Herren und Sklaven besteht oder zu bestehen vermeint. Für das Menschliche, für den Geist der Menschlichkeit ist da nicht Raum. Und also auch nicht+... für den Dichter!

Die Tragödie des Dichters: endlich den Gesichten und Problemen des eigenen Volkes hingegeben, fühlt er sich ausgeschlossen, fühlt er es gegensätzlich zu sich, fühlt er die schmerzliche und zerstörerische Differenz zwischen Idee und Wirklichkeit. Heinrich Mann war niemals Zeit seines Lebens Politiker oder vielmehr, er war es stets nur kraft seiner ins politische vordringenden, die Idee des politischen gestaltenden Dichtungen. Nun aber, ergriffen und gewürgt von dem Ungeist der Zeit und des Volkes, ging er dem Alltag und der schalen Wirklichkeit so heftig zu Leibe, daß man glaubte ihn als Träger bestimmter politischer Absichten akklamieren zu dürfen. Wo er aus reiner menschlicher Idee heraus schuf, da las das kurzsichtige Auge der Zeitgenossenschaft nichts als Leitartikel. Welch ein Unrecht gegen den Dichter! Freunde und Feinde erwuchsen ihm jenseits der Dichtung. Er wurde populär. Die Leser, bisher kaum berührt von den kühnen Inhalten und Formen seiner Werke, bisher gleichgültig gegen »Professor Unrat«, »Die kleine Stadt«, oder die Novellen, kamen nun in Scharen. Der Erfolg war da.

Aber mit dem Erfolg, wie meist, zugleich das Mißverständnis. Der große Haufen sah in dem Dichter einen oppositionellen Sprecher und Führer. Gewiß stand er in Opposition zu dem kaiserlichen, zu dem macht-, ruhm- und geldgierigen Deutschland; gewiß auch stand er in Opposition zum Haß und zu der blutigen Auseinandersetzung unter den Völkern. Denn all dies, diese Lebenszustände und Lebensäußerungen seines Volkes und der anderen widersprachen der Idee, zu der er, gestaltend, emporgewachsen war: zum Sieg der Menschlichkeit und Geistigkeit im Dasein nicht nur des Einzelnen, sondern auch des Volkes. Aber dies ist eine Konsequenz und nicht eine Voraussetzung seines künstlerischen Schaffens. Dies ist die Frucht einer rein dichterischen und schöpferischen Entwicklung, die über die Unzulänglichkeit der Zeit hinausstrebte und hinausgelangte. Darum steht der Dichter gegen die Zeit und darum ringt er mit ihr. Er ringt – dies ist der Sinn solcher Diskrepanz – mit sich selbst um ein neues erhöhtes Bild der Zeit.

Heinrich Mann wird den beiden ersten politischen Romanen alsbald einen neuen folgen lassen, der die wilhelminische Epoche Deutschlands umfassend schildern wird. Erst, wenn dieses Werk vorliegt, wird sich ein Standpunkt gewinnen lassen zu der politischen Mission des Dichters. Zurückblickend auf den Weg, der bis heute durch die Etappen seiner Werke gezeichnet ist, kann man schon jetzt sagen, daß das Ziel und der Sinn die schöpferische Distanz zur Wirklichkeit und deren Spiegelung und Verklärung im Menschlichen sein wird. Heinrich Mann wird nicht im Gewühl der Tagesmeinung, des politischen Streites untergehen. Er wird sich darüber erheben und die Zeit in einem neuen Bild und in neuer Gestalt begreifen. Die Zeitgenossen sind, wie immer, ungeduldig. Sie rufen ihr Hosianna oder ihr Kreuziget in die Welt des Dichters. Er bleibt unberührt davon. Er schreitet, im frohen und stolzen Gefühl seiner Mission, den Kreis der Idee aus, der für ihn, den im Un- und Überwirklichen Lebenden, identisch ist mit dem Kreise der Zeit+...

Neben jenen beiden Romanen widmete Heinrich Mann dem nun schon verblichenen Neudeutschland und seinen Erscheinungen eine Reihe von Essays, die zusammen mit früheren unter dem Titel »Macht und Mensch« als Bekenntnis des Dichters in die Zeit erschienen sind. Er bekämpft die Macht und rühmt den Menschen. Das heißt nichts anderes, als daß er seine Erfahrungen als Dichter ausspricht und vor die Wirklichkeit hinstellt, um sie an ihnen und diese an ihr zu messen+... Auch in diesen Essays leuchtet seine dichterische Kraft und sein rein dichterisches Wesen auf. Er gestaltet Geistiges zum Geist, Ideelles zur Idee. So verklärt sich ihm Tag und Stunde des deutschen Zusammenbruchs zu hartem, aber fruchtbarem Schicksal und so fällt die Ungemäßheit des politischen Geschehens von ihm ab und aus seiner dichterischen Sphäre heraus. Diese Essays sind Abwehr und Beschwichtigung gegenüber dem Übergriff der Realität in die Welt des Dichters. Sie sind Reinigungen, Klärungen und Läuterungen im Gedanklichen.

Schon früher aber war Heinrich Mann darauf bedacht, sich selbst herauszuheben aus dem Hexenkessel der Ereignisse. Die von ihm erkannte Form der Bühne und des Dramas bot ihm dazu die Möglichkeit, pathetisch schwang er sich an ihr empor. Der Zwang der Bühnenform zur Weglassung, zur Aussparung im Stofflichen gab ihm die Freiheit, sich über die Zeit hinweg zu entfalten und sie mit historischem und zugleich pathetischem Ton anzufüllen. Er fühlte sich frei von dem epischen Zwang zur Berichterstattung über die Zeit und getrieben, ihr in weiter und hoher Sphäre ein Gleichnis zu suchen. Und wiederum nicht ihr selbst, sondern dem Zukünftigen, dem Unverlierbaren und Fruchtbaren in ihr. In den nun, wenn auch mit Zwischenräumen entstehenden Dramen wirft sich Heinrich Mann, einem noch nicht gewordenen, nämlich dem zwanzigsten Jahrhundert, so wie er es erhofft, in die Arme. Und um ihm sich restlos vermählen zu können, um jene Distanz zu gewinnen, die die freie Entfaltung des Menschlichen ihm gewährleistet, ergreift er in zwei Fällen historische Stoffe, das eine Mal, um die Größe einer kleinen Frau, das andre Mal, um die Kleinheit eines großen Mannes zu enthüllen. So dichtet er zuerst das Schauspiel »Madame Legros«. Es entstand ganz deutlich aus Widerspruch und Gegensatz zur politischen Tagessatzung. Es ist ein lautschallender Ausruf zu Ehren der Kraft des Menschlichen gegenüber der Gewalt der Mächtigen. Auch hier steht Mensch gegen Macht. Aber zugleich sinkt das Menschliche im Kampf mit der Macht und verliert das Schönste seines Wesens und verliert das Schönste seines Wertes. Ein tragisches Schauspiel! Ein Mensch, eben jene kleine Legros, bringt für die Idee der Menschlichkeit, der menschlichen Befreiung, ihr eigenes Menschentum als Opfer dar. Das politische, die Macht frißt ihre Seele an und auf. Sie gelangt an ihr Ziel, aber sie erschöpft und ertötet sich dabei. Was von ihr übrig bleibt, ist Attrappe, ist ein künstliches Bild unter Glas und Rahmen, ist etwas Leichenhaftes. Daran sind aber nicht nur die Mächtigen, gegen die sie kämpft, sondern auch die seelisch Ohnmächtigen, für die sie streitet und leidet, schuld.

Hier schon ist die Scheidung zwischen Mensch und Volk, zwischen Individuum und Gemeinschaft markiert. Wer sich mit der Masse vermischt, verfälscht sich. Menschentum besteht allein durch und für sich selbst. Seine Tragik aber ist, daß es in eine Gemeinschaft eingebaut und daher stets versucht und sogar genötigt ist, in ihr aufzugehen. Aufgehen wird Untergehen.

Ähnliches, nur mit anderem Exponenten, ist in dem Schauspiel »Brabach« ausgesprochen. Hier mißt sich Menschlichkeit an der Macht des Geldes. Diese siegt, jene stirbt mit bitterem Lächeln.

Und weiter: »Der Weg zur Macht« ist eine sarkastische Auseinandersetzung des Dichters mit den menschlichen Voraussetzungen der Macht. Wie gelangt der große Napoleon zum äußeren Ausdruck seiner Größe? Aus Kleinheit, aus Bedenkenlosigkeit, aus der Entschlossenheit heraus, Menschliches, sein eigenes und fremdes, für nichts zu achten.

Diese drei Dramen bilden eine einheitliche psychische Reihe. Madame Legros, die unscheinbare Frau aus dem Volke, ist ein innerlich großer Mensch. Brabach, Mann der Arbeit und Pflicht, ist der schwankende und schwache Mensch mit dem großen Herzen. Napoleon, Kreatur des Ehrgeizes, ist der herzlose und ungroße Mensch. Je näher der Wille zur Macht an den Menschen heranrückt, desto kleiner wird dieser. Dies ist Heinrich Manns Kritik an dem Aufbau der Völker und der Gesellschaft, der auf dem Gedanken an Macht und Geld beruht. Er setzt diesem Gedanken den Menschen gegenüber, er gestaltet dessen Wert und dessen Entwertung vor der Macht und bricht damit den Stab über sie. Der Mensch als die Verkörperung des Geistigen und Geistes ist größer als die Macht und wird darum ihr Opfer. In diesem Bild erschaut Heinrich Mann von neuem die Tragikomik des Seins und Geschehens.

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So schließt vorläufig sein Werk ab. Es ist kein Abschluß. Es ist eine Mitte, in der sich das Werk des Dichters und das Werden der Zeit anschauen. Die Zweifel des Dichters finden in der Verzweiflung der Zeit ihre Beglaubigung. Ebenso wird aber auch sein Aufstieg zur Gestaltung des Menschen aus der Zeit heraus dieser wieder das Bewußtsein ihres Wertes geben. Man kann einen Dichter nicht schöner ehren, als wenn man seine eigene Gestalt zum Symbol seiner Zeit und seines Volkes nimmt. Die Erscheinung Heinrich Manns erlaubt diese Gleichsetzung. Er ist ein Bild und Vorbild des sich aufschwingenden, des sich eben formenden zwanzigsten Jahrhunderts. Nicht Revolution oder Reaktion, nicht solche starre Merkzeichen aus dem Weg der Menschheit, haben Bestand vor ihm. Er entreißt ihnen die Seele und entlarvt ihre Seellosigkeit. Die Seele allein ist das Wirkliche, Beständige und Wesenhafte. Für sie und vor ihr verwaltet und gestaltet er Zeitliches. Er führt es hin zum Ewigen, zum göttlich Gültigen, zur unwandelbaren Schönheit des Menschen.

Heinrich Mann ist nun ein Fünfzigjähriger. Umgeben von Werken und Gestalten, die sich aus unserer Literatur und aus dem zeitgenössischen Bewußtsein nicht mehr wegdenken lassen, ist er noch mitten in der Arbeit und damit auch mitten in der Entwicklung. Alles Formale seines Wesens und Dichtens ist zur Ruhe und Höhe gediehen. Nichts Künstlerisches, das in dem Kreis seiner Stoffe beschlossen liegt, ist ihm fremd. Denkerisches und Dichterisches sieht und formt er in einheitlichem Bilde. Der Intellektualismus, dieses Problem und Übel unserer Zeit, ist für ihn überwunden und zum Objekt der Gestaltung geworden. Vor diesem Dichter liegt das Gefilde der Zeit wie ein von Früchten trächtiges Ackerfeld, das nach seinem Pfluge schreit. Dies ist das Glück seiner fünfzig Jahre, daß seine dichterische Kraft an den Inhalten der Zeit hochgewachsen und daß die Zeit selbst für seine dichterische Intuition reif geworden ist. Solche Übereinstimmung von Künstler und Stoff, von Dichter und Problem, von Gehirn und Bild ist selten und schicksalhaft. Ihre Voraussetzung ist unbezwinglicher Wille zur Kunst und ihre Konsequenz ist Gesegnet- und Geadeltsein durch die Kunst. Die weitere Folge aber besteht darin, daß das Gegenüberstehen von Dichter und Zeit die Schärft der Antithese verloren hat.

An ihre Stelle ist die gegenseitige Gelöstheit, das gegenseitige Aufgeschlossensein und die Bereitschaft gegenseitiger Durchdringung getreten. Darin wurzelt und daraus wird die künftige Entwicklung Heinrich Manns ersprießen. Nach Jahren und Jahrzehnten der Zurückhaltung und Fremdheit ist er nun in Zeit und Volk innerlich heimisch geworden. Er hat die Widerstände in und außer sich so restlos überwunden, daß sein Dichterberuf erst ihn vollends zum Zeitgenossen gemacht hat. Darum lebt und leidet er die Zeit mit ganz anderer Intensivität als alle um ihn herum. Er hat ihr in Wahrheit seine Mission aufgezwungen. Sie segnet ihn dafür.

Wenn Heinrich Mann, was manche abschätzig von ihm behaupten, ein Literat ist, so hat er die Literatur in die Seele der Zeit hineingestellt. So zwar, daß beide sich aneinander und füreinander erschließen. Dies aber macht ihn selbst unproblematisch und tilgt somit alles Literatenhafte und Artistische in ihm aus. Form ist nicht mehr Frage und Problem. Frage und Problem ist nur noch Menschlichkeit und ihre Auswirkung. Darum heißt Dichten für den Fünfzigjährigen Heinrich Mann reicher werden. Oder: Glücklich sein! Oder: Mensch sein! Gibt es einen schöneren Aspekt für einen Dichter, der die Höhe des zeitlichen Lebens erreicht hat? Er ist Figur der Zeit und zugleich ihr Überwinder, weil er so groß ist wie sie oder größer. Er mündet in die Zeitlosigkeit ein und überliefert ihr die Epoche, die ihn zum Dichter gemacht und die er zum dichterischen Bild erhoben hat.

Um ihn, wie um jeden Fünfzigjährigen, drängen sich neue Bildner und Bilder. Er aber ist beides in einem: Bildner und Bild der Zeit. Dies ist das Zeichen und Wesen seiner Unvergänglichkeit!

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