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Vorrede

Die Darstellung Schopenhauers und Nietzsches wird von einander entgegengesetzten Bedenklichkeiten getroffen. Schopenhauer ist ein durchaus deutlicher Schriftsteller. Seine Denk- und Ausdrucksweise hat dafür gesorgt, daß eine »originelle Auffassung« seiner Lehre, die die bisher gültige reformierte – wie sie noch immer Plato und Spinoza, Kant und Hegel gegenüber möglich ist – ganz ausgeschlossen ist. Will die Darstellung also mehr sein, als ein bloßer Bericht, so muß sie über den Lehrgehalt selbst hinaus ihn in weitere und kritische Zusammenhänge mit Kulturtatsachen und seelischen Verflechtungen, mit Erkenntnisnormen und ethischen Werten einstellen. Ist so die bloße logische Interpretation für Schopenhauer nicht nötig, so ist sie umgekehrt für Nietzsche nicht möglich. Wenn ich hier seine dichterisch oder emotionell gesteigerte Sprache zu wissenschaftlicher Kühle herabzustimmen versuche, so ist dies nicht nur eine Umänderung der Form, sondern es heißt, seine Äußerungen zu einer Stufe der Abstraktion bringen, die sie selbst nicht beschritten haben und die deshalb unvermeidlich nach verschiedenen Richtungen hin gelegt werden kann. Für die einfach darstellende philosophische Deutung gibt er selbst unmittelbar zu wenig, während Schopenhauer dafür unmittelbar schon zu viel gibt. Aus diesen entgegengesetzten Gründen folgt für beide das gleiche: daß die tiefere Aufgabe statt auf die bloße Darlegung der Philosophie des Denkers auf eine Philosophie über den Denker gehen muß.

Der Charakter, den diese Blätter so um ihrer Gegenstände willen tragen, paßt sich ihrer grundlegenden Absicht an: einen Beitrag zu der allgemeinen Kulturgeschichte des Geistes und zum Verständnis der zeitlosen Bedeutung der Gedanken beider Philosophen zu leisten. Was in diesen Hinsichten wesentlich ist, fällt durchaus mit dem zusammen, was an den Persönlichkeiten selbst das Wesentliche und den Kern bildet. Dies ist keineswegs selbstverständlich und insbesondere nicht für Schopenhauer und Nietzsche. Von beiden besitzen wir die mannigfaltigsten Erörterungen über Probleme, die mit dem Mittelpunkt ihres Denkens in keinem notwendigen, oft in gar keinem Zusammenhange stehen. Es wäre von vornherein nicht ausgeschlossen, daß sich unter diesen gerade ihr philosophisch oder historisch Bedeutsamstes fände – wie bei vielen Persönlichkeiten tatsächlich ihre subjektiv nebensächlichen Erzeugnisse die objektiv erheblichsten oder ergebnisreichsten gewesen sind. Darauf, daß es sich hier anders verhalte, ruht die Möglichkeit und das Recht der folgenden Ausführungen. Denn sie gehen durchaus davon aus, daß die ganz wenigen leitenden Motive, die innersten Zentren der Schopenhauerschen und der Nietzscheschen Lehren zugleich deren objektiv wertvollstes und eigentlich dauerndes bilden. Indem meine Darstellung ausschließlich diesem letzten Kern der Denkzusammenhänge gilt, verflüchtigt sich all das Sensationelle und Paradoxe, das beiden Denkern in eigentlich gleichem Maße, dem älteren gegenüber nur durch die Zeit und Gewöhnung gemildert, anhaftet. In Wirklichkeit ist dieses logisch oder ethisch Revoltierende oder Exzentrische nur der Charakter jener Nebensachen und Akzidenzen. All die geistreichen Fechterkunststücke, die frappierenden Antithesen und Paradoxien sind nur weit ausladende Ornamente oder Angriffe und Verteidigungen, die die Beziehungen der Gedanken zu andern, außerhalb ihrer stehenden angehen; aber an deren tiefstes Wesen, wie es von Innen her, als der Ausdruck eines bestimmten Typus der Menschenseele gewachsen ist, rühren sie nicht.

Dies Positive liegt, wie gesagt, dort, wo der Kern der Lehren selbst, ihr subjektiver Mittelpunkt mit dem Mittelpunkt ihrer objektiven Bedeutung zusammenfällt; und das muß es bei jedem originalen Philosophen, weil er, wie es Goethe einmal über Schopenhauer sagt, die Frage nach dem »Gegenständlichen« »aus seinem Innern, ja aus dem Innern der Menschheit« beantwortet. Damit wird das Programm dieser Darlegungen noch folgendermaßen bestimmt. Wenn man eine Persönlichkeit in einem kulturgeschichtlichen Interesse schildert, so bedeutet das niemals einen Abklatsch ihres ganzen gelebten Lebens, sondern je nach der Besonderheit jenes Interesses wird vieles ausgeschaltet, anderes herausgehoben, und – was das Wesentliche ist – das Zurückbehaltene zu einem einheitlichen Bilde zusammengeschlossen, das so gar kein unmittelbares Gegenbild in der Wirklichkeit besitzt, sondern, dem künstlerischen Porträt vergleichbar, statt der realen Totalität des Gegenstandes vielmehr eine ideelle Ausgestaltung desselben, seinen Sinn und seine Bedeutung von einem bestimmten Darstellungszwecke aus gibt. Dem Philosophen gegenüber handelt es sich darum, aus der Gesamtheit seiner Äußerungen diejenigen auszuwählen, die einen bündigen, einheitlichen, bedeutsamen Gedankenzusammenhang ergeben – gleichgültig, ob jene Gesamtheit auch noch Widersprechendes, Abschwächendes, Zwiespältiges enthält. Die geistesgeschichtliche Entwicklung vollzieht überall diese Aussonderung, dieses Herauslösen und Zusammenschließen eines in sich zusammengehörigen Gedankenkomplexes und läßt nur das auf solche Weise gestaltete Bild eines Philosophen wirksam werden, nicht aber all die sozusagen nur psychologischen Fluktuationen, nicht das Hin- und Wiederpendeln des Gedankens, das jene kohärente Denkreihe umspielt oder ihr auch widerspricht. Der Darstellende hat diesen, in der historischen Wirkung des Philosophen sich so wie so vollziehenden Prozeß nur mit methodischem Bewußtsein zu antizipieren. Dieses, in aller Historik überhaupt stattfindende Verfahren hat als philosophiegeschichtliches – sobald das sachlich philosophische und geistesgeschichtliche statt des biographischen Interesses herrscht – die besondere Bedeutung, daß die »Widersprüche«, die mit dem wesentlichen Gedankengange kontrastierenden Äußerungen des Denkers außer Betracht bleiben dürfen. Daß ein Denker sich zwischen Ideen, die sich gegenseitig ausschließen, hin und hergewendet, ja daß er diese in einen Gedankengang zusammengebracht hat, das spricht vielleicht gegen ihn als psychologische Persönlichkeit oder gegen seine Selbstkritik; aber dagegen, daß eine dieser, einander widersprechenden Gedankenreihen richtig oder wenigstens bedeutsam ist, liefert es nicht die geringste Gegeninstanz. Man wird etwa aus Nietzsches Schriften Stellen zusammenbringen können, die seiner von mir vertretenen Auffassung unversöhnlich entgegenstehen; es genügt, wenn aus andern sich die hier vorgetragene, in sich geschlossene erweisen läßt und wenn ihre sachliche Bedeutung es rechtfertigt, sie als den eigentlich originellen und für die geistige Kultur wesentlichen Kern der Nietzscheschen Lehren zu behaupten.

Inhalt

I. Schopenhauer und Nietzsche in ihrer geistesgeschichtlichen Stellung

Der definitive Wert des Lebens und das Christentum. Schopenhauers Willensphilosophie als Ausdruck der inneren Lage der Gegenwart. Verlust des absoluten Lebenszweckes und weiterbestehendes Bedürfnis nach ihm. Nietzsches Ersatz des absoluten durch den relativen Zweck der Steigerung des Lebensprozesses selbst: der »Übermensch« als Formel der Menschheitsentwicklung über jedes gegebene Stadium hinaus. Das Verhältnis beider Lehren als Ergebnis dieser Grunddifferenz bei gleichem Ausgangspunkt.

II. Schopenhauer. Der Mensch und sein Wille 192 Die erkennbare Welt als Erscheinung in unserm Bewußtsein gegenüber dem unerkennbaren Sein der Dinge an sich. Die menschliche Seele als Treffpunkt beider Welten. Unser Wille als die absolute Realität unser selbst, als der einzige Inhalt unserer Existenz außerhalb unseres Vorstellens. Scheidung dieses Grundwillens von seiner psychologischen Erscheinung in einzelnen Begehrungen. Die Deutung des Menschen als Vernunftwesen, die moderne und die Schopenhauersche Reform dieses Begriffes.

III. Schopenhauer. Die Metaphysik des Willens

Die Mannigfaltigkeit als Erscheinungsform des Daseins, sein ansichseiendes Wesen als unbedingte Einheit. Dadurch berechtigte Übertragung des am Menschen erkannten Grundwesens auf die metaphysische Beschaffenheit des Daseins überhaupt: die Welt als Erscheinung des metaphysischen Willens. Abwehr des Vorwurfs mythologischer Vermenschlichung des Weltbildes. Der Widerspruch im Willen und die prinzipielle Unmöglichkeit seiner Befriedigung. Die Unbegreiflichkeit des Seins und ihre Herabsetzung durch seine Deutung als Wille. Die Einheit des Willens als pessimistisches Motiv.

IV. Schopenhauer. Der Pessimismus

Das Glück als das bloße Aufhören des Entbehrungsschmerzes. Unpsychologische Zerreißung des Lebens in Nichthaben = Leid und Haben = Glück. Das antizipierte Glück in der Annäherung an das Haben. Hauptmotiv der Schopenhauerschen Irrungen: die gewaltsame systematische Vereinigung der Willensmetaphysik mit dem Pessimismus. Die Lust- und Leidbilanz und die absolute Bedeutung des Schmerzes. Die Grausamkeit. Die metaphysische Gerechtigkeit und die empirische Verteilung von Lust und Leid,

V. Schopenhauer. Die Metaphysik der Kunst

Der reine Vorstellungsinhalt der Dinge, gelöst von seiner Realität, die »Idee« als Inhalt der Kunst. Subjekt und Objekt des ästhetischen Zustandes in ihrer Enthobenheit aus der Welt als Wille, aus der Kausalität und der Individualität. Die Bedeutung des Raumes. Der Realismus. Die artistischen Probleme. Die Musik als unmittelbarer künstlerischer Ausdruck des metaphysischen Willens. Das Glück der Kunst und der Pessimismus. Die Kunst als die Einheit der Lebensgegensätze.

VI. Schopenhauer. Die Moral und die Selbsterlösung des Willens

Moral als Verneinung der Individualform des Willens. Schopenhauers Verzicht auf alle objektiven Normen und dessen Motivierung durch den Pessimismus. Die metaphysische Einheit der Wesen als Fundament der Moral. Dagegen: die ethische Bedeutung der Zweiheit. Die Liebe als Mitleid. Die negative Gemeinsamkeit der Lebenswerte. Das Sein und das Sollen. Die Freiheit. Die asketische Verneinung des Willens. Der Selbstmord. Die endgültige Erlösung.

VII. Nietzsche. Die Menschheitswerte und die Dekadenz

Die geschichtliche Steigerung der Lebensintensität als definitiver Wert. Seine Umkehrung durch Christentum und Demokratie. Tatsächliche Übereinstimmung mit christlichen Idealen. Scheidung zwischen den Begriffen der Menschheit und der Gesellschaft, das Verhältnis beider zur Individualität. Die natürliche Distanz als Bedingung der Menschheitsentwicklung. Die psychologische Unterschiedsempfindlichkeit und die Ethik Maeterlincks. Die Wertbemessung einer Epoche nach ihrem Durchschnitt und die nach ihren Höhepunkten. Der Sinn des Immoralismus.

VIII. Nietzsche. Die Moral der Vornehmheit

Der objektive Charakter der Nietzscheschen Moral. Das Ideal der Vornehmheit. Sein und Tun. Der Preis der Aufwärtsbildung. Personalismus, aber weder Egoismus noch Epikureismus. Die Verantwortlichkeit. Die ewige Wiederkunft des Gleichen in ihrer ethischen und ihrer metaphysischen Bedeutung. Die absolute Diesseitigkeit des Nietzscheschen Ideals. Die Wertung des Lebensprozesses als solchen das tiefste Scheidungsmotiv zwischen Schopenhauer und Nietzsche.


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