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Der Subdirektor des Kreditversicherungsinstitutes »Credo«, einer Aktiengesellschaft, die ihr moralisches Ansehen auch in den trübsten Zeiten zu wahren gewußt hat, saß vor einem mächtigen Schreibtisch, auf dem sich ein Berg von unerledigter Post türmte. Das mittelgroße Büro, dünn möbliert und mit nur einem, allerdings mächtigen Fenster, war um ihn wie ein in sich abgeschlossener Erdteil. Die gepolsterte Tür ließ kein Geräusch herein, die dunkelblaue Tapete dämpfte das Licht, die Decke, gediegen in Holz geschnitzt, teilte von ihrer Bräune etwas der Luft mit. Der ganze Raum stellte etwa die gesunde und ansehnliche Mitte dar zwischen der Zelle eines Häftlings und dem Audienzsaal eines Potentaten. Das Direktoriale schwang in ihm, aber auch das Subdirektoriale kam zum Durchbruch.

Dr. Ernst Leihkauf saß, ungeachtet des hohen Berges von unerledigter Post, schon seit Minuten über der Lektüre eines Briefes, der nur wenige Zeilen umfaßte. Leihkauf, vor kaum einer Viertelstunde ins Büro gekommen, um mit seiner bewährten und geschätzten Arbeitskraft die Post zu prüfen und in Umlauf zu setzen, blieb an diesem Brief, dem dritten, den er geöffnet hatte, hoffnungslos hängen. Es stand wenig genug darin. Nicht mehr als dies:

 

»Lieber alter Freund!

Ich bin seit dem Ersten hier und habe durch Zufall erfahren, daß Du hier als mittelgroßes Tier lebst. Darum melde ich mich bei Ew. Gnaden und teile submissest mit, daß ich diesen Monat im ›Alkazar‹ auftrete, die letzte Nummer vor der großen Pause. Ich heiße Al Rondo. Wenn Du Dich meiner nicht schämst, so erwarte mich heute in der Pause, wir wollen etwas trinken gehen. Heil und Sieg!

Dein alter Feind
  Fritz Kaßner.«

 

Über Leihkauf kamen die Jugenderinnerungen nicht anders, als einen Menschen plötzlich rheumatische Schmerzen anfallen: zuerst melden sie sich ganz leise wie elektrische Fernwirkungen von ganz weit her, sie werden stärker und stärker, bis sie mit einem sehr scharfen Messer im Gebein wühlen. Leihkauf krümmte sich bereits innerlich unter dem Schnitt der Erinnerungen. Der Briefschreiber war zweiundzwanzig Jahre sein anderes und, er mußte sich zu dem Geständnis bequemen, besseres Ich gewesen. In der gleichen Gasse und in derselben sozialen Schicht geboren, hatten Kaßner und er die nämliche Elementar- und Mittelschule besucht und dann drei Semester zusammen in Berlin an derselben Fakultät, nämlich Mathematik, studiert. Sie waren einer ohne den andern nicht denkbar gewesen. Ihre Zusammengehörigkeit wurde in dem Augenblick fast schon als Witz empfunden, als sie beide sich entschlossen, Mathematik zu studieren. Einer ihrer Kameraden sagte damals, sie müßten gelegentlich auch noch äußerlich zusammenwachsen, denn ihre Geburt als zwei selbständige Lebewesen sei ein Irrtum der Natur, sie seien in Wirklichkeit ein und dasselbe Individuum, und sie studierten nur deshalb Mathematik, um der Natur auf den Teilungsfehler zu kommen, den sie mit ihnen gemacht habe.

Dann aber, im vierten Semester, trennten sie sich plötzlich. Leihkauf blieb in Berlin, Kaßner ging nach Würzburg. Und diese Trennung war eine fürs Leben, denn seitdem hatten sie nichts mehr voneinander gesehen und gehört. Nicht genug damit, auch die Eltern in der südwestdeutschen Großstadt entzweiten sich alsbald und wurden Todfeinde, weil der Vater Leihkauf den Vater Kaßner um ein großes Auslandsgeschäft in Spirituosen gebracht hatte.

An diesem Endpunkt des gemeinsamen Erlebens hielt Leihkauf, in dessen sonst so kräftigen Händen der Brief leise zitterte, noch lange nicht. Seine Gedanken waren von der Gymnasialzeit gefangen gehalten, von jenen Jahren, zwischen fünfzehn und siebzehn, in denen es Kaßner gelungen war, ihn, Leihkauf, geistig zu unterjochen. Vorher hatten sie sehr oft körperlich miteinander gestritten, aber in ihren Raufhändeln, die übrigens aus den nichtigsten Anlässen zu entstehen pflegten, konnte keiner siegen, sie waren etwa gleich stark und gewandt. Bis langsam in Kaßner die Neigung zu witzigen und boshaften Bemerkungen entstand und wuchs, denen Leihkauf trotz aller Bemühungen nicht gewachsen zu sein pflegte. Raufereien gab es seitdem nicht mehr, sie waren stillschweigend als kommentwidrig und unwürdig erklärt, dafür aber suchte jeder nach einer geistigen Blöße und Schwäche des andern und verfuhr schonungslos damit.

Leihkauf stand auf und trat ans Fenster. Er war erregt, obwohl man es seinem behäbigen Äußern kaum ansah. Er war klein und rundlich, hatte einen kurzen Hals, einen mit dürren blonden Haaren bedeckten runden Schädel und ein festes, fleischiges Gesicht. Das Fleisch der Backen und die fleischige Stirne wölbten sich weit über die Augen vor. Das Monokel vor dem linken Auge saß sicher und wohlgeborgen in gutem Polster. Leihkauf, so klein er sein mochte, war ein Sitzriese, seine Beine waren besonders kurz, und das war sein Schmerz, übrigens auch der wichtigste Grund, warum er ledig geblieben war. Diese verdammten Stumpen von Beinen hatten ihm schon früh ein unüberwindliches Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem weiblichen Geschlecht eingepflanzt, er verfluchte oft genug die ihm so lästige Hochbeinigkeit der modernen Frau.

In seiner Erregung drückte er sich in die Fensternische, wie wenn er darin seine Figur vor dem hohen Raum, der ihn umgab, verschwinden lassen könnte. Ach, wäre er denn nicht vielleicht schon längst, bei seiner Emsigkeit und seinen organisatorischen Erfolgen, mehr als Subdirektor, wenn er imponierender gewachsen wäre? Er mußte an Kaßners Worte denken: »ein mittelgroßes Tier«. Das ist doch eine Anspielung, das ist doch, wie vor fünfundzwanzig Jahren, eine Verbalinjurie, ein vergifteter Pfeil! Er mußte ihm ja geradezu dankbar sein, daß er ihn nicht schon im Brief den »kleinen Leihkauf« genannt hatte. Ein Meter dreiundsechzig – größer war er nicht, und das ist nun einmal sehr wenig für einen Subdirektor, und viel zu wenig für einen Generaldirektor.

Dabei sah er immer den langen, schlanken, knochigen Kaßner vor sich: lange Beine, langer Leib, langer Schädel. Sogar Kaßners Hände, erinnerte er sich, waren lang, und das galt doch erst recht als Zeichen guter Rasse. Sein Blick fiel auf die eigenen Hände: an dem breiten Handteller saßen Finger wie kurze, dicke Würste, Finger mit kurzen, breiten Nägeln.

Leihkauf vergrub die Hände in die Taschen, er empfand sie wie eine Last, die ihn niederzog. Und es war ihm, als ob in der andern Ecke der Fensternische der große Kaßner stände, und unwillkürlich erhob er seinen Blick schräg nach oben. Verflucht, dreimal verflucht – sah er denn nicht schon wieder, bevor er ihn noch von Angesicht zu Angesicht vor sich hatte, zu diesem Kaßner auf? Eine verteufelte Angewohnheit von früher – er wollte es nicht wahr haben, daß ein kleiner Mann, wenn er mit einem großen sprach, die Augen erheben müsse.

Nun ging sein Blick auf den Boden, seine Gedanken aber gingen, wie gejagt, zu der Jugendfreundschaft mit Kaßner zurück. Es war ja gar keine Freundschaft, es war, wie Kaßner sehr richtig andeutete, nur eine äußerst intime, unzertrennliche Feindschaft gewesen.

Ja, diese beiden jungen Menschen waren, schon von der frühen Kindheit her, durch das Band eines Hasses verbunden, der zwar diesen Namen nicht trug, aber kraft seiner Anonymität erst recht Bestand hatte. Die Freundschaft der Eltern und die Schule hatten sie zusammengeführt, sie waren in fast allen Lehrgegenständen etwa gleich begabt, Kaßner brauchte für seine Größe (er war schon als Kind aufgeschossen) das Gegenspiel eines Kleinen, und der Kleine schloß sich aus Instinkt an den Großen an. Die Eltern, Lehrer und Mitschüler erklärten die beiden für ein Herz und eine Seele, und Kaßner und Leihkauf straften die Umwelt nicht Lügen. Sie brauchten sich. Der Mensch kann sich ja fast ebensogut wie an Liebe und Übereinstimmung auch an Haß und Gegensätzlichkeit gewöhnen. In jedem menschlichen Wesen sind Lücken vorhanden, die nach Ergänzung verlangen, – wie sie ausgefüllt werden, ist dem Spiel des Schicksals überlassen.

Leihkaufs und Kaßners Eltern ahnten nicht, wie die beiden Söhne zueinander standen. Als »Freunde« behandelten sie ihre Kämpfe wie ein Geheimnis. War ein Dritter dabei, plänkelten sie harmlos und fröhlich miteinander. Aber unter vier Augen ballte sich die Faust oder später das noch feindlichere Wort. Es war ja nicht an dem, daß Kaßner alle Erfolge allein gehabt hätte, auch Leihkauf stellte seinen Mann und gab dem andern manche Pille zu schlucken.

Während Leihkauf jetzt an diese mißmutige Jugend dachte, konnte er sich kaum an einen einzigen Tag erinnern, wo sie beide richtig miteinander bös gewesen wären. Nein, Entzweiung hatte es nie gegeben. Leihkauf stellte sich sogar vor, daß eine richtige ausgesprochene Entzweiung ihre Freundschaft erst zur Entwicklung und zum Ausbruch hätte bringen müssen. Dieses Heilmittel war ihnen aber nicht gegönnt.

Als Kaßner plötzlich den Entschluß ausgeführt hatte, die Universität zu wechseln, fühlte sich Leihkauf in den ersten Monaten des Alleinseins sehr einsam und unglücklich. Freilich, geschrieben hatte er dem andern nie, der andere ihm auch nicht. Aber mehr Arbeit hatte er gesucht: er fing neben den mathematischen Studien auch noch volkswirtschaftliche und juristische an, und dies wurde sein Glück: er promovierte als Mathematiker und als Jurist und empfahl sich so für eine Karriere in der Finanzwirtschaft. Mit Kaßner zusammen wäre er bestimmt ein Nichtsalsmathematiker und wahrscheinlich Lehrer geworden. Nun, da war seine Stellung als Subdirektor der »Credo« denn doch etwas anderes, sehr einbringlich und sozial angesehen; er hatte nur zwei Direktoren über sich, von denen der eine überdies ein alter Generaldirektor war, der fast nur noch honoris causa in seinem tatenlosen Büro saß und längst reif war, in den Aufsichtsrat abgeschoben zu werden.

Leihkauf zwang sich, zumal er Stimmungen haßte, himmelhoch jauchzende genau so wie zu Tode betrübte, zur Zufriedenheit mit seinem Schicksal und zum Stolz auf seine Erfolge: jetzt erst konnte vielleicht die Generalabrechnung erfolgen zwischen ihm, einem wirtschaftlich und gesellschaftlich Gut- und nahezu Hochgestellten, und jenem, der letzten Nummer vor der Pause, in einem, wenn auch noch so guten Varieté. Es hatte ihn weder verwundert noch bestürzt, noch gar gefreut, daß Kaßner in einem Varieté auftreten muß. Man denke: ein Akademiker auf einer Varietébühne – welch eine schiefe Ebene! Aber das mußte sich Leihkauf jetzt erst richtig zum Bewußtsein bringen, er war immer noch in dem Gefühl befangen, daß alles, was Kaßner tue, seinen Wert durch ihn selbst erhalte, er hatte ganz darauf vergessen, daß auch der »große Kaßner« von seiner Höhe herabsteigen könne und nun in der Tat gründlich und unabsehbar tief hinabgeschlittert sei.

Dies war die solide Brücke, auf der Leihkauf wieder zu seinem Gleichmut zurückfinden konnte. Breit stellte er sich ans Fenster, holte die Hände aus den Taschen und streckte sie hoch in die weißen Vorhänge hinein, ganz hoch, ja, er war gar nicht so klein, er konnte hoch über sich hinausgreifen, wenn es darauf ankam, und er hat es immer wieder getan in seinem Leben und wird es auch in Zukunft tun: er ist kein »mittelgroßes Tier«, sondern ...

... der kleine Leihkauf saß wieder am Schreibtisch, jeder Zoll an ihm direktorial, er nahm den Hörer von der Gabel und wies seine Sekretärin an, ihm für diesen Abend einen Sitz in der ersten Reihe, Orchesterfauteuil, des »Alkazar« zu besorgen. Dann entnahm er seiner krokodilledernen Brieftasche eine Visitenkarte, auf der stand: Dr. jur. et phil. Ernst Leihkauf, Subdirektor des Kreditversicherungsinstituts »Credo« A.-G., zweiter Vorsitzender des Verbandes höherer deutscher Versicherungsbeamten. Auf die Rückseite aber schrieb er:

 

»Wertester Fritz!

Bin sehr gespannt auf Dich – auf der Bühne wie im Leben. Freue mich auf fröhliches Wiedersehen. Erwarte Dich am Bühnenausgang. Freundlichen Gruß!

D.U.«

 

Und auf den Briefumschlag schrieb er: »Herrn Fritz Kaßner, genannt Al Rondo.«

Und nun erst rückte er dem Schicksal des Freundes so nahe, daß er sich Gedanken machte, was denn eigentlich ein Mann wie Kaßner einem p. t. Varietépublikum zu bieten haben könnte. Aber diese Frage beschäftigte ihn nicht sehr stark. Er stürzte sich in den Strom der eingelaufenen Post und zerteilte sie wie ein kräftiger Schwimmer die Flut. Er war in seinem Element, Kaßners Beruf lag auf dem Grund seiner Gedanken und trieb hie und da ein paar Blasen an die Oberfläche, nicht weiter der Rede wert. Die Probleme der Kreditversicherung verlangten in einer so bedrängten und trüben Zeit einen ganzen Mann. Leihkauf stellte diesen Mann.

Als so gegen zwei Uhr der wesentlichste Teil der Tagesarbeit beendigt war, ging der Herr Subdirektor immerhin recht neugierig auf die Straße, um an einer Plakatsäule Näheres über Al Rondo zu erfahren. Er fand den Namen ziemlich groß gedruckt, zwei andere standen, wie er mit Befriedigung feststellte, allerdings noch etwas größer da, dafür aber stach Al Rondo insofern heraus, als vor und hinter dem Namen je zwei große Fragezeichen standen.

Diese Fragezeichen gaben Leihkauf zu denken. Er sah seine eigene fest umrissene Existenz und die andere mit Fragezeichen vorn und hinten. Er sah sein Büro mit den massiven vier Wänden und die große Varietébühne mit bloß drei oder eigentlich gar keinen Wänden. Er sah über sich seinen Direktor und den alten Generaldirektor, ferner den Aufsichtsrat von weißhaarigen oder kahlen Köpfen mit brillenbewaffneten Augen, und andererseits einen großen Mann, namens Al Rondo, der heute da und morgen dort, also ein freier Mann war. Als Subdirektor ist man wer, gewiß, aber man ist doch kein Mann von Namen. Al Rondo – die ganze Stadt sah, daß dieser Mann in ihren Mauern weilt, aber wie viele Menschen wußten, daß es hier auch einen Dr. jur. et phil. Ernst Leihkauf gibt?

Der Subdirektor mochte die Sache wenden, wie er wollte, es gelang ihm nicht, sich über Al Rondo-Kaßner zu erheben. Verwunderlich, nicht wahr? Denn es läßt sich doch ein solides Institut »Credo« (Aktienkapital sieben Millionen Mark, starke Reserven, überdies auch in einer schlechten Zeit gute Dividenden und Tantiemen abwerfend) im Grunde nicht vergleichen mit einem Varieté »Alkazar«. Leihkauf, sonst zur Selbstzufriedenheit neigend, war mit sich höchst unzufrieden, weil es ihm nicht und nicht gelingen wollte, das Etablissement »Alkazar« tief unter sich zu sehen.

Er hatte sonst wenig Interesse für Varieté, zumal seitdem es an wahrhaft schönen Frauen, an imposanten Beautés Mangel litt. Leihkauf war für große Frauen mit stattlichem Körperbau und Brustumfang, aber das gab's ja nicht mehr auf der deutschen Varietébühne. Dafür gab's diesen Al Rondo: nun, man wird ja sehen heute abend!

Er ging in ein Restaurant essen, sogar in ein besseres als sonst. Erstens hatte er, der »mittelgroße Mann«, gerade heute das Bedürfnis, »groß« zu essen, und zweitens wollte er für sich und Kaßner ein Essen vorbereiten lassen, mit dem er dem Varietékünstler mächtig zu imponieren gedachte. Während er aß und mit dem Oberkellner zugleich unterhandelte (dies nacheinander zu erledigen, hätte nicht seiner Auffassung von der Kostspieligkeit der Zeit entsprochen), spiegelte sich in seinem aufgehellten Unterbewußtsein die ganze Welt des Varietés. Es gibt da, wie er oft gehört und gelesen hatte, Großverdiener, Leute, die für eine kleine Viertelstunde mehr Gage bekamen, als ein Generaldirektor für harte Arbeit von morgens bis in die Nacht hinein. Es gab aber auch ganz kleine Leute, die waren indes bestimmt nicht fett gedruckt. Anderseits wiederum war es unerklärlich, wie ein Mathematiker zum Varieté kam. Er stellte sich vor, was er selbst angefangen hätte, wenn er sein Examen nicht bestanden hätte. Er hätte Kaufmann werden müssen und wäre – die Angst lief ihm für den Bruchteil einer Sekunde über den Rücken – bestimmt ein kleiner Angestellter geblieben. Dieser Kaßner aber war sicher durchgefallen, verbummelt und verludert und hatte doch den großen Sprung gemacht in eine ganz andere Lebenssphäre und, trotzdem!, ins Fettgedruckte und in das Geheimnis mit den vier Fragezeichen.

Leihkauf fragte den Kellner, ob er schon das neue Programm im »Alkazar« gesehen habe.

»Leider nein, mein Herr, ich habe erst übermorgen meinen Ausgang, aber da will ich hin, am Ende des ersten Teils soll eine Nummer sein, ganz fabelhaft, ich habe Gäste davon schwärmen hören.«

Leihkauf erschrak: »Was ist das für eine Nummer?« Der Kellner besann sich. »Wissen Sie den Namen?«

»Ich glaube, ein Mann ist es, der so ähnlich wie Rundo heißt, ich hab' so etwas dergleichen im Ohr. Ich pflege die Gespräche der Gäste nicht in mich aufzunehmen, das schickt sich nicht.«

Leihkauf sank fast zusammen: »Und was macht der Al Rondo, was kann er?« Leihkauf fragte knapp und streng.

»Ganz richtig, mein Herr, Al Rondo heißt er, genau so, ein merkwürdiger Name, nicht wahr, geradezu schön, wahrscheinlich ein Spanier. Aber was er macht, weiß ich nun wirklich nicht. Ich kann mich nur erinnern, daß auch von dressierten Seehunden die Rede war.«

Leihkauf unterbrach: »Nein, das ist er nicht. Die Seehunde sind nicht fett gedruckt.«

Der Kellner sah den Herrn Subdirektor, dessen Gesicht ihm bekannt war, mit einem raschen erstaunten Blick an, er verstand das mit dem fetten Druck nicht gleich.

Leihkauf fühlte, daß er sich nicht gehen lassen dürfe, und lenkte ab: »Es ist gar nicht gesagt, daß Al Rondo ein Spanier ist. Diese Leute vom Varieté geben sich ja immer die merkwürdigsten und stolzesten Namen, ob sie nun Meier, Müller oder Kaßner heißen.«

Der Kellner lachte: »Kaßner? Der Herr haben merkwürdige Einfälle. Aber aus Spanien kommen viele und gute Varietékünstler.«

»Woher wissen Sie?« fragte Leihkauf, mehr, um sich auszuruhen, als aus Interesse.

»Ich war mehrere Jahre in Position in San Sebastian. Da hatten wir im Hotel einige ganz große Herrschaften, die traten im Winter in Varietés auf. Ich kannte auch einen, der war ein verarmter spanischer Adeliger gewesen, ganz hoher Adel, mein Herr, einer der besten Reiter der Welt, der hatte sich ein großes Vermögen erworben, er reiste mit einem herrlichen Pferd durch alle großen Varietés und ritt hohe Schule, er besaß zu meiner Zeit eine der schönsten Villen in Sebastian, das will was heißen. Er lebte wie ein König.«

Leihkauf brach ab, er zahlte, bestellte einen Tisch für den Abend und ging. Nun wußte er, warum er Kaßner, die Varietégröße, instinktiv beneidet hatte. Unter der Tür kehrte er nochmals um, rief den Kellner und sagte ihm, er solle nicht, wie zuerst angegeben, deutschen Sekt, sondern französischen servieren, Moët et Chandon. Leihkauf schluckte, als er den Namen nannte. Ein sparsamer Mensch, pflegte er sonst überhaupt keinen Sekt und vollends keinen französischen zu trinken.

Er ging in seine bescheidene, aber wohlhabende Wohnung und legte sich nieder, um zu schlafen. Um halb fünf Uhr hatte er eine Vorstandssitzung, für sie mußte er frisch sein. Und es gelang ihm auch, alsbald einzuschlafen, er fühlte sich abgespannt, als ob er mehrere Nächte durchgearbeitet hätte. Aber es wurde kein erquickender Schlaf, denn er träumte schwer.

Er sah sich selbst als buckligen, kleinen Hofnarren des Königs von Spanien, der statt auf einem Thron auf einem herrlichen Schimmel saß und natürlich aussah wie Fritz Kaßner vor zwanzig Jahren. Er selbst aber ritt auf einem Seehund, und der König Kaßner, genannt Al Rondo der Erste, lachte sich kaputt.

»Sie sind ein mittelgroßes Tier in Ihrer Branche, Leihkauf«, sagte der König, »seien Sie zufrieden damit, Sie haben als mein Hofnarr Ihre fette Gage, ich aber, als König, muß Krieg führen, muß meine Gedanken in der ganzen großen Welt haben, bin auf den täglichen Beifall meines Volkes angewiesen, schlafe in der Nacht nicht, weil der Tag zu kurz ist für alle meine Sorgen.«

Aber der König änderte alsbald den Ton und wurde sehr boshaft: »Sagen Sie mir, Leihkauf, Sie sind doch von Beruf Mathematiker, wie kann ich es anstellen, daß in meinem Königreich zwei mal zwei gleich fünf ist? Wenn Sie mir das herausbringen, brauchen Sie nicht mehr auf dem dicken Seehund zu sitzen, dann nehme ich Sie zu mir aufs Pferd und ernenne Sie zum Generaldirektor von Spanien nebst Kolonien ohne Aufsichtsrat. Nun streng dich aber mal an, Hofnarr, es wäre doch zu dumm, wenn du dein ganzes Leben Hofnarr, ein mittelmäßiger Hofnarr bleiben müßtest.«

Immer redete der König, er selbst, Leihkauf, kam nicht zu Wort. »Wenn du mir zwei mal zwei gleich fünf machst, Ernesto Leihkauf, dann lass' ich dir andre Beine einsetzen, viel längere, und ich schenke dir meine langen schmalen Hände und ernenne dich zum Fürsten Credo oder, wenn dir der Name besser gefällt, zum Großen von Al Rondo.«

Dann lachte der König wieder: »Zu komisch siehst du aus auf deinem Seehund! Manchmal meine ich, daß du der Seehund bist und der Seehund mein Hofnarr. Nun laß dich doch mal von dem klugen Tier auf der Schnauze jonglieren!« Und wirklich, Leihkauf ließ sich von dem Seehund auf die Schnauze nehmen, der Seehund raste mit ihm herum, um ihn im Gleichgewicht zu halten, Leihkauf stand Todesängste aus und zermarterte sich dabei das Gehirn, wie er aus zwei mal zwei fünf machen könne, aber plötzlich fiel er entsetzlich tief. Er hörte noch das grauenhaft boshafte Gelächter des Königs, dann wachte er auf.

Er war dem Weinen nahe, so schlecht und schwach fühlte er sich. Er hatte eine gute Stunde geschlafen, sie hatte ihm das Mark aus den Knochen gesogen. Er stand auf, von nichts als dem schwarzen Gefühl des Hasses gegen Fritz Kaßner beherrscht. Nun wollte er Gewißheit haben. Er ging aufgeregt zum Telephon, um im Büro des »Alkazar« anzufragen, als was Al Rondo sich produziere. Aber er bekam keine Antwort, das Büro war zu dieser Tageszeit geschlossen. Dann rief er zu demselben Zweck bei einer Zeitung an, man gab ihm das Sekretariat, er stellte die Frage. Der Redaktionssekretär nahm die überaus nervös gestellte Frage nicht ernst, er hielt sie für einen Witz oder für die Frozzelei eines Bekannten. Als Leihkauf dringend wurde und in lächerlich überhitztem und übertriebenem Ton die Frage wiederholte, lachte der andere schallend und erwiderte halb ernst und halb im Spaß: »Aber wissen Sie denn wirklich nicht, wer der weltberühmte Al Rondo ist? Dann sind sie ja selbst ein Weltwunder.« In diesem Augenblick wurde die Verbindung gestört, eine auswärtige Stelle meldete sich, Leihkauf warf den Hörer hin. Er war außer sich.

Er klingelte seiner Haushälterin, ließ sich Aspirin bringen, denn er hatte gräßliche Kopfschmerzen. Nun müßte, dachte er sich, eine Frau da sein, eine richtige und eheliche Frau mit zarten Händen – das wäre das Wahre. Aber warum hat man das nicht als Subdirektor und Doktor zweier Fakultäten? Heute wurde ihm die Antwort leicht, denn heute hatte er sein ganzes Welt- und Lebensbild auf den einen Punkt eingestellt, der Fritz Kaßner hieß. Wie war es denn schon in ihrer frühesten Jugend mit den Mädchen? Alle sahen auf Fritz Kaßner und über ihn, Leihkauf, hinweg. Er, Leihkauf, war immer der Dritte, der Kleine, Dicke, der auch dabei war, auch dabei sein durfte. Das hat ihn vollends schüchtern und hilflos gegen das andere Geschlecht gemacht.

Als er dann allein war, verstand er es nicht und vermochte es auch nicht mehr zu lernen, wie man seine Netze nach den Mädchen auswarf und sie einfing. Ja, er wurde immer scheuer, so scheu, daß er sich nicht einmal selbst einfangen ließ. Wie gern hätte er geheiratet, aber er hatte einen so großen Respekt vor allen Frauen, Respekt gepaart mit Hilflosigkeit, daß sein Gefühl gegenüber dem weiblichen Geschlecht schon Furcht genannt werden konnte. Und daran war diese unglückselige Paarung mit Fritz Kaßner schuld. An die Beine, die ihm das Schicksal zu kurz zugemessen hatte, dachte er nicht mehr.

Er nahm das Aspirin und spülte es mit dem lieblos gereichten Glas Wasser hinunter. Die Haushälterin, eine zwar nicht alte, aber zeit- und geschlechtslos wirkende Person mit guten Augen und großen Händen und Füßen, wagte zu fragen, ob der Herr am Abend zu Hause sei. Er erwiderte grob, das werde sich finden, das wisse er noch nicht. Dann verließ er ohne Gruß das Haus. Das sonst so festsitzende Monokel zitterte mit dem Auge, vor dem es saß.

Leihkauf spielte mit dem Gedanken, das Rendezvous abzusagen oder sogar ohne Absage nicht hinzugehen. Aber das war in Wahrheit nichts als ein selbstbetrügerisches Spiel. Er wußte genau, daß er gehen müsse und gehen werde. Die Chance, seine nicht geringwertige bürgerliche Existenz in die Waagschale zu werfen, wo der andere wahrscheinlich doch nur ein verbittertes Vagantendasein als Gegengewicht einzusetzen hatte – diese Chance durfte er sich nicht entgehen lassen, denn sie konnte, nein, sie mußte eigentlich sogar zu einem Triumph für ihn führen.

Er strich an den Litfaßsäulen, die an seinem Weg standen, blinzelnd vorüber, der fett gedruckte »Al Rondo« stach ihm immer noch in die Augen, er haßte die Auffälligkeit und Aufdringlichkeit dieser Plakatschrift; an einer der Säulen erlebte er die besondere Genugtuung, daß gerade das Wort Al Rondo bis zur Unkenntlichkeit beschmutzt war, und im übrigen begrüßte er jeden Hund, der an einer Säule das Seine verrichtete, wie eine gleichgesinnte Kreatur.

Nun war er wieder in seinem Büro, er reckte und streckte sich wieder: »Dies ist mein Reich, das ich mir erobert habe«, und wartete, untätig auf dem Schreibtisch trommelnd, bis er zu der Konferenz abgerufen wurde.

Als es soweit war, betrat er, die prall gefüllte, ansehnliche Mappe (garantiert echtes Krokodil!) unterm Arm, den großen, weiten Konferenzsaal, in dessen Mitte ein langer, von Klubsesseln flankierter Tisch stand, während an der Wand der Stirnseite ein Riesengemälde der auf der Kugel dahinrollenden Glücksgöttin hing. Da außer einem Sekretär, dessen Gruß nur kurz und streng dienstlich zu erwidern war, noch niemand sich eingefunden hatte, stellte sich der kleine Leihkauf vor das große Bild und studierte es mit weniger suchenden als vielmehr gesättigten Blicken. Die Menge da, die hinter der Glücksgöttin her war – ich, Leihkauf, sprach er zu sich, gehöre nicht zu ihr, ich habe das Meinige erreicht oder fest vor Augen, ich brauche mich nicht abzukeuchen, ich gehe Schritt für Schritt, das ist ein Bild für Fritz Kaßner – und sogleich redete er sich auch schon ein, in einem aus der Menge ein Ebenbild des Varietékünstlers zu erkennen.

Die Tür sprang auf, der alte Generaldirektor und der erste Direktor traten ein. Leihkauf wurde begrüßt und grüßte wieder, etwas benommen und auch etwas untertäniger als sonst. Bald darauf erschienen nach und nach fünf Aufsichtsratsmitglieder, man setzte sich, der Direktor ergriff ohne jede Feierlichkeit das Wort und begann sein Referat.

Dieser Mann – Leihkauf nannte ihn bei sich den »jungen Mann«, denn er war jünger als er selbst – genoß Leihkaufs Sympathien nicht. Wie sollte er auch? Das hieß A. Müller, nichts weiter, kein Doktor, kein Akademiker, einfach ein ehemaliger Bankprokurist, der eines Tages ihm, Leihkauf, vor die Nase gesprungen war. A. Müller hatte nichts Feierliches, nichts Betontes, er war ein netter Mann von etwa achtunddreißig Jahren, sehr gut und leicht bei Wort, immer voll Einfällen, immer gut gelaunt, mit einer leisen, angenehmen Stimme, mit der er das Einfachste und das Schwierigste so leicht hinsagte und es scheinbar, während es von seinen Lippen kam, auch schon belächelte. Er war nach oben und unten gleich beliebt, ein netter Kerl. Leihkauf wußte wohl, denn er erlebte es ja jeden Tag, wie Müllers Wesen von seinem abstach. Müller hatte kein Haar mehr auf dem Kopf und sah doch angenehm und jung aus, jeder hatte gern mit ihm zu tun. Wohingegen Leihkauf ein strenger, stirnrunzelnder Herr des Büros war. A. Müller schien zu seinen geschäftlichen Entschlüssen hinabzusteigen, während es bei Leihkauf meistens den Anschein hatte, als ob er sie erklettern müsse.

Das zeigte sich auch bei der Sitzung. A. Müller hatte sofort und bis zum Ende das Ohr aller. Wenn Leihkauf etwas sagte, hüstelte er zuerst, heute sogar mehr als sonst, und dann mußte er lange mit seiner lauten Stimme auf die Trommelfelle einhämmern, um das, was er zu sagen hatte, auch zur Geltung zu bringen. Kein Zweifel, er hatte heute einen besonders schlechten Tag. Die Verhandlungen gingen um große Summen, von Beträgen unter hunderttausend war kaum die Rede, dagegen öfters von solchen über eine Million.

Leihkauf, so glänzend er vorbereitet war, drang nicht ein einziges Mal mit seiner Meinung durch, immer triumphierte dieser leise und lächelnde A. Müller. Das ging so stundenlang, und als Müller zum Schluß, nachdem die alten Knacker des Aufsichtsrates schon sichtlich müde waren (die Attrappe von einem Generaldirektor schien sogar bereits zu schlafen), eine tolle Zahlentirade aufmarschieren ließ, um das wichtigste Geschäft zu klären, da geschah das Unerwartete. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates, ein soignierter Fünfziger, mit dem Gesicht eines fuchsschlauen Genießers, lachte breit und sagte zu dem ihm gegenübersitzenden Direktor: »Mensch, Sie sind ja ein zweiter Al Rondo!«

Leihkauf wurde blaß, wie wenn das schnurgerade gegen ihn gesagt wäre. Alle anderen lachten zustimmend. Der Generaldirektor wurde ganz wach und sagte: »Müller und Al Rondo haben ganz gewiß ein ähnliches Gehirn, sie denken ausschließlich in Zahlen.« Worauf der andere lachend bemerkte: »Na, hoffentlich, Müller, reißen Sie uns nicht zum Varieté aus.«

A. Müller brauchte sein Lächeln nicht zu verstärken, als er diese Schmeicheleien abwehrte. Er fügte sogar ganz ernst hinzu: »Meine Herren, es wäre nicht einmal übel, wenn eine große Versicherungsgesellschaft so einen Mann wie diesen Al Rondo engagieren würde, er ist doch die denkbar raffinierteste Rechenmaschine plus Geist, nein, sogar multipliziert mit Geist.«

Leihkauf erstarrte zu Stein, als jetzt unter den unerhörtesten Lobreden auf Al Rondo dieser Gedanke ganz ernsthaft, wenn auch nur theoretisch, ventiliert wurde. Kaßner schwebte mit einem Mal über dem ernsten und gediegenen Konferenztisch. Leihkauf wiederholte bei sich immer wieder: »Also Rechenkünstler – Rechenkünstler also!« – und da er dem Kolossalgemälde gegenüber saß, verschwamm vor seinen trüben Augen die Glücksgöttin auf dem Rad mit dem Bilde des jungen Fritz Kaßner, so wie er es in der Erinnerung hatte, und er selbst wurde winzig klein davor. Nun merkte er plötzlich wieder, daß seine kurzen Beine nur mit Mühe bis zum Boden reichten, daß er wie ein ziemlich hilfloses Stück Fleisch in dem geräumigen Klubsessel lag. Wie ein Kind – sagte er sich, seine Augen wurden heiß.

Als die anderen nun mit großer Eile die letzte geschäftliche Proposition A. Müllers guthießen und geradezu mit Gier, wie sie nur Zahlenmenschen eigen ist, sich wieder auf das Al Rondo-Thema stürzten, da konnte Leihkauf nicht mehr an sich halten und warf dazwischen: »Al Rondo ist mein engster Jugendfreund, wir haben auch ein paar Semester Mathematik zusammen studiert, dann haben wir uns leider aus den Augen verloren.«

Das war der größte Erfolg, den Leihkauf je vor diesen Herren erzielt hatte. Er rückte in den Mittelpunkt, man bestürmte ihn mit Fragen, man beneidete ihn, man wollte über Al Rondo alles, alles wissen. Leihkauf nannte natürlich sofort seinen bürgerlichen Namen Fritz Kaßner, erzählte, was er wußte, tat auch einiges dazu, was ihn als Mitstrebenden Al Rondos ins Licht stellen mußte, und sprach geflissentlich nur von seinem Freund Fritz. Er verschwieg auch nicht, daß er am Abend mit dem Phänomen verabredet sei, was ihm hinwiederum Glückwünsche einbrachte, denn Al Rondo habe, wie A. Müller mitteilte, sich bisher von keinem Menschen sprechen lassen, er sei immer allein und wünsche weder Verkehr noch Unterhaltung.

Langsam löste sich die Konferenz auf. So oft wie heute war Leihkauf schon lange nicht mehr auf den Rücken geklopft worden, man behandelte ihn fast so wie einen kleinen Anfänger, dem heute die Gnade zuteil wurde, mit dem göttlichen Meister seines Faches zusammen sein zu dürfen.

Leihkauf, wieder in seinem Büro, fühlte sich von der ganzen Welt und vom Schicksal betrogen und verhöhnt. Seine Kopfschmerzen waren weg, aber das Aspirin hatte seine Temperatur merkwürdig hoch- und ihn in einen Anfall von Schwäche hineingetrieben. Er hatte gerade noch so viel Geistesgegenwart, um rasch den alten Generaldirektor durchs Telefon ergebenst zu fragen, ob er für diesen Abend über das Geschäftsauto verfügen könne, und war gar nicht erbaut davon, als er die Antwort bekam: »Unser alter Wagen für Al Rondo? Nein, mein Lieber, vor dem müssen Sie unsere Gesellschaft repräsentieren, ich schicke Ihnen meinen neuen Privatwagen, kennen Sie ihn schon, ein herrliches Gefährt, gegen acht Uhr steht er vor Ihrer Wohnung, genügt es, schön, gemacht, ist mir eine Ehre und ein Vergnügen.«

Leihkauf taumelte nach Hause. Es war eine herbe, aber schon warme Luft, Rest vom Winter und Vorschuß vom Frühling, schwer zu ertragen, wenn man, wie Leihkauf, den Kopf so voll und zugleich so leer hatte, wenn man, wie er, über das Glück, einen Jugendfreund als großen Mann wiederzufinden, so unglücklich war.

Zu Hause setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, ein großartiges Stück Möbel, fast drei Meter im Geviert, an der linken Seite war in das harte Holz eine blinkende Schreibmaschine eingebaut, mit Schrauben und Strebholz. Auf der Riesenfläche lag rechter Hand, wo auch das Telefon stand, das dazugehörige Telefonbuch, in der Mitte ein goldener und ein beinerner Füllfederhalter auf einem Tablett, das sonst nur noch einige Besuchskärtchen enthielt. Wenn Leihkauf nun selbst in der Mitte auf einem niederen Lehnstuhl saß, so wirkte das Ganze wie eine würdige Architektur und wie ein Hort der Sachlichkeit, richtiger noch: wie die Bild gewordene gesicherte und hochbefriedigende bürgerliche Position eines Zeitgenossen, Steuerzahlers und Großbürgers.

Hierher hätte Al Rondo kommen müssen, neben dem Telefon stand ein Klubsessel für Besucher, der seine Gäste tief in sich einsinken ließ, das wäre der Platz für Al Rondo, hier hätte er im Hand- und Körperumdrehen einen halben Meter seiner Länge verloren und auch sonst noch allerhand, wovor Leihkauf sich zu fürchten Anlaß hatte. Obwohl er nicht da war, begann der Mann vor der Mitte des Tisches ein Gespräch mit ihm, nur so der Übung halber und auch, um ihn von der Höhe, auf die ihn die Herren der Firma gestellt hatten, herunterzuholen und ihn wieder auf den Boden einer normalen Existenz zu stellen, die doch nach Leihkaufs Meinung unser aller Nährmutter ist.

»Also, Fritz Kaßner, daß du es weißt, ich bin Inhaber einer Stellung, die ihren Mann nährt, und mehr als das, die ihn auch ehrt und hochhält und heraushebt aus der übrigen Menschheit. Dreißigtausend Mark pro anno, die reichlichen Spesen und Tantiemen ungerechnet, nicht wahr, das ist doch ein Wort. Das Bankkonto wächst von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr, man wird nicht sein ganzes Leben arbeiten müssen, vielleicht aber wird man gelegentlich auch Direktor, Seine Senilität der Herr Generaldirektor werden ja nicht ewig leben, und der flinke A. Müller wird ja schließlich mit seinem Gelächle nicht die beiden Spitzenposten ausfüllen können.«

Leihkauf wurde im Laufe der Unterhaltung geradezu witzig, er merkte es mit Genugtuung und fuhr, mutiger geworden, fort:

»Nein, mein Lieber, verheiratet bin ich nicht, solchen Komplikationen des Lebens bin ich ausgewichen, wie sagt doch der Dichter: Der Starke ist am mächtigsten allein! Aber um nun zu dir zu kommen, du hast also aus unserer geliebten Mathematik eine Kunst und eine reichlich milchende Kuh gemacht, gratuliere, mein Lieber, du übst dein einträgliches Gewerbe im Umherziehen aus, ganz amüsant muß das sein, es wäre zwar nichts für mich, aber die Geschmäcker sind ja Gott sei Dank verschieden. Mit der hohen und hehren Mathematik unterhalte ich selbst nur noch ein sehr lockeres Verhältnis, um ganz ehrlich zu sein, ich bin ihr sogar untreu geworden. Zahlen sind Schall und Rauch ...«

Leihkauf fand, daß er seine Sache recht gut mache: so muß es gehen, so wird sich ein Ton finden, in dem man miteinander, gleich zu gleich, verkehren kann. Er ließ die Worte noch eine Weile so weiter plätschern, aber plötzlich sah er sich einem Abgrund gegenüber. Er schloß die Augen und sagte es sich hart und laut vor:

»Aber Al Rondo ist doch ein Genie! Fritz Kaßner war kein Genie – wenigstens habe ich nie etwas davon gemerkt. Wie ist das gekommen?«

Nun fiel ihn wieder die Hitze und Qual des Zweifels an. Mathematiker, der er immerhin war, erkannte er, daß seine Rechnung nicht stimmte, in der er Al Rondo mit Fritz Kaßner gleichsetzte. Das sind doch zwei ungleichnamige Größen, nach Grad und Wert total verschieden voneinander.

Leihkauf in all seiner Angst ging ganz exakt vor: Als Fritz Kaßner geboren wurde, wurde da auch schon Al Rondo mitgeboren? Er verneinte die Frage, er glaubte sie verneinen zu müssen, denn er hatte nie etwas davon gemerkt, daß in seinem Freund Fritz auch nur das geringste Anzeichen von etwas Ungewöhnlichem vorhanden war. Gewiß, er hatte immer ein erstaunliches Zahlengedächtnis schon in der Volksschule, und hatte als Kopfrechner keine Konkurrenz. Aber das waren doch Fähigkeiten ziemlich niedriger Art, und Leihkauf erinnerte sich, daß ihr alter Mathematikprofessor nicht viel davon hielt. Da muß also doch, nach ihrer Trennung, etwas vorgegangen sein, eine neue, eine zweite Geburt, die Geburt Al Rondos. So mir nichts, dir nichts, verändert doch auch niemand seinen Namen. Also ist dieser Al Rondo gar nicht mehr Fritz Kaßner, also wird er, Leihkauf, heute abend, wenn man's bei Licht betrachtet, einem völlig fremden Menschen gegenübertreten, einer total neuen Existenz.

Immer wieder blitzte ihm das Wort »Genie« durchs Gehirn. Er mußte darüber lachen, aber dieses Lachen klang trocken. Was ist ein Genie? Leihkauf, der Subdirektor, versank mit diesem Wort ins Nichts, er spürte keinen Boden mehr unter seinen Füßen. Er war ein Subdirektor und also kein Genie. Aber schon von dem Direktor A. Müller erinnerte er sich, daß dieser manchmal von Schmeichlern genialisch genannt wurde. Gibt es da vielleicht doch eine Rangstufenleiter, über die man sich zum sogenannten Genie entwickeln konnte?

Das glaubte aber Leihkauf sich selbst nicht. Er ging darum die Sache von einer anderen Seite an: ist man denn ein Genie, wenn man aus allen möglichen Zahlen die Quadrat- und Kubikwurzel im Kopf ziehen, oder wenn man sieben- bis fünfzehnstellige Zahlen in ein paar Sekunden miteinander multiplizieren kann? Aha, das nennt die oberflächliche Welt leicht ein Genie, aber genau so gut verdient vielleicht auch ein Trapezkünstler diese hochtrabende Bezeichnung.

Der Subdirektor – gerade fiel ihm auch wieder ein, wie Kaßner ihn genannt hatte: ein mittelgroßes Tier – sah in dem Genie etwas Unsolides. »Mittelgroßes Tier« – das ist ein Lob immerhin, die Anerkennung einer Leistung. Aber »Genie?« Das ist eine alberne Schmeichelei.

Nun dachte er auch an »Genie und Irrsinn«. Der Kaßner hatte allerdings so etwas an sich, so etwas Extraordinäres, Verstiegenes, ja sogar Verwildertes. Hat er nicht ihn, Leihkauf, oft ohne jeden Grund maßlos gereizt, gekränkt, erbittert und gequält? Leihkauf suchte vergeblich nach weiteren Worten für das, was Kaßner mit ihm angestellt hatte. Wen mag er nach ihrer Trennung als Opfer gefunden haben? Niemanden vielleicht, und das hat ihn möglicherweise aus der Ordnung gebracht, das hat ihn sich in die Zahlen verbeißen lassen, in die Höhe geschleudert oder, wie man will, auch in die Tiefe.

Leihkauf wurde allmählich ruhiger. Sein Blick ging auf die Wand hinter seinem Schreibtisch, dort hingen, unter Glas und Rahmen, seine zwei Doktordiplome. Das waren Realitäten, verbriefte und gesiegelte Urkunden eines korrekten, erfolgreichen Bildungsganges. So was hielt stand, so was kann einem noch ins Grab gelegt werden als Ehrung und als Beglaubigung eines tätig vollbrachten Lebens. Das war etwas anderes als die vage Schmeichelei »Genie«.

Er ging, nun mit ganz freiem Kopf, ins Schlafzimmer und begann sich aus den Kleidern zu schälen und in den Smoking zu werfen. Er besah sich während des Ankleidens immer wieder im Spiegel und fand, daß er in jeder Phase der Ent- und Bekleidung so aussah, wie man eben auszusehen hatte: in der Unterwäsche ein bißchen lächerlich, nackt etwas grotesk, in den Beinkleidern und dem weißen Hemd knabenhaft und im Smoking endlich wie ein Mann, nein: wie ein Herr!

Punkt acht Uhr trat der Herr Dr. phil. et jur. Leihkauf aus dem Haus, fand das herrliche Auto seines Generaldirektors vor, dankte dem devot grüßenden Chauffeur nachlässig und fuhr ins »Alkazar«. Er befahl langsam zu fahren, denn er saß gern in einem so luxuriösen Wagen, auch liebte er es, erst im letzten Moment oder sogar etwas zu spät zu kommen. Es schadete gar nichts, wenn die Leute wußten: dieser Mann hat seine Zeit nicht gestohlen und ist also auch nicht geneigt, sie zu verschwenden.

Sein Platz war der linke Eckplatz in der ersten Reihe. Leihkauf ging nur auf Eckplätze. Sie waren nicht teurer als die anderen und ließen einem mehr Freiheit und Distanz. Als er das Riesentheater betrat, ging gerade der Vorhang über einer so gut wie nackten Dame auf, die, einen bunt bemalten Schirm in der Hand, auf dem Drahtseil balancierte. Kein Interesse, sagte sich Leihkauf und blätterte das Programm auf, bis er die Nummer 6 gefunden hatte: ? ? Al Rondo ? ? Darunter stand: Der größte Rechenmeister aller Zeiten und Länder. Leihkauf blieb kühl bis ans Herz: die übliche Übertreibung im Varietéstil. Er sah auf die Drahtseilkünstlerin, zu der inzwischen noch ein Mann aufs Seil gekommen war. Was die beiden zusammen vollführten, war wirklich staunenswert. Leihkauf lächelte: »Zwei Genies der Balance.« Am Applaus beteiligte er sich nicht, er sah die Inserate im Programm durch, die Dame war ihm zu mager.

Dann kamen Vorführungen am hohen Trapez. Leihkauf liebte das nicht, er war nicht schwindelfrei und konnte nicht sehen, wie sich die Menschen in zehn Meter Höhe einer Todesgefahr aussetzten. Leise schlüpfte er von seinem Platz zur Tür und ging ans Büfett, das in der Wandelhalle aufgebaut war.

Er hatte Appetit, er aß zwei belegte Brötchen und trank ein kleines Pilsener und einen Kirsch dazu. Das hochblonde Fräulein, das ihn bediente, gefiel ihm. Er hätte sich gern mit ihr unterhalten, aber wie gewöhnlich fand er den Anfang nicht.

Schließlich fragte er sie: »Kennen Sie Herrn Rondo?«

Sie besann sich und fragte dann dagegen: »Ist das die spanische Weinhandlung am Kaiserplatz Nr. 15?«

Leihkauf lächelte: »Nein, das ist der Rechenkünstler in Ihrem Programm hier.«

Die Hochblonde blieb ernst: »Für Varieté interessiere ich mich nicht, nein, ich kenne ihn nicht, den Herrn Rondo.«

Leihkauf nahm noch einen Anlauf: »Von dem könnten Sie aber was lernen für Ihren Beruf. Sie müssen doch auch schnell rechnen können.« Er sagte dies etwas ironisch und freute sich, Al Rondo in die Nähe dieser Büfettdame gerückt zu haben.

Sie aber sah ihn groß an: »Sind Sie nicht der Herr Direktor Dr. Leihkauf? Sie sind wohl selbst aus Berufsinteresse hier?«

Leihkauf erschrak geradezu: »Woher kennen Sie mich denn?«

Die Blonde lachte: »Ich wohne im gleichen Haus wie Sie, im Hinterhaus allerdings. Sie sollen ja so eine pikfeine Junggesellenwohnung haben, sagen die Hausmeisters.«

Nun schlug dem Dr. Leihkauf das Herz bis zum Halse hinauf, als er fragte: »Wollen Sie mal zu mir kommen und sich die Wohnung ansehen, sie ist ganz hübsch.«

Das Fräulein lachte laut und sagte dann kurz: »Wann? Morgen habe ich Ausgang.«

Er gab ihr die Hand und wiederholte: »Morgen, gegen acht Uhr.« Dann zahlte er rasch und verschwand.

Als er wieder auf seinem Platz saß, war er in bester Stimmung. Endlich, endlich war ihm mal wieder eine nette Bekanntschaft zugefallen, das Mädchen war hübsch, sah recht solid aus für ihren Beruf und – vor allem war sie bequem und nicht kostspielig. Ganz sein Fall! Und das hatte er wem zu verdanken? Seinem Freund Kaßner – ausgezeichnet!

Von Wohlwollen warm wie ein gutgeheizter Kachelofen, sah er den Darbietungen des Schnellzeichners Bill Blumm entgegen. Dieser Mann war eine von den zwei Nummern, die auf den Plakaten noch fetter gedruckt waren als Al Rondo. Die andere – im zweiten Teil des Programms – war eine Tänzerin, von der das Programm sagte, sie sei schöner und schlanker und rassiger als die Göttin Diana.

Bill Blumm war nicht schön, ein vierschrötiger Mann aus Holland oder Skandinavien, kaum mittelgroß, weißblondes Haar, großer Mund, knollige Nase, am merkwürdigsten die Stirne: sie wölbte sich weit vor, aber die Wölbung war kantig. Dadurch sah der Kopf aus, wie zur Zeit des Kubismus gemalt. Blumm trug einen Samtkittel und einen riesigen, rosafarbenen Künstlerschlips – seine Erscheinung war ziemlich komisch.

Er stellte sich vor eine Staffelei, über der viele weiße Bogen gespannt waren, und begann mit schwarzen und farbigen Kreidestiften zuerst die politischen Größen der Zeitgeschichte zu karikieren. Die Köpfe waren sprechend ähnlich und zugleich unglaublich verzerrt. Alles gelang ihm mit ein paar Strichen, Klecksen und Punkten. Das Publikum jubelte, Leihkauf war ehrlich begeistert.

Das Komischste an Bill Blumms Darbietung aber war folgendes: Immer, wenn er eine neue Karikatur anfing, schlich sich sein Hund, ein stichelhaariger Terrier, aus der Kulisse auf die Bühne, sah seinen ersten Strichen interessiert zu und begann, je mehr diese ins Karikaturistische sich verzerrten, desto jämmerlicher zu heulen, um schließlich in scheinbar tiefstem Schmerz über diese Klecksereien hinter die Kulissen zu flüchten.

Das war Kunst, Geschwindigkeit und Dressur in einem. Leihkauf lachte sich krank über diese Virtuosenleistung. Hinter dem Lachen regte sich der Gedanke: Das ist kein Genie, aber ein Prachtkerl. Auch so eine Art von »mittelgroßem Tier« in seinem Beruf.

Nach den Politikern kamen berühmte Künstler, nach diesen komische Typen aus dem Alltag an die Reihe. Zwischendurch trat der Zeichner an die Rampe und unterhielt sich in gebrochenem Deutsch mit dem Parkett. Auch an Leihkauf wandte er sich einige Male und versuchte, in eine Unterhaltung mit ihm zu kommen. Aber da fand er wenig Anklang, Leihkauf hatte nicht Geistesgegenwart genug, um zu antworten.

Als Bill Blumm trotz aller Fruchtlosigkeit seine Versuche nicht einstellte, Leihkauf zum Sprechen zu bringen, stieg in diesem nicht nur ein Gefühl des Unbehagens, sondern auch des Mißtrauens auf: sollte Al Rondo ihn erspäht und den Kollegen Blumm auf ihn gehetzt haben? Das hätte dem Fritz Kaßner, so wie er früher war, ähnlich gesehen, nach soviel Jahren ohne Umschweife die alten Quälereien sogleich wieder fortzusetzen!

Leihkauf verlor seine mühselig errungene Ruhe. Er wurde nervös und dachte schon daran, von seinem Eckplatz durch die nahe Tür zu flüchten. Aber auch dazu fehlte ihm der rechte Mut, da er die Aufmerksamkeit des Parketts nicht noch stärker auf sich zu lenken wagte, als es schon der zudringliche Mann auf der Bühne tat. So blieb er denn sitzen.

Bill Blumm aber ging grinsend von ihm weg an seine Staffelei und begann wieder zu zeichnen. Der Terrier kam und begann ebenfalls sein Spiel. Leihkauf sah immer noch neugierig auf die Bühne, da – es warf ihn fast vom Sitz – merkte er, daß Blumm eine unerhört groteske, lächerliche Karikatur von ihm auf das Blatt kleckste. Und diesmal riß der Hund nicht aus, sondern stellte sich vor die Zeichnung und bellte wütend, wie wenn er einen Einbrecher zu stellen hätte.

Das Publikum merkte nicht, wen die Karikatur darstellte. Dann aber fragte Blumm, während Leihkauf einer Ohnmacht nahekam, seinen Hund: »Kennst du diesen Herrn hier?« Darauf raste der Hund an die Rampe und suchte von rechts nach links im Publikum, bis er schließlich vor Leihkauf stehen blieb und wiederum wütend zu bellen anfing. Bill Blumm machte eine Verbeugung vor Leihkauf. Das Publikum erhob sich von den Sitzen, um das Gesicht des Mannes zu sehen, und klatschte dann der Ähnlichkeit der Karikatur begeistert und unter schallendem Gelächter Beifall. Der Hund aber fuhr fort, den armen Leihkauf wie einen ertappten Verbrecher zu verbellen.

Bill Blumm war mit seiner Nummer fertig, der Vorhang schloß und öffnete sich immer wieder, Bill Blumm wurde enthusiastisch gefeiert, Leihkauf aber war am Ende seiner Kräfte.

Er kam erst wieder zu sich selbst, als er schon, während drinnen der Beifall immer noch nicht aufhören wollte, an der Garderobe stand und Mantel und Hut in Empfang nahm. Zitternd ging er durch die Wandelhalle – kein Blick zu der Hochblonden, die ihn bemerkt hatte und sich durch ein auffälliges Hüsteln und meckerndes Lachen in Erinnerung bringen wollte – und zitternd stand er vor dem Portal in der frischen Abendluft.

Was hätte er drum gegeben, wenn er jetzt hätte weinen dürfen wie ein Kind – aus voller Kehle und aus vollem Herzen! Aber das konnte er sich doch nicht leisten, er, das mittelgroße Tier, der Korrekte, der Subdirektor. Gab es etwas Wehrloseres auf der Welt als ihn, etwas Rechtloseres, und einen Menschen, der unbarmherziger preisgegeben war als er? Leihkauf ballte ohnmächtig die Fäuste und biß die Zähne zusammen.

Er durfte, sagte er sich, in seinem Büro sitzen, Post öffnen und erledigen, mit kleinen und mittleren Geschäftsleuten verhandeln, für die Gesellschaft »Credo« Geld verdienen und selbst einen Teil davon einstreichen. Das war sein Leben, das war seine Welt. Einen kleinen Schritt brauchte er nur abseits zu machen, so lief er Gefahr, gekränkt und verlacht zu werden.

Während er auf dem Trottoir ganz hart an den Häusern hinstrich, hatte er das Gefühl, als ob seine Beine noch kürzer würden, als sie ohnehin schon waren, und als ob gleich unter seiner weißen Hemdbrust der schmutzige Erdboden aus Asphalt liege. So war er oft als Schüler von Fritz Kaßner weggegangen oder von einem Lehrer, jedesmal nach einer Demütigung. Und er fragte sich aus tiefster Verzweiflung: »Was fehlt mir eigentlich, warum bin ich nichts?«

Bettler standen an seinem Weg, er sah sie nicht und gab ihnen nichts, er fühlte sich selbst so unsäglich arm, daß er seinen feinen, schwarzen Hut mit dem mattseidenen Band, das so hoffnungsfroh ein bißchen ins Blaue schimmerte, hätte vom Kopf und in die Hand nehmen und alle Menschen um eine milde Gabe hätte angehen mögen: um die mildeste Gabe eines Fünkchens von Mitgefühl und Schonung.

Leihkauf, der sachliche Subdirektor des angesehenen Kreditversicherungsinstitutes »Credo«, wurde geradezu pathetisch in seinem herzbrechenden Mitleid mit sich selbst. Niemand hatte sich je die Mühe genommen, seine Menschlichkeit zu ergründen, ihn von Grund auf kennenzulernen, weil natürlich alle meinten, es sei auf dem Grund seines Wesens ja doch nichts zu finden. Ein Bettler hat das, wenn auch nur vorübergehende Interesse der besser gestellten Menschen, aber ein Subdirektor, ein mittelgroßes Tier wie er, war allen gleichgültig und höchstens gelegentlich ein willkommener Anlaß, sich zu mokieren.

Leihkauf knirschte über Fritz Kaßner. Der war an allem schuld. Er hatte ihn erstens ins Varieté gelockt – was hatte ein seriöser Mensch im Varieté verloren? – und zweitens hatte er – oder vielleicht nicht? – diesen Bill Blumm auf ihn gehetzt. Diese Mißgeburt Bill Blumm, der ihn wiederum als karikaturistische Mißgeburt dem Gelächter einer widerlichen Masse zum Fraß vorgeworfen hatte.

Natürlich würde er sich, das war sein fester Vorsatz, bei der Direktion des »Alkazar« beschweren. Ungestraft sollte man nicht versucht haben, auf seine Kosten das Publikum zu amüsieren. Und Fritz Kaßner? Schluß mit diesem Mann! Dieser Mann hatte ihm einen Tag gründlich verdorben, einen vollen Tag im Schlafen und im Wachen, das war genug: er wollte ihn nicht sehen und sprechen. Er strich ihn aus. So wie er gewohnt war, den Großtischler Soundso von der Kreditliste zu streichen. Ein Federstrich – und die Sache war erledigt.

Leider, leider war aber die Sache Al Rondo nicht so leicht zu erledigen. Und eigentlich auch nicht die Sache Bill Blumm! Sollte er selbst seine Blamage an die große Glocke hängen, sollte er sie bis ins Direktorium dringen lassen? Oder sollte er morgen ins Büro kommen und dem alten Generaldirektor sagen, er habe Al Rondo nicht gesprochen? Er stünde dann als Renommist da, und er sah schon jetzt das viel- und nichtssagende Lächeln des Alten, der dahinter seine Meinung verbarg, daß für das menschenscheue Genie Al Rondo der trockene Subdirektor Leihkauf erst recht kein Umgang sei.

Nein, das durfte nicht sein, das durfte nicht sein! Leihkauf zog das Taschentuch und tupfte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Sogar sein Monokel, so tief eingebettet im Fleisch es war, saß auf der feuchten Haut nicht mehr fest. »Lieber, guter Gott im Himmel, gib mir Ruhe, gib mir eine leichte Hand und einen leichten Fuß, leichten Griff und Schritt, damit ich dieses Hindernis Al Rondo überwinde.« Ja, Leihkauf betete.

Es war so schwül auf der Straße, es roch so unangenehm nach Benzin und Menschen. Und das nennt man lobpreisend den Frühling? Diese erweichende Luft, die alles Unangenehme, das der Winter unterdrückt und verheimlicht hatte, wieder ins Leben rief und dem Menschen vor die Nase trieb? Diese laue Wärme, die den stärksten und gesündesten Mann zum Zittern brachte? Nun müßte man zu Hause sitzen mit einer Frau, der man alles sagen, und mit der man sich bis zur Selbstvernichtung vereinigen könnte.

Leihkauf stand an dem großen Platz, der das wichtigste Verkehrszentrum der großen Stadt war. Auf dem Weg zu seiner Wohnung mußte er den Platz überqueren. Er setzte seinen Fuß vom Trottoir herunter, um die andere Seite zu gewinnen. Ein Schritt und noch einer – aber da taumelte er schon zurück und stand wieder auf dem Trottoir.

Nun kamen ihm wirklich die Tränen, denn er fühlte und wußte, daß er über den Platz nicht hinüberkommen würde, nicht durch das grelle Licht, nicht durch das Gewimmel der Menschen und Wagen, nicht an den Schutzleuten und Gaffern vorbei. Eine erschlagende Angst stand in ihm auf. Der Platz war wie ein Meer, das ihn ersäufen wollte. Es gab kein Hinüber für ihn, es gab nur ein Zurück!

Ein Zurück zu Al Rondo, der ihn doch erwartete, mit dem er reden mußte, um morgen über ihn reden zu können. Und er wandte dem Platz den Rücken wie einem schwindelerregenden Abgrund, es war das gleiche Gefühl wie vor den Akrobaten an dem viel zu hohen Trapez, und eilte zurück zum »Alkazar«. Er mußte ihn treffen, er durfte ihn nicht verfehlen. Aug' in Aug' mit ihm wollte er sich messen, wollte er kämpfen und sich bewähren.

Leihkauf wunderte sich selbst, wie rasch er vorwärts kam – er, der kleine, kurzbeinige Subdirektor. Freilich wußte er nicht genau, ob es nicht mehr ein Taumeln als ein Gehen war, was ihn so rasch vorwärts brachte. Er schoß nur so dahin. Wieder standen die Bettler am Weg, diesmal sah er sie an, diesmal sah er förmlich in sie hinein und schenkte jedem rasch etwas von dem Geld, das er in der Tasche fand, ob es nun ein Groschen oder eine Mark war. Nur nicht hinuntersinken, nur oben bleiben, immer auf der Höhe, man war doch wer, man konnte es sich sogar leisten, von einem Schnellzeichner karikiert und von seinem Hund angebellt und von diesen öden Varietébesuchern ausgelacht zu werden – man blieb, man mußte bleiben, der man war: ein Mann in einer guten Position, ein mittelgroßes Tier, das, wenn's darauf ankommt, auch gegen ein Genie antritt.

Nun sah er schon die Lichtreklame des »Alkazar«, Leute standen davor und rauchten, es war also bereits große Pause, Al Rondo hatte demnach seine Akrobatik am hohen mathematischen Trapez schon hinter sich, er durfte ihn nicht verfehlen, um keinen Preis! Nun sah er den feinen Wagen, der heute ihm gehörte, Leute standen bewundernd davor, abseits aber sah Leihkauf einen Mann stehen im Halbdunkel, der durch seine Größe auffiel, er rauchte eine riesengroße Zigarre, die man aus der Ferne sehen konnte, das war, Leihkauf wußte es sofort, Al Rondo. Er schoß heiß, wie in Flammen, auf ihn zu. Und das erste, was er schon aus der Entfernung fühlte, war: Ich reiche ihm nicht einmal bis an die Schultern.

Und als er vor dem großen Mann stand, hörte er die unwilligen Worte: »Sie wünschen?«

Leihkauf stellte sich, immer noch atemlos und ohne Blick, vor: »Leihkauf!«

Der andere: »Graf Gülden – Sie haben sich wohl versehen!«

Leihkauf war dieser Situation nicht gewachsen. Er konnte nur noch stammeln: »Oh – tausendmal – Vergebung – Opfer eines bedauerlichen Irrtums.«

Er hatte den Hut in der Hand und die Hand geradezu an der Hosennaht, er buckelte und buckelte und zog sich zurück. Der andere entließ ihn lächelnd, er hielt den kleinen Mann für betrunken.

Leihkauf machte endlich, wie erlöst, eine scharfe Kehrtwendung und schoß auf den Hofeingang des »Alkazar« zu, der neben dessen Lichtfront im Dunkel lag.

Im Hof standen einige Gruppen von rauchenden, plaudernden und lachenden Menschen; Musiker, Bühnenarbeiter mit ihren Angehörigen, die sich die Zeit der Pause vertrieben. Leihkauf ging an ihnen vorbei, quer über den Hof bis zur Türe, an der das Wort »Portier« stand. Er trat ein und fand sich vor einem verschlossenen Schiebefenster, einer Art von Schalter. Drinnen saß bei ziemlich trübem Licht ein weibliches Wesen in schwerem Pelz, eine dunkle Baskenmütze auf dem Kopf. Dieser Kopf war gesund und massiv gebaut: breite Stirn, kräftige und gerade Nase, großer Mund, energisches Kinn. Die ganze Figur war von einer männlichen Solidität, aber nicht unfraulich. Leihkauf konstatierte mit Befriedigung, daß durch den offenen Mantel gesunde weibliche Formen in die Erscheinung traten.

Er zog sich ins Dunkel des Flurs zurück, behielt aber die Frau im Auge, da ihm ihr Anblick beruhigend wohltat, bis endlich aus einer Tür im Hintergrund der Portiersloge ein Mann eintrat. Dann riß er sich von dem Bild los, trat an den Schalter, stellte sich vor: »Mein Name ist Dr. Leihkauf, ich warte ...«

Er brauchte nicht weiterzusprechen, denn die Frau erhob sich und reichte ihm die Hand, eine frische weiche Hand und sagte: »Freut mich sehr, Herr Doktor. Sie wollen Herrn Al Rondo abholen, Sie müssen sich aber vorerst mit mir begnügen.«

Und schon verschwand sie durch die Tür im Hintergrund und kam aus dem Flur hervor. Leihkauf gab ihr nochmals die Hand: »Außerordentlich angenehm, Gnädigste. Sind Sie die Frau meines Freundes Fritz Kaßner?« Die Antwort: »Ich heiße Katharina Dengelmann. Al Rondo bittet Sie, ein kleines Stündchen mit mir vorliebzunehmen, er hat eine wichtige Besprechung, es hat ihn nämlich ein unvorhergesehener Agent überfallen. Ist es Ihnen unangenehm?«

Und schon war alle Befangenheit, Angst und Fiebrigkeit von Leihkauf gewichen. Er bewegte sogar unbewußt die Schultern, wie wenn sie gerade von einer schweren körperlichen Last befreit worden wären. »Aber im Gegenteil, Verehrteste, ich werde mich freuen, wenn ich recht lange mit Ihnen zusammen warten darf.«

Ein halber Blick aus ihren Augen traf ihn und ein dankbar quittierendes Lächeln. Leihkauf aber bewunderte sich selbst, daß er diesen chevaleresken Satz so leicht und ungezwungen losgeworden war. Elastischer, als es seiner Art zukam, wandte er sich dem Portier zu: »Wir müssen doch hinterlassen, wohin wir gehen.« Eine weiche Hand legte sich auf seinen Arm (er fühlte: eine gute, liebe Hand): »Nein, Herr Doktor, Al Rondo geht immer in dieselbe kleine Kneipe, in ein anderes Lokal geht er nicht, das ist nicht zu machen.«

Leihkauf war betrübt: »Aber – aber ich habe doch ein kleines Essen vorbereiten lassen, in einem ausgezeichneten Lokal, das Essen und der Wein dort sind berühmt.«

Die Frau lachte: »Schade, Herr Doktor, Al Rondo ist dafür nicht zu haben, nicht für noch soviel gute Worte. Er hat in jeder Stadt eine kleine Kneipe, die er sich am ersten Tage im Theaterbüro empfehlen läßt, und bei der bleibt er, wenn ihm nicht gerade am ersten Tag Gift verabreicht wird. So ist er und so muß man ihn lassen.«

Leihkauf wurde verlegen. Das war eine Besonderheit des »Genies«, auf die er am wenigsten gefaßt war. Er gab dem Portier ein Geldstück und ersuchte ihn, in seinem Namen die Bestellung des Essens in dem feinen Lokal zu widerrufen. Er blieb auch in dieser Kleinigkeit korrekt.

Nun gingen die beiden über den Hof. »Hier steht mein Auto«, sagte Leihkauf auf der Straße. Ihr respektvoller Blick auf den Wagen entging ihm nicht. Sie sagte dem Chauffeur Straße und Hausnummer und stieg ein, wobei Leihkauf es wagte, ihr durch einen Druck auf ihren Arm behilflich zu sein.

In dem dunklen Wagen spannte sich wieder etwas um seine Brust. Er fühlte eine gute, angenehme Wärme neben sich, aber auch etwas total Fremdes. Er hatte das dringende Bedürfnis, ein paar besonders nette Worte zu sagen, fand aber keines. Den Gedanken, über den Frühling zu sprechen und das Wetter, verwarf er, er hätte so gern etwas Menschliches, etwas Besonderes gesagt. Aber woher nehmen? Er atmete tief und hüstelte.

Nun begann die Frau: »Haben Sie Al Rondo heute zum ersten Male auf der Bühne gesehen?« Eine furchtbare Frage! Aus dem Hüsteln heraus stolperte Leihkauf in die Antwort hinein: »Leider habe ich ihn auch heute nicht gesehen. Ich hatte eine hochwichtige Konferenz, die sich so lange hinzog, daß ich das Theater versäumte. Ich will es morgen nachholen.« Während er das sagte, litt er in Sekunden nochmals die Blamage, Demütigung und Aufreizung des Abends durch.

Um abzulenken, fragte er: »Sind Sie die Sekretärin meines Freundes?« Noch ehe sie antwortete, fand er es immerhin beruhigend, daß er Kaßner seinen Freund nennen durfte.

Frau Dengelmann antwortete: »Nein, das bin ich nicht. Wir sind bloß gute Freunde von ihm, mein Mann und ich. Mein Mann ist nämlich Bill Blumm, der Schnellzeichner. Wir arbeiten oft mit Al Rondo zusammen im gleichen Programm. Wir haben ihn sehr gern. Mein Mann hat auch mit dem Agenten zu sprechen.«

Nun war auf Leihkaufs Schädel eine Axt gesaust, nun war er betäubt, nun war er für diesen Abend vernichtet. Er überlegte die Möglichkeiten einer Flucht. Wie sollte er mit diesem Bill Blumm zusammentreffen? Das mußte doch ein Unglück geben, eine furchtbare Abrechnung – das war er doch seiner Selbstachtung schuldig. Unmöglich, mit dem Mann an einem Tisch zu sitzen.

Mitten in diese dunklen Erwägungen hinein lachte die Frau plötzlich laut auf, Leihkauf fuhr zusammen und sah, ein Geschlagener, in ihr frisches Gesicht – er hätte sich ihr an den Hals hängen mögen –, aber da hielt der Wagen, er konnte nur fragen: »Warum lachen Sie?«

Dann stiegen sie aus und betraten eine kleine Weinwirtschaft, ein bescheidenes Gasthaus, nur aus einer geräumigen Stube bestehend, in der wenige Gäste saßen. Die Tische trugen keine Tücher, ihr gehobeltes, fast schwarzes Holz und die Holzverschalung der Wände gaben dem großen Zimmer eine einfache Würde. Gleich beim Eingang war eine Nische mit einem großen Tisch, der war weiß gedeckt und, wie die ungelenke Schrift auf einem weißen Karton zeigte, reserviert. Für Al Rondo. Dorthin setzten sich Frau Dengelmann und Leihkauf.

Frau Schmidt, die kräftig gebaute, aber schon weißhaarige Wirtin, der auf der Oberlippe ein noch tiefschwarzes Schnurrbärtchen sproßte, kam heran, verbeugte sich ungelenk wie ein Bauer, nahm Frau Dengelmanns Hand, die ihr entgegengestreckt wurde, und schüttelte sie kräftig, sah dann mit Wohlgefallen auf den feinen Herrn Leihkauf und fragte gemütlich: »Ist der Herr auch vom Varieté?«

Leihkauf lächelte süß-sauer, Frau Dengelmann lachte wieder: »Nein, Frau Schmidt, der Herr ist ein anständiger Mensch, die feinste Kundschaft, die je Ihr Haus betreten hat, der ist ein Generaldirektor.«

Frau Schmidt verbeugte sich wieder und schüttelte nun auch Leihkaufs Hand: »Ehrt mich sehr, Herr Generaldirektor, hoffentlich schmeckt's und gefällt's Ihnen bei mir.« Und dann begann sie, Leihkauf ihre Weine zu empfehlen, weniger indem sie sie rühmte, als indem sie ihm die einzelnen Sorten erklärte. Des ferneren nannte sie ihm die kleinen und großen Spezialitäten ihrer Küche – lauter kräftiges oder den Durst förderndes Gebratenes, Gedämpftes oder Gebackenes.

Frau Dengelmann griff ein und empfahl dem Neuling, was er essen und trinken solle. Er folgte ihrem Rat. Die gute Alte brachte zwei Gläser Wein. Leihkauf erhob das seine sehr feierlich zum Wohl der Dame, die ihm herzlichst Bescheid tat. Leihkauf trank sein Glas fast ganz aus. Frau Dengelmann lachte wieder. Und wieder fragte er nach dem Grund.

Da erzählte sie ihm, immer wieder lachend, die Geschichte von dem Besucher, der heute abend empört das Theater verlassen habe, weil ihr Mann, Bill Blumm, eine harmlose Karikatur von ihm und den kleinen Dressurscherz mit dem Hund gemacht habe. »Und denken Sie«, fuhr sie fort, »mein Mann pflegt während seines ganzen Auftrittes immer schon ängstlich nach einem Menschen auszuschauen, der leicht zu karikieren ist, und ist glücklich, wenn er einen gefunden hat. Am liebsten möchte er den Menschen, wenn er ihn endlich ins Aug' gefaßt hat, umarmen und abküssen, so glücklich ist er darüber, und oft genug ist schon der Karikierte hinter die Bühne gekommen und hat um das Blatt gebeten, das hat dann meinen guten Bill besonders gefreut. Aber der hiesige Direktor hat gleich Bedenken gehabt, er hat gesagt, hier hätten die Leute nicht Humor genug, aber so leicht verzichtet doch ein Mann vom Varieté nicht auf eine Sache, die sonst immer wirkt, und nun hat ihm heute der Direktor einen furchtbaren Krach gemacht.« Sie nahm bekümmert einen Schluck Wein und sah an Leihkauf vorbei. Dann fuhr sie fort: »Wenn wir nur den Namen des Herrn wüßten, wir würden uns so gern bei ihm entschuldigen.«

Die Arme hatte sich aus der Heiterkeit in eine echte Besorgnis hineingeredet.

Leihkauf wagte nicht, die Augen zu erheben, als er leise sagte: »Dazu kann ich Ihnen leicht verhelfen, gnädige Frau. Ich selbst war nämlich der Mann, der ...« Frau Dengelmann machte eine heftige Bewegung und warf ihr Glas um. Der Wein ergoß sich auf das schwarze Tuch ihres Kleides, das Glas rollte vom Tisch und zerbrach, Leihkauf sprang auf und zog sein Taschentuch, um zu trocknen, die Wirtin sprang mit einer Serviette herbei: »Scherben bedeuten Glück, meine Herrschaften, Wein haben wir auch noch genug, es ist fast gar nichts passiert.« Als sie wieder ging, saßen die beiden blaß da und wagten sich nicht anzuschauen. Leihkauf hatte die Ellbogen aufgestützt und bedeckte seine Augen mit beiden Händen.

Plötzlich fühlte er eine Hand an seinen Händen, eine warme und weiche Hand – nun sahen sich die beiden an und bemühten sich zu lächeln. Leihkauf aber wurde von einem Glücksgefühl hingenommen, als er in den Augen der Frau Tränen sah. Sie weinte um ihn? Sie weinte, daß er sich gekränkt fühlen mußte? Wieviel Kränkungen hatte er schon in seinem Leben hinunterschlucken müssen, ohne daß einer oder gar eine darüber mit der Wimper gezuckt, geschweige denn geweint hätte! Die Frau eines Varietékünstlers mußte kommen und ihm ein Herz, ein wirklich menschliches und frauliches Herz zeigen. Er faßte nun seinerseits ihre Hand und drückte sie sehr fest.

Wie von ganz fern hörte er ihre leise Stimme: »Aber das ist ja ein Unglück, Herr Leihkauf, das ist ja furchtbar, gewiß hat mein Mann etwas besonders Ungeschicktes gemacht. Können Sie uns denn verzeihen? Al Rondo darf aber unter keinen Umständen etwas davon erfahren. Das wäre nicht gut.«

Leihkauf bekam gerade das zweite Glas Wein und trank wieder davon, wie wenn es Wasser wäre. Er war nicht gewohnt zu trinken, aber jetzt hatte er unbegrenzte Lust dazu. Ein ganz dünner Nebel zitterte bereits vor seinen Augen. Er ließ die Hand nicht los: »Nun ist alles wieder gut, gnädige Frau, alles ist gut. Ich bin ein Hornochse. Sehen Sie, ich kam nach einem Tag voller Arbeit und Ärger – haben Sie denn eine Ahnung, wie es heute im Wirtschaftsleben zugeht? – ins Theater, auch ein bißchen aufgeregt, meinen alten Jugendfreund in einem mir so ungewohnten Milieu zu sehen, dann kam Ihr Mann, ein ungewöhnlicher Künstler, kein Zweifel, und alles gefiel mir so ausnehmend gut – und dann plötzlich packte er mich selbst, ach, wie komisch war das alles, aber ich war zu nervös und machte mich davon. Nun aber kein Wort mehr von der Sache, liebe, liebe gnädige Frau, verzeihen Sie meine plumpe Vertraulichkeit, aber ich meine, wir müßten uns schon jahrelang kennen, kein Wort mehr davon, bloß das eine noch, daß ich morgen der Direktion des ›Alkazar‹ mitteilen werde, ich sei gar nicht gekränkt gewesen, sondern ich hätte bloß Migräne gehabt.«

Und nun lachte Leihkauf schallend: »Migräne, wie in der Schule, wenn man sein Pensum nicht konnte. Ich hab' halt meines heute auch nicht gekonnt.« Erst jetzt ließ er die Hand der Frau los, nahm sein Glas und stieß mit ihr an: »Auf das ganz Spezielle Ihres Herrn Gemahls!«

Frau Dengelmann war noch nicht ganz beruhigt: »Wenn aber mein Mann kommt und Sie sieht?« Leihkauf war nicht mehr aus der guten Laune zu bringen: »Dann werde ich aufstehen und ihn umarmen und ihm sagen, wie leid es mir tue, daß ich ihn heute abend erschreckt hätte, aber ich hätte halt mal rasch hinausgemußt. Wie ein Schuljunge, nicht wahr?« Und wieder Lachen! Leihkauf war im Schwung: »Wenn Sie (er betonte das Wort: Sie) es wünschen, werde ich ihm sogar links und rechts auf die Wange einen Kuß geben.«

Das Essen kam, es war ausgezeichnet. Leihkauf hatte einen riesigen Appetit. Das Essen trieb die Wirkungen des Weines wieder zurück, aber nicht die gute und leichte Stimmung Leihkaufs. Er war restlos glücklich, denn wann hätte er je in dieser Stimmung einer so schönen und ihm so wohlgesinnten Frau gegenübergesessen?

Katharina Dengelmann war nun auch wieder ganz beruhigt und glücklich, dem Herrn Leihkauf auf seine Fragen die nettesten und erschöpfendsten Antworten geben zu können. Sie erzählte ihm auf seine Bitte, die er wie ein bescheidener Schuljunge vorbrachte, ihr Leben:

»Mein Mann und ich sind Varietékinder. Seine Eltern waren Akrobaten, meine Eltern Tierdresseure. Wir hatten unter anderem den einzigen Seehund der Welt, der mehrere Melodien singen konnte. Mein Mädchenname ist Pfundmeier. Mein Mann ist Holländer durch seine Mutter und Deutscher durch seinen Vater. Seine Mutter war eine geborene van Syden, die Tochter jenes berühmten van Syden, der als der stärkste Mann seiner Zeit galt. Bill sollte auch Akrobat werden, aber er hatte kein Talent dazu. Er hat darum in seiner Jugend mehr Prügel bekommen als Brot zu essen. Er wurde natürlich trotzdem nicht stark, sondern nur breit und schwer. Seine Leidenschaft war Zeichnen, er zeichnete, wo er ging und stand. Und so oft ihn sein Vater, ein braver, aber strenger Mann, dabei ertappte, gab es Prügel. Er und ich – wir kennen uns schon von Jugend auf. In Sydney haben wir uns verlobt. Da war meine Mutter schon tot und mein Vater krank. Ich habe damals unsere Tiere gepflegt. Ich verstand mich so gut mit Tieren, daß mich Hagenbeck als Tierpflegerin haben wollte. Aber ich heiratete schon mit siebzehn Jahren meinen Mann. Als wir die Ringe wechselten, wie gesagt, in Sydney, da war ich erst fünfzehn. Wir haben uns sehr lieb, aber leider keine Kinder. Wenn wir Geld genug haben, wollen wir uns in der ganzen Welt umschauen, wo es den fischreichsten Fluß oder See gibt, da wollen wir uns ankaufen. Mein Mann hat nämlich nur eine Leidenschaft: das Angeln. Zeichnen will er dann nie mehr, denn er haßt es, er sagt, dieses verfluchte Schnellzeichnen habe ihm alle Kunst aus dem Handgelenk gesogen. Aber später will er dann das Malen anfangen. Und ich – ich will, wenn mein Mann den armen Fischen nachstellt, in meinem Haus so viele Tiere haben, wie es unsere Mittel erlauben. Und dem Herrn Al Rondo habe ich versprochen, daß ich ein ganz junges Reh adoptiere wie ein Kind und es auf seine Kosten großziehe, und wenn er uns besucht, will er im gleichen Raum schlafen wie das Reh. Aber das ist nur eine von seinen bekannten Marotten. Er behauptet, seine Mutter müsse sich vor seiner Geburt an einem Reh verschaut haben.«

Leihkauf hatte die Erzählung wie ein Märchen angehört. Das Glas Wein stand unberührt vor ihm. Er sah in eine fremde Welt, die ihm unbeschreiblich schön und rührend erschien. Er bekam geradezu einen schlechten Geschmack auf die Zunge, wenn er an seine Kreditversicherungsgesellschaft »Credo« dachte. Jetzt aber fesselte ihn am meisten Fritz Kaßners Reh. Er fragte, was denn Al Rondo mit dem Reh wolle.

Frau Dengelmann war erstaunt: »Wissen Sie denn gar nichts von ihm? Auch nicht das Allermerkwürdigste?« Leihkauf verneinte.

Die Frau wurde fast andächtig: »So einen Menschen wie Al Rondo gibt es doch überhaupt nicht zum zweiten Male. Nicht deshalb, weil große Professoren ihm attestiert haben, daß er der größte Rechenkünstler sei, der je gelebt hat. Darüber lacht er, er haßt oder verachtet alle Mathematiker. Er nennt sie alle Zahlenaffen und Formelpflasterer. Nun, das ist seine Sache, davon verstehen wir nichts. Aber das, was mich mit ihm verbindet, ist eben das Reh. Das ist nämlich sein heiliges Tier. Wenn er auf der Bühne oder auch sonst rechnet, muß er sich die braunen Augen eines Rehes vorstellen, in die er hineinschaut. Das gibt ihm seine große innere Ruhe. Er behauptet, er werfe die Riesenzahlen, die er multipliziere – oder was er sonst mit ihnen anstellt, in die tiefen Augen des Rehes hinein, und die Zahl, die er suche, komme aus ihnen hervor und trete in sein Gehirn. Oder wenn er Dante liest –«

Leihkauf unterbrach sie mit fast heiserer Stimme: »Was liest er?«

Katharina Dengelmann neigte den Kopf und lächelte: »Lieber Herr, halten Sie mich nicht für verliebt, wenn es auch nach meinem Mann keinen Menschen gibt, den ich lieber habe als Al Rondo. Aber er ist wirklich ein großer Mann. All meine Bildung oder wenigstens die Anregung dazu verdanke ich ihm. Er läuft nicht, wie die Leute meinen, den Zahlen nach, im Gegenteil: sie laufen ihm nach. Er ist hinter ganz anderen Dingen her, hinter den herrlichsten Dingen. Er kennt alle Dichter der Welt, auch alle Religionen. Bloß von Philosophie will er nichts wissen, Philosophie hält er für Schwindel, alles, was sie lehre, sei in den Zahlensystemen viel klarer und endgültig richtig enthalten. Aber Dante ist sein Lieblingsdichter, in dem liest er täglich.«

Leihkauf mußte tief atmen. Nun gab es keinen Fritz Kaßner mehr, Al Rondo hatte mit ihm nichts zu schaffen, Al Rondo war wirklich ein neugeborener Mensch, den er nicht im mindesten kannte. Vor diesem Menschen hatte er keine Angst mehr, sondern den allergrößten Respekt. Innerlich lächelte er über den »genialischen« A. Müller. Wie armselig kam ihm dieser junge Mann jetzt vor mit seinen scharmanten Drehs. Ob Herr A. Müller, ehemaliger Bankangestellter, von Dante überhaupt etwas weiß oder auch nur ahnt?

Nun war Leihkauf begierig, etwas über Al Rondos Werdegang zu hören. Aber Frau Dengelmann wußte davon nichts, beteuerte sie. Davon spreche Al Rondo nicht und wolle darüber auch nicht gefragt sein. Er habe, pflegte er zu sagen, keine Vergangenheit und kein Vorleben, der Kalender sei eine armselige menschliche Erfindung, es habe kein Gestern und kein Morgen zu geben, es gebe bloß das einzige Heute, das sei immer gewesen und werde immer sein. Erinnerung sei Bluff und Vorausahnung sei Kinderei. Er selbst, pflegte er weiter zu sagen, sei heute geboren und sterbe heute, gestern sei er nicht gewesen und morgen werde er nicht mehr sein.

Frau Dengelmann wurde zum Telefon gerufen. Sie blieb merkwürdig lange aus. Leihkauf wagte nicht mehr zu trinken, er wollte in klarem und nüchternem Zustand den großen Al Rondo erwarten. Es war ihm, als ob er an einer Wende seines Lebens stehe. Er mußte an das Reh denken. Wie komisch, er erinnerte sich nicht, je ein lebendes Reh gesehen zu haben. Tiere interessierten ihn überhaupt nicht. Und nun drängte sich seinen Gedankengängen Al Rondos Reh auf, er sah es, so wie er es aus Brehms Tierleben in Erinnerung hatte. Und er fand, daß es ein herrliches Tier sei, wirklich das ruhigste und rührendste Wesen der Schöpfung. Und vor allem die Augen eines Rehes – – aber da sah er zwei andere, die Augen dieser schönen ruhevollen Frau. Sie hatte allerdings sonst nichts von einem Reh, sie war voll und saftig gewachsen, ein Prachtstück von einer Frau. Aber das Ruhige und das Gute von einem Tier hatte sie an sich. Das kam wohl von ihrem frühen Umgang mit Tieren und von ihrer Nähe zu ihnen.

Wo sie nur blieb, sie soll sich doch beeilen! Er hatte richtige Sehnsucht nach ihr, er wollte sie vor sich sitzen haben und sie sprechen hören. Wenn sie sprach, klang da nicht eine Glocke? Leihkauf war ganz aus sich herausgehoben. Er war nun all den Wirrnissen des Tages entkommen, so sehr, daß er sich selbst und seiner bisherigen Existenz entkommen war. Wie an einen Traum dachte er an sein Büro, an die Aktiengesellschaft, an den Aufsichtsrat, an Herrn A. Müller und an den alten Generaldirektor, dessen protziges Auto vor der Tür stand. Hier aber, wo er jetzt saß, war alles wirklich: diese liebe Weinstube, diese paar stillen Trinker, die, so schien es, in ihr Glas und in sich selbst hineinschauten, diese brave weißhaarige Wirtin, die nun hinter dem Büfett, die Arme auf der hohen Brust verschränkt, ein Schläfchen machte. Sogar der Kellner, der Frau Dengelmann ans Telefon gerufen hatte, im übrigen aber am Tisch nicht bediente, weil so ausgezeichnete Gäste die Wirtin selbst zu bedienen pflegte – sogar dieser Kellner, der eine goldene Brille trug und kein Haar mehr auf dem Kopfe hatte, sah wie ein guter Pfarrer aus. Die Welt war ja schön, man muß nur seine Augen aufmachen – dachte Leihkauf.

Aber plötzlich erschrak er bis auf den Tod, plötzlich wußte er, was los war: er war verliebt, er war in Frau Katharina Dengelmann, die Frau des Schnellzeichners Bill Blumm, verliebt. Zum erstenmal in seinem Leben lernte er die Sache kennen, die in Romanen und Gedichten Liebe heißt. Er griff sich mit den Händen an den Kopf: was war zu machen? Nichts, rein gar nichts, sie war ja die Frau eines anderen, sie liebte einen anderen. Da war nichts zu machen, aber trotzdem war es unbeschreiblich schön, zu wissen, daß man liebt.

Leihkauf war sehr glücklich. Die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe bekümmerte und bedrückte ihn nicht. Er hätte in dem Zimmer herumtanzen mögen vor Freude. Welch ein Unrecht von ihm, daß er die Hochblonde vom Büfett bestellt hatte! Morgen, wo er ja wieder im »Alkazar« sein wird, will er sie abbestellen. Er wird dieser Frau, solange sie in der gleichen Stadt ist, treu bleiben, der Frau Katharina. Er sprach den Namen mehrere Male hintereinander aus. Jeden Abend wird er mit ihr zusammen und schon dadurch namenlos glücklich sein. Sie soll seine Wohnung kennen lernen, sein ganzes Leben, er muß ihr schreiben dürfen, wenn sie wieder fort ist, er wird sie zu seiner Erbin einsetzen, er wird ihr Geschenke machen, ihr die Stadt zeigen, ein Auto zu ihrer Verfügung halten – herrlich, herrlich, eine Frau zu lieben. Er wird's ihr vielleicht sogar sagen, sie ist ja so gut und klug, daß sie ihn verstehen und sogar sich darüber freuen wird.

Sein Blick fiel zufällig auf ihr Glas, das halb voll auf dem Tische stand. Er sah rasch um sich, ob er unbeobachtet sei, nahm das Glas und trank auf der Seite, an der auch sie getrunken haben mußte, einen kleinen Schluck. Fast hätte er seinen Mund vom Glas nicht mehr weggebracht, so beseligt war er. Der Direktor Dr. Ernst Leihkauf, wieder jung geworden, seufzte vor Glück, was war dies für ein Tag! Und er war noch lange nicht zu Ende. Al Rondo hatte recht: es gab nur ein Heute.

Katharina Dengelmann kam endlich zurück. Aber das Blut war aus ihrem Gesicht gewichen, ihre Augen waren von Tränen verschleiert. Leihkauf schoß vom Stuhl auf: »Was ist geschehen, gnädige Frau?« Er ließ sich von ihr wieder auf seinen Stuhl niederdrücken, saß aber steif wie ein Soldat in erhöhtester Bereitschaft da, den Blick auf sie gerichtet: »Was kann ich für Sie tun?«

Sie trank einen Schluck Wein – er sah es, sein Herz klopfte dabei – und sagte dann: »Eigentlich ist gar nichts geschehen, lieber Freund. Nichts, was nicht jeden Tag geschehen kann. Aber ich bin so dumm und nehm' es immer wieder tragisch. Bill hat mir telefoniert, er komme nicht, er gehe mit dem Agenten angeln.«

»Angeln? In dieser Zeit und in dieser Stadt angeln? Was soll das heißen? Das gibt's doch nicht.«

»Nein, Herr Leihkauf, das gibt es nicht. Es ist ja auch was ganz anderes. Ich erzähle es nicht gern, aber Sie wissen nun schon so viel von uns, warum soll ich Ihnen nicht auch das erzählen? Mein Mann ist ein Quartalswüstling, ich kann es nicht anders ausdrücken, verzeihen Sie mir das Wort. Von Zeit zu Zeit zieht er in der Nacht los, durch die schmutzigsten Kneipen, zu den schmutzigsten Mädchen und zu den stärksten Schnäpsen. Das nennt er angeln gehen. Am nächsten Tag, oft erst kurz vor der Vorstellung, kommt er dann elend und weich zu mir zurück und flennt wie ein kleiner Junge. Er ist halt sehr degeneriert. Fünf Generationen Akrobaten, das zehrt an einem Menschen. Er ist ein großer Mannskerl, aber ohne Muskeln und mit zerstörten Nerven. Es kommt wohl auch von den Prügeln, die er in der Jugend erlitten hat.«

»Dann sind Sie ja eine Märtyrerin, liebe Frau Katharina.« Leihkauf zwang sich, nur den Vornamen zu sagen. Er sang ihn mehr, als er ihn sagte, und war mutig genug, seine Hände über den Tisch leise auf ihre Hände zu legen. Sie ließ dies zu und fuhr fort:

»Ach nein, Herr Leihkauf, ganz so schlimm ist es nicht, es kommt ja höchstens zwei- oder dreimal im Jahr vor. Und danach ist alles wieder gut. Heute war vielleicht die Aufregung über Ihre Flucht mit daran schuld, Herr Leihkauf.«

Leihkauf sackte zusammen. Wie schrecklich, daß er die Ursache des Unglücks sein mußte! Er stotterte Entschuldigungen über den Tisch, die Sprache versagte sich ihm.

Sie wehrte wiederum ab: »Ich hab' ihn ja am Telefon über alles aufgeklärt, er war sehr glücklich darüber, er erzählte es sofort, ich konnte es nicht verhindern, Herrn Al Rondo, der neben ihm stand. Aber er war nun schon einmal im Schuß, er ließ sich nicht mehr zurückhalten vom ›Angeln‹. Der Agent, mit dem er einen großen Abschluß gemacht hat – denken Sie nur: einen Fünfmonatskontrakt mit einer Gage von sechstausend Dollars –, hat ihn wohl auch verführt. Der begleitet ihn. Alle Leute, die schon mit dabei waren, wenn Bill zum ›Angeln‹ ging, sind begeistert, wie witzig, ausgelassen und originell er ist. Ich selbst hab's noch nicht erlebt, natürlich nicht, mich braucht er ja nicht zu angeln, mich hat er ja.«

Leihkauf schüttelte den Kopf: »Wenn man eine solche Frau hat wie Sie, Frau Katharina, wie kann da ein Mann Lust haben, mit minderwertigen Weibern zusammen zu sein?« Er dachte an die Hochblonde, die er morgen abbestellen wollte.

Katharina aber ließ kein Mitleid aufkommen: »Vielleicht braucht er von Zeit zu Zeit die andern, um mich dann wieder so zu lieben, wie von Anfang an. Er ist nach jeder Angelnacht wieder so lieb und gut zu mir wie ein Bräutigam. Es hat alles seine zwei Seiten. Ein einziges Mal habe ich ihm gedroht, auch meinerseits einmal ›angeln‹ zu gehen, wenn er gerade selbst ›angelt‹, da bekam er einen Tobsuchtsanfall und – und –« Sie verstummte. Leihkauf drängte: »– – und was, was denn, Frau Katharina?«

Sein Ton fiel ihr auf, sie sah ihn groß an: »Aber was haben Sie denn, Herr Leihkauf? Sie werden ja tragisch. Das liegt mir aber gar nicht. Nur um Himmels willen kein tragisches Theater, wo ich so glücklich mit meinem Mann bin. Ein bißchen Opfer und ein dunkles Pünktchen muß bei jedem Glück dabei sein, sonst ist es nicht von Bestand.«

Auch Leihkauf faßte sich nun wieder und sagte in formellem, höflichem Ton: »Sie sind eine Philosophin, gnädige Frau, dagegen ist unsereiner ja nur ein kleiner Bürger. Ich bewundere Ihre Lebensauffassung.«

Katharina wurde lebhaft und gesprächig: »Das habe ich Al Rondo zu verdanken. Er hat mich das gelehrt. Wir waren damals zufällig auch mit ihm engagiert. Es war in Zürich. Ich meine, als der Tobsuchtsanfall kam. Und als mich mein Mann – warum soll ich es verschweigen? – schlug! Wäre damals Al Rondo nicht gewesen, hätte ich wahrscheinlich eine Dummheit gemacht. Er sagte nur: schauen Sie in die Augen des Rehes, da steht es, das Reh da vor uns, nun schauen Sie in seine Augen, sehen Sie in ihnen den Tod oder so was Ähnliches? Nein – also ist davon keine Rede und keine Spur, ich werde dem dummen Bill den Kopf zurechtsetzen und es ist alles gut. So sagte er und so war es auch. Nein, nein, zum Tragischen sind wir nicht geboren.«

In diesem Augenblick fuhr draußen ein Auto an, man hörte eine laute Frauen- und eine mittlere Männerstimme. Ernst Leihkauf fühlte sein Herz schlagen, so erregt war er, er konnte nur noch rasch fragen: »Ist er denn verheiratet?« »Aber natürlich!« sagte die Dengelmann – und dann ging die Tür auf.

Herein trat eine mittelgroße, überaus dicke Frau mit einem schönen, dunklen Kopf. Ihr Haar glänzte, ihre großen schwarzen Augen leuchteten. Eine feine, leicht geschwungene Nase saß über zwei dicken, ebenfalls schön geschwungenen Lippen, von denen aus wiederum das Gesicht in ein weich modelliertes Kinn endigte. Die Stirne war gewölbt und vielleicht das Schönste an dem Gesicht. Der Haaransatz verlief in einem zarten Oval, das die Stirne noch schöner machte. Aber schon der Hals war ziemlich dick, und was dann kam, war alles unförmig, mit Ausnahme der Fesseln und der Handgelenke, die in der Form fast mädchenhaft zart waren.

Das war Frau Al Rondo, die sofort laut und lustig zu sprechen anfing. Zur Wirtin, zu Katharina Dengelmann und auch zu Leihkauf, dem sie ihre beiden fleischigen Hände auf die Schultern legte, so daß er nicht aufstehen konnte, das Gewicht war zu schwer. Sie schaute ihm in die Augen und sagte: »Sie sind also derjenige, welcher ..., Sie sind der Direktor und Doktor Ernst Leihkauf und die Jugendliebe meines Mannes.« Dann schlug sie ihm auf die Schulter, sie hatte viel Kraft in den Händen, und lachte dröhnend. Aber das Lachen klang nicht unangenehm, es hatte etwas zugleich Bäuerliches und Mütterliches.

Und nun erst trat Al Rondo ein. Leihkauf erhob sich, sie standen sich gegenüber – der Kleine und der Große. Ja, Al Rondo war wirklich groß und dabei unsäglich schmal und schlank. Er hatte so gut wie keine Vorderseite, es war einfach nichts da. Auch in seinem Gesicht war wenig da: ein langer, schmaler Vollbart hing unter einer scharfen Hakennase. Die Augen lagen in tiefen, knochigen Höhlen. Die Schläfen waren eingefallen, die Stirne, die dadurch besonders schmal aussah, verlief unter den dünnen spärlichen Haaren, die ungeordnet auf dem Kopf lagen.

Der sehr große Mann hatte sehr lange Arme und besonders lange Hände. Den Kopf und Oberkörper hielt er vornüber gebeugt, so daß er jetzt, wo er vor dem kleinen Leihkauf stand, auf dessen Schädeldecke herabzusehen schien. Sein Gesicht war wie eine Maske, ohne besondern Ausdruck. Leihkauf sah darin wenig Ähnlichkeit mit dem jungen Fritz Kaßner. Aber er sah überhaupt wenig, das Gesicht schien meilenweit von ihm entfernt zu sein.

Al Rondos Stimme war leise, er sagte nur: »Also, da bist du ja, Ernst, da sind wir ja wieder zusammen, das ist doch sehr schön, nicht wahr? Das hier ist meine Frau, Kind und Kegel haben wir nicht, aber du hast doch gewiß Weib und Kind?«

Leihkauf, alles verschluckend, was er an Herzlichem sagen wollte, verneinte die Frage. Al Rondo sagte: »Das gefällt mir nicht, Ernst, Du müßtest eine Frau haben und Kinder, ein Mann in deiner Stellung, ich bitte dich, man darf sich das Leben teils nicht so leicht machen und teils auch nicht so schwer, das ist es.«

Leihkauf lachte, half Al Rondo aus dem Überzieher und nahm neben ihm Platz. Und dann legte er los: »Also, lieber Fritz, ich freue mich ungemein, daß wir nun wieder einmal beisammen sitzen, nach so langer Zeit. Wir sind beide nicht mehr die Alten, du besonders nicht, denn du bist ja ein ganz großes Tier geworden (Leihkauf dachte dabei an das »mittelgroße Tier«), ich bin auch ziemlich gut gelandet, aber auf dich kann man ja ordentlich stolz sein. Du wirst mir viel erzählen müssen.«

Al Rondo runzelte leicht die Stirn und sah Katharina einigermaßen hilflos an. Seine Frau war nicht da. Sie war in die Küche gegangen, man hörte ihre Stimme, sie verhandelte mit Frau Schmidt und der Köchin wegen des Abendessens für sich und ihren Mann.

Katharina sagte: »Aber, Väterchen, du wirst doch deinem ältesten und besten Jugendfreund etwas erzählen müssen, der hat doch ein Anrecht darauf, Ihr könnt doch nicht bloß über das Wetter reden.«

Al Rondo verzog sein Gesicht und legte seinen Arm um Leihkaufs Schultern: »Ernst, du gibst mir Schonzeit, wir werden ja noch öfters zusammensein.« Wie sie da nebeneinander saßen, sahen sie nicht aus wie Altersgenossen, sondern wie zwei Menschen aus verschiedenen Generationen, aber auch aus verschiedenen Zonen und Weltteilen – zwei Fremde. In diesem Augenblick kam Frau Schmidt, hatte in der Linken ein Glas Wein, wischte die Rechte erst nochmal an der Schürze ab und schüttelte dann Al Rondos Hand – wieder mit der männlichen Verbeugung, die etwas besonders Herzliches hatte.

Al Rondo schaute Frau Schmidt nur an und nickte mit dem Kopfe, wie wenn er diese angenehme Erscheinung ausdrücklich bejahen wollte. Dann nahm er das Glas und leerte es auf einen Zug. Leihkauf entging es nicht, daß er dabei leise schlürfte und es unterlassen hatte, ihm und der Frau Katharina zuzutrinken. Frau Schmidt, die stehengeblieben war, nahm das leere Glas wieder vom Tisch und brachte es sehr rasch gefüllt wieder. Indessen saß Al Rondo weit über den Tisch gebeugt, die langen Arme aufgestützt und die Finger kerzengerade und wie tot ineinander gesteckt. Es sah gespenstisch aus, wie sie lang und knochig zehnmal in die Luft stachen.

Mit dem zweiten Glas trank Al Rondo den beiden zu und leerte es, wieder nicht ohne Geräusch, zur Hälfte. Er lehnte sich zurück, saß bucklig und ließ seinen Kopf nun hintenüber hängen. Katharina Dengelmann sah unter sich, Leihkauf holte eine dicke Zigarre aus einem dicken Etui und machte sie umständlich zurecht. Frau Al Rondo machte sich immer noch von der Küche her bemerkbar. Nach den Wortfetzen, die Leihkauf verstehen konnte, hielt sie der Köchin einen Vortrag über eine gedünstete Sauce.

»Meine Frau, mußt du wissen, bleibt in der Küche, bis unser Essen fertig ist. Wir haben nämlich besondere Wünsche. Das heißt: sie hat besondere Wünsche, auch für mein Essen. Ich esse, was sie mir vorsetzen läßt. Sie ist eine hervorragende Köchin. Wie gefällt sie dir übrigens?« Mit dieser Frage wandte Al Rondo mit einer scharfen, fast hastigen Wendung sein Gesicht Leihkauf zu.

Dieser war natürlich auf eine solche Frage am wenigsten gefaßt und antwortete deshalb, um seine Unsicherheit zu verbergen, in schnarrendem Ton: »Ausgezeichnet gefällt sie mir, ganz großartig. Muß eine vorzügliche Frau sein. Man schämt sich förmlich, daß man als Junggeselle nicht mit Ähnlichem aufzuwarten hat.«

Al Rondo wandte sich wieder ab und sagte trocken: »Du bist sehr liebenswürdig, Ernst, ich danke dir, fast witzig bist du.«

Nun griff Katharina ein: »Ihr sprecht ja wie zwei Diplomaten miteinander, das kann man ja nicht anhören. Ich hätte Sie darauf vorbereiten sollen: Väterchen Al Rondo kann keine Konversation machen. Aber das ist doch unter so alten Freunden auch nicht nötig. Quatscht euch doch aus!«

Al Rondo lächelte und küßte der Frau, die ihm gegenüber saß, sehr zärtlich und sehr umständlich beide Hände: »Du hast recht, Katharina, du hast immer recht – der Teufel hole den blöden Bill.«

Aber Katharina wehrte sich: »Von mir und Bill wird nicht geredet, das verbitte ich mir. Sprecht von euch, ich bin neugierig und will was hören. Und rauchen will ich auch was, ich hab' nicht das winzigste Stückchen Zigarette bei mir.«

Wie ein Blitz war Leihkaufs Hand mit einer schwer goldenen Tabatiere vor ihren Augen: »Bitte, Gnädigste.« Auch Al Rondo holte eine Schachtel Zigaretten hervor, er kam aber viel zu spät.

Katharina bediente sich: »Herr Leihkauf, nennen Sie mich nicht Gnädigste. Das hat mir besonders gut gefallen, daß Sie mich so rasch Frau Katharina genannt haben. Dabei wollen wir bleiben, lieber Leihkauf. Ernst heißen Sie, wie ich gehört habe. Also: Lieber Ernst!«

Leihkauf errötete, Al Rondo merkte es: »Bist du immer noch so schüchtern wie früher? Mit Frauen umzugehen, hast du nicht recht verstanden, ich war dir da, glaube ich, immer ein bißchen voraus, oder täusche ich mich? Ich habe für solche Sachen ein miserables Gedächtnis.«

Leihkauf schluckte: »Du hast schon recht, Fritz. Aber das hat sich natürlich auch gegeben. Damals war man ja noch ein dummer Junge.«

Inzwischen kam, Gott sei Dank, Frau Al Rondo an den Tisch gerollt – ihre Fortbewegung war in der Tat einem Rollen ähnlicher als einem Gehen – und setzte sich neben Frau Dengelmann und Leihkauf gegenüber. Hinter ihr her kam Frau Schmidt, die Köchin, der Kellner und noch ein Mädchen aus der Küche, alle beladen mit Bestecken, Tellern, Platten und Plättchen. Sie brachten aber erst eine Vorspeise: harte Eier in einer raffiniert pikanten Zubereitung.

Kaum war das Essen da, kaute Al Rondo auch schon. Die letzten Worte, die er vor einem viertelstündigen Schweigen von sich gab, waren an Leihkauf gerichtet: »Da kriegst du gleich einen Begriff von meinem elenden Leben, das ist der erste Bissen, den ich seit meinem Frühstückstee zu mir nehme.«

Nun aber ergriff seine Frau das Wort und behielt es auf lange Zeit, ohne dabei das Essen zu vernachlässigen. Man fühlte, wie gern sie aß und wie gern sie sprach. Essen und Sprechen war ihr Leben, fühlte man.

»Mein guter Mann sagt natürlich nur die halbe Wahrheit. Er verschweigt Ihnen nämlich, daß er erst um vier Uhr am Nachmittag aufsteht. Jetzt ist es neun, also hat er seit fünf Stunden gefastet. So lange faste ich auch, wenn's sein muß. Aber muß es denn sein? Ja, es müßte sein, Herr Leihkauf, sehen Sie mich an, wie dick ich bin. Ist das nicht entsetzlich? Mein Mann sagt, ihm gefiele ich so. Das müssen aber wohl meine inneren Qualitäten sein, die ihm gefallen. (Sie lachte, und es klang jetzt ein bißchen ordinär.) Na, wo bleibt denn das Fleisch? Frau Schmidt, das Fleisch! Die Fütterung der Raubtiere muß rasch vor sich gehen. Mein Mann will sehen, wie ich unterm Essen dick werde – rasch, rasch, wir wollen ihm das Schauspiel gönnen, sonst hat er ja nicht viel von mir. Daß ich einen Rechenkünstler habe heiraten müssen – ausgerechnet, hätte mein seliger Vater gesagt, wenn er's erlebt hätte. Wo glauben Sie, Herr Leihkauf, bin ich geboren? Wenn Sie's raten, kriegen Sie einen Kuß. Nicht von mir, sondern hier von der Katharina. Aha, er wird rot. Also bereits verliebt – auch schon. Kätchen, wie machst du das nur, daß sich alle in dich verlieben? Das mußt du bei den Tieren gelernt haben. Tiere können ja noch wirklich lieben, wir Zweifüßler markieren es nur noch. Iß nicht so blind drauf los, Fritz, kaue und fühle was dabei. So ein Stück Fleisch, so gewogen, gewässert und gewürzt, ist auch ein Teil der Schöpfung, es will genossen und nicht bloß verzehrt sein. Also woher bin ich, Herr Leihkauf? Strengen Sie mal Ihr geistiges Monokel an, das andere, das Sie im Aug' tragen, ist ein bißchen trübe, das haben Sie heute abend zu stark strapaziert. Man soll einen Mann nie mit der Katharina allein lassen. Jawohl, Sie haben es erraten: aus Basel bin ich, aber mein Vater ist aus Preßburg und meine Mutter aus Görz. Auf der Messe zu Basel bin ich geboren – ein Witz, nicht wahr? Und wo hab' ich meinen Mann kennen gelernt? Und wenn Sie zerspringen, Leihkauf, in der Jungfraubahn. Er saß mir gegenüber, und mir wurde übel. Natürlich nicht, weil er mir gegenüber saß, sondern die Höhe war daran schuld. Damals wog ich noch zirka vierzig Kilo weniger. Er hielt mich an den Händen, und die Hände haben ihm gefallen. Da war's geschehen. Und oben nannte er mich sein Reh. Na, da hat er aber die Rechnung ohne mich gemacht, das Reh hat sich ausgewachsen. Frau Schmidt, wo bleibt der Nachtisch, der Pfannkuchen mit Pfirsich? Herr Leihkauf, Rechnen macht hungrig, Al Rondo muß aufgefüllt werden, und ich esse nur so mit. Aber er bleibt mager, und ich werde fett. Ist das eine Weltordnung? Gibt das eine Gleichung? Leihkauf, Sie sind doch auch Mathematiker? Rechnen Sie mir das mal vor, ob da Gerechtigkeit herauskommt oder auch nur zwei mal zwei gleich vier, nein, immer gibt es fünf, sonst müßte er auch dick werden oder ich auch dünn bleiben. Wie gesagt, – –«

Da warf Al Rondo das Besteck laut auf den Teller, die Frau verstummte. Al Rondo sprach zwar leise, aber mit einer merkwürdig rauhen Stimme:

»Wie oft soll ich's dir sagen und warum denn immer wieder, daß ich keine Zahlen hören will! Du weißt, daß ich das nicht ertrage. Du weißt, daß sie mich stören und mir Kummer machen.« Er wandte sich zu Leihkauf: »Ja, wirklich, richtigen Kummer!«

Al Rondo steigerte sich, ohne lauter zu werden, in eine auffallende Schärfe hinein. Aber seine Frau blieb davon ganz unberührt. Ihren Teller von sich schiebend, fragte sie Leihkauf: »Haben Sie schon einmal zwei Menschen so rasch essen sehen wie uns beide? Das Tempo gibt mein Mann an, er kann gar nicht rasch genug fertig werden mit dem Essen, als gehorsame Frau habe ich mir sein Tempo angeeignet.«

Al Rondo trank hastig, er hatte sicher schon das vierte Glas, wenn nicht das fünfte, während die Frau nun verstummte und sich schweigend dem Geschäft der Verdauung hinzugeben schien. Beide Ehegatten lagen weit zurückgelehnt in ihren Stühlen, beide rauchten.

Leihkauf ertappte sich jetzt erst, wo Stille eingetreten war, dabei, daß er die ganze Zeit Katharina angeschaut, diese aber stumm und müd unter sich gesehen hatte. Nun schreckten sie beide fast zur gleichen Sekunde auf und sahen sich mit vollem Blick an. Und beide erröteten.

Leihkauf fragte sich mit heißen Augen: Warum errötet sie? Schämt sie sich der beiden andern oder ihrer eigenen Stummheit oder meines und ihres Blickes?

Katharina seufzte hörbar. Al Rondo sagte: »Du denkst an Bill, das sollst du nicht.« Sie erwiderte: »Nein, Väterchen, ich habe jetzt, offen gestanden, an meine seligen Eltern gedacht. Die stritten sich immer beim Essen, einfach immer. Sonst waren sie unerhört verträglich, aber beim Essen mußten sie sich streiten. Merkwürdig, nicht?«

Al Rondo fiel nun wieder mit seinem Oberkörper nach vorn und legte sein Gewicht auf die Ellbogen. Dabei tätschelte er mit der Linken flüchtig die Rechte seiner Frau. Diese sah ihn dafür mit einem gutmütig quittierenden Blick an, veränderte aber ihre Stellung nicht im mindesten.

Al Rondo hatte sich auch sogleich Katharina zugewandt, aber während er zu ihr zu sprechen begann, legte er seinen linken Arm um Leihkaufs Schultern, ohne ihn anzusehen. Diese ganz beiläufigen Bewegungen, erst die zur Hand seiner Frau, dann die leichte Umarmung Leihkaufs und das Neigen des Kopfes zu Katharina hatten etwas ungemein Zärtliches, so zufällig und unbetont sie waren und gerade weil sie so waren. Leihkauf empfand diese Zärtlichkeit als große Auszeichnung, er hatte das Bedürfnis, seinen Körper dem langen Arm Al Rondos und besonders seiner Hand, die sich ihm vor die Brust gelegt hatte, möglichst eng anzuschmiegen.

Al Rondo aber wandte sich ausschließlich an Katharina: »Das hatten deine Eltern vielleicht von den Tieren. Wenn Tiere gemeinsam fressen, und wenn auch jedes von ihnen mehr als genug hat, knurren sie sich doch heimlich an oder werfen sich wenigstens von Zeit zu Zeit neidische und gehässige Blicke zu. In den Menschen ist doch immer noch mehr Tierisches, als sie wissen und wahr haben wollen.

Das ist vielleicht sehr dumm als Erklärung, aber warum haben sich deine Eltern nun wirklich nur beim Essen gestritten, mein Kind?«

Nun fiel Frau Al Rondo ein: »Aber das ist doch, stell' ich mir vor, ganz einfach. Die Eltern von Katharina haben sich fürs Essen nicht interessiert. Und wenn kein Interesse da ist, dann ist doch alles recht ekelhaft: das Fleischschneiden und überhaupt das Hantieren mit den Werkzeugen, das Kauen, das Schlucken und das ganze Sichanfüllen.«

Leihkauf staunte nur so, über was für Probleme sich diese Leute vom Varieté den Kopf zerbrachen. Ein bißchen wagte er sogar darüber zu lächeln. Al Rondo hatte immer noch seinen Arm um ihn, er verlegte sogar einen Teil seines Gewichtes auf Leihkaufs Schultern.

Al Rondo schaute wieder nur Katharina an: »Das ist vielleicht auch eine Erklärung, daß die Menschen eher zum Streit geneigt sind, wenn sie scharfe Gegenstände in der Hand haben. Dein Vater hat doch mit Löwen und Schlangen verkehrt, ohne eine Waffe zu gebrauchen – und dann saß er beim Essen seiner Frau mit einem Messer bewaffnet gegenüber und genau so die Frau ihm.«

Alle lachten leise. An Al Rondo machten sich leichte Spuren von Betrunkenheit bemerkbar. Er lag immer schwerer auf Leihkauf und spielte mit der Hand an seinem Rock. Das machte Leihkauf nervös. Er merkte nun auch, was ihm vorher entgangen war, daß Al Rondos Nase an der Spitze leicht gerötet war, also war er offenbar ein Trinker. Er sah jetzt sehr hinfällig aus – fast wie ein Greis, der überall eine Stütze suchen mußte, an der Stuhllehne, auf dem Tisch und bei seinem Nachbar.

Katharina sah ihn mit verlegenen Augen an, sie schämte sich ein wenig für ihn vor dem so ordentlichen Leihkauf. Dahingegen lag Frau Al Rondo, gleichmütig wie ein sattes, braves Tier, in ihrem Stuhl und lächelte Leihkauf, leicht mit dem Kopf nickend, zu. Das sollte wohl die Konversation ersetzen, zu der sie nach dem Essen zu faul war.

Katharina unterbrach die Stille, ihre Stimme klang verlegen: »Morgen, Herr Leihkauf, müssen Sie aber Al Rondo auf der Bühne sehen. Da werden Sie ihn nicht wiedererkennen. Wenn er im Frack auf die Bühne stürmt, wenn er kreuz und quer läuft und die Zahlen und Witze und Einfälle nur so aus ihm heraus explodieren, wenn er mit Millionen und Milliarden nur so um sich wirft, und mit Kubikwurzeln und Potenzen – erst wenn Sie ihn so gesehen haben, kennen Sie ihn wirklich und richtig. Nicht wahr, Väterchen?«

Al Rondo sagte trocken: »Jawohl, ich bin ein mathematischer Heldentenor.«

Leihkauf versuchte, ihn sich so vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Oder vielmehr: er sah auf der Bühne den jungen Fritz Kaßner dahinstürmen, seinen Jugendfreund, aber mit dem hatte der Alte da neben ihm nicht die geringste Ähnlichkeit. Jener Stürmer im Frack – das war der Feind, dieser Alte hier neben ihm – das war der Freund. Leihkauf kam zum Ergebnis: das Schicksal hat nicht übel gearbeitet. So frisch, so straff und elastisch hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Er erhob sein Glas – dieser Wein bekam ihm ausgezeichnet! – und trank allen dreien zu, besonders herzlich natürlich der Frau Dengelmann. Er verfing sich in ihren Augen und dachte: sie ist mein Reh!

Er wäre am liebsten aufgebrochen, um alles Weitere auf morgen und überhaupt auf den übrigen Monat zu vertagen. Jetzt konnte er ja reicher gehen, als er gekommen war, er war ja er, der Subdirektor Dr. jur. et phil. Ernst Leihkauf, war verliebt – welch ein Glück! Nun gehen und träumen, eine ganze Nacht ...

Plötzlich aber wurde die Tür aufgerissen – und vor den erschreckten Drei stand Bill Blumm. Käsebleich, mit verzerrtem Gesicht, gestikulierend und stotternd. Katharina riß ihre sonst so ruhigen Augen entsetzt auf, Frau Al Rondo begann sich zu bewegen, und Al Rondo selbst machte sogar Anstalten aufzustehen.

Bill Blumm aber zog, ohne seinen Überrock abzulegen und den Hut auf dem Kopf, einen Stuhl an die Stirnseite des Tisches und begann zu sprechen. Flüchtig nur sah er Leihkauf an, gab ihm die Hand und sagte: »Wir kennen uns leider schon, Sie haben mir doch verziehen, es war nicht bös gemeint.« Und dann erzählte er hastig drauf los. Er roch nach Spirituosen.

Bill Blumm war also mit dem Varietéagent – er hieß Louis Pick – losgezogen. Pick hatte sich bereits mit einem Mädchen verabredet, das vor dem Theater auf ihn wartete. Ein ganz nettes Mädchen, nichts Besonderes, aber immerhin. Pick kannte sie auch erst seit heute abend. Sie waren durch ein paar Straßen zu Fuß gegangen, denn Blumm und Pick hatten noch von den Verhandlungen heiße Köpfe und wollten sie etwas auslüften und abkühlen. Nach einer Weile war es ihnen aufgefallen, daß ihnen ein Mann hart auf den Fersen folgte. Gott, ein Mann, wie es viele in einer Großstadt gibt! Ein Kaufmann oder mittlerer Beamter oder so etwas Ähnliches, aber in sehr reduziertem äußeren Zustand. Klein war er, sogar ganz klein und armselig. Sie hatten sich über seine hartnäckige Gefolgschaft gewundert, aber da das Mädchen versicherte, daß ihr der Mann gänzlich unbekannt sei, hatten sie sich weiter nicht mehr um ihn gekümmert.

Dann waren sie in eine kleine Bar getreten, die ihnen das Mädchen empfohlen hatte, ein paar Freundinnen von ihr, die im Lokal saßen, waren zu ihnen gestoßen, und es hatte sich eine lustige Stimmung entwickelt. Plötzlich aber war der Mann von der Straße vor ihnen gestanden, hatte eine Waffe gezogen und drei Schüsse auf ihre Begleiterin abgegeben.

So weit war Blumm mit der Erzählung gekommen, ohne Atem zu schöpfen. Nun verstummte er und legte den Kopf in seine Arme. Der Hut fiel herunter; Leihkauf hob ihn auf und behielt ihn in der Hand.

Katharina, entgeistert, stieß die Frage heraus: »Und? Und? Er hat getroffen?« Bill Blumm rührte sich nicht. Katharina beantwortete ihre Frage: »Sie ist tot!«

Blumm erhob seinen Kopf und nickte: »Das war der erste Mensch, den ich habe sterben sehen. Aber das war nicht das Schrecklichste.«

Frau Al Rondo, die die ganze Zeit ihr Gesicht mit beiden Händen gehalten hatte, wie wenn sie hätte fürchten müssen, daß es auseinanderfalle, fragte: »Ja, was denn noch? Ist Herrn Pick etwas geschehen?«

Blumm verneinte. »Pick ist jetzt auf der Polizei, ich bin ausgerissen. Das Schrecklichste war nicht die Tote, sie war auf der Stelle tot, sondern der Mörder. Er ließ sich greifen und lächelte, er ließ sich auch von den erregten Bargästen – es waren nur zwei oder drei – schlagen, ohne sich zu wehren oder auch nur zu schützen. Er sprach mitten in den Tumult mit ruhiger, ja selbstzufriedener Stimme: ›Nun bin ich froh, daß es getan ist. Sie war meine Braut. Ich habe sie geliebt. Aber ich habe seit zwei Jahren nichts verdient. Ich bin stellenloser Buchhalter. Da hat sie sich von andern lieben lassen. Sie entfernte sich immer mehr von mir. Immer mehr. Da habe ich sie nun ganz entfernt. Auch für die andern. Jetzt büße ich dafür. Im Zuchthaus wird sie wieder mir allein gehören. Irgendeinen Besitz muß jeder Mensch haben.‹ Dann war die Polizei da und führte ihn ab. Und ein Arzt konstatierte Herzschuß. Ich bin geflohen.«

Und dann sah er wie ein Kind seine Frau an: »Liebe, ich werde nie wieder ›angeln‹ gehen.« Er war mit ganz leerem, ausgeblutetem Gesicht aufgestanden, er wankte, die andern erhoben sich auch. Er sagte zu Katharina: »Gehen wir heim und warten wir auf Pick, er will von der Polizei zu uns kommen.«

Frau Al Rondo fand zuerst die Sprache: »Was war es denn eigentlich für eine Frau? Woher hatte sie denn Pick so rasch?«

Blumm besann sich. »Sie war im ›Alkazar‹ angestellt. Als was, weiß ich nicht, vielleicht am Büfett oder an der Kasse oder im Bureau.«

Leihkauf ächzte: »Eine Hochblonde?« Blumm bejahte. Leihkauf krallte die Finger ineinander. »Ich habe heute abend noch mit ihr gesprochen, sie war am Büfett, ich habe eine Kleinigkeit bei ihr genommen. Ein sympathisches Wesen.« Er mußte sich setzen.

Katharina hatte nun ihren Mann umfaßt wie eine Mutter ihr Kind. Sie sprach beruhigend auf ihn ein und küßte ihn sogar flüchtig auf die Stirn. Al Rondo setzte sich auch wieder und hielt mit beiden Händen die Sitzfläche seines Stuhles fest, wie wenn er befürchtete, links oder rechts herunterzufallen. Seine Frau war schon bei der Wirtin und zahlte. Dabei erzählte sie die ganze Geschichte nochmal.

Al Rondo machte keine Anstalten zum Aufbruch. Als sich Leihkauf von neuem erheben wollte, hielt er ihn am Arm fest: »Wir beide bleiben noch, der Tag ist noch nicht zu Ende.« Leihkauf empfand das wie eine geheimnisvolle Drohung. Er fügte sich willenlos.

Frau Al Rondo warf ihrem Mann einen Blick zu: »Willst du noch nicht gehen?« Er schüttelte den Kopf. Sie küßte ihn leicht aufs Haar, gab Leihkauf stumm die Hand und drängte die beiden Blumms zur Türe hinaus. Die Sprache schien ihr abhanden gekommen zu sein. Leihkauf wankte hinterher und sagte dem Chauffeur, er solle die Herrschaften nach Hause und dann den Wagen in die Garage fahren, er benötige ihn nicht mehr.

Er setzte sich Al Rondo gegenüber. In der entgegengesetzten Ecke des Lokals, gleich neben dem Büfett, saß noch ein letzter Gast. Die Wirtin schlief hinter dem Büfett. Den Kellner sah man nicht. Es brannten nur noch zwei Lichter in dem Raum, eines über dem Tisch der beiden und eines für den andern Gast. Die übrigen Tische standen im Halbdunkel, das Lokal sah aus wie die Bühne im letzten Akt einer bürgerlichen Tragödie.

Al Rondo war wieder weit über den Tisch gelehnt und trommelte mit seinen langen knochigen Fingern auf ihm. Leihkauf besah sich seinen Schädel unter dem dünnen, unordentlichen Haar. Er lief oben spitz zu, fast zu einem Höcker, der sich bis über den Hinterkopf hinzog. Minuten vergingen, ehe ein Wort fiel. Dann warf sich Al Rondo wieder in den Stuhl zurück und fragte:

»Trinkst du auch so gern?«

Leihkauf verneinte: er trinke nur, wenn es die Gelegenheit so mit sich bringe, aber dann – er versuchte einen forschen Ton anzuschlagen – stelle er schon seinen Mann.

Al Rondo sah ihn mit leicht verglasten Augen an: »Ich trinke gern, Trinken ist die einzige Möglichkeit für mich, auszuruhen.«

»Wovon?« fragte Leihkauf automatisch. »Von den Zahlen«, antwortete Al Rondo ebenso. Und er trank Leihkauf zu. Der nippte nur an seinem Glas. Während er in den klaren gelben Wein hineinsah, glaubte er darin Katharinas Augen zu sehen. Er seufzte. Die andere, dachte er, ist nun abbestellt, die kommt nicht zu mir, aber wer kommt sonst?

Al Rondos Glas war leer, er machte Lärm, der Kellner kam. Als er das Glas nehmen wollte, sagte ihm Al Rondo: »Bringen Sie eine Flasche, die gleiche wie gestern. Und bringen Sie auch wieder eine Hartwurst wie gestern, eine ganz große, die größte, die Sie haben. Ich will essen. Wer ißt und trinkt, der lebt. Hungern und Dürsten ist Sterben.«

Leihkauf sah ihn an wie einen unheimlichen Fremden. Er trank nun auch sein Glas auf einen Zug aus. Er wollte sich betrinken, weil er verliebt war.

Der Wein kam und die Wurst. Der Kellner stellte sie auf einem Teller in die Mitte des Tisches und legte ein Messer dazu. Offenbar hatte Al Rondo das gestern schon so angeordnet. Der Kellner goß zwei Gläser voll und verschwand. Al Rondo schnitt sich ein großes Stück Wurst ab und aß es aus der Hand. Er schmatzte leicht dabei.

Leihkauf konnte nichts essen, er hätte keinen Bissen hinuntergebracht.

Al Rondo hatte sein Stück Wurst rasch verschlungen und aß noch ein zweites und drittes. Die Hälfte der langen Wurst war schon verschwunden. Das Essen erfrischte ihn und drängte die Wirkungen des Weines zurück.

Leihkauf mußte etwas sagen: »Dein Beruf ist wohl sehr anstrengend, Fritz?«

Al Rondos Kopf hing über der Stuhllehne, er sah zur Decke: »Mein Beruf, lieber Freund, ist tierisch. Er hat keinen Anfang und kein Ende. Ein glücklicher Mensch kommt nie über das große Einmaleins hinaus. Liegt das aber einmal hinter dir, dann rutschst du, ob du willst oder nicht, ins Unendliche ab. Ihr Mathematiker wißt ja nichts von Mathematik. Erst wenn die Zahlen anfangen, die Systeme zu zerschlagen, und die Systeme sich revanchieren und die Zahlen zerkleinern, das ist Mathematik. Und ihr ganzer Tumult geht schließlich doch nur immer wieder auf die armselige Eins zurück.«

Leihkauf wußte nicht genau, ob das tiefe oder verrückte oder besoffene Weisheiten waren. Er erwiderte: »Du bist aber der größte Rechenkünstler aller Zeiten – das ist doch fabelhaft.«

Al Rondo neigte sich vor und lachte: »Weißt du, worauf die Kunst des Rechnens beruht? Einfach darauf, daß man die Angst vor den Zahlen verliert. Wer gar keine Angst vor dem Malen hat, der ist ein großer Maler. Aber dann kommt die Angst vor der Unendlichkeit der Malerei, das ist eine ganz andere Angst, das ist die Angst vor dem lieben Gott.« Und dann setzte er sich plötzlich kerzengrade und fragte fast streng: »Glaubst du an Gott?« Sogleich fiel sein Kopf welk auf die Brust.

Leihkauf schwieg zuerst, er hielt die Frage kaum einer Antwort wert. Al Rondo hob den Kopf wieder, und das zwang ihn zur Antwort: »Aber natürlich, mein Lieber, ein höheres Wesen muß doch sein, sonst müßte man ja verzweifeln.«

Al Rondo trank ihm zu und lächelte wie ein Lehrer, dem ein Schüler die Antwort gibt, die er erwartet hat.

Leihkauf dachte nun daran, daß er doch morgen den Herren im Geschäft einiges erzählen müsse, und war entschlossen, in die Welt Al Rondos tiefer einzudringen. Der Wein hatte ihn dem Freund näher gebracht und einige Hemmungen in seinen Beziehungen zu ihm weggeräumt, also begann der gute Leihkauf darauf loszureden – in der Hoffnung auf ein Echo.

»Weißt du, Fritz, daß wir in unserer Jugend immer Feinde waren? Ich haßte dich, weil du groß und hübsch und gescheit warst, und du hast mich wohl so irgendwie verachtet. Aber nach außen hin waren wir ein Paar, ein Freundespaar, komisch, ein Herz und eine Seele, sehr komisch.«

Leihkauf wartete vergebens auf eine höfliche Bemerkung Al Rondos, dieser trank ihm zu und goß ein. Er fuhr also fort:

»Und dann bist du verschwunden aus meinem Leben wie ein Dieb in der Nacht, ich habe Karriere gemacht, du hast Karriere gemacht, und wir treffen uns wieder, und was geschieht? Ich verliebe mich, sozusagen auf den ersten Blick, in eine Frau, die du mir entgegenschickst, in diese herrliche Frau Katharina. Das ist einfach Schicksal, da kann man nichts machen. Ich bin sehr glücklich, denn ich war noch nie verliebt, und finde es sehr schön. An dich kommt natürlich sowas nicht heran, du schwebst über alledem, du hast dein Genie, du bist erhaben. Wenn ich nur wüßte, wie du so geworden bist. Du warst ein guter Schüler, ein glänzender Mathematiker, aber heute bist du etwas ganz anderes als damals. Etwas, das unsereins nicht mehr versteht.«

Al Rondo sagte nichts, er bewegte nur, hilflos wie ein Kind, seine langen Arme und kicherte dabei. Er sah Leihkauf nicht einmal an.

Dieser verlor sein Ziel aus den Augen und versank in Gedanken an Katharina, die leicht über seine Zunge gingen.

»Diese Frau ist ein Wunder. Gesund, gescheit, geliebt. In der sitzt etwas Göttliches. Da wird man wieder zum Pennäler, da hören alle anderen Sorgen auf. Für eine solche Frau könnte man durchs Feuer gehen und ins Wasser.«

Er schob das volle Glas weit von sich und setzte nach einer Pause fast weinerlich hinzu: »Nun trink' ich aber keinen Tropfen mehr, das Trinken ist ein Unrecht gegen sie, das weiß ich.«

Während er auf den Tisch starrte, erhob sich Al Rondo und ging hinaus. Leihkauf sah ihm nach und begutachtete ihn: »Eine Ruine – ein Säufer!« Dann dachte er, mit wirklichen Tränen in den Augen, an Katharina und an die Hellblonde: »Die eine ist tot, die andere lebt nicht für mich.«

Al Rondo blieb lange weg. Als er wiederkam, erzählte er fröhlich, er habe in der Küche die dicke Köchin beim Kaffeetrinken getroffen und natürlich mitgetrunken. Das sei etwas Herrliches: nach gutem Wein guter Kaffee. Ob er nicht auch Lust habe?

Leihkauf verneinte. Al Rondo war wieder frisch, er saß ganz aufrecht und aß von der Wurst. Leihkauf hatte ein Ekelgefühl. Er sagte sich halb witzig: Was so ein Genie alles in sich hineinschlingt!

Al Rondo lag wieder über dem Tisch und trommelte. Sie sprachen nicht. Von Zeit zu Zeit fuhr Al Rondo mit seinem Kopf hoch und warf einen kurzen Blick auf Leihkauf. Dieser empfand die Situation als ungemütlich und wollte ihr ein Ende machen: »Lieber Fritz, ich habe doch ein menschliches und fachliches Interesse an deinem Leben, erzähl' mir doch etwas davon!« Er bat wie ein Kind.

Al Rondo legte sich zurück: »Du sollst alles wissen, aber Konversation kann ich über das, was ich dir erzähle, nicht machen. Du hast nichts als zuzuhören, verstanden?« Leihkauf stimmte zu.

Al Rondo blieb stumm. Er bewegte die Hände, zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Wie wenn er mit sich noch nicht ganz im Reinen wäre, was er oder ob er überhaupt etwas sagen solle. Schließlich aber begann er vor sich hinzusprechen:

»Als wir auseinanderkamen und die Eltern leider auch, da habe ich so richtig das Bummeln angefangen. Die Mathematik wurde mir – wie sagt man da nur? – wie eine ferne Geliebte. Dafür aber fing ich an, mächtig zu pokern. Du weißt, ich hatte wenig Geld von zuhause und sollte mir eigentlich meinen Unterhalt durch Unterrichtgeben verdienen. Du hast mir selbst noch mitgeholfen an meinem Patentsystem: Wie lehrt man dumme und faule Kinder das Kopfrechnen?

Um es bei Kindern anzuwenden, war ich aber selbst zu faul. Vielleicht auch zu dumm, und da benutzte ich es selbst, wie gesagt, beim Pokern. Ich pokerte erst mit Studenten, dann mit ihren reicheren Bekannten und Verwandten und schließlich bei deren reicheren Bekannten und Verwandten. Ich pokerte mich, mit Glück, bis in die reichsten und unfeinsten Kreise hinauf. Ich wurde zugleich ein Menschen- und ein Zahlenkenner. Ich trieb praktische Psychologie und praktische Mathematik in einem. Mein besonders gutes Zahlengedächtnis wurde immer besser. Die Zahlen bekamen ihre vierte Dimension für mich. Das Präzisieren ist bei ihnen ja gar nicht die Hauptsache, viel wichtiger ist das Ahnen, das Schnuppern nach ihnen, das Taxieren. Von ihm aus, wenn man es souverän beherrscht, kommt man erst zur todsicheren Präzisionsarbeit. Ich war besessen vom Pokern. Ich machte es zu meinem Studium. Karten sind ja nichts anderes als Zahlensymbole. Ich wurde der raffinierteste Pokerspieler der Stadt. Die andern hatten das Geld, ich die heimliche Macht über die Zahlen.

Bis der Krach kam! Wer Glück im Spiel hat, hat auch Glück bei Frauen. Das Sprichwort, das das Gegenteil behauptet, ist falsch. Ich wurde von vielen geliebt. Und das kostete mich sogar noch mehr Geld, als ich im Spiel verdiente. Da besiegte meine Souveränität über die Zahlen meine Ehrlichkeit. Ich spielte nicht mehr mit Karten, sondern mit Irrealitäten. Das stärkere Symbol besiegte das schwächere. Ich wurde ein Kartenkünstler. Das hört sich sehr schön an, wenn man's erzählt, aber damals, als ich erwischt wurde, war weniger von Symbolen und meiner Kunst die Rede als von Künsten und Gerichten. Kurz und gut, du sollst es wissen, ich bekam sechs Monate Gefängnis. Weißt du, was das heißt? Du kannst es nicht wissen. Alle fielen von mir ab, die Frauen verrieten und verließen mich, die Männer verstießen und kannten mich nicht mehr. Mein Vater ist über der Schande gestorben, trotzdem nichts davon bis in unsere Heimat drang.

Und dann war ich ein halbes Jahr allein mit meinen Zahlen und ihrem Zauber. Im Gefängnis wurde ich Rechenkünstler, in der Zelle wurde ich das sogenannte Genie. Ein weiteres halbes Jahr, das ich nur mit Büchern, Tabellen und mit Übungen verbrachte, führte mich zu meinem neuen Beruf. In meiner Einsamkeit lernte ich, man kann es nicht anders sagen, mit Zahlen musizieren. Mein erstes Engagement fand ich – ich weiß heute nicht mehr, durch welchen glücklichen Zufall – in einem drittklassigen Kabarett in Breslau. Ich weiß nur noch, daß ich vor meinem ersten Auftreten vierzehn Tage lang bloß Brot und Wasser zu mir genommen hatte. Aber ich war im Hungern ein ebenso großer Virtuose wie im Rechnen. Ich habe ein Jahr lang gehungert, ganz allein, ohne Frau und ohne Freund.

Von Breslau ging's aufwärts. Aber hätte mich nicht ein wagemutiger Impresario nach Amerika verpflanzt, so wäre ich heute noch ein mittlerer Artist. In New York rechnete ich vor den Millionären und Milliardären der Börse, ich machte Wettrechnen mit ihren Multiplikationsmaschinen und gewann immer. Ich rechnete ein halbes Hundert Planeten- und Planetoidenbahnen aus – du wirst dich noch dunkel erinnern, was das heißt, und begreifen, daß es auf der ganzen Welt keinen Menschen geben kann, der die Zahlen so gut, so intim kennt wie ich. Die Zahlen sind wie mein Gedärme. Sie arbeiten in mir, ohne daß ich etwas dazu tue. Plötzlich kommt eine in mein Bewußtsein spaziert und zerlegt sich neu, sie muß vorher im Unterbewußtsein gesessen haben. Es ist ein tolles Leben. Darum muß ich viel trinken, viel schlafen, viel essen. Alles Materielle schützt mein Gehirn vor den Zahleninvasionen. Auch Lesen hilft mir etwas. Sonst aber, wo ich gehe und stehe, rechnet's in mir. Das ist kein Martyrium, denn ich habe ja Erfolg damit, aber es droht langweilig zu werden, und das wäre das Ende. Ich muß sehen, daß ich immer wieder Kurzweil dabei finde, sonst ist es aus mit meiner Laufbahn. Aufgeben kann ich sie nicht. Ich muß rechnen, ich muß brillieren damit, ich brauche den Frack, die Bühne und das Publikum. Wenn du mich fragst, warum, kann ich dir nur antworten: darum.«

Leihkauf war, wie Al Rondo, fast nüchtern geworden. Er fand, so sehr er sich auch darum bemühte, nicht das passende Wort, um Al Rondos Bekenntnisse, sozusagen, dankend zu quittieren. Er streckte ihm die Hand hin, aber der andere, zurückgelehnt, sah sie nicht, da seine Augen die Decke besahen. Er begann auch gleich wieder zu sprechen:

»Ein sogenanntes privates Gefühlsleben führe ich nicht mehr, das ist von dem Umgang mit den Zahlen aufgeschluckt. Ich habe eine Frau, die für mich sorgt und mein Geld verwaltet, und ich habe ein paar andere Frauen, die ich besitzen möchte, wenn ich lieben könnte. Aber davon ist keine Rede. Die Liebste von allen ist mir die Katharina, sie versteht, schont und streichelt mich. Ich kenne sie schon so lange, daß ich sagen darf, ich habe sie mit erzogen. Und du Unglückswurm mußt dich nun auch in sie verlieben! Was ist da zu tun?«

Jetzt erst sah er Leihkauf an. Seine Augen hatten zum ersten Male am Abend Leben bekommen, sie waren grau wie Katzenaugen, die weit weg sind. Leihkauf wurde durch sie nichts weniger als ermutigt. Er hätte so gern noch einiges gefragt, aber Al Rondos Verbot hinderte ihn, seine Augen schüchterten ihn vollends ein.

Al Rondo wiederholte mechanisch: »Was ist da zu tun? Du bist doch verliebt! Oder nicht?«

Leihkauf stotterte erst innerlich, dann auch in Worten an der Antwort herum: »Aber sie ist doch – es ist doch aussichtslos, wo sie doch –«

Al Rondo saß nun kerzengrad: »Ich höre immer ›doch‹ und wieder ›doch‹, ich liebe das nicht. Also: bist du verliebt in Katharina oder nicht?«

Leihkauf war nun völlig aus der Fassung: »Ja!« Al Rondo ganz sachlich weiter: »Hast du's ihr gesagt? Oder hast du sie's merken lassen?«

Leihkauf, fast schon wieder den Tränen nahe: »Nein!« Nun platschte Al Rondo seine beiden Hände auf den Tisch: »Ja, weißt du denn nicht, daß man die Pflicht hat, einer Frau zu sagen, daß man sie liebt? Man muß ihr erstens die Freude machen. Und man muß ihr auch die Möglichkeit geben, sich dazu zu stellen. Vielleicht ist sie Bill Blumms und des ganzen Zigeunerlebens längst müde und sucht einen Mann wie dich! Daß sie glücklich zu sein scheint, besagt doch weniger als nichts.«

Nun hatte sich Leihkauf wieder einigermaßen gefaßt, er stak wieder in seiner eigenen Haut und sah aus ihr heraus auf Al Rondo und hörte seine merkwürdigen Reden. Da lief es ihm kalt über den Rücken, denn er merkte, daß nun wieder der alte Fritz Kaßner vor ihm saß, der ihm überlegen war und eine Freude daran hatte, ihn zu quälen. Was Al Rondo da an ihn hinredete, das war doch nichts als schmerzlich für ihn, das war zu nichts anderem nütze, als ihn zu martern.

Leihkauf riß die Augen so weit auf, daß beinahe das eingemauerte Monokel ins Rutschen kam, er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, in dem die Aufregung und die alte Angst aus Jahrzehnten her hämmerte. Er war nun bei hellster Besinnung, aber was nutzte es, er sah um so deutlicher diesen rätselhaften, abgründigen und grausamen Menschen vor sich und wußte nicht, wie ihm entkommen.

Al Rondos Gesicht wurde herrisch: »Bist du denn immer noch der kleine Junge, der vor allem Angst hat und nicht ein bißchen Mut zu sich selbst? Mehr hast du in deinem Leben bisher nicht erreicht, Ernst Leihkauf? Du wagst es, eine Frau wie Katharina Dengelmann zu lieben, aber du wagst es nicht, daraus irgendwelche Konsequenzen zu ziehen?«

Leihkauf flüchtete sich in eine zittrige Ironie: »Ich bin halt nur ein mittelgroßes Tier, wie du mir ja geschrieben hast.«

Al Rondo lachte und wiederholte zwischen dem Lachen nur das eine Wort: »Tier!«

Noch weiter zog sich Leihkauf von ihm zurück: »Es war ein Unrecht von mir, diese beiläufige Anwandlung von Liebe zu Frau Dengelmann dir gegenüber zu erwähnen.«

Aber so ließ ihn Al Rondo nicht entkommen: »Nicht diese Frivolität, mein Sohn! Du bist und sprichst wie ein unerfahrener Junge. Ich kann dir Bescheid sagen, ich kenne Katharina und weiß, wie sie auf Männer wirkt. Heute bemühst du dich noch, die Liebe zu ihr beiläufig und eine Anwandlung zu nennen. In acht Tagen bist du schon von dieser Liebe ganz besessen und in einigen Wochen, wenn sie abgereist ist, mußt du ihr, ob du willst oder nicht, nachreisen. Ähnliche Fälle waren schon da, mein Junge, Katharinas Augen und Hände vergißt man nicht.«

Al Rondo lag nun wieder mit seinem Oberkörper über dem Tisch, seine langen Arme hatte er links und rechts um je eine Stuhllehne gelegt, die er ganz nahe an den Tisch preßte. Er saß wie in einem Fort von Stühlen.

Leihkauf erschrak, als Al Rondo Katharinas Hände und Augen erwähnte. Die Hände waren ihm zuerst aufgefallen, das war der Anfang, in sie hatte er sich sogleich verliebt, dann in die Augen und dann – –? Entsetzt saß er nun vor der Zukunft seiner Liebe, die ihm Al Rondo eben geschildert hatte. Die Liebe zu Katharina war schön, war herrlich, warum sollte sie nicht wachsen und ihn ganz und gar in Besitz nehmen? Er konnte sich das alles ganz gut vorstellen, er gab Al Rondo recht, er stand vor dem großen und vielleicht entscheidenden Erlebnis seines ganzen Lebens.

Aus diesen Gedanken heraus fragte er genau so knabenhaft wie vor Jahrzehnten: »Und was soll ich nun tun, Fritz?«

Al Rondo hatte sich erhoben, er stand wie ein bärtiges Skelett am Tisch, unbeweglich und steif. Die Augen nur leuchteten wie dünne Striche unter den halb geschlossenen Lidern hervor. Leihkauf stand ebenfalls auf. Al Rondo rief nach dem Kellner. Leihkauf bezahlte rasch den Rest der Zeche. Der letzte Gast außer ihnen erwachte durch das Geräusch ihres Aufbruchs aus seinem weinseligen Schlaf und begann leise zu singen: »Wenn die Hoffnung nicht wär' auf ein Wieder-, Wiedersehn ...« Sie verließen das Lokal. Die Wirtin war schon zu Bett gegangen.

Draußen war es kühl, die Luft war feucht, es konnte jeden Augenblick zu regnen beginnen. Trotzdem gingen beide zu Fuß weiter. Leihkauf wartete immer noch auf eine Antwort, was er zu tun habe. Er hatte Al Rondos Meinung, daß unbedingt etwas geschehen müsse, schon ganz zu der seinigen gemacht. Die alte Abhängigkeit von Fritz Kaßner war wiederhergestellt.

Da Al Rondo schwieg, begann er selbst, in seiner grenzenlosen Unsicherheit, von sich zu reden, von seiner Einsamkeit und seiner Hilflosigkeit gegenüber Frauen, und wie er darunter leide und sich benachteiligt fühle, und daß er dies alles seiner Jugend zuschreibe, wo ihm Al Rondo im Wege gestanden habe. Offen und sehr redselig breitete er sein ganzes Lebensproblem vor dem andern aus. Er erzählte von dem windigen Lächler A. Müller, von den verkalkten Bonzen und sogar von der, wie er annehmen müsse, toten Büfettdame, die ihn am kommenden Abend habe besuchen wollen.

In Al Rondos übermüdetes und überreiztes Gehirn war die Angelegenheit zwischen Leihkauf und Katharina Dengelmann wie eine mathematische Aufgabe eingebrochen. Seit Jahren zum erstenmal beschäftigte ihn eine menschliche Privatangelegenheit. Die Liebe des kleinen Leihkauf stellte sich wie ein Multiplikationszeichen gegen Katharina. Er wollte die Aufgabe lösen. Für ihn war alles, was um ihn herum und in ihm vor sich ging, ein Symbol. Eine feststehende Größe war Katharina. An ihr hing er – mit dem Rest von Liebe, deren er noch fähig war, mit dem Rest seiner Liebe zur körperlichen Welt.

Und nun kam dieser Leihkauf daher und sagte: Ich liebe Katharina. Er sagte das, was er, Al Rondo, zu sagen nicht mehr berechtigt war. Er stand jenseits der Liebe, er stand in einer abstrakten Welt. Aber ihn überkam vor dieser Liebe des kleinen Ernst Leihkauf die Leidenschaft des Spielers. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit den Gefühlen zweier Menschen zu hasardieren, sie gegeneinander zu führen und abzuwarten, was daraus entstehen würde. Das war so schön wie Rechnen.

Leihkauf ging stumpf neben Al Rondo her und hatte allen Willen aufgegeben: der neben ihm, der Größere, der Große hatte sein Schicksal in der Hand. Er war kein mittelgroßes, nur noch ein kleines Tier, aber nicht einmal ein Tier, sondern eine Sache.

Es hatte angefangen tüchtig zu regnen, sie stürzten in ein Auto und waren rasch vor Al Rondos Hotel. Leihkauf konnte sich nicht von Al Rondo trennen, er hatte Angst vor der Trennung wie vor einer Schlucht, in die er zu stürzen drohte. Er stieg mit ihm aus. Es regnete immer noch.

Al Rondo sah sich um und sagte laut: »Ich hab's doch geahnt.« »Was hast du geahnt?« fragte Leihkauf, während er zahlte. »Daß etwas nicht in Ordnung ist mit ihr, daß sie auf uns wartet«, erwiderte Al Rondo.

Leihkauf fuhr, wie angeschossen, herum: Katharina Dengelmann stand im Regen vor dem Hotel. Al Rondo befahl: »Wir fahren alle drei zu dir, es muß alles in Ordnung kommen.« Schon stand Katharina vor dem Auto. Ihr Gesicht war wie eine trübe Masse, die Augen, tränenschwer, hingen wie hinter einem Schleier unter der Stirne. Sie gab beiden die Hand und stieg ein. Leihkauf nannte seine Adresse und folgte ihr. Es geschah alles wie auf Befehl. Al Rondo stieg, wie ein Wärter der beiden, als letzter ein.

Sie sprachen nichts, Katharina schluchzte leise vor sich hin. Die Fahrt dauerte wiederum nicht lang. Leihkauf beeilte sich, die beiden in sein Haus einzulassen. Er machte, in seiner Wohnung angekommen, in allen Räumen Licht, holte Schnäpse, Backwerk und Zigaretten. Und dann saßen sie in drei Klubsesseln sich gegenüber. Leihkauf hatte das Gefühl, auf einer Bühne zu sitzen und agieren zu müssen. Das Lampenfieber wütete in ihm.

Al Rondo sagte nur: »Nun, Katharina?« Da begann sie aus unaufhörlichen Tränen heraus: »Er hat mich wieder geschlagen. Denkt euch: geschlagen hat er mich, wieder geschlagen!«

Das Wort wiederholte sich immer wieder, es stürzte nur so aus ihr heraus.

»Ich habe ihn getröstet, ich habe ihm ganz schüchterne Vorwürfe gemacht. Er war traurig und entsetzt wie ein Kind. Ich wollte ihm über die Nacht hinweghelfen. Plötzlich sprang er auf und schrie nach Schnaps. Ich gab ihm Schnaps. Er trank und trank. Und dann schrie er nach Weibern. Ich wollte ihn beruhigen. Er wurde immer wilder. Er beschimpfte mich. Er stieß mich zurück. Ich machte Anstalten, aus dem Zimmer zu gehen, um ihn sich selbst zu überlassen. Da fiel er über mich her und schlug mich, wie er mich noch nie geschlagen hat. Ich lag am Boden. Als ich mich erhob, saß er vor dem Schnaps und trank und zeichnete auf einem Block, den er auf den Knien hielt. Das war noch viel schlimmer als das Schlagen, diese Ruhe und Gleichgültigkeit. Er wandte sich nicht einmal nach mir um. Minutenlang stand ich und wartete auf ein Wort oder einen Blick. Er trank und zeichnete. Ich existierte für ihn nicht. Ich trat zu ihm heran, er sah mich nicht an. Ich schaute auf seinen Zeichenblock, da hatte er immer wieder Ihre Karikatur gezeichnet, Herr Leihkauf, und dazwischen einen Akt von mir, vor Ihnen auf den Knien rutschend.«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und stöhnte laut. Sie schloß ihre Erzählung: »Da verließ ich das Zimmer. Ich kann nicht mehr zu ihm zurück.«

Leihkauf machte sich ganz klein in dem riesigen Klubsessel. Am liebsten hätte er sich verkrochen. Er fühlte, daß er etwas sagen müsse, aber er fand keine Worte. Al Rondo sah ihn an, er erteilte ihm gleichsam mit Blicken das Wort. Aber Leihkauf blieb stumm.

Es dauerte lange, bis Al Rondo sprach: »Nun, Leihkauf, an dir ist die Reihe, du mußt nun deinen Mann stellen. Du hast heute viel erlebt durch uns. Du hast dich an eine Frau herangemacht, die ist erschossen worden, und dann diese Frau Katharina hier kennen gelernt, in die hast du dich verliebt. Das alles muß doch eine Lösung finden, das alles kann doch nicht so in der Luft schweben bleiben.« Al Rondos Ton war von grausamer Sachlichkeit. Sein Gesicht blieb unbewegt.

Als Katharina von der Liebe Leihkaufs hörte, schälte sich ihr bleiches Gesicht aus ihren Händen. Sie starrte Leihkauf wie eine Wahnsinnige an, ohne irgendein Gefühl erkennen zu lassen. Leihkauf wagte ihr nicht in die Augen zu sehen, denn die da vor ihm saß wie ein Häufchen Elend, war eine ganz andere als die, in deren Augen und Hände er sich verliebt hatte. Jene war der Inbegriff von Ruhe, Zufriedenheit und allem anderen Ebenmaß gewesen, diese hier aber war eine verweinte, verzitterte, ruhelose Gestalt, unheimlich geradezu, ja sogar abstoßend. Er sah ihre Hände an: sie erschienen ihm nun aufgequollen und verwahrlost. Und ihre Augen vollends: das waren keine Augen mehr, sondern trübe Flecken, die in wässerigen Höhlen lagen.

Dieser Frau hatte er nichts zu sagen, von dieser Frau hatte er nichts zu erwarten. Er schwieg und verbarg sein Gesicht, so gut es ging. Als Al Rondo zu sprechen begann, klang es ihm wie eine Erlösung, aber es schien ihm auch wie die Erfüllung einer Pflicht, denn Al Rondo hatte dies alles verschuldet, er hatte den Knoten geknüpft, also mußte er ihn auch wieder lösen oder zerschneiden.

Al Rondo erhob sich aus dem Sessel, in dem er gelegen hatte, und begann eine Wanderung durchs Zimmer. Dabei sprach er mehr zu sich als zu den beiden:

Das ist ein großes Durcheinander. Leihkauf versagt. Er ist nicht geschaffen, zuzugreifen. Er ist klein und feig.« Leihkauf hörte es wie einen Richterspruch, es fiel ihm nicht ein, zu widersprechen. Al Rondo fuhr fort zu gehen und zu reden:

»Katharina hat Dummheiten gemacht. Sie hätte den armen Bill nicht reizen dürfen, sie hätte mit ihm trinken müssen. Bill ist kein Licht, er ist ein guter, dummer Junge. Gute, dumme Jungens haben das Recht, manchmal bös zu sein. Er hat diesen Abend Pech gehabt. Erst mit Leihkauf und dann mit dem Weibsbild. Warum hat Leihkauf nicht mit dem Weibsbild Pech gehabt? Bill hatte das Bedürfnis, sich zu rächen, das ist doch klar, nicht wahr? Da hat er sich als Zeichner gerächt – an euch beiden.«

Mit diesen letzten Worten blieb Al Rondo vor Leihkauf und Katharina stehen, sah von einem zum andern und fing plötzlich an zu lachen. Sein meckerndes Lachen brach über die beiden wie ein Gespenst herein. Er ließ sich in seiner plötzlich aufgequollenen Heiterkeit nicht beirren, er setzte lachend seine Rede fort:

»Ja, Katharina, daß er dich geschlagen hat, der Bill, dafür muß er büßen. Er wird vor dir auf den Knien rutschen. Aber du, Leihkauf, hast dich auch schuldig gemacht. Erst stürztest du den armen Bill wegen einer Karikatur in die bitterste Verlegenheit, dann verliebst du dich in seine Frau, dann geht Bill mit deinem Mädchen weg und erlebt das Furchtbare mit ihr, und schließlich sitzest du da in deinem öden Klubsessel und spielst den Unbeteiligten. Das stimmt ja alles nicht.«

Al Rondos Reden, die so klangen, wie wenn sie zum Fenster hereingeredet würden von einem, der gar nicht da ist, machten auf Katharina Eindruck. Sie war gewohnt, auf Al Rondo zu hören. Sie wurde ruhiger, ihr Gesicht kehrte aus der Verzerrung in seine runde und sanfte Form zurück, ihre Augen bekamen wieder Licht und Wärme, sogar ihre Hände schienen sich zu glätten und leicht zu röten. Diese Wirkung entging Leihkauf nicht, er starrte Al Rondo an wie einen Magier. Dieser Mann hatte ihm entlockt, was er wollte, und nun machte er aus Katharina ebenfalls, was er wollte. Er wurde immer unheimlicher. Er sah wieder auf Katharina. Sie war für ihn ohne Blick, sie sah aus wie ein Mensch, der in sich selbst Ordnung zu machen und seine Kräfte zu sammeln versucht.

Leihkauf fühlte: er stand in einer völlig zerrütteten Situation. Da ging ja, zum Teufel, eine Komödie um ihn herum vor. Dieser riesige, gebrechliche Mensch verzauberte die Frau, wozu er Lust hatte, und stieß ihn selbst in das Nichts und in die Gewöhnlichkeit seines Daseins zurück. Ein Rest von Widerstandskraft, ein Klümpchen von Auflehnung sammelte sich in ihm. Er stand auf und trat Al Rondo gegenüber. Aber schon, als er vor ihm stand, der kleine Subdirektor vor dem großen Rechenkünstler, mußte er seine Sache für verloren geben, ganz abgesehen davon, daß er nicht wußte, was für eine Sache das sei, die er gegen ihn führen und durchfechten wolle. Um so schriller war der Ton, in dem er sprach, er sprach mit der Heiterkeit des Feiglings:

»Sag mal, Kaßner, was hast du mit uns vor? Welche Rechnungsart übst du denn mit uns? Du tappst ja im Dunkel von Zahlen herum, du spielst ja schon wieder falsch, du schiebst Menschen durcheinander und kommst dir als Genie vor! Ein Patzer bist du, ein Dilettant, ein Sadist.«

Die letzten Worte schrie Leihkauf heraus. Al Rondo aber lächelte. Das entfachte in dem anderen erst recht eine kalte Wut: »Ein Mann mit deiner Vergangenheit sollte sich verkrümeln. Wer bist du denn eigentlich? Eine Varietégröße, die das bürgerliche Leben ausgespien hat.«

Al Rondo lächelte immer noch. Leihkauf konnte noch nicht aufhören: »Ja, ich liebe Frau Katharina und verzichte auf sie. Als korrekter Mann und Mensch. Aber nicht, weil du es willst. Deine Macht über mich existiert nicht, ich erkenne sie nicht an, ich lehne sie nicht ab, ich lache über sie, ich lache über dich.«

Und wirklich begann er nun auf lärmende Art zu lachen. Katharina war ebenfalls aufgestanden und hielt sich die Ohren zu. Entsetzt sah sie den lachend im Zimmer umhertaumelnden Leihkauf an, sie dachte sich: das ist ja ein Tier, man muß es gewähren lassen, es trompetet das Tierische aus sich heraus. Sie kannte solche Anfälle bei Tieren.

Al Rondo lächelte nicht mehr. Seine Augen wurden ängstlich, er stand in sich zusammengesunken da, die langen Arme reichten nun fast bis zu den Knien. Er atmete laut, es klang ähnlich wie das Geräusch, das er beim Trinken von sich gab.

Leihkauf aber stürmte im Zimmer auf und ab, die Hände in den Hosentaschen und kämpfte mit den immer heftiger werdenden Zuckungen seines Ausbruchs. Plötzlich blieb er vor Al Rondo stehen, funkelte ihn an, warf die Fäuste vor seine Augen, und da Al Rondo sich nicht rührte, packte er ihn an den Schultern, schüttelte ihn und schrie ihm ins Gesicht: »Hinaus, hinaus, Bankrotteur!«

Und dann, sinnlos vor Wut, drehte er sich zu Katharina herum: »Und auch Sie, Frau Blumm! Ich laß mich von euch nicht narren, ich liebe niemanden von euch, ich hasse euch alle, ich verachte euch, ihr seid Fremde, fahrende, unnütze Leute.«

Als er sich wieder zu Al Rondo umwandte, sah er diesen von neuem lächeln; da wurde es schwarz vor seinen Augen, er stürzte sich auf den Feind, griff ihm an die Kehle und würgte ihn.

Al Rondo sank in sich zusammen wie mürbes Gebälk und fiel hin. Katharina warf sich über ihn und schrie: »Sie Tier, Sie haben ihn getötet, Sie sind ein Mörder – er war der einzige Mensch, den ich wirklich geliebt habe.«

Leihkauf stürzte davon. Katharina hörte ihn nach einer Weile zur Flurtür hinauspoltern. Inzwischen erwachte Al Rondo aus seiner Ohnmacht, den Kopf in den Armen Katharinas. Er sagte nur: »Du mein Reh, gehen wir zu dem armen Bill Blumm zurück!«

Ernst Leihkauf rannte durch die Nacht – nicht anders, als er durch den Abend gerannt war. Keuchend fiel er schließlich auf eine Bank, die unter einer Kastanie am Fluß stand.

Hier saß er wohl eine Stunde mit geschlossenen Augen, eigentlich lag er mehr, als er saß, und dachte an nichts. In seinem Gehirn war gar kein Raum zum Denken, es war bis zum Bersten voll von einem gespenstigen Chaos, von geträumtem Lärm, Tumult und Grauen. Ein Gehirn wie eine Leichenkammer, in der Dämonen umgehen.

Langsam bleichte der Tag heran und öffnete fast gewaltsam dem immer noch hindösenden Leihkauf die Augen. Er sah Baum, Fluß und Weg, und seine erste bewußte Empfindung war die eines erwachten Kindes. Ganz naiv richtete er an sich selbst die Fragen: »Soll ich den Baum hinaufklettern oder in den Fluß springen oder den Weg weitergehen?«

Gleich darauf lachte Leihkauf vor sich hin. Er fand diese Fragen sehr merkwürdig, geradezu bedeutend: »Al Rondo würde da wohl von Symbolen oder solchem Zeug sprechen.« Er war im besten Zuge, einer heiteren Stimmung zu verfallen. Da tauchte das Bild der Katharina Dengelmann vor ihm auf. Und nun erst wußte er ganz, was er in dieser Nacht gewonnen und verloren hatte. Gewonnen hatte er ein paar Stunden Liebe – und Liebe ist doch Glück, nicht wahr? – und verloren hatte er die Frau, die er liebte. Die Bilanz war also – Leihkauf liebte es, Bilanzen zu ziehen: alles verloren, nichts gewonnen. Ein Verlustgeschäft! Und nun erst wurde er richtig traurig. Kein Grund zwar, um in den Fluß zu gehen, aber auch keiner, den Baum hinaufzuklettern! Also erhob sich Leihkauf und ging den Weg zurück, den goldenen Mittelweg, wie er bitter dachte, und der führte nach Hause.

Er fand seine Wohnung unverschlossen, sein Herrenzimmer verraucht und unordentlich. Es war schon halber Tag, als er damit fertig war, vor weit geöffneten Fenstern die Spuren der, was ihm immer deutlicher wurde, satanischen Nacht zu verwischen. Da stand auch schon die Haushälterin, das ungeschlechtliche Wesen, vor ihm und machte leere Augen. Er wandte sich ohne Gruß ab, verließ das Zimmer und ging ins Bett. Ein Schlaf überkam ihn wie ein Hammerschlag, ein Schlaf, der ihn aus dem Leben und Denken hinwegnahm und ins traumlose Nichts führte. Die Nacht hatte alle seine Kräfte erschöpft, die physischen und die psychischen, er mußte neue sammeln.

Als er endlich erwachte, war es schon Mittag. Er klingelte und befahl der Haushälterin, ihn krank zu melden. Auf die schüchterne Frage, was dem Herrn denn fehle, erwiderte er knapp und grob: alles! Dann setzte er hinzu: »Sagen Sie meiner Sekretärin, ich hätte Grippe und Fieber.« Auf die weitere Frage, ob er denn keinen Arzt wünsche, drehte er sich wortlos auf die andere Seite.

Er blieb den ganzen Tag liegen, aß nichts und trank nichts, und begann nunmehr, die Nacht nochmals zu erleben – vom Moment an, wo er das Haus verlassen hatte, bis zu dem Moment, wo er ins Bett gekrochen war. Die beiden Ehepaare Al Rondo und Dengelmann waren immer wieder da, auch das arme tote Fräulein am Büfett. Auch seine Liebe stand vor ihm, aber wie ein Schatten, wie ein Traum, wie eine Verirrung. Alsbald war er so weit, wie er sich haben wollte: Die Welt dieser Menschen war ihm fremd, jeder dieser Menschen war ihm fremd, alle Gefühle von ihm zu ihnen und von ihnen zu ihm waren ihm fremd. Ja, er war eine Nacht lang in einer schauerlichen Fremde gewesen und mußte nun wieder heim und zu sich kommen – er, der Subdirektor der Kreditversicherungsgesellschaft Credo, Dr. jur. et phil. Ernst Leihkauf.

Alsbald war er wieder eingeschlafen. Nun stieß er in Träume vor, die die Nacht noch mehr verzerrten und noch erbarmungsloser verwarfen als sein waches Bewußtsein. Wieder ausgeschlafen, dachte er ans Geschäft und wie er den Bonzen diese Nacht und ihren »Helden« schildern sollte. Aber auch aus dieser Schwierigkeit fand er einen Ausweg: er wird telephonieren, daß er krankheitshalber sofort seinen Urlaub nehmen müsse, um nach dem Süden zu fahren. Und nun sah er in vier Wochen Freiheit und Schönheit hinein. Und dies, nicht ohne sich zu attestieren, daß man als Bürger und »mittelgroßes Tier« doch eben auch seine Möglichkeiten habe, komme, was da will.

»Hallo, hallo, fettgedruckter Al Rondo, auch unsereiner weiß zu leben, auch unsereiner ist nicht an seinen Schreibtisch angewachsen und nicht in seinem Beruf festgefroren – werde ich die Ehre haben, Sie ebenfalls im Süden begrüßen zu können, he?«

Ja, Leihkauf wurde übermütig. Er stand auf, kleidete sich sorgsamer als je an und vergaß nicht, daß jetzt die Vorstellung im »Alkazar« beginnt, und daß nun die Herren Bill Blumm und Al Rondo dem Publikum den Affen machen müssen. Er strich sich über die pralle Weste, sah sein wieder frisches Gesicht rund um das sicher sitzende Monokel erglänzen und den Frieden und die Festigkeit seiner Existenz aufs neue gesichert. Mittelgroßes Tier? Immer noch besser als verrücktes und verkommenes Genie.

Draußen klingelte es. Leihkauf erschrak: Jetzt? Wer konnte ausgerechnet jetzt zu ihm kommen? Eine Blutwelle stieg ihm aus den Beinen über den Rücken. Er hörte die Haushälterin öffnen, fragen, und eine Frauenstimme antworten, seinen Namen nennen – eine Stimme, sein Herz blieb stehen, die er noch sehr genau im Ohr hatte.

Zwei Sekunden lang tropfte ihm der Wunsch durchs Gehirn: oh, daß es doch Katharina wäre! Aber er strich den Wunsch energisch aus, so wie er eine als dubios erkannte Zahl in der Kreditliste durchzustreichen gewohnt war: Katharina ist es nicht und durfte es nicht sein. Sie ist abgemeldet.

Nein, die Stimme gehörte einer anderen, o Himmel, einer Toten! Sie gehörte dem blonden Fräulein vom Büfett des »Alkazar«, die er für heute abend bestellt hatte.

Schon war er unter der Tür, verscheuchte mit einem Blick die Haushälterin, über deren grauen Augen sich angesichts der hochblonden Dame eine steile Tugendfalte bildete, und wandte sich mit etwas unsicherer Stimme an die Erscheinung: »Guten Abend, Fräulein –?«

»Anna Blechhammer«, ergänzte die Blonde, neigte leicht den Kopf und blinzelte Leihkauf von unten her an: »Guten Abend, Herr Direktor, komme ich ungelegen? Ich wollte ja nur Wort halten.«

Er gab ihr die Hand und zog sie ins Zimmer.

»Reizend sehen Sie aus, liebes Fräulein, reizend, ziehen Sie Ihr Jackett aus (schon zog er es ihr aus), nein, nein, Sie kommen nicht ungelegen, im Gegenteil, sehr, sehr gelegen kommen Sie, nehmen Sie Platz, hier eine Zigarette, und natürlich, darf ich eingießen, einen Kognak?«

Das sprudelte nur so aus Leihkauf heraus, alle Schüchternheit hatte er abgelegt. Anna Blechhammer war größer als er und gut, o durchaus gut gebaut, leicht junonisch, aber nicht dick, nein, nicht im mindesten dick, eine Wohlgestalt. Leihkauf federte ihr gegenüber in einen Klubsessel, sitzend war er ja immerhin ansehnlicher als stehend.

Die blonde Anna rauchte, trank (»Pröstchen Herr Direktor!«), lächelte, und zupfte an ihrer weißen, seidenen Bluse herum – unter einem Jackett kann man doch eine Bluse tragen, nicht wahr?

Leihkauf fraß sie mit den Augen, während er sich überlegte, ob nun eine andere erschossen worden sei oder überhaupt keine. Er entschied sich für das letztere, das Ganze ist ein Schwindel, eine Sensationsmache oder gar eine Halluzination des traurigen Schnellmalers gewesen. Aber gleichviel, er, Leihkauf, hatte nun eine Frau, hatte nun ein Ziel, hatte was in den Händen.

Während Anna sich verwegen umschaute und, des Vorwandes zu ihrem Besuch gedenkend, lispelte: »Eine schöne, eine sehr schöne Wohnung!«, war Leihkauf schon wieder auf den Beinen und bei ihr und legte seine Hand auf ihren Nacken, fuhr dann mit dieser Hand aufwärts durch ihr knisterndes Haar und neigte seine Augen zu ihren Augen. Mehr zu tun, war ihm nicht gegeben, aber es war genug.

Denn Anna Blechhammer war denn doch geübt genug, um nun ihrerseits die stillschweigende Übereinkunft über den Zweck ihres Besuches in die Tat umzusetzen. Die Nacht fiel über zwei Glückliche herein. Glücklich war der Subdirektor Dr. Ernst Leihkauf, endlich einmal wieder eine Frau zu haben, und glücklich war Anna Blechhammer über diesen gut situierten und stürmischen Kavalier.

Und als sie am nächsten Morgen die schöne, sehr schöne Wohnung verließ, da war es abgemacht, daß sie am Abend, 21 Uhr und 10 Minuten, sich zu dem Südfernzug einfinden wird, um mit Ernst eine schöne Reise zu machen. Wie oft hatte sie schon davon geträumt, einmal an die Riviera zu kommen – nun war es soweit.

Leihkauf aber blieb auch diesen Tag lange liegen, nahm im Bett ein erstes und ein zweites Frühstück ein, regelte telephonisch alles, was vor der Reise zu regeln war, und war herzlich froh, für die Frau Katharina einen so bequemen Ersatz gefunden zu haben.

Er war sehr zufrieden mit sich und schrieb, knapp vor der Abreise, folgenden Brief an Al Rondo:

 

»Werter Fritz Kaßner! Ich reise heute abend mit einer lieben Freundin nach Cannes. Die Reise ist aus Rücksicht auf feste Abmachungen mit der Dame unaufschiebbar. Ich bedaure daher sehr, Dich nicht mehr sprechen zu können, um Dir einige Mißverständnisse der gestrigen Nacht restlos aufzuklären. Ich werde im Süden Deiner und Deiner Freunde gedenken.

Mit Handkuß für Deine Frau Gemahlin bleibe ich Dein alter Schulfreund

Dr. jur. et phil. Ernst Leihkauf.«

 


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