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Man hat die Lehre Nietzsches als eine Wiederholung der griechischen Sophistik bezeichnet: auch diese zeigte schon die radikale Opposition gegen alle historisch bestehende, anerkannte Moral, die Inthronisierung des rein Natürlichen als Verhaltungsregel, die Betonung der individuellen Willkür an Stelle objektiver Normen, die Anerkennung des Rechtes der Stärkeren, gegen das sich die Schwachen durch die an sich ganz unbegründete Rechtsgleichheit Aller schützen wollen. In Wirklichkeit stellt diese Analogie das Verhältnis auf den Kopf. Es ist das Wesen der Sophistik, den objektiven Sinn und Wert des Tuns und Seins durch dessen Wert für das Subjekt zu ersetzen. Für Nietzsche hat umgekehrt das Subjekt nur dann eine Bedeutung, wenn es objektiv wertvoll ist; jene mißt das Objektive an einer subjektiven Skala, dieser das Subjektive an einer objektiven Skala. Freilich wird hier unter der Objektivität, von der unser Wert stammt, nicht das greifbare Werk, nicht das aus seinen Erfolgen bewiesene Tun verstanden, sondern das Sein, die in jedem sich darstellende Qualität des Typus Mensch – dies aber gemessen an dem schlechthin objektiven Maßstab: welche Stufe in der menschheitlichen Entwicklung solches individuelle Sein einnimmt. Gewiß stellt Nietzsche die Person nicht in den Dienst einer »Sache«, sie bleibt vielmehr der definitive Zweck- und Wertträger; aber doch kommt es nicht auf die Bedeutung ihres Seins und Verhaltens für ihre eigne Subjektivität an, sondern auf dessen Bedeutung vom Gesichtspunkt der Menschheitsentwicklung aus. Das ganz Eigentümliche dieser Wertbildung, das Nietzsche jener Sophistik völlig fernstellt, aber freilich eine tiefere und feinere Differenzierung des Denkens fordert, ist dies, daß die »Menschheit« in Nietzsches Sinne durchaus nichts jenseits der Einzelnen ist (wie es die Soziologie manchmal von der »Gesellschaft« behauptet), sondern ausschließlich in ihnen lebt, aber dennoch einen Wertmaßstab für sie abgibt. Bei den Sophisten findet das Subjekt in sich nur sich selbst, bei Nietzsche findet es sich selbst als einen Fortschritt oder Rückschritt der Menschheit, bestimmt nach dem Wertmaßstab, der dafür durch die Entwicklung unsrer Art festgelegt ist – prinzipiell mit völliger Objektivität, gleichviel ob über den Inhalt dieser Entwicklung und die Einstellung der Einzelerscheinung in sie Einstimmigkeit herrscht. Dies ist auch der fundamentale und gar nicht zu überbrückende Abstand Nietzsches von Max Stirner, zu dem er, nicht weniger auf ganz oberflächliche Indizien hin als zu den Sophisten, rangiert worden ist; denn auch für Stirner sind alle objektiven Maßstäbe und Wertungen wesenlose Einbildungen, gespenstische Schatten, denen als einzige Realität das Subjekt gegenübersteht; daß das Ich noch etwas Übersubjektives bedeuten könne, daß es überhaupt in eine Ordnung nach Werten eingestellt werde, würde Stirner als schlechthin sinnlos erscheinen. In ihm hat die Sophistik ihre Renaissance gefunden und nicht in Nietzsche, der schreibt: »Ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: Alles für mich!«
Durch diesen Unterschied erhält die Lehre Nietzsches jenen gegenüber das spezifische Cachet der Vornehmheit. Innerhalb des rein Geistigen herrscht Einstimmigkeit darüber, daß Objektivität Noblesse bedeutet: die gegnerische Meinung objektiv zu behandeln, sich nicht durch subjektive Leidenschaft hinreißen zu lassen, den Streit mit rein sachlichen Argumenten zu führen – ist Sache des vornehmen Geistes. Man wird Vornehmheit, die später hier noch genauere Bestimmung finden wird, als ein formales Verhalten bezeichnen, in dem sich eine entschiedene Personalität und eine entschiedene Objektivität in einer charakteristischen Weise zusammenfinden. Als Wertungsart der Persönlichkeit wird sie bedeuten: daß der objektive Wert der Person empfunden wird. Die wahrhaft aristokratische Gefühlsweise enthält die Strenge gegen sich selbst, die den Wert der eignen Existenz nicht nach der Zufälligkeit der äußeren Position und nach dem, was das Leben uns an Gaben und Genüssen einträgt, abschätzt, sondern nach der Würdigkeit, all dieses zu besitzen; daher die »Würde« des vornehmen Menschen. An und für sich ist Würde ein Relationsbegriff: man ist irgend einer Sache »würdig«, sie kommt einem nach einem objektiven Maßstabe zu, mag man sie erhalten oder nicht. Den Eindruck des Würdigen schlechthin aber macht eine Persönlichkeit, die ersichtlich in ihrem ganzen Auftreten und Verhalten genau das für sich beansprucht, was ihr an objektivem Maßstab gemessen zukommt, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der Aristokrat mag meinen, daß Menschen und Dinge ihm schlechthin zu dienen haben; vom Parvenü und bloß egoistischen Genüßling unterscheidet es ihn, daß er ganz von innen her – nicht nur in aufgeblasener Illusion, die doch immer eine geheime Unsicherheit enthält – dies durch die Qualität seiner Person nach objektiver Gerechtigkeit zu verdienen glaubt, und sich auch entsprechend verhält; nur daß die Pflicht, mit der er diesen Rechten entspricht, sich nicht immer auf jene Verpflichteten selbst richtet, sondern zunächst auf ihn selbst: er ist verpflichtet, sein Sein so zu gestalten oder zu bewahren, daß ihm von diesem her seine Rechte zukommen. Auf die Form dieser Empfindungsweise geht offenbar die ganze Wertrangierung hin, die uns an Nietzsche entgegengetreten ist: die unbedingte Konzentrierung des Wertes auf das Individuum, die doch nur seiner objektiven Bedeutung als Stufe der Entwicklung der Menschheit zukommt.
Dieser Struktur des Vornehmheitsideales entspricht es, daß nicht die Betätigung nach außen hin, sondern das in sich geschlossene Sein des Menschen seinen Rang bestimmt. Gewiß wird der wertvolle Mensch auch in wertvoller Weise handeln; allein nicht auf diesem Erfolg seines Seins, der immer ein Resultat dieses letzteren mit den Zuständen und Mächten der Umwelt ist und mit dem er sozusagen aus sich selbst heraustritt, liegt der Akzent – Nietzsche nennt solche, nach den Ergebnissen konstatierbare Handlungen: Epidermal-Handlungen –, sondern auf der Tatsache, daß er eben eine höhere Natur ist. Alles andre ist nur Akzidens, das Tun mag eines der Mittel sein, die Menschheit in ihrem Aufwärtswachsen zu fördern, aber es ist nicht dieses Aufwärtswachsen selbst; denn dies zeigt sich nur darin, was sie ist, d. h. was ihre jeweils höchsten Exemplare sind. Nietzsche wendet sich deshalb gegen jene Bekämpfer der »Heldenverehrung«, die sich ihren Beweis dadurch leicht machen, daß sie die »Leistungen« der großen Männer mit den »Leistungen« der Massen konfrontieren. Das eben sei das große Mißverständnis, daß man das Wesentliche und Wertvolle eines »großen Mannes« mit seinen Wirkungen gleichsetze. »Aber die höhere Natur des großen Mannes liegt im Anders- Sein, in der Rangdistanz – nicht in irgendwelchen Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschütterte.« Hier tritt wieder der unversöhnliche Gegensatz gegen alle soziale Anschauungsweise hervor. Der Gesellschaft liegt ausschließlich an dem, was das Individuum tut; sein Sein interessiert sie nur, insofern es die Garantie dafür ist, daß sein Tun immer in einer bestimmten Richtung verlaufen wird; das rein Moralische, die sittliche Kraft der Selbstüberwindung züchtet sie freilich, aber offenbar nur als Prophylaxis gegen äußere Schädigungen. Für sie besteht der Mensch nur aus seinen Wirkungen, da ihr Prinzip die Einwirkung des einen Menschen auf den andern ist; was er für sich, als Qualität, als Innerlichkeit ist, überläßt sie ihm und hat von sich aus weder ein Interesse noch eine Möglichkeit, dies anders als nach seinen, vom Subjekt auf andre Subjekte übergehenden Folgen zu rangieren. Für Nietzsche ist diese soziale Moral nur ein Rest der alten, im Prinzip überwundenen Teleologie: nun der Mensch nicht mehr der Zweck der Welt ist, ist er wenigstens noch der Zweck des andern Menschen. Selbst die sublimierteste Form der Aktivitätsmoral, diejenige, die allen Wert in den »guten Willen« legt, sieht noch immer über das tiefste und reinste Sein des Menschen hinaus. Sie gibt zwar zu, daß alles Gelingen oder Mißlingen, aller äußere Erfolg oder seine Abbiegung durch die Mächte der Realität für den sittlichen Wert der Persönlichkeit gleichgültig wären; aber dieser Wert beruht dennoch darauf, daß jene, aus der Persönlichkeit hervortretenden Wirkungen gewollt werden. Die Seele bleibt sozusagen immer zentrifugal gerichtet, wenngleich der Punkt, an dem ihr diese Richtung Wert gibt, nicht mehr außerhalb des handelnden Individuums überhaupt, in der sozialen Umwelt, sondern schon früher und innerhalb seiner fixiert ist. Wird also nicht, wie von Schopenhauer, das ganze Sein des Menschen mit seinem Willen identifiziert, so bleibt, bei aller Ununterscheidbarkeit des sichtbaren Verhaltens, doch das tiefe Auseinander der Wertgefühle bestehen: ob die bloße Qualität des Seins oder ob deren Ausmünzung in praktische Beziehungen zu einem Außerhalb – die Entscheidung über den Wert des Individuums trägt.
Wenn so, nach Schillers Ausdruck, adlige Naturen mit dem zahlen, was sie sind, gemeine mit dem, was sie tun, und eben dadurch die Seinsqualität des Individuums, von dem sozialen Interesse her und für den Willensmoralismus eine bloße Angelegenheit des Subjekts, zu einem objektiven Wert aufsteigt – so erhebt sich nun freilich die schwerste, bedenklichste Frage: wodurch denn die einzelnen Qualitäten des Menschen ihre Wertbedeutung als eine objektive legitimieren. Die Antwort Nietzsches darauf, die ich bisher entwickelt habe, lautete, daß gewisse menschliche Eigenschaften auf dem Wege der natürlichen Züchtung liegen. Die Menschheit ist durch das Aufkommen und die Steigerung eben dieser zu den von ihr erreichten Höhen gelangt, und dies ergebe das von allem Subjektiven, aller bloß persönlichen Schätzung unabhängige Kriterium für ihren Wert. Allein, so bestechend dies ist, so scheint es einen Zirkelschluß zu enthalten. Die tatsächliche Entwicklung unsrer Art hat doch keineswegs nur Schönheit und Reinheit, Gesinnungsgröße und Redlichkeit, Wert und Kraft zuwege gebracht, sondern ebenso das Gegenteil all dieser Eigenschaften; und in welchem Quantum etwa die eine Reihe im Verhältnis zur andern gewachsen sei, ist nicht nur völlig unkonstatierbar, sondern auch für die Wertfrage völlig irrelevant. Es müssen also aus der wirklichen, geschichtlichen Entwicklung zunächst gewisse Züge ausgewählt werden, die nun, als die Inhalte der Menschheitswerte, die Imperative für unser Verhalten und die Erweise für unsre Wertbedeutung abgeben. Also entscheidet doch nicht die natürliche Entwicklung als ein objektiver Maßstab über den Wert unsrer Seinsqualitäten, sondern umgekehrt, es muß schon eine Wertung gewisser Qualitäten zugrunde liegen, damit entschieden würde, was denn innerhalb der tatsächlichen, das Hohe und das Niedere gleichmäßig einschließenden Entwicklung als Entwicklung im Wertsinn anzusehen sei. Der Lebensbegriff, dem die Evolution eine neue Bedeutung gegeben hatte, schien das von allen Seiten Gesuchte zu leisten: den Inhalt und Sinn des Sollens aus einer gegebenen, feststellbaren Wirklichkeit logisch abzuleiten. Das eben war ja die ungeheure Schwierigkeit aller Ethik und Wertlehre gewesen, daß innerhalb des Erweislichen und Wirklichen (im weitesten, nicht nur grob äußerlichen Sinne) das sittlich Notwendige und Wertvolle nicht abzuleiten war, und dieses deshalb der individuellen Willkür und rein persönlichen Überzeugung preisgegeben scheint – eine Folge, der fast jede Metaphysik durch ein Hineingeheimnissen des Guten und Gesollten in die »eigentliche«, die wirklichste Wirklichkeit zu entgehen meinte. Indem nun der Begriff des Lebens als der allumfassende auftrat, dessen Form alles trug, was dem Menschen wesentlich ist; indem in ihm selbst der Trieb nach Erhöhung, Veredlung, intensiver und extensiver Erweiterung lag und so der Prozeß des Lebens unmittelbar an sich selbst ein Prozeß steigenden Wertgewinnes war – so konnte nun die Idealbildung an dieser innersten, vielleicht nicht immer sichtbaren, aber immer vorhandenen Richtlinie all unsrer Wirklichkeit entlanggehen. Nun aber hat sich dennoch jene Zusammenhangslosigkeit offenbart: daß die reale Entwicklung auch alles negativ Wertvolle mit derselben gleichgültigen Notwendigkeit produziert wie das Positive, daß, anders gesehen, keineswegs nur die edlen und »hohen« Qualitäten der Individuen ihnen zur Macht, zur Erweiterung ihres Lebens, zur Entfaltung all ihrer Möglichkeiten verhelfen, sondern List und Gewissenlosigkeit, Habsucht und praktischer Materialismus unzählige Siege im Lebenskampfe gewinnen. Die Auswahl dessen also, was auch Nietzsche für das Wertvolle innerhalb des wirklichen Lebens anerkennt, ist in der Struktur dieser Wirklichkeit nicht vorgezeichnet, sondern kann nur aus einem von ihr unabhängigen Wertgefühl ausgehen. Und nur ein optimistischer, enthusiastischer Glaube an »das Leben«, der mit dem Schopenhauerschen Pessimismus die volle Unbeweisbarkeit teilt, kann die Werte, deren Konstituierung als solche aus ganz andern Quellen fließt, als den Nerv des Lebens selbst, als die Faktoren seiner tatsächlichen Entwicklung ansehen. Daß es Nietzsche schließlich also doch nicht gelingt, die prinzipielle Wertgestaltung aus der Steigerung des Lebens heraus zu der anerkannten Reihe qualitativer Einzelwerte zu entwickeln, daß er diese vielmehr durch ein spontanes Wertgefühl erzeugen muß – dies ist das Motiv, um dessentwillen ich in dieser Darstellung seine allgemeine Konstituierung der Menschheitswerte nach ihren Grundsätzen und Formen von der Darlegung der inhaltlich bestimmten Beschaffenheitswerte gesondert habe.
Was diese Werte bei Nietzsche an Objektivität besitzen, liegt also nicht in ihrem Ursprung, nicht in ihrer Begründung; sondern es liegt in ihrem vorhin betonten Charakter, der sie in dem Ideal der Vornehmheit ihr Zentrum finden läßt. Denn diesem gemäß ist die Existenz bestimmter Menschen und bestimmter Qualitäten der Menschen an und für sich wertvoll, nicht um andrer Menschen willen, nicht um irgendwelcher Wirkungen willen, nicht einmal um eines »höheren Gesetzes« willen, sondern ihr Dasein ist Selbstzweck; aber nicht im subjektiven Sinne, nicht wegen ihres eigenen Lebensgefühles und Selbstgenusses, sondern ganz objektiv: die Gesamtheit der Dinge ist um so viel sinnvoller, bedeutungsreicher, wertvoller, wie derartige Existenzen und Eigenschaften sich in ihr finden. Dieses objektive Wesen der Vornehmheitswerte aber bringt es mit sich, daß der Preis an individuellen Leben, an subjektiven Leiden, an Opfern durch Härte und Unterdrückung völlig gleichgültig ist, der für die Verwirklichung dieser Ideale gezahlt werden muß. Der vornehme Mensch fragt nicht danach, »was es kostet«. Darum ist der Stil des vornehmen Lebens so völlig dem der Geldwirtschaft entgegengesetzt, in dem der Wert der Dinge mehr und mehr mit ihrem Preise identifiziert wird. Taine erzählt von der höchst verschwenderischen Aristokratie des ancien régime, es hätte als das Symptom der Vornehmheit gegolten, daß man auf das Geld absolut keinen Wert legte. Dies ist ersichtlich der äußerste Gegensatz zu der Verschwendung des Protzentums, die gerade von dem Glauben an die große Bedeutung des Geldes ausgeht. Die tiefe Aversion Nietzsches gegen alle spezifischen Erscheinungen der Geldwirtschaft muß auf den fundamentalen Gegensatz zurückgehen, der zwischen ihren Schätzungsrichtungen und denen der Vornehmheitswerte besteht: jene auf die Abwägung von Wert und Opfer gehend, den Wert nur soweit akzeptierend, wie er nicht durch die Größe der Aufwendung paralysiert ist, diese ganz gleichgültig gegen die Preisfrage, das Wertvolle, nur weil es ein solches ist, im Auge behaltend und es deshalb von seiner Korrelation mit dem »Preise« völlig lösend. Es ist die äußerste Steigerung des Vornehmheitsprinzips, daß der objektive Wert der Menschheit ausschließlich an ihren höchsten Exemplaren hafte und daß dem Leiden, der Unterdrücktheit und Unentwickeltheit der großen Masse, insoweit sie der Preis und der Unterbau jener Erhebungen sind, überhaupt nicht nachgefragt wird. Denn es ist nun einmal Nietzsches geschichtsphilosophisches Axiom, daß ohne die strengste Züchtung und Auslese, ohne unzählige Rücksichtslosigkeiten und Grausamkeiten es nicht zu dem höchsten und machtvollsten menschlichen Sein komme. Und damit – so paradox es scheint, so sehr es nur bei völliger intellektueller Befreiung der prinzipiellsten ethischen Form von allen an ihre Inhalte geknüpften Gefühlen plausibel sein mag – hat Nietzsche ein Grundgefühl Kants aus der individuellen Moral in die Gattungsethik übertragen. Für Kant ist alle Moral nur in der Überwindung unsrer niederen, sinnlichen Wesensteile denkbar. Der Mensch als ganzer, in seinem Naturfundament ein sinnlich-begehrliches Wesen, ist nun einmal nicht »gut«, sondern seinen irdisch-schweren Elementen gegenüber hat sich die Vernunft in jedem Augenblick erst in Kämpfen und Befreiungen durchzusetzen – eine Vergewaltigung des Tieferen durch das Höhere in uns, die nur unter Schmerzerscheinungen stattfinden kann. Es ist eines der letzten, die Geschichte der Menschenseele bestimmenden Motive: daß die entscheidenden Erhöhungen unsres Wesens an die Bedingung des Leidens gebunden sind; aber wie lang, wie verschlungen, über welche Stationen der verbindende Faden läuft – das begründet tiefste Unterschiede der Weltanschauungen. Kant hat die Verbindung auf den äußersten Punkt des Subjektes zusammengedrängt, der rein in sich selbst ruhende Wert der Persönlichkeit macht sich für ihn »nur durch Aufopferungen kenntlich«. Nietzsche aber verlegt die Verknüpfung über das Individuum hinaus in die Menschheit: nur die Zucht des großen Leidens habe bisher »alle Erhöhungen der Menschheit geschaffen«. Und darum ist es möglich, daß er die scheinbar selbstverständliche Identität des Trägers der Erhöhung und des Trägers des Leidens aufhebt: daß Unzählige leiden, unterdrückt werden, sich aufopfern müssen, schafft für einen Einzelnen die Bedingungen für jene Kraft, Produktivität, Schwingungsweite der Seele, mit der die Menschheit eine noch unbetretene Stufe ihres Entwicklungsweges erobert. Die Kantische Wertbildung innerhalb der individuellen Seele ist auf das Ganze der geschichtlichen Gesellschaft verbreitert – die Spannung zwischen Wert und Leiden hat die Einheit der Einzelseele verlassen und sich zwischen einer Mannigfaltigkeit von Subjekten aufgetan, die nur noch von der Einheit des Menschentums überhaupt umfaßt sind.
Die eigenartige Wertbildung, der es nur auf das objektive Dasein der wertvollen Qualitäten ankommt, während diese sich zugleich nur in absolut personaler Form, an der Individualexistenz der Seele verwirklichen; die nur die höchste Entwicklungshöhe objektiv erreicht sehen will, ohne das Recht dieser Bestrebung von dem Preise an Opfern oder an subjektiven Bedingungen abhängig zu machen – dies ist nur die nach einer andern Dimension hingehende Spiegelung der früher betonten Gleichgültigkeit gegen die Wirkungen des wertvollen Individuums: sein Wert, der der Wert eines Seins ist, ist so unabhängig von den Bedingungen, aus denen es sich erhebt, wie von den Folgen, die sich aus ihm erheben. Den Wert der großen Menschen ging es nichts an, was andre von ihrer Größe haben – und ebensowenig geht ihn an, was jene selbst, als Subjekte, davon haben. Darum ist jener Personalismus, weil er nur die Form einer rein objektiven Wertbildung ist, absolut kein gewöhnlicher Egoismus oder Eudämonismus. Der Reflex des Seins im Lust- oder Leidempfinden von Subjekten hat mit dem Werte dieses Seins durchaus nichts zu tun, mag es nun sich um fremde oder um das eigene Subjekt handeln. Da Nietzsche hierin schlimmer als in irgend einem andern Punkte mißverstanden worden ist, führe ich einige entscheidende Stellen an. »Trachte ich denn nach Glück?« fragt Zarathustra; »ich trachte nach meinem Werke.« »Freiheit bedeutet, daß man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird; daß die männlichen, die kriegs- und siegesfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andre Instinkte, z. B. über die des Glücks. Der freigewordene Mensch tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen.« »Man soll nicht genießen wollen, wo man nicht zu genießen gibt. Und – man soll nicht genießen wollen.« »Meine tiefe Gleichgültigkeit gegen mich: ich will keinen Vorteil aus meinen Erkenntnissen und weiche auch den Nachteilen nicht aus, die sie mit sich bringen. Will man Glück, nun, so muß man vielleicht zu den ›Armen des Geistes‹ sich gesellen.« »Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus: alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, d. h. nach Begleitzuständen und Nebensachen den Wert der Dinge messen, sind Vordergrundsdenkweisen und Naivitäten, auf welche ein jeder, der sich gestaltender Kräfte bewußt ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird.« – Der Kampf der Kirche gegen Sinnlichkeit und Lebensfreudigkeit ist verständlich und relativ berechtigt, insoweit es sich um Degenerierte handelt, »welche zu willensschwach sind, um sich ein Maß in der Begierde auflegen zu können«. Denn »Wollust ist nur dem Welken ein süßlich Gift, für die Löwen-Willigen aber – der ehrfürchtig geschonte Wein der Weine«. Und wenn er mit der »Nächstenliebe« ins Gericht geht, so ist es, weil er sie für eine schlecht verkleidete Eigenliebe hält. »Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen – die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen« – wobei ich die Bemerkung nicht unterdrücken möchte, daß diese Fernstenliebe dennoch als eine bloße Erweiterung oder weitsichtigere Technik der christlichen Nächstenliebe gelten könnte. Es gibt gar keinen strengeren Richter gegenüber allem Anarchistischen, Zuchtlosen, Weichlichen, als Nietzsche ist; alle Dekadenz, der die Gegenwart verfallen sei, sieht er ja gerade darin, daß die Strenge gegen sich wie gegen andre, die harte Zucht, die Ehrfurcht und Autorität, vor der Gleichmacherei, vor dem unvornehmen Streben nach dem Glück aller verschwunden sei. Gewiß predigt er Selbstsucht: d. h. daß der Hohe, Führende, Vornehme »auf sich halte«, daß er die Eigenschaften, die ihn zum Führer und zur Leuchte machen, nicht durch Weichherzigkeit verderbe, die dem momentanen Impulse um den Preis der dauernden Werte nachgibt; daß er die innere Distanz gegen die Tieferen auch äußerlich aufrecht erhalte, um nicht auf das Niveau jener herabgezogen zu werden und so seine höchsten Werte zu deklassieren. Aber alles dies ist nicht Willkür, nicht Genußfrage. Der vornehme Mensch, so sagt er, müsse »seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen«, und deshalb denke er nicht daran, »seine Pflichten zu Pflichten für jedermann herabzusetzen«. Der ganze Sinn seiner vorgeblichen Selbstsucht ist also nur die Erhaltung der höchsten personalen Werte, um derentwillen er ebenso die unnachgiebigste Strenge gegen sich selbst wie den anderen gegenüber fordert. »Wer ein Erstling ist, der wird immer geopfert. Nun aber sind wir Erstlinge. – Aber so will es unsre Art; und ich liebe die, welche sich nicht bewahren wollen.« – Und freilich predigt er Rücksichtslosigkeit, Härte, ja Grausamkeit: aber nur, weil sie ihm die Schule und Zucht scheinen, in der allein wieder die Stärke des Menschen erwachsen kann, die durch die Reduktion unsrer Ideale und schließlich auch unsrer Wirklichkeit auf die Interessen des Durchschnitts, der Allgemeinheit, verloren zu gehen droht. »Ihr sollt es immer schlimmer und härter haben: so allein wächst der Mensch in die Höhe, wo der Blitz ihn trifft und zerbricht: hoch genug für den Blitz!« Daß man diese Lehre für einen frivolen Egoismus, eine Heiligsprechung epikureischer Zügellosigkeit angesehen hat, gehört zu den wunderlichsten Augentäuschungen in der Geschichte der Moral. Sie stammt im wesentlichen daher, daß man die neue Synthese, zu der Nietzsche die wertbildenden Momente zusammengefügt hat, nicht erfaßt und deshalb an ihrer Stelle die gewohnten Assoziationen gelten läßt, die sonst allerdings den einzelnen Elementen dieser Synthese zugekommen sind. Nietzsche hat den Personalismus zu einem objektiven Ideal gemacht und ihn damit von dem eigentlichen Egoismus, der immer auf das Subjekt zurücksieht, aufs entschiedenste abgetrennt. Der Egoismus will etwas haben, der Personalismus will etwas sein. Damit stellt er sich jenseits des Gegensatzes von Eudämonismus und Moralismus, in dem die Kantische Moral aufging. Der Eudämonismus fragt: was gibt mir die Welt? Der Moralismus: was gebe ich der Welt? Für Nietzsche aber handelt es sich überhaupt nicht mehr um ein Geben, sondern um eine Seinsbeschaffenheit, die sich natürlich auch in Handlungen, in »schenkender Tugend« ausströmen wird; allein nicht diese Folge und Erscheinung ihrer trägt ihren Wert, sondern sie hat ihn unmittelbar in sich selbst, insoweit sie eine bestimmte Entwicklungshöhe des Typus Mensch darstellt. Und ebenso wird sie, in ihrem Subjekte sich reflektierend, ihm vielleicht auch zum Glück gereichen; aber – insoweit nicht etwa das Glück selbst eine Erweiterung, Vertiefung, Beseelung der Existenz ist – liegt auch hier der Wertakzent nicht auf solcher nachträglichen Gefühlsfolge des Seins, sondern auf diesem selbst, das ihn nicht weniger trägt, wenn es sich in unsrer subjektiven Empfindung als Leid, statt als Glück spiegelt.
Darum betont Nietzsche dauernd, daß das Leben in dem Maße seiner Höhe immer härter und strenger würde. Niemand würde sich empörter als er selbst gegen den Mißbrauch des Übermenschenbegriffes gewandt haben, der die Befreiung von der altruistisch-demokratischen und Rücksichtsmoral nur zu dem Recht libertinistischen Genießens ausnutzt, statt zu der Pflicht, die objektiv höhere Stufe des Menschentums zu beschreiten; von dieser Pflicht aus gesehen stellt sich der schlecht maskierte, subjektivistische Eudämonismus des »Nietzscheaners« als jenes Zurückwenden zur niederen Stufe dar, zu der Weichlichkeit des Pessimismus, zur Kraftverwendung auf das Unfruchtbare (denn mit Lust und Leid als subjektiven Zuständen verläuft sich das Leben jedesmal in eine Sackgasse) – kurz als jene Dekadenz und Abwärtsbiegung des Lebens, die jetzt nur den Gegenstand gewechselt hat, die sich nicht auf die tieferen Elemente der Gesellschaft, sondern auf die des Subjekts selbst wendet.
Mit der Eigenart der Nietzscheschen Ideale ist – wovon insbesondere ihr Zusammenströmen in dem Ideal der Vornehmheit hätte überzeugen sollen – das Gefühl der Verantwortlichkeit als ein integrierender, absolut wesentlicher Bestandteil verbunden. Jede gute Aristokratie wird dem bloßen Genießen ihrer Prärogativen durch das Bewußtsein enthoben, verantwortlich zu sein – nicht anderen Menschen, nicht einem von außen gegebenen Gesetz gegenüber, sondern sich selbst gegenüber. Diese, nur aus dem Ideal des eigenen Wesens quellende Verantwortung hat eben Nietzsche durch den Begriff der Menschheit gedeutet, deren Höhe mit der ihrer höchsten Exemplare identisch ist; wobei er keineswegs etwa die bestehende Aristokratie als Ideal faßt, in der ihm »alles falsch und faul« erscheint. Dieser Sinn für die Verantwortlichkeit, der der Vornehmheitsmoral einwohnen muß, erscheint mir nun als das letzte Motiv der wunderlichsten Lehre Nietzsches: von der »ewigen Wiederkunft des Gleichen«. Wenn der Weltprozeß, so lehrt er, sich in einer unendlichen Zeit an einer endlichen Masse von Kräften und Stoffen abspielt, so müssen alle, aus diesen herstellbare Kombinationen sich in einer endlichen Zeit, wie lang diese auch sei, erschöpfen; dann muß ersichtlich das Spiel von neuem anfangen und dem Kausalgesetz gemäß eben jene Kombinationen in der genau gleichen Reihenfolge wiederholen, und so fort ins Unendliche; wobei, angesichts der Kontinuität des Weltgeschehens, jeder beliebige Augenblick seiner als ein solcher betrachtet werden kann, in dem eine schließende und eine beginnende Weltperiode zusammentreffen. So ist also der Inhalt jedes Momentes, jeder Mensch mit allem, was er lebt, schon unendliche Male dagewesen und wird unendliche Male, in absolut identischer Wiederholung, wiederkehren. Eine Äußerung aus der Zeit des ersten Auftauchens dieser Lehre verrät ihren eigentlichen Sinn: »Wie, wenn dir eines Tages ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und sagte: ›Dieses Leben, wie du es bis jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe und Folge. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube.‹ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: ›Willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?‹ würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müßtest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung!«
Die endlose Wiederholung unsres Verhaltens wird ihm also zum Kriterium, an dem uns dessen Wert oder Unwert zum Bewußtsein kommen soll. Was als auf den Moment beschränkte Handlung unwesentlich erscheint und – von dem Gefühl aus: vorbei ist vorbei – leichtsinnig aus dem Gewissen geschoben werden würde, erhält nun ein furchtbares Gewicht, einen nicht überhörbaren Akzent, sobald ihm ein unaufhörliches »Nocheinmal« und »Nocheinmal« bevorsteht. Die ewige Wiederkunft bedeutet: jede Existenz ist ewig. Denn wenn sie sich unendlich oft wiederholt, so ist ihre Dauer dieselbe, wie wenn sie ewig kontinuierte. In ganz anderm Maße sind wir für unser Tun verantwortlich, zum mindesten: erkennen wir unsre Verantwortlichkeit, wenn wir wissen, daß kein Augenblick des Lebens mit sich abgetan ist, sondern daß wir und die Menschheit ihn unzählige Male so erleben müssen, wie wir ihn jetzt gestalten.
Damit ist nur ein Kantisches Grundmotiv gleichsam in eine neue Dimension distrahiert. Den Prüfstein für die Pflichtmäßigkeit einer Handlung findet Kant darin, daß der Handelnde das Prinzip, von dem sie geleitet wird, als ein allgemeines, schlechthin gültiges Gesetz wollen könne. In der Versuchung zu lügen und zu stehlen, gegen den Entbehrenden hartherzig zu sein und die Kräfte der eigenen Persönlichkeit unentwickelt zu lassen – kann ich über die sittliche Zulässigkeit danach entscheiden, daß ich unmöglich eine Menschenwelt wollen kann, in der solche Maximen als Naturgesetze herrschten: sie würde sogleich an inneren Widersprüchen zugrunde gehen und gerade um des egoistischen Interesses willen, aus dem der so Handelnde verfährt, kann er nicht wollen, daß allgemein, also auch gegen ihn, so gehandelt würde. Gewiß wird die Handlung in ihrem inneren Wesen durch die unaufhörliche Rekapitulation nicht geändert; allein wie unter einem Vergrößerungsglas werden dadurch Bedeutsamkeiten ihrer sichtbar, über die die Flüchtigkeit ihres Nur-Einmal-Seins den Blick wegtäuschte. Dies aber war der praktische Sinn der Kantischen Norm. Die Verbreiterung unsrer Handlungsweise zu einem allgemeinen Gesetz verleiht ihr sicher keine sachliche Bedeutung, die man nicht auch ihrer einzelnen Ausübung ansehen könnte: allein, wie unsre geistige Wahrnehmung nun einmal beschaffen ist, fehlt der Beurteilung der ganz isolierten Tat oft die volle Durchschlagskraft, weil ihre Folgen sich in die unzähligen kreuz und quer laufenden Strömungen des Gemeinschaftslebens mischen, die ihre reine Wirkung, ablenkend oder übertreibend, unkenntlich machen; das eigentliche Leben der Tat tritt erst hervor, wenn ihr ganzes praktisches Milieu auf sie abgestimmt ist, wenn keine entgegengerichteten Tatfolgen die ihrigen überdecken, kurz, wenn ihr Prinzip, statt eine zufällige Einzelheit in einem Chaos andrer zufälliger Einzelheiten zu sein, eine ausnahmslose Norm, ein »allgemeines Gesetz« ist. Kant zieht die Tat in die Breitendimension, in die unendliche Wiederholung im Nebeneinander der Gesellschaft, während Nietzsche sie sich in die Längendimension erstrecken läßt, indem sie sich in endlosem Nacheinander an dem gleichen Individuum wiederholt – entsprechend dem Akzent, den Kant auf die Folgen der Tat, Nietzsche aber auf das in ihr unmittelbar ausgesprochene Sein des Subjekts legt. Aber beiderlei Multiplikationen der Tat dienen dem gleichen Zwecke: ihren Sinn der Zufälligkeit zu entheben, die ihre Darstellung im Nur-Jetzt, Nur-Hier, ihr antut. Der innere Wert der Handlung, das an ihr, wofür wir verantwortlich sind, an sich völlig jenseits von Zeit und Zahl, vom Wo- und Wie-Oft-Bestehen, soll für uns, die wir dennoch an diese Kategorien gefesselt sind, wenigstens mit einer Unendlichkeit von Zahl und Zeit ausgestattet werden, um mit seinem wahren Gewichte zu wiegen.
In der Fichteschen Fortbildung dieser Formel Kants nähert sie sich schon der Verlegung in die Form der Zeit, die die Lehre von der ewigen Wiederkunft vollzieht: »Das empirische Ich, sagt Fichte, soll so gestimmt werden, wie es ewig gestimmt sein könnte. Ich würde daher den Grundsatz der Sittenlehre in folgender Formel ausdrücken: Handle so, daß du die Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken könntest«. Indem das Kriterium sich also in die Zeitreihe statt in die Gesellschaftsreihe erstreckt, gewinnt es auch hier wie bei Nietzsche sein Substrat an dem Individuum für sich allein, die Dauer eben desselben entscheidet an Stelle der Vervielfältigung an Anderen, aber mit der gleichen Tendenz als Erkenntnisgrund, über die Werte, für deren Realisierung oder Nicht-Realisierung wir verantwortlich sind.
Wenn nun die Lehre von der ewigen Wiederkehr nur diese, mit dem vorherigen Zitat gegebene Bedeutung hätte, die unendliche Verantwortung des Menschen für sein Tun sichtbar oder ausdrückbar zu machen, so würde sie der Frage nach ihrer objektiven Wahrheit enthoben sein; sie wäre ein Symbol und Prüfstein, wie der kategorische Imperativ Kants, der seine Funktion als Gedanke, aber nicht als Wirklichkeit ausübt. Indem aber Nietzsche sich damit nicht begnügt, sondern die Realität der ewigen Wiederkehr behauptet, dürfen die Schwierigkeiten dieser Behauptung nicht verschwiegen werden. Wollte man nämlich auch zugeben, daß der Weltprozeß sich in unendlicher Zeit zwischen endlichen Elementen abspielt, so ist damit noch keineswegs erwiesen, daß eine einmal zustande gekommene Konfiguration dieser Elemente sich irgendwann, auch in unendlicher Zeit, wiederholen müsse; dies kann freilich der Fall sein, aber es ist eine Kombination der Weltelemente denkbar, bei der es nicht stattfindet. Ich setze den Beweis dafür, weil er spezialistischer Natur ist, aus dem Text heraus, und führe ihn nur für den einfachsten Fall eines Systems, welches nur aus drei Elementen besteht. Man denke sich drei gleich große Räder, welche um eine gemeinsame Achse laufen. Auf jedem dieser ist ein Punkt markiert, und zwar derart, daß in irgend einem Augenblick diese drei Punkte auf einer Geraden liegen, die durch einen über die Räder gespannten Faden bezeichnet ist. Nun lasse man die Räder rotieren, und zwar so, daß das zweite Rad sich doppelt so schnell dreht wie das erste. Dann werden die beiden auf ihnen markierten Punkte nur in dem Augenblick wieder gemeinsam unter dem Faden liegen, wenn das erste Rad eine Umdrehung, das zweite aber deren zwei gemacht hat; dann wieder nach der zweiten ganzen Umdrehung des ersten und der vierten des zweiten Rades; kurz, die Anfangslage für diese beiden Räder wird ausschließlich nach n ganzen Umdrehungen des ersten und 2 n Umdrehungen des zweiten Rades erfolgen. Dem dritten Rad nun gebe man eine Umdrehungsgeschwindigkeit von 1/π des ersten Rades. Hat dieses erste also 1, 2, 3 – n Umdrehungen vollendet, so hat sich das dritte 1/π, 2/π, 3/π – n/π mal gedreht. Nach der Natur der Zahl π kann keiner dieser Brüche eine ganze Zahl sein. Das heißt, daß das dritte Rad niemals eine ganze Zahl von Umdrehungen vollendet haben wird, wenn das erste Rad eine ganze Zahl vollendet hat. Da es nun aber zu der gleichzeitigen Lage des auf dem ersten und des auf dem zweiten Rade markierten Punktes unterhalb des Fadens nach dem Obigen nur dann kommen kann, wenn das erste Rad jeweils eine ganze Umdrehung gemacht hat, so kann der bezeichnete Punkt des dritten Rades niemals den Faden in dem Augenblick passieren, in dem diese Punkte an den beiden andern Rädern unter ihm liegen. Das heißt: die Lage der drei Punkte, von der die Bewegung angehoben hat, kann in alle Ewigkeit nicht wiederkehren. Wenn es also nur irgend wo in der Welt drei Bewegungen gibt, welche dem Bewegungsverhältnis dieser drei Räder entsprechen, so können die Kombinationen zwischen ihnen niemals zu ihrer Ausgangsform zurückkehren. Die Endlichkeit in der Zahl der Elemente bewirkt also, selbst wenn für ihre Bewegungen eine unendliche Zeit zur Verfügung steht, durchaus nicht mit Notwendigkeit, daß die Situation irgendeines Momentes sich unverändert wiederhole. – Natürlich kann es sich auch anders verhalten. Die Weltbewegungen könnten so angeordnet sein, daß sie einen sich immer wiederholenden Kreis von Kombinationen durchlaufen. Allein die bloße soeben skizzierte Möglichkeit reicht aus, um den angeblichen Beweis für die ewige Wiederkehr des Gleichen als Illusion darzutun. Wenn man aber auch von diesem Bedenken absieht, so würde dennoch die Realität der Wiederkehr des Gleichen ihrer Tragweite als ethischer Regulative nichts hinzufügen können. Die tiefe Erschütterung und Weihe, mit der Nietzsche von ihr spricht, ist, wie mir scheint, nur durch eine gewisse Ungenauigkeit in ihrer logischen Auffassung erklärlich. Denkt man sie nämlich mit voller Schärfe aus, so verschwindet ihre innerliche Bedeutung vollkommen, weil die nächsten oder die soundsovielten Wiederholungen des genau Gleichen durchaus keine Synthese eben dieser gestatten. Wenn sich ein Erlebnis in meiner Existenz wiederholt, so kann diese Wiederholung als solche für mich die ungeheuerste Bedeutung gewinnen; aber doch nur, weil ich mich dabei des ersten noch erinnere, nur, wenn das zweite auf einen durch das erste modifizierten Zustand meines Seins oder Bewußtseins trifft. Fingiert man aber den – empirisch unmöglichen – Fall, daß dieses zweite mich in dem absolut gleichen Zustand träfe, wie das erste, so würde meine Reaktion darauf die absolut gleiche wie die auf das erste sein, und daß es eine Wiederholung ist, würde nicht die geringste Bedeutung für mich haben können. Jegliche solche Bedeutung hängt vielmehr daran, daß ein Ich beharrt, für welches das zweite Eintreten des gleichen Erlebnisinhaltes darum, weil ein erstes vorangegangen ist, einen andern Sinn und Konsequenz hat, als das erste hatte. Nicht anders aber verhält es sich mit der Wiederkehr der gesamten Existenz überhaupt. Ihr zweites Mal würde eine Bedeutung, die der ihres ersten Males etwas hinzufügte, nur dann haben, wenn dasselbe Ich, gleichsam perennierend, in beiden lebte; in Wirklichkeit aber bin ich es gar nicht, der wiederkehrt, sondern nur eine Erscheinung tritt auf, die mit mir in allen Eigenschaften und Erlebnissen absolut übereinstimmt. Wäre in dieser zweiten irgend etwas Reales, Qualitatives, wodurch sie auf die frühere hinwiese und was sie dem Umstände, die spätere zu sein, verdankt, so würde sie nicht die genaue Wiederholung der ersten, sondern eben dadurch von ihr unterschieden sein. Ich glaube, daß Nietzsche sich durch eine unscharfe Fassung des Ich-Begriffs dazu hat verführen lassen, in der Rekapitulation der gleichen Erscheinung sozusagen eine Auferstehung des Ich, das in der früheren bestand, zu sehen, und dadurch dem zweiten oder vielmaligen Ich – das aber niemals das erste Ich, sondern nur ein qualitativ gleichartiges ist – eine Bedeutung zu geben, die das erste nicht hatte (wodurch ersichtlich die vorausgesetzte Wiederkehr des Gleichen aufgehoben würde) und deren Vorwegnahme schon dem ersten eine neue Bedeutsamkeit verleiht. Wenn im unendlichen Raume viele, einander absolut gleiche, aber einander absolut unbekannte Welten existierten, so würde mein Ich sich seinem Inhalte nach in jeder derselben identisch wiederholen; aber dennoch würde ich nicht sagen dürfen, daß ich in jeder dieser Welten lebe. Und offenbar würden sich diese nebeneinander existierenden, schlechthin gleichen Personen genau so verhalten, wie die nacheinander lebenden, von denen die ewige Wiederkehr des Gleichen redet. Nur für einen Zuschauenden, Reflektierenden, der die Vielheit der Wiederholungen in seinem Bewußtsein zusammenfaßt, bedeutet die Wiederkehr des Gleichen etwas; in ihrer Realität an und für sich, für den Erlebenden, ist sie nichts. Nur ihr Gedanke hat eine ethisch-psychologische Bedeutung, und da dieser gedachte Gedanke doch in jeder der vergangenen und der künftigen Weltperioden in dem entsprechenden Momente gedacht wird, so kann die Wirklichkeit dieser Wiederholungen keiner von ihnen das Geringste über dasjenige hinaus hinzufügen, was jede einzelne von ihnen eben schon durch jenen bloßen Gedanken besitzt. Dagegen scheint es mir unzutreffend, wenn man zwischen der Idee der ewigen Wiederkunft und der des Übermenschen einen Widerspruch zu finden meint. Gerade wie jene ihrem eigentlichen Sinne nach nur ein Regulativ und Prüfstein für unser Verhalten ist, so ist es diese. Der Übermensch ist nichts als die Kristallform des Gedankens, daß der Mensch sich über sein Gegenwartsstadium hinausentwickeln kann und also soll. Warum sollte der Mensch auf dem Wege haltmachen, der ihn von der niederen Tierform zum Menschentum geführt hat? Wie seine jetzige Form über dem Tier steht, wird seine künftige über dem Menschen stehen. Der Übermensch ist eine Aufgabe, die mit dem Fortschreiten der Menschheit selbst fortschreitet, und über der Verfassung, die diese Aufgabe, wie eine bestimmte Gegenwart sie stellt, gelöst hat, erhebt sich sofort die neue, welche das der erreichten Gegenwart entsprechende Ideal bedeutet. Insofern der Mensch also ein der Entwicklung zugängliches Wesen bleibt, kann die Aufgabe, die der Begriff des Übermenschen bezeichnet, nie definitiv gelöst werden, sondern sie begleitet den Weg der Menschheit als die Forderung, die mit ihrer Erfüllung nicht erfüllt ist, und als der Ausdruck dafür, daß der Mensch in jedem Augenblick seiner empirischen Existenz, auch der höchsten ausdenkbaren, ein Übergang und eine Brücke ist. Dies schien nur insofern ein Widerspruch, als die Unendlichkeit dieser Aufgabe sich nicht mit der Endlichkeit der Weltperioden vertrüge; innerhalb dieser könne auch die Menschheit nur eine endliche Anzahl von Entwicklungsformen annehmen, und diese biegen sich, durch ihre gleichmäßige Wiederholung, zum Kreise, während das Ideal des Übermenschen eine ins Grenzenlose laufende Linie der Entwicklung forderte. In Wirklichkeit aber besteht diese Notwendigkeit nicht, sobald man den Übermenschen nicht als ein starres, seinem Inhalte nach ein für allemal feststehendes Gebilde faßt, sondern als jenes funktionelle Ideal, als die jeweils höhere Menschenform über jeder momentan tatsächlichen. Dafür ist es nämlich ganz irrelevant, daß die Menschheit über ein in jenen Weltkonfigurationen erreichbares Entwicklungsmaß nicht hinausgehen kann; welches auch immer sie zeige, hoch oder niedrig, in Wirklichkeit steigerungsfähig oder nicht, einmalig oder wiederkehrend: das Ideal steht über jedem ihrer Augenblicke, in seiner Gültigkeit von all jenen Bestimmungen der Realität, über die es sich ja gerade erhebt, völlig unabhängig. Darf man dies mit einer von Kant geschaffenen Kategorie formulieren: so sollen wir in jedem Augenblick, gleichviel wie er in Wirklichkeit beschaffen ist, leben, als ob wir uns zu dem, was auf der ideellen Entwicklungslinie über diese momentane Wirklichkeit unser selbst hinausliegt, entwickeln wollten – wie wir so leben sollen, als ob wir ewig so lebten, d. h. als ob es eine ewige Wiederkunft gäbe.
Die höchst zweifelhafte Wirklichkeitsbedeutung des Wiederkunftsgedankens steht zwischen zwei höchst wesentlichen Bedeutungen ihrer, die jene gleichsam zwischen sich annullieren: der als ethischer Regulative, von der ich sprach, und der metaphysischen. Nietzsche hat mit diesem Gedanken zwei typische und einander entgegengesetzte seelische Grundmotive zu einer eigentümlichen Vereinigung gebracht: das Bedürfnis nach dem Endlichen, nach dem konkret Begrenzten, der Formbestimmtheit des Gegebenen – und dem nach dem Unendlichen, nach dem Hinausgreifen über jede Schranke, nach dem Sich-Verlieren in der Grenzenlosigkeit. Auf dem Gebiet der Logik mag dies sich widersprechen, sich gegenseitig unmöglich machen. Allein beide Sehnsüchte finden sich nebeneinander, zusammenwirkend wie sich ablösend, in der psychologischen Wirklichkeit, und dieses eigentümliche Zusammen ihrer spiegelt sich, wie über den Kopf der Logik hinweg, in Gebilden der Metaphysik. In ihr nehmen die Vorstellungen überhaupt sozusagen einen besonderen Aggregatzustand an, auf den die Frage nach der Wahrheit im logischen und konkreten Sinne gar nicht anwendbar ist; sie stellt sich zu der Einzelheit der Erscheinungen in eine solche Distanz und abstrakte Höhe, daß diese ihre scharfen Umrisse, mit denen die Praxis, die Logik, die Einzelwissenschaften rechnen, verliert und daß die Metaphysik dadurch ganz andre Objekte hat (d. h. andre Aspekte derselben Objekte) als diese Betrachtungsformen – wie die Kunst mit in diesem Sinne andren Objekten rechnet als die Wissenschaft oder das Handeln. So hat die Metaphysik eine Eigenheit der Forderungen und Normen, von der man logischerweise nicht verlangen kann, daß sie allen Bedingungen der sonstigen wissenschaftlichen Logik genüge. Nicht nach diesen letzteren entscheidet sich die »Einheit« mannigfacher Elemente, die sie vollzieht, sondern sehr häufig ist diese die Objektivierung oder der begriffliche Ausdruck der seelischen Einheit, in der wir die Mannigfaltigkeit logisch auseinanderfallender Elemente erleben und verschmelzen. Die Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen nun ist so die Synthese des Unendlichkeits- mit dem Endlichkeitsbedürfnis: sie lehrt, daß endliche Inhalte, nach Gestalt und Zahl begrenzte Erscheinungen, die Form eines unendlichen Noch-Einmal und Noch-Einmal, ein grenzenloses Nacheinander annehmen. Und dies nicht durch ein zufälliges Zusammenkommen von Bestimmungen; sondern eben dieselbe Kausalität, die die konkret-endlichen Tatsachen zustande bringt und formt, treibt sie über sich hinaus und läßt die Kombinationen ihrer Elemente sich erschöpfen, bis sie wieder an der gleichen mündet und sie ebendeshalb unendlich wiederholen muß, weil ihr einzelnes Mal nur eine endliche, d.h. von neuen Konfigurationen begrenzte Gestaltung besitzt. Ihr tiefstes Symbol ist deshalb der Ring, dessen Umfang endlich ist und der doch in sich endlose Bewegung gestattet, in dem es keine Grenze gibt, sondern die innere Bewegung über jeden Abschnitt hinaus zum nächsten und kontinuierlich wieder zu jenem zurücktreibt. In den hinterlassenen Papieren Nietzsches findet sich die lapidare Bemerkung: »Daß alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: Gipfel der Betrachtung.« Damit wird meine Deutung der Wiederkunftslehre als Synthese des Endlichkeits- und des Unendlichkeitsbedürfnisses von den höchsten Stufen der Metaphysik her legitimiert. Zwischen dem Werden und dem Sein spielt der metaphysische Prozeß seit dem Streit Heraklits und der Eleaten; die ganze griechische Philosophie ist eine Geschichte der Bemühungen, die substantielle Festigkeit und Abgeschlossenheit des Seins, in dessen Begriff die Seele die Ruhe und das Definitive ihrer selbst und der Welt findet, mit dem Fließen und Wechsel, mit der Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit, die sie nicht weniger in sich selbst und in der Welt findet, in ein einheitliches, widerspruchsloses Bild der Wirklichkeit zusammenzuformen. Sein und Werden bilden die allgemeinste, formalste, umfassendste Ausgestaltung des prinzipiellen Dualismus, der das Schema alles menschlichen Wesens ist, und jede große Philosophie stiftet ein neues, versöhnendes oder einseitig entscheidendes Verhältnis zwischen jenen beiden. Indem Nietzsche auch der ewigen Wiederkehr diese Aufgabe stellt, vollzieht sich eine gleichzeitige Annäherung der Kategorien von beiden Seiten her. Einerseits nämlich sind die einzelnen und endlichen, an der Kette des Empirischen abrollenden Ereignisse ein ununterbrochenes Werden, ein Aufrauschen und Abfließen ohne Stillstand, ein Auflösen aller scheinbaren Substantialität in den Heraklitischen Strom; aber indem eben diese Ereignisse ins Unendliche hin wiederkehren, gewinnen sie ein Sein, eine unausweichliche Beständigkeit, jedes Endliche wird zu dem festen Punkte, zu dem jener Strom des Werdens endlos oft zurückkehrt; wodurch nun doch die gesamten Inhalte ebendieses ihm enthoben sind: das Endliche kleidet sich in die Form des Unendlichen und damit das Werden in die Form des Seins. Und nun von der andern Seite gesehen: gerade das Sein erscheint innerhalb der Wiederkunftslehre als das Endliche, Formbestimmte, Konkrete, und erst die Kausalität des Werdens verschafft seinen Inhalten die Unendlichkeit. Was wir sind, ist in jedem Augenblick begrenzt, unser jeweiliges wirkliches Handeln ist überschaubar, an dem realen Inhalt unsrer Existenz findet unser Bedürfnis nach endlicher Bestimmtheit seine Befriedigung. Indem aber diese Seinsinhalte dem Kausalgesetz des Werdens unterliegen und dieses zur Erschöpfung all ihrer Kombinationen und damit zur endlosen Wiederholung des Gleichen führt – nimmt eine Unendlichkeit des Werdens die Endlichkeit des Seins auf, das Bedürfnis nach Grenzenlosigkeit, nach dem Hinüberwachsen über Maß und Zahl trinkt sich Sättigung aus dem Strome des Werdens. Gewiß ist es nur die Dehnbarkeit und die Vieldeutigkeit so abstrakter Begriffe wie Endliches und Unendliches, wie Sein und Werden, die diese Mannigfaltigkeit ihrer Kombinationen gestattet. Allein von dieser Verfassung der Begriffe lebt die Metaphysik, und es kommt hier nur darauf an, den Umfang der Beziehungen zu zeigen, den die Idee der Wiederkehr des Gleichen zwischen ihnen stiftet. Daß eben dasselbe, endlich begrenzte Sein sich unendlich oft wiederholt; daß durch die Kausalität, die die Einzelerscheinung als eine Welle in dem rastlosen Flusse des Werdens aufsteigen und versinken läßt, ebendiese immer wieder emporgehoben wird und dadurch die Festigkeit und Ewigkeit des Seins gewinnt, die ihr jedesmaliges Schicksal als solches ihr raubt – dies läßt die ewige Wiederkehr zu einer Synthese oder, wie Nietzsche sagt, zu einer »Annäherung« zwischen Werden und Sein werden; und diese drückt sich in jenem doppeldeutigen Verhältnis der Begriffe aus: daß durch sie die Endlichkeit des Werdens in eine Unendlichkeit des Seins oder daß die Endlichkeit des Seins in eine Unendlichkeit des Werdens übergehe. Es ist sozusagen gleichviel, von welchem Punkte her man die in jener Idee angelegte Verbindungslinie zwischen den metaphysischen Polen zieht. Und sieht man nun von der hiermit gewonnenen Deutung der ewigen Wiederkunft auf den geschichtsphilosophischen Ausgangspunkt zurück, der der Schopenhauerschen und der Nietzscheschen Lehre gemeinsam ist und jenseits dessen ihre Divergenz beginnt: auf die Verneinung eines absoluten Endzwecks des Daseins überhaupt – so enthüllt sich eine tiefe Bedeutung jener Lehre und mit ihr vielleicht der sonst nicht leicht auffindbare Grund, weshalb Nietzsche sie als unbedingt wesentlich und zentral für sein ganzes Denken empfand. An die Stelle des Endzwecks setzt Nietzsche die Entwicklung mit ihren relativen Zwecken und Werten, an die Stelle einer absoluten Höhe, zu der der Weltprozeß aufstrebt, die Höhe jeder künftigen Stufe über jeder aktuellen. Aber diesem Prozesse bleibt die Unruhe der Endlosigkeit, die Unsicherheit durch die Unmöglichkeit des Überschauens. Die ewige Wiederkehr nun gibt für Nietzsche, durch die Begrenztheit der einzelnen Weltperiode, über der nur als Forderung und »regulative Idee« die Steigerung der Werte ins Unendliche steht, diejenige Übersehbarkeit und Abschluß, den das Dasein nach Wegfall seines absoluten Zieles noch haben kann. Die jetzt erforderte Unendlichkeit des Weges erwächst durch jenen Gedanken aus endlichen Abschnitten, das endlose Werden gewinnt gleichsam Form und Grenzsicherheit durch die unüberschreitbare Bestimmtheit, nach Zahl und Art, der Kombinationen, die seinen Inhalt bilden. Der Gedanke, daß das Leben endlos und unverändert wiederkehrt, für die meisten Menschen ein Entsetzen und Grauen, konnte für ihn ein Halt und ein Trost werden; denn das grenzenlose Weitergetriebenwerden, in dem die Unrast seiner Natur sich mit jener Verneinung eines Weltzweckes zusammenfand, war damit wenigstens zu den Umfangsgrenzen und der Formbestimmtheit des »Ringes« umgebogen.
Von allen Lehren Nietzsches ist die der ewigen Wiederkehr diejenige, die noch am meisten metaphysische Bedeutung besitzt – so sehr ihr Sinn als der Ausdruck für die ungeheure Verantwortung des Menschen, dessen Handeln durch seine ewige Wiederholung verewigt wird, auch an ihr die moralische Grundabsicht Nietzsches zeigt. Trotz all seiner Selbstbezeichnung als Immoralist ist sein Denken unendlich viel mehr ethisch orientiert als das Denken Schopenhauers, der doch unaufhörlich die Moral als den eigentlichen Wert des Lebens und Sinn alles Sinnens bezeichnet. Aber die Nietzschesche Moral ist sozusagen eine Moral von unten her, ihr fehlt völlig die metaphysische Spitze, durch die hindurch Plato und Spinoza, Kant und Schopenhauer das transzendente Sein in die menschlichen Willensbewegtheiten hinableiten. Das Vornehmheitsideal, in dessen Dienst, vermöge des Verantwortlichkeitsmotivs, auch die Wiederkehr des Gleichen tritt, ist absolut irdisch-empirischer Natur, insofern es der Gipfel einer von der Tiefe her anhebenden Entwicklung ist, und der Weihe, freilich auch der Problematik aller von oben her, aus dem Überempirischen stammenden Werte und Legitimierungen entbehrt. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb in der bisherigen Wertlehre und praktischen Philosophie die Vornehmheit noch nicht als besondere seelische Wertqualität anerkannt worden ist; es bleibt das Verdienst Nietzsches, die Eigenart dieses Ideals – nicht abstrakt und systematisch, aber in unzweideutigen und weiten Anwendungen – zuerst gelehrt zu haben. Tatsächlich ist es nicht in die hergebrachten fundamentalen Wertkategorien aufzulösen, so sehr es sich einerseits mit der ästhetischen, andrerseits mit der ethischen berührt. Allein daß es sich mit keiner von beiden deckt, zeigt sich gerade an jenem Mangel des metaphysischen Obertones, wie er mit dem Schönen und mit dem Sittlichen mitklingt. Man mag die Sittlichkeit noch so naturalistisch und empiristisch eingrenzen – jedes tiefere Denken gelangt ihr gegenüber an eine Schranke der Deutung, jenseits deren, oft mit unmerklichen Übergängen, das Reich der Mystik oder der Religion, der Metaphysik oder des nicht weniger metaphysischen Skeptizismus liegt; und ganz ebenso streckt die Interpretation des ästhetischen Genießens ihre Wurzeln oder ihre Gipfel von andrer Richtung her in ebendieses Reich. Aus dieser Beziehungslosigkeit zu allem Transzendenten fehlt dem Vornehmheitsideal – nicht notwendig seinen Trägern, aber seinem objektiven Inhalt – die eigentliche Tiefe. Die unermeßliche innere Bedeutung und Vertiefung der Menschen auf Rembrandts religiösen Bildern oder in Dostojewskis Romanen entbehrt, soviele Menschheitswerte in ihnen gesammelt sind, doch des Zuges der Vornehmheit, weil ihre Werte in irgendeinem Sinne in das Transzendente emporwachsen oder von ihm herkommen. – Das Wesen der Vornehmheit ist – und darum bildet sie für die gesamte Wertlehre Nietzsches die logische und abschließende Spitze – der Ausschluß der Majorität, die Geschlossenheit des Wesens gegenüber allem »Sich-gemein-machen«, die Ablehnung aller Vergleichung; deshalb kommt es für sie, wie für das Nietzschesche Bild der Menschheitswerte, nicht auf das Wieviel an, sondern nur, daß die Entwicklung des Daseins es überhaupt zu ihr gebracht hat; für sich allein der vollgültige Repräsentant dieser Bedeutung zu sein, verleiht dem vornehmen Wesen seine spezifische Natur. Aber ihren sozusagen biologischen Charakter streift sie damit nicht ab, sie bleibt wie die Aristokratie im historisch-sozialen Sinne, ein Produkt der Züchtung, die rein im Gebiet der Realität verbleibt. Daß die Nietzschesche Moral sich gerade zu ihr zuspitzt, entspricht genau der von ihm so leidenschaftlich ersehnten Befreiung der Moral von aller Transzendenz. Die grenzenlose Erhöhung über alle gegebenen empirisch-irdischen Wertqualitäten, die er fordert, findet ihr Gegengewicht darin, daß diese Erhöhung dennoch allein aus dem empirisch-historischen Boden erwachsen und ihre Unendlichkeit die Sphäre dieses Bodens nicht verlassen darf.
Es ist oft hervorgehoben worden, daß die Lehre Nietzsches den Gegensatz seiner Persönlichkeit bildete: dieser rauhe, kriegerische und dann wieder bacchantisch weittönende Ruf quoll aus einer höchst sensitiven, still in sich gekehrten, liebenswürdig milden Natur. Gewiß ist dies kein Gegenbeweis gegen ihre Ernsthaftigkeit; denn der Philosoph gibt in seiner Lehre unzählige Male sein Gegenspiel, seine Ergänzung zum vollen Menschen, sein Anders-als-er und seine unerreichte Sehnsucht. Die Vornehmheit aber ist der Punkt, in dem das Ideal, das Nietzsche lehrte, und die Wirklichkeit seiner Natur sich getroffen haben, gleichsam der Gipfel seines persönlichen Seins, von dem aus er den Flug nahm in das Reich der Wünsche für die Menschheit.
Dies absolut Irdische der Idealsetzung – in dessen Übersehen sehr viele Mißverständnisse des »Übermenschen« wurzeln – ruht auf einem sehr tiefen Grunde, an dem die Lehre Nietzsches ihre ganze gegensätzliche Beziehung zu der Schopenhauerschen gewinnt: auf der letztinstanzlichen, indiskutabeln, dogmatischen Wertung des »Lebens«. Die Tatsache des Lebensprozesses überhaupt, diese geheimnisvolle Form, die die Weltelemente angenommen haben, hat offenbar auf Nietzsche eine berauschende, überwältigende Wirkung geübt. Daß ein Imperativ, eine Wertsetzung sich gegen das Leben richten sollte, erscheint ihm als absurd und in sich widersprechend, weil eine Verurteilung des Lebens selbst immer nur das Symptom einer bestimmten Art von Leben sei und das Recht zu ihr nur aus einer Stellung jenseits des Lebens kommen könnte. Das Leben aber ist sozusagen das empirische, das historische Phänomen schlechthin. Die rätselhafte Blüte, die es treibt: die Seele und ihre einzelnen Inhalte – mögen ihre Bedeutung über die irdischen Schranken hinüberstrecken, aber das Leben als solches bleibt absolut in diesen befangen, es bleibt das Kind der Erde, und das Ideal der Vornehmheit ist nur die feinste Sublimierung, zu der es der Lebensprozeß in seiner Form als Entwicklung, Auslese, Züchtung bringen kann. Mit dem sichersten Instinkt hat Nietzsche, für den das Leben der Wert schlechthin ist, seine Liebe dem Vornehmheitsideal zugewendet, das allein, von allen idealen Elementen der Seele, das Leben nicht zwingt, über sich hinaus in das Reich des Transzendenten zu gehen oder wenigstens zu schauen. So ruht seine ganze Lehre auf dem dogmatischen Imperativ: das Leben soll sein! Darum sieht Nietzsche schließlich in Schopenhauer seinen eigentlichen philosophischen Gegner, der ihm in der Tat unüberwindlich ist, weil er jene Voraussetzung gerade leugnet, weil ihm gerade die umgekehrte: das Leben soll nicht sein! an ihre Stelle tritt. Indem er immer von der ihm selbstverständlichen Basis, daß das Leben wertvoll ist und sein soll, gegen Schopenhauer operiert und ihn dadurch, daß der Pessimismus das Leben zerstört, für widerlegt hält – kann man vielleicht sagen, daß er Schopenhauer in dessen ganzer metaphysischen Tiefe nicht verstanden hat. Denn gerade die lebenvernichtende Bedeutung und Konsequenz der Lehre, auf die hin Nietzsche sie für verurteilt erklärt, ist für Schopenhauer der Erweis ihrer Wahrheit.
Daß aber hier das logische Verständnis aufhörte, daß Nietzsche gar nicht sah, wie er Schopenhauer auf Grund einer dogmatischen Wertvoraussetzung, die dieser ja gerade leugnete, widerlegen wollte – das beweist einen Gegensatz des Seins der beiden Denker, über den der Intellekt so wenig eine Brücke schlagen konnte, wie man innerhalb einer Ebene, und wenn man noch so weit in ihr fortschreitet, zu einem Punkte gelangen kann, der in einer ihr parallelen Ebene liegt. Nach einem Frieden zwischen diesen Gegnern zu suchen, ist deshalb wie jedes nutzlose Unternehmen, schlimmer als nutzlos, weil es den Sinn ihrer Gegensätzlichkeiten, und damit den Sinn eines jeden an und für sich fälscht. Die Überzeugung vom Unwert des Lebens, die aus dessen Vieldeutigkeit und Unübersehlichkeit gerade nur die Monotonie, das Übergewicht des Leidens, die Unzulänglichkeit unsrer Bestrebungen heraussieht, und die Überzeugung vom Werte des Lebens, für die jeder Mangel die Vorstufe eines Besitzes ist, jede Eintönigkeit ein Spiel unendlicher Lebendigkeiten, jedes Leiden gleichgültig gegenüber den aufsteigenden Werten des Seins und Tuns, die sich darüber hinweg verwirklichen – diese Überzeugungen sind nicht theoretisches Wissen, sondern der Ausdruck fundamentaler Beschaffenheiten der Seelen und so wenig in eine »höhere Einheit« zu versöhnen, wie überhaupt ein Sein mit dem andern identisch sein kann. Denn der Wert dessen, was man ihre Synthese nennen mag, besteht gerade darin, daß die Menschheit es zu dieser Spannungsgröße ihrer Lebensgefühle gebracht hat. Darum kann eine Einheit ihrer nur nach einer ganz andern Dimension als nach der ihres objektiven Inhaltes hin liegen: in dem Subjekt, das sie beide zusammenschaut. Indem wir die Schwingung des geistigen Daseins durch den ganzen Abstand dieser Gegnerschaften hin empfinden, dehnt sich die Seele auch wenn und gerade wenn sie für keine der Parteien dogmatisch verpflichtet ist – bis sie die Verzweiflung über das Leben und den Jubel über das Leben als die Pole ihrer eigenen Weite, ihrer eigenen Kraft, ihrer eigenen Formenfülle umfassen und genießen darf.