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Zweites Kapitel.

Wahrheit.

Goethe ist ohne jeden Vorbehalt davon durchdrungen, daß die theoretischen Überzeugungen des Individuums in unbedingter Abhängigkeit von der Beschaffenheit und Richtung seines Seins stünden. Die alte Annahme, daß der Mensch so handle, wie sein Sein es mit sich bringt, setzt sich hier dahin fort, daß auch das Erkennen seine Bestimmung eben daher bezöge. Die gewöhnliche wissenschaftliche Meinung erkennt jedem Objekt gegenüber eine einzige, sozusagen ideell präexistierende Wahrheit an, die der einzelne Geist auffinden muß. Was er von sich aus produziert, ist nur die seelische Energie, die Funktion, mit der sich der Inhalt der Wahrheit für das Bewußtsein verwirklicht. Zwar wird auch dieser Inhalt ja nicht von außen in das Objekt hineingeschüttet, sondern auch er wird irgendwie von letzterem erzeugt und das Verhältnis dieser Erzeugung zu der Gegebenheit oder bloßen Auffindung des Wahren wird von der Erkenntnistheorie und der Metaphysik in den mannigfachsten Hypothesen dargestellt. Gemeinsam aber ist ihnen allen die Einzigkeit der Wahrheit gegenüber jedem Objekt und ihre Unabhängigkeit von der sonstigen Differenzierung der Subjekte. Und da das Einzige, auch seinem Wesen nach Spontane: der psychische Prozeß, das Dynamische an der Erkenntnisvorstellung – diese Vorstellung nur tragen, aber sie als wahre nicht modifizieren kann, so ist auch diese Spontaneität in allen Fällen, wo wirklich Wahrheit erkannt wird, genau so unindividuell, genau so beziehungslos zu der Sonderbeschaffenheit des einen oder des andern erkennenden Subjekts, wie der objektive Inhalt selbst es ist. Insofern wir Wahres erkennen, sind wir alle gleich, und nur in den grenzenlos möglichen Irrtümern kommt die Unterschiedenheit der Individualitäten zu Worte und zu Folge. Für diese typische Vorstellung vom Erkennen ist der Erkenntnisprozeß als eine Lebendigkeit der individuellen Seele sozusagen ausgeschaltet, da allein der Inhalt durch seine objektive Qualität bestimmt, welches Vorstellen wirklich Erkennen, Wahrheit ist.

Alles diesem Prinzip Entgegengesetzte, das Goethes Erkenntnisbegriff enthält, ist virtuell in der bekannten Zeile gesammelt: Was fruchtbar ist, allein ist wahr. Der rein in sich zentrierenden, in den bloßen Verhältnissen realer oder ideeller Inhalte bestehenden Wahrheit des allgemein angenommenen Wissensideales stellt er – übrigens ohne jede Polemik und als bemerkte er eigentlich die fundamentale Differenz gar nicht – in immer wiederholten Aussprüchen den andern Wahrheitsbegriff gegenüber: wahr sei für den Menschen derjenige Gedanke, der ihm nützlich sei. »Ich habe bemerkt, schreibt er im hohen Alter, daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist, sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich fördert. Nun ist es nicht allein möglich, sondern natürlich, daß sich ein solcher Gedanke dem Sinn des anderen nicht anschließe, ihn nicht fördere, wohl gar hindere, und so wird er ihn für falsch halten.« Der Einzigkeit der Wahrheit, ihrer Unabhängigkeit von ihrem individuellen Vorgestelltwerden kann nicht schärfer widersprochen werden: es gibt so viele verschiedene Wahrheiten, wie es individuell verschiedene Möglichkeiten gibt, durch das Denken der Dinge gefördert zu werden! Damit scheint es, als dürften die rohesten Formen des Pragmatismus sich auf Goethe berufen; was indes angesichts der Grundgesinnung Goethes von vornherein sehr unwahrscheinlich ist.

Machen wir uns zunächst klar, was er denn eigentlich unter der »Förderung« versteht, die zu leisten einer Vorstellung die Wahrheitsqualität verschafft. Moderne teleologische Theorien der Erkenntnis gründen sich darauf, daß die richtigen Vorstellungen von der Umwelt ein zweckmäßiges, uns nützliches Handeln zur Folge haben; die allgemeine Anpassung des organischen Lebens überhaupt bewirke deshalb, daß wir die richtigen Vorstellungen von den Dingen hätten. Oder auch, sie verwandeln diese synthetische Beziehung zwischen Wahrheit und Nützlichkeit in eine analytische: als das wahre Vorstellen der Dinge bezeichneten wir eben dasjenige, auf das hin wir zweckmäßig verfahren. In beiden Fällen ist es der Inhalt der bestimmten einzelnen Vorstellung, der die intellektuelle Bedingung des bestimmten einzelnen Handelns bildet: wie wir etwa einen Gegenstand im Raum nur ergreifen können, wenn wir die Distanz zu ihm richtig einschätzen, oder einen Menschen nur für unsere Zwecke gewinnen können, wenn wir ein richtiges Bild von seiner seelischen Verfassung haben. Mit alledem ist das theoretische Bild der Dinge von dem darauf gebauten praktischen Verhalten prinzipiell getrennt. Das Vorstellungsbild, gleichviel in welcher Weise und wozu entstanden, steht da und wird zu einer integrierenden Voraussetzung unsres Handelns, welches nützlich verläuft, wenn der Inhalt dieser Vorstellung zu der Realität, dem Orte jenes Handelns, ein bestimmtes Verhältnis hat; ändert sich dieses Verhältnis, so verläuft das Handeln verderblich. Das Entscheidende bleibt dabei immer die Beziehung, die das Vorstellungsbild seinem Inhalte nach einerseits zu dem Inhalt unsrer Zwecke, andererseits zu dem Inhalt der Wirklichkeit hat, da es eben zwischen diesen beiden zu vermitteln, die Wirklichkeit für die Zwecke auszunutzen hat. Nicht darauf, daß der Mensch die Vorstellung als ein inneres Element seines Lebens habe, kommt es an, sondern daß sie das geeignete Mittel, die zweckdienliche Voraussetzung dazu sei, daß das auf die Einzelheiten der Welt gerichtete Handeln diese zu der erwünschten Reaktion auf uns bewege. Was immer man unter Wahrheit verstehe und ob man sie auch im letzten Grunde durch das praktische Bedürfnis bestimmen lasse – immer bleibt die Tatsache, daß sie eben Wahrheit ist, daß sie die Realität in der Form der Vorstellung irgendwie unserm Handeln darbietet, der Grund und Inhalt ihrer Förderlichkeit.

An ihrem Gegensatz zu dieser Beziehungsrichtung zwischen Wahrheit und Nützlichkeit offenbart die Goethesche Lehre ihren entscheidenden Sinn. Nicht auf die dem Objekt zugewandte Seite der Vorstellung, nicht auf den ideellen Inhalt der Wahrheit, mit dem übereinstimmend oder nicht übereinstimmend unser Handeln förderlich oder verderblich ist, kommt es an, sondern auf die Bedeutung, die das Dasein der Vorstellung in unserm Bewußtsein für unser Leben besitzt. Der Pragmatismus, weil er auf das Ausnutzen der Welt vermöge ihrer Erkenntnis geht, knüpft deren Wahrheitskriterium an die realen Wirkungen, die der Mensch von den Dingen erfährt, und die durch die Vorstellungen nur vermittelt werden. Diese utilitarische Beziehung zwischen Ding und Leben, in die sich die Vorstellung nur als eine, nachher sozusagen wieder auszuscheidende Vermittlung einstellt, geht Goethe hier gar nichts an; sondern die Vorstellung als Element des Lebens selbst, nicht durch das, was sie diesem erst vermittelt, steht in ihrer Förderlichkeit oder Abträglichkeit für die Ganzheit dieses Lebens in Frage. Mit der theoretischen Schärfe ausgedrückt, zu der Goethe selbst sich nicht veranlaßt sah: für die vorliegenden teleologischen Wahrheitsbegriffe, besonders den Pragmatismus, ist es der Inhalt der Vorstellung, dessen Förderlichkeit ihr den Wahrheitswert gibt, für Goethe ist es der Prozeß ihres Vorstellens, die lebendige Funktion, die sie im Zusammenhange der seelischen Entwicklung ausübt. Der Mensch muß dadurch gefördert werden, daß er diese Vorstellung denkt, sie muß sich dem einheitlichen Totalsinne seiner inneren Existenz anschließen, und die Energie, die sie innerhalb dieser einsetzt, muß ein Moment dieser fortschreitenden Existenz selbst werden: dann heißt der Inhalt dieses dynamisch und personal bedeutsamen Vorstellens wahr. Man muß diesen Gedanken nur in seiner ganzen Spannweite und seinem fundamentalen Charakter fassen, um auch die Äußerung, die all jenen andern über das Förderliche als das Wahre zu widersprechen scheint, aus ihm zu begreifen: »Wie der menschliche Geist vorschreitet, fühlt er immer mehr, wie er bedingt sei, daß er verlieren müsse, indem er gewinnt: denn ans Wahre, wie ans Falsche sind notwendige Bedingungen des Daseins gebunden.« Und dies ist nicht die einzige Äußerung, mit der er die tiefe, integrierende Notwendigkeit des Irrtums für das Lebensganze verkündet. Nicht etwa in dem Kassandrasinne, als wäre nur der Irrtum das Leben und das Wissen der Tod. Es handelt sich vielmehr um einen so hoch gehobenen, so weit umfangenden Begriff des Wahren, sozusagen um dessen so absoluten Sinn, daß er das Wahre und das Falsche im Sinn ihres relativen Gegensatzes gleichmäßig einschließt; man möchte es, um den Unterschied, an dessen begrifflicher Fixierung Goethe kein Interesse hatte, zu markieren, etwa »das Richtige« nennen. In dieser Bedeutung mißt sich der Wert des Vorstellungsinhaltes am Leben, in dessen Ganzheit der Vorstellungsprozeß tragend und getragen sich verwebt; hier findet das Vorstellen eine letzte Instanz, der gegenüber das Objekt mit seiner Bestimmungskraft über das Wahr und Falsch gedanklicher Inhalte nur eine niedere ist. Dieses Wahre oder Richtige in dem absoluten, weil dem Absoluten des Lebens zugehörigen Begriffe, hat durchaus die logische und metaphysische Struktur jenes »Passenden«, das Goethe in dem merkwürdigen aus Hippokrates übernommenen Satze bestimmt: »Was die Menschen gesetzt haben, das will nicht passen, es mag recht oder unrecht sein; was aber die Götter setzen, das ist immer am Platz, recht oder unrecht.« Das »Passende« ist hier etwas Absolutes, das das Moralische hinter sich läßt, indem es die ethische Relativität: recht und unrecht – unter sich begreift. Die gleiche Aufgipfelung eines umfassenden Wertes über den relativen Sinn seiner selbst und seines Gegenteiles vollzieht sich in dieser Äußerung: »Man kann keineswegs zu vollständiger Anschauung gelangen, wenn man nicht Normales und Abnormes immer zugleich gegen einander schwankend und wirkend betrachtet.« Es gibt für ihn ein höchstes Normales, das Normales und Abnormes einschließt – die »Metamorphose der Tiere« lehrt eine höchste Gesetzlichkeit, die Willkür und Gesetz, Vorzug und Mangel einschließt. »Im organischen Leben«, sagt er, »wird selbst das Unnütze, ja das Schädliche selbst in den notwendigen Kreis des Daseins aufgenommen, ins Ganze zu wirken und als wesentliches Bindemittel disparater Einzelheiten«. Darum warnt er auch, bei den Pflanzen von Mißbildung und Verkümmerung in einem scharfen Sinne zu sprechen, da doch »sowohl das Geregelte wie das Regellose von einem Geiste belebt ist«. Wie hier ein höchstes »Regelmäßiges« gemeint ist, das die relative Regel und die Abweichung von ihr zu seinen Elementen macht, wie sein absoluter »Natur«-Begriff seine eigene relative Bedeutung einschließt (»Auch das Unnatürlichste ist Natur«!), wie vorhin das schlechthin »Passende« – genau so verhält sich dort das Wahre in dem Sinne, in dem es das Leben fördert, sich dem Ganzen anschließt und jene notwendige Bedingung des Daseins ist, die das Wahre und das Falsche, in ihrem gewöhnlichen Sinne, gleichmäßig übergreift. Und nur der Stimmungsakzent, nicht die metaphysische Gültigkeit des Verhältnisses zwischen dem Leben und der Gegensätzlichkeit seiner relativen Einzelwerte verschiebt sich in der Äußerung: »Glückliche Beschränkung der Jugend, ja der Menschen überhaupt, daß sie sich in jedem Augenblicke ihres Daseins für vollendet halten können und weder nach Wahrem noch nach Falschem, weder nach Hohem noch Tiefem fragen, sondern bloß nach dem, was ihnen gemäß ist.« Und so erst wird das Wahre ganz verständlich, das ein solches nur ist, insofern es fruchtbar ist. Nicht die Fruchtbarkeit ist gemeint, die in der Sphäre des bloßen Erkennens besteht – wo eine Erkenntnis dann fruchtbar heißt, wenn ihr Inhalt andere Inhalte aus sich entwickeln läßt, zu der Bildung neuer logisch-sachlich anregt; sondern die sozusagen dynamische Fruchtbarkeit, mit der Vorstellungen, jetzt selbst als Leben betrachtet, in dem Leben ihres Trägers wirken. Diese sind in dem Goetheschen, dem vitalen Sinne wahr, sie können überhaupt gar nicht falsch sein, obgleich ihre Inhalte, als solche und vom Objekte her betrachtet, wahr oder falsch sein mögen. Nur in dieser Bedeutung gibt es einen Sinn, wenn Goethe sagt: »Der Irrtum gehört den Bibliotheken an, das Wahre dem menschlichen Geiste« – denn in jener anderen Bedeutung der Begriffe gibt es doch auch Wahres in den Bibliotheken und Irrtum im menschlichen Geiste. Und noch einmal findet er einen besonderen Ausdruck für dieses Lebenskriterium, das sich mit dem theoretischen über Wahrheit und Irrtum nicht deckt. Man könnte, so sagt er, von diesen beiden ausgehend, »ein drittes Wort im zarteren Sinne hinzufügen, nämlich Eigenheiten. Denn es gibt gewisse Phänomene der Menschheit, die man mit dieser Benennung am besten ausdrückt; sie sind irrtümlich nach außen, wahrhaft nach innen, sie sind das, was das Individuum konstituiert; das Allgemeine wird dadurch spezifiziert und in dem Allerwunderlichsten blickt noch immer etwas Verstand, Vernunft und Wohlwollen hindurch, das uns anzieht. – Man kann sie sich vorstellen als Formen des lebendigen Daseins und Handelns einzelner, abgeschlossener, beschränkter Wesen, Individuen wie Nationen. – Eine Eigenheit könne an sich, wo nicht lobenswert, doch wenigstens duldbar sein, indem sie eine Art zu sein ausdrückt, welche man als Bezeichnung eines Teils des Mannigfaltigen gar wohl müßte gelten lassen.« Vollkommener ist wohl nicht aufzeigbar, wie ihm ein über dem theoretischen Gegensatz von Wahrheit und Irrtum stehender Begriff von Wahrheit vorschwebte – die Wahrheit, in der die Art des Menschen, überhaupt und dieser bestimmte zu sein, ihren Ausdruck findet.

So also ist Wahrheit gewissermaßen die Relation zwischen dem Leben des Menschen und der Totalität der Welt, in die es sich einordnet; sie ist Wahrheit nicht um ihres logischen und nur logisch nachprüfbaren Inhaltes willen (der vielmehr erst so seine metaphysische Fundierung erhalten wird), sondern weil der Gedanke, nicht anders als unsere physiologische Beschaffenheit oder unser Gefühl, ein Sein des Menschen ist, das seine Richtigkeit oder Nicht-Richtigkeit als reale Qualität, Ursache oder Folge seines gesamten Weltverhältnisses besitzt. »Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit.« Schon hiernach kann nicht zweifelhaft sein, daß das Subjekt, das die so verstandene Wahrheit trägt und bestimmt, der ganze Mensch ist, nicht etwa ein isoliertes »Verstandes«-Vermögen, sondern seine Totalität, mit der er eben der Totalität des Daseins verwebt ist. Ebensowenig aber auch ist Kraft und Kriterium dieses Erkennens auf die Sinnlichkeit beschränkt. Hier hat man Goethe auf Grund unpräziser und nur a postiori gültiger Äußerungen und in etwas oberflächlicher Auffassung seines »Künstlertums« durchaus mißverstanden, indem man als den Grundirrtums seines Weltbildes gelten ließ, daß er dessen Prinzipien, z. B. die »Urphänomene«, noch innerhalb der sinnlichen Gegebenheiten – wenngleich nicht schwankungslos – festhielt. Die sachliche Kritik dieser Prinzipien bleibt dahingestellt. Aber ihre Bestimmtheit durch die »Sinnlichkeit des Künstlertums« ist ganz mißverständlich, weil diese Sinnlichkeit gerade im Unterschied gegen die des Durchschnittsmenschen oder der philosophischen Abstraktion, schon von vornherein und in sich selbst von Verstandes- und vernunftmäßigen Kräften und Normierungen durchdrungen ist. Die Bezeichnung des Künstlers als des »Sinnenmenschen« hat gerade den Sinn, daß bei ihm die Sinnlichkeit nicht von dem übrigen Menschentum so abgetrennt ist, wie sie sonst in Theorie und Praxis erscheint. Die Abstraktion, die dem Künstler fernliegt, betrifft nicht nur das durch logische Begrifflichkeit aus dem Leben Abtrennbare, sondern ebenso die Isolierung des Sinnlichen aus dem Gesamtkomplex des Lebens heraus. Nur daß bei ihm die Sinnlichkeit der Kanal ist, durch den dieses Gesamtleben in Produktivität mündet – wie dem Philosophen das begriffliche Denken, dem Praktiker die Handlungsenergien eben diesen Dienst leisten: sein Sein sich in sein Werk umsetzen zu lassen. Goethe hat dies unzählige Male ausgesprochen und angedeutet. »Dem bloß sinnlichen Menschen verbirgt die Natur Vieles«.

»Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält

Wie hätte ein Sinnenmensch, in jener ebenso abstrakten wie trivialen Bedeutung des Wortes, in einer höchst ernsten, sein ganzes Leben charakterisierenden Konfession, von der in ihm »obwaltenden Verachtung des Augenblicks« sprechen können? Von der Jugend bis zum Alter revoltiert ihn »die Lehre von den unteren und oberen Seelenkräften«. »In dem menschlichen Geiste, so wie im Universum, ist nichts oben noch unten; alles fordert gleiche Rechte an einen gemeinsamen Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das harmonische Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert. – Wer nicht überzeugt ist, daß er alle Manifestationen des menschlichen Wesens, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand, zu einer entschiedenen Einheit ausbilden müsse, welche von diesen Eigenschaften auch bei ihm die vorwaltende sei, der wird sich in einer unerfreulichen Beschränkung immerfort abquälen.« Das also ist kein Zweifel: die Vorherrschaft des Sinnlichen, der unmittelbaren Wahrnehmung ist es nicht, von der seinem Erkennen und seinen Theorien des Erkennens eine Eingeschränktheit käme. Vielmehr, dessen sensueller, »augenmäßiger« Charakter bedeutet gerade, daß in das Aufnehmen, wie in das erkennende und produktive Gestalten der Welt die Ganzheit des Menschen einzutreten hat. Die Sinnlichkeit des Künstlers ist keine abstrakte, sondern gleichsam nur der Vorname jener Ganzheit. Der scheinbare Tiefsinn, der irgendwelche Mängel des Goetheschen Weltbildes aus seinem Künstlertum und einer damit gegebenen einseitigen Akzentuierung des bloß sinnlich Gegebenen herleitet, mußte hier widerlegt werden, wo das Erkennen in Goethes Sinne gerade in der Beziehung des Lebens überhaupt zu der Welt überhaupt aufgezeigt wurde; wenn es deshalb schon den Gegensatz des singulären Wahren und Falschen übergriff, wieviel mehr mußte es sich dazu über den zwischen Sinnlichkeit und Verstand erheben!

Die so erreichte Deutung nun erstreckt ihre Voraussetzungen und ihre Folgen nach zwei Seiten hin.

Wenn Goethe jenes funktionell Richtige, in die Lebenstotalität förderlich Eingefügte, das sich über die gewöhnliche Relation: wahr und falsch, erhebt, schlechthin als das Wahre bezeichnet, so muß sich dies in tieferen Bedingtheiten gründen. Der Sinn des Wahren, der in der Beziehung zum Objekt besteht, ist tatsächlich auch hier nicht ausgeschaltet; nur greift diese Beziehung gewissermaßen über die singulären Erweislichkeiten hinweg ins Metaphysische. Denn sie beruht auf dem fundamentalen Glauben Goethes, daß der innere Weg des persönlichen Geistes seiner Bestimmung nach derselbe ist, wie der der natürlichen Objektivität – nicht aus zufälliger Parallelität oder nachträglicher Zuordnung, sondern weil die Einheit des Daseins das eine wie das andere aus sich erzeugt, oder genauer, weil eines wie das andere »Natur« im weitesten und metaphysischen Sinne ist; es bedarf dafür keiner besonderen Erweise aus dem Kreise der Goetheschen Äußerungen, der das: Ist nicht der Kern der Natur – Menschen im Herzen? – umgibt. An einzelnen herausgeschnittenen Stücken aus der Natur und dem Geiste mag ihre Harmonie nicht aufzeigbar sein; faßt man aber die Totalität des geistigen Lebens, so wie ich sie andeutete, bezieht sich die Wahrheit auf den vollkommenen Prozeß dieser Totalität, so muß sie zugleich Wahrheit in Hinsicht des Objekts sein, weil das Subjekt und das Objekt als ganze, als Kinder des einen physisch-metaphysischen Seins, nicht auseinanderklaffen können. Diese Überzeugung war für Goethe erst in zweiter Linie Theorie; sie war sozusagen der Charakter und Sinn seiner Existenz selbst, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie seine Gedankenwelt unterbaute – viel breiter als in seinen abstrakten Äußerungen zutage tritt – macht seine Sätze oft lässig und ungenau. Denn Ausdrücke, die an sich wohl Verschiedenes bedeuten, werden für ihn gleichmäßig zu Gefäßen dieses einen, alles durchflutenden Lebensprinzips. Und weil die mit ihm ausgesprochene Einheit ihn unbedingt beherrschte, war es eigentlich gleichgültig, von welcher der Seiten her, die in ihr harmonierten, er sie aussprach. Wenn nur das Fruchtbare ihm wahr ist, so konnte er ebensogut sagen, nur das Wahre sei ihm fruchtbar. Und tatsächlich klingt dies in all den Äußerungen an, wo er von der wahren Erkenntnis sagt, daß sie »Folge hat«. Sein Geist war gewissermaßen die Lebendigkeit dieses Prinzips, er war so glücklich konstruiert und ein so reiner Spiegel des Daseins, daß ihm – prinzipiell und im weitesten Sinne – nur das Wahre fruchtbar wurde, woraus er freilich schließen durfte, daß das Fruchtbare auch wahr wäre. Darum konnte er sich die Realität in der Absonderung von dem subjektiven Leben gar nicht als etwas Objektives denken; und andererseits, wenn er es in seinen späteren Jahren immer wieder als die Krankheit der Zeit bezeichnet, daß sie subjektiv sei, so meint er damit die von jener Einheit gelöste, nicht mehr fruchtbare Subjektivität, die also mit der Wahrheit weder zeugend, noch erzeugt verbunden ist. Darum ist ihm die Subjektivität, die prinzipiell in sich zentriert, ebenso prinzipiell der Sitz des Irrtums: also zum Beispiel diejenige, die nur »ihren Scharfsinn zeigen will«: und der er es ausdrücklich vorwirft, daß sie deshalb »sich am Irrtum freut«. Aber entsprechend verwirft er auch das, was man im allgemeinen Objektivität nennt, die unter demselben, nur umgekehrt gerichteten Zeichen steht: »Der Mensch an sich selbst, sagt er in dieser Gesinnung, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen will«. Und weiterhin endlich begründet dieser Zusammenhang Goethes Vorliebe für das, was er das Einfache nennt, seine Abneigung gegen komplizierte und umwegreiche Erkenntnismethoden. Wäre das Erkennen ein in rein ideeller Existenz bestehendes Gebilde, so würde Einfachheit und Kompliziertheit demgegenüber gar kein maßgebender Gesichtspunkt sein. Dies sind in ihrem quantitativen Unterschiede ganz relative Begriffe, die für die ideell-selbständige Objektivität des Erkennens keinen Wertunterschied bedeuten könnten. Um einen solchen zwischen ihnen zu stiften, bedarf es eines anderen Kriteriums, und dies ist für ihn eben das natürliche Dasein und Beschaffensein des Menschen, der mit seinen Organen so in die Welt gesetzt ist, daß das Verhältnis dieser Organe, wie sie sind, zu der Welt, wie sie ist, das Maximum von Förderung, von »richtiger« Attitüde enthalten kann. Das Leben aber ist das Einfachste, nicht trotzdem, sondern gerade weil es seinen Organen nach »ein Vieles« ist – denn gerade an deren einheitlicher Zusammenwirksamkeit offenbart es seine Einfachheit. Und es ist das Einfachste, weil es das Fundamentale und Selbstverständliche ist, das, was sozusagen nur »ist«; darum ruft er angesichts von Seetieren aus: »Was ist doch ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr! wie seiend!« Weil seiner Weltanschauung alles Sein Leben ist, darum ist ihm alles Leben schlechthin »Sein« – und wie könnte es Einfacheres geben als das Sein? Daher sein Haß gegen die »beschränkten Köpfe, die sich mit der Natur gewissermaßen im Widerspruch fühlen, und deswegen (!) das komplizierte Paradoxe mehr lieben, als das einfache Wahre«. Das sind die, die jene Einheit nicht erleben können, deren Denken nicht einfach sein kann, weil es sozusagen das Selbstverständlichste und Objektivste, das Leben selbst, nicht erlebt.

Noch von einer anderen Richtung letzter Tiefe her begegnet eine Goethesche Antwort der schweren Frage, worin denn eigentlich die Förderung bestehe, die die Vorstellung als wahre legitimiert, was der Inhalt sei, den das Handeln, durch die Vorstellung geleitet, erreichen muß, damit es als »Förderliches« gelte. Das Genie, sagt er, »bequemt sich zum Respekt sogar vor dem, was man konventionell nennen könnte: denn was ist dieses anders, als daß die vorzüglichsten Menschen übereinkamen, das Notwendige, das Unerläßliche, für das Beste zu halten«. Diese Äußerung, die einer weitgehenden Deutung bedarf, um nicht als eine Goethesche »Konnivenz«, ja als eine Sanktionierung des Banalen zu erscheinen, – kreiert das »Unerläßliche« als eine, wie mir scheint, durchaus originelle Kategorie der Lebensauffassung. Die Freiheit, mit der das Leben sich gestaltet, hat eine sehr bestimmte Grenze; an ihr beginnen Notwendigkeiten, die es aus sich selbst erzeugt und denen es aus sich selbst genügt. Sie sind nicht um ihres Wertes, um ihrer Wünschbarkeit willen gesetzt, sondern sind bloß »unerläßlich«; aber sie bedeuten, da sie geistig-vitaler Natur sind, nicht etwa einfache Kausalitäten, wie mechanisch erzeugte Tatsächlichkeiten. Macht man alles Teleologische als solches von einem Wert abhängig, von der bewußten Setzung eines Gutes als Zieles, so steht also die Kategorie des »Unerläßlichen«, wie Goethe sie hier andeutet, an und für sich jenseits der Alternative von Kausalität und Teleologie: es ist das, was das Leben zu seinem Bestande fordert, was es nicht von selbst, sondern nur durch unsern Willen realisieren kann (deshalb immerhin auch verfehlen kann), und was, von Sachwerten und Ideen aus gesehen, sehr wohl gut wie böse, schön wie häßlich, erhaben wie alltäglich sein kann. Ich glaube, daß Goethe mit dem Begriff des Unerläßlichen auf jene besondere Schicht hingezeigt hat, die oberhalb von Ursache und Zweck, von bloßer Wirklichkeit und gewolltem Wert liegt und in der das Leben als solches verläuft. Und nun kommt zu dieser bloß beschreibenden Feststellung, dieser analytischen Entdeckung einer neuen Kategorie die metaphysische Synthesis: dieses Unerläßliche, das von sich aus gegen allen Wert gleichgültig ist, wird nun doch als »das Beste« erkannt. Das ist keineswegs selbstverständlich. Das, was die Tatsache des Lebens als ihr Unerläßliches fordert, könnte in Hinsicht des Wertes ein bald so, bald so gefärbtes sein, oder ein Adiaphoron, oder, für den Pessimisten, gleich dem Leben selbst ein negativer Wert. Die »vorzüglichsten Menschen« aber vollziehen oder erkennen die Einheit des für das Leben Erforderlichen und des an sich Wertvollen; denn sie stehen gleichsam an dem Wurzelpunkt, an dem die Lebenswirklichkeit und der Lebenswert sich noch nicht getrennt haben, und darum ergreifen sie in allen Entfaltungen des Lebens das »Unerläßliche«, d.h. dasjenige, was seinen Bestand überhaupt und zentral sichert – und nicht etwa seinen schönen Luxus oder das von anderen Kategorien her Wünschenswerte – als »das Beste«. Für den Philister ist diese Verbindung eine subjektiv selbstverständliche, weil er gar nicht daran denkt, daß man dem Unerläßlichen gegenüber dennoch eine Freiheit, einen andersartigen Wertbegriff aufrufen könnte; dem »Vorzüglichsten« ist sie eine objektiv selbstverständliche, aus der Wertabsolutheit des Lebens geschöpfte, eine synthetische, deren soziale Erscheinungen anzuerkennen das Genie sich erst »bequemen« muß. Der Begriff des Unerläßlichen schlechthin ist tiefer, gleichsam von größerem kategorialem Gewicht, als der des Förderlichen schlechthin, er ist in gewissem Sinn dessen Fundierung. Und damit hilft er den Sinn dieses Förderlichen deuten. Hat man den Zusammenhang des Lebens in sich und mit dem Dasein überhaupt und dem Wert überhaupt ergriffen, so hat das Förderliche ebenso wie das Unerläßliche einen absoluten Sinn, mit dem es über seinen relativen, der Angabe eines Wozu bedürftigen, hinausreicht. Die Vorstellung, die sich in die Ganzheit des fortschreitenden Lebens verwebt, hat deshalb allen Wert, den sie haben kann, d.h. die volle Wahrheit, und es ist eine schiefe Frage, zu welchem einzelnen Ziele sie das Individuum »fördere«, da gerade nur ihr Ertrag für das Dasein überhaupt, nicht für diesen oder jenen einzelnen Inhalt, ihr diesen Wert verleiht.

Dieser Begriff des Unerläßlichen, der das »Förderliche« erst richtig deutet: als ein nicht Singular-Teleologisches, sondern als harmonisches Element der ganzen lebendigen Wirklichkeit – findet nun seinerseits eine klärende Analogie in jenem Begriff des »Passenden«; ich komme hier noch einmal auf ihn zurück, weil sich erst von einer Mehrheit solcher Begriffe aus die Höhenlage ermißt, in der die Entscheidungen über Goethes Weltverständnis fallen. Man begreift ihn überhaupt nicht, wenn man nicht den Worten, die er schließlich dem Empirisch-Einzelnen entlehnen muß, ihre oft sehr verschiedenen Abstände von eben diesem richtig anweist. Wie sich der Goethesche Wahrheitsbegriff über den Gegensatz des Wahren und Falschen im Sinne der einseitig-unvollständigen Objektivität, die das Subjekt nicht einschließt, erhebt, so der des »Passenden« oder des höchsten Wertes überhaupt über den Gegensatz des Guten und Bösen im Sinne der in den Relationen der Einzelheiten wohnenden Moral. Ein dunkles Drängen auf diesen Punkt zeigt schon seine jugendliche Abneigung gegen die scharfe Polarität von Gut und Böse. »Ist denn das Gute nicht bös und das Böse nicht gut?« Hier hebt die Entwicklungsreihe an, die mit den geheimnisvollen Hinweisen der Wanderjahre schließt über »jene letzte Religion, die aus der Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, entspringt, jene Verehrung des Widerwärtigen, Verhaßten, Fliehenswerten.« Und hier preist er es am Christentum, daß »Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anerkannt, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen verehrt und liebgewonnen« werden. In alledem lebt das große Motiv, zu dem sich jene frühe Identität des Guten und des Bösen hinaufgeklärt hat: Gutes und Böses stehen jetzt zwar polar in einer Ebene, allein über sie erhebt sich ein Höheres, eine – seelische und kosmische – Vollkommenheit der Seinstotalität, die der nüchterne Begriff des »Passens« andeutet. In derselben Richtung spricht er einmal davon, wie viele junge Leute daran zugrunde gehen, daß sie zuviel von sich fordern. »Niemand bedenkt leicht, daß uns Vernunft und ein tapferes Wollen gegeben sind, damit wir uns nicht allein vom Bösen, sondern auch vom Übermaß des Guten zurückhalten.« Es kam ihm eben auf die Vollkommenheit des Lebens an, die weder durch bloße Steigerung einer noch so lobenswerten Perfektion zu erringen ist, noch auch nur jede beliebige Steigerung einer solchen, einseitigen, vertragen kann. Das Ideal der Existenz, nicht nur des Wollens, steht in Frage, wie es durch den harmonischen Zusammenhang des Menschen mit der Ganzheit der Welt bestimmt ist. Es ist nur eine Ausgestaltung oder ein Symbol davon, wenn Goethe die moralischen Gegensätze, die von sich aus unsere Existenz zu spalten scheinen, sich so vollkommen durchdringen läßt, daß die Wertung des Edelsten und Besten auch dem Sündhaften und Niedrigen zukomme, und wenn vor dem Begriff des Maßes – gleichsam dem quantitativen Ausdruck jenes »Passenden« – das Gute wie das Böse ganz gleichmäßige Einschränkung erfahren. Gewiß berührt es sich mit dem hier Gemeinten nur ganz partiell, wenn er über Jacobi sagt: »Ihm haben die Naturwissenschaften gemangelt, und mit dem bißchen Moral allein läßt sich doch keine große Weltansicht fassen«; bedenkt man aber, welche metaphysische, sozusagen absolute Bedeutung die »Naturwissenschaften« für Goethe hatten, so spricht doch auch hieraus das Entscheidende: daß die Moral, festgelegt auf den Gegensätzen des Guten und des Bösen, ein definitiveres Ideal menschlicher Stellungnahme über sich hat, gleichsam ein Richtigsein des Lebens, das sein Kriterium nicht mehr von einzelnen Inhalten gewinnt, sondern von seinem Sich-Einordnen, Einpassen in das große Ganze der metaphysisch und religiös aufgefaßten Natur.

Von dieser Analogie und der Fixierung der Höhenschicht nun auf das theoretische Ideal zurückblickend, gilt es in allem bisher Gesagten das Grundmotiv festzuhalten: ein übergreifender Wahrheitsbegriff, der zunächst gar nicht an einem Gegensatz zu theoretischem Irrtum orientiert ist, sondern seinen Sinn in seiner Seins- und Funktionsbedeutung hat, darin, daß er als Daseiendes das daseiende Leben, wie es sich im persönlichen Geiste darstellt, fördert. Da nun aber das Leben dieses Geistes allem Natursein in harmonischer Einheit verknüpft ist, so muß jene sozusagen vitale Wahrheit zugleich auch die theoretische sein, das heißt diejenige, die den Inhalt des Denkens an dem Inhalt der Objektivität mißt. Dieser hier vorweggenommene, nachher noch zu begründende Gedanke macht es verständlich, daß er mit größter Leidenschaft auf die Objektivität des Erkennens drängt, auf die selbstlos treue Beobachtung, auf die Ausschaltung aller bloßen Subjektivität – und zugleich, ohne sich des geringsten Widerspruchs bewußt zu sein, nur das als wahr anerkennen will, was anzuerkennen ihn fördert und sich dem bestehenden Status seines Geistes anfügt.

Durch eine verhältnismäßig einfache metaphysische Vertiefung also zeigt sich der scheinbare Subjektivismus des Goetheschen Wahrheitsbegriffes nur als der eine Aspekt einer Einheit, deren anderer durchaus objektivischen Wesens ist. Aber damit ist die Problematik des andern, diesem Begriff einwohnenden Elementes nicht aufgelöst: die Verschiedenheiten der Wahrheiten, die der Ursprung aus »Förderlichkeit« ihnen als Konsequenz der Verschiedenheit der Individuen auferlegt. Eine entscheidende Stelle ist oben mitgeteilt und es gibt deren viele. »Die verschiedenen Denkweisen sind in der Verschiedenheit der Menschen gegründet und eben deshalb ist eine durchgehende gleichförmige Überzeugung unmöglich.« Von sich selbst gesteht er im höchsten Alter, mehr als einmal habe er in seine Fassungskraft nicht aufnehmen können, was anderen denkbar sei – womit nicht bloßes Denkenkönnen, sondern wissenschaftliches Überzeugtsein gemeint ist; und mehr als zehn Jahre vorher hatte er schon in diesem ganz individualistischen Sinne geschrieben: »Jeder spricht nur sich selbst aus, indem er von der Natur spricht.« An dieser Konsequenz scheint nun freilich jene metaphysisch schon gelungene Ineinsbringung der subjektiven und der objektiven Wahrheit doch wieder logisch zu scheitern. Man mag zugeben: der menschliche Geist erzeuge Erkenntnisvorstellungen in sich, die seinem Leben notwendig, integrierend, förderlich sind, und vermöge der organisch-metaphysischen Einheit, in der er dem Dasein überhaupt verwachsen ist, besitzen die Inhalte dieser Vorstellungen die volle Harmonie zu diesem Dasein, den objektiven Wahrheitswert. Allein dies gilt insoweit für das »Leben überhaupt«, das in jedem Individuum dasselbe ist und deshalb mit der Einzigkeit und Eindeutigkeit der Wahrheit über jedes Objekt verträglich bleibt. Diese aber wird doch in dem Augenblick zersplittert und hinfällig, in dem gerade das, was das eine Leben von dem anderen unterscheidet, über die Bestimmung: was Wahrheit ist – entscheiden soll. Kein Zweifel, daß die gewöhnliche Folgerung aus solcher Individualisierung der Erkenntnis: daß für den einen Wahrheit ist, was es für den anderen nicht ist, – nämlich der Skeptizismus, die Verzweiflung an der Objektivität des Wahrheitsbegriffes überhaupt, Goethe völlig fern lag; so fern, daß er, wenn ich mich nicht täusche, der Gefahr dieses Schlusses mit keiner unmittelbaren und defensiven Äußerung begegnet. Wohl aber treten positive Motive bei ihm auf, die sie aus seinem Weltbild ausschließen.

Es ist vor allem der Gedanke, daß all diese individualistischen Erkenntnisbilder nicht mit ihrer Zerfällung in atomistische Selbstgenügsamkeiten abschließen, sondern eine ideelle Zusammengehörigkeit in dem Sinne besitzen, daß sie sich alle unter einander zu einer einheitlichen Totalität des Erkennens überhaupt ergänzen. »Die Natur ist deswegen unergründlich, schreibt er, weil sie nicht ein Mensch begreifen kann, obgleich die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte. Weil aber die liebe Menschheit niemals beisammen ist, so hat die Natur gut Spiel, sich vor unseren Augen zu verstecken.« Der leichte Ton dieser Äußerung läßt die Vermutung mindestens nicht ausschließen, daß dieser Inbegriff des individuellen Wissens doch wohl nicht als so mechanische Addition gemeint sein wird, wie er in dem bloßen »beisammen« erscheint. Sondern eher in dem sublimen Sinne, in dem er im Alter von dem Ideal eines Einheitslebens der Menschheit überhaupt spricht, von der »Weltliteratur«, von der »sittlich-freisinnigen Übereinstimmung durch die Welt«. Man möchte etwa an die Arbeitsteilung unter den Gliedern eines einheitlichen Organismus denken. Hier erhebt sich der Wahrheitsbegriff noch einmal in die gleiche Höhe, in der er vorhin über dem relativen Gegensatz von Wahr und Irrig gestanden hatte. Jetzt steht – so darf man Goethes Intention wohl deuten – ein Erkennen in Frage, das absolut ist, weil »die Menschheit« sein Subjekt ist, und das sich aus den relativen Differenzen der erkennenden Individuen zusammenbaut, oder auch: sie überbaut, wie dort die Differenz von Wahr und Irrig. Er verkündet in einem Aphorismus die Individualität des Erkennens, die dessen Objekt völlig durchdringt: »Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in dessen Individualität verschlungen und verwickelt.« Und nun lautet der nächste Spruch: »Was heißt auch Erfinden und wer kann sagen, daß er dies oder jenes erfunden habe? – Es ist nur bewußtloser Dünkel, wenn man sich nicht endlich als Plagiarier bekennen will.« Hier stellt sich also die Totalität der Menschheit, statt im Beisammen, im Nacheinander ihrer Arbeit dar; es ist hier die historische Bedingtheit jedes Vorstellens und Leistens, die jenes selbe Motiv trägt: die Legitimierung von dessen noch so individuellem Charakter durch die gliedmäßige Einordnung des Individuums in das Einheitsleben der Menschheit. Von einem solchen Einheitsbegriff aus erst werden die Zusätze zu jener entscheidenden Stelle begreiflich, in der er den Gedanken als den für ihn wahren verkündet, der ihn fördert und sich seinem Denken anschließt, während eben derselbe einem Anderen, für den diese Folgen nicht zutreffen, falsch sein müsse. »Ist man hiervon, so fährt er fort, recht gründlich überzeugt, so wird man niemals kontrovertieren.« Selbstverständlich handelt es sich bei Goethe, dem Menschen strengster Sachlichkeit und leidenschaftlichsten Wahrheitssinnes, nicht um die Schlaffheit bloßer »Toleranz«, die immer nur ein negatives Verhalten gegenüber dem Phänomen ist, während hier ein Positives zu dem Grund des Phänomens in Frage steht. Er will mit dem Entgegengesetzt-denkenden nicht streiten, weil diese Entgegengesetztheit, wenn sie nur wirklich auf dem Naturgrunde der Persönlichkeit gewachsen ist, in der Einheit des lebendigen, vielgliedrigen Gesamtverhältnisses zwischen Menschheit und Welt einbegriffen ist. Das Erkennen als ein kosmisches Ereignis bricht hier wie ein Strom aus einer Quelle, in so viele Gefäße er auch gefaßt werde, deren mannigfaltige Formen annehmend; es ist immer der eine menschheitliche Lebensprozeß des Erkennens, der eine Fülle logisch unvereinbarer Inhalte trägt. Darum kann eine Stelle, deren Anfang ich vorhin anführte, vollständig so lauten: »Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigne Wahrheit haben und es ist doch immer dieselbige.« – Als die genauere Form dieser gegenseitigen Ergänzung erscheint ihm gelegentlich sogar der unmittelbare logische Gegensatz. Er schreibt über Jacobi: »Nach seiner Natur muß sein Gott sich immer mehr von der Welt absondern, da der meinige sich immer mehr in sie verschlingt. Beides ist auch ganz recht: denn gerade dadurch wird es eine Menschheit, daß, wie so manches andere sich entgegensteht, es auch Antinomien der Überzeugung gibt.« Hier wird also das bloße Beisammen zu der Lebendigkeit einer Polarität gesteigert, die Verschiedenheiten der Denkweisen bilden nicht nur neben einanderstehend ein Ganzes, sondern die eine verlangt von sich aus die andere. Das uralte Motiv, daß auch der Kampf eine Art und ein Mittel der Einheit sei, tritt hier hervor, läßt alle Passivität der Toleranz für das Entgegengesetzte hinter sich, sondern fordert gerade das Entgegengesetzte, damit die »Antinomie« sich als die Form enthülle, in der die Einheit der erkennenden Menschheit gegenüber dem Objekt, nicht nur trotz, sondern mittels ihrer Gespaltenheit in polare Individualitäten sich vollzieht. Und endlich rücken die Gegensätze in den Inhalten der Überzeugung so zusammen, daß sie als gleichzeitige sogar ein einzelnes Individuum charakterisieren und in ihm ihre Einheit finden. Er spricht einmal aus – was schon an und für sich unserm Zusammenhange zugute kommt –, daß Philosophien nur die Lebensstimmung ihres Schöpfers bedeuten, das heißt die Art, wie seine individuelle Disposition mit der Welt fertig wird; auf diese Weise stellten sie Lebensformen dar, unter denen wir als Adepten wieder zu wählen hätten, was »unserer Natur oder unseren Anlagen nach« für uns passe. Und nun fährt er fort: »Ich behaupte, daß sogar Eklektiker in der Philosophie geboren werden, und wo der Eklektizismus aus der inneren Natur des Menschen hervorgeht, ist er ebenfalls gut. Wie oft gibt es Menschen, die ihren angeborenen Neigungen nach halb Stoiker und halb Epikuräer sind! Es wird mich daher auch keineswegs befremden, wenn diese die Grundsätze beider Systeme aufnehmen, ja sie möglichst mit einander zu vereinigen suchen.«

In vielleicht noch ahnungsreichere Tiefen führt die Einleitung jenes zentralen Satzes: »Wenn man mit sich selbst einig ist, ist man es auch mit andern«. Sieht man auf die isolierten Inhalte dieses »mit sich Selbst-Einigseins«, auf die einzelnen, logisch ausdrückbaren Überzeugungen, in denen jeder jeweils mit sich einig ist, – so ist diese Behauptung gar nicht verständlich. Anders aber, sobald unter Erkennen ein Totalverhalten des Menschen verstanden wird: jene Befruchtung und Förderung des Ganzen durch einen Gedanken, jenes Sichanschließen und Sichzusammenschließen zwischen früheren und neuen Vorstellungen. Ist so das Mit-sich-einig-sein nicht ein logisches, systematisches Verbundensein von Inhalten, sondern eine Lebensfunktion des Menschen, eine, die ihn vereinheitlicht und ihn dem Sinne seiner Existenz näherbringt, so tritt sofort die Beziehung des Menschen als Ganzem zum Dasein als Ganzem daran oder darin hervor. An das richtige Funktionieren des Geistes ist das harmonische Verhältnis zum Objekt gebunden. Goethe spricht gelegentlich davon, daß das fortwährend sich wandelnde und in scheinbaren Widersprüchen sich bewegende Objekt nur von einem ebenso beweglichen Geist erkannt werden könne: wie der morphologische Forscher »die Organe bildsam sieht, so müsse er auch die Art zu sehen bildsam erhalten«. So liegt es in dem Fundamente der ganzen Goetheschen Weltansicht beschlossen, daß der Mensch erst, indem er sich in sich vereinheitlicht, »mit sich selbst einig« ist, das geistige Gegenbild der in sich einheitlichen Welt darstellt. Dann aber hat jedes so einheitliche Individuum das gleiche, in diesem Sinne auch gleich aufgenommene Objekt. »Jedes Individuum, sagt er einmal, hat vermittelst seiner Neigungen ein Recht zu Grundsätzen, die es als Individuum nicht aufheben«. Es wäre bei seiner Denkart völlig ausgeschlossen, dem Subjekt das Recht zu Grundsätzen zuzugestehen, die nicht auch von der objektiven Ordnung der Dinge her berechtigt sind. Aber es sind eben »die Neigungen« selbst objektive Tatsachen, die sich mikrokosmisch dem individuellen Ganzen zuordnen – Neigungen, mit denen er selbstverständlich nicht flatternde Willkürlichkeiten, sondern die organischen Tendenzen des Wesenskernes meint. Indem das »mit sich einige« Subjekt, sozusagen durch seine Formgleichheit mit der selbst einheitlichen Welt, dieser ein harmonisch angemessenes Gegenbild in sich bereitet, müssen all solche Individuen doch irgendwie auch miteinander harmonieren, so verschieden die Punkte inhaltlich seien, um die herum die Vereinheitlichung eines jeden stattfindet. Denn sie verhalten sich, wie das Leibnitzsche Gleichnis es von den unendlich verschiedenen Monaden sagt, deren jede die Welt irgendwie anders vorstellt und die doch in absoluter Harmonie stehen – wie Spiegel, die um einen Marktplatz herum aufgestellt sind: ein jeder zeigt zwar ein anderes Bild als der andere, aber widersprechen können sie sich nie, da sie damit ein und dasselbe Objekt wiedergeben. Erst aus einer letzten Überzeugung heraus also wird es verständlich, daß der mit sich einige Mensch auch mit den andern einig sei; die metaphysische Beziehung, die der so sich formende Mensch zu der Objektivität des Daseins gewinnt und nur so gewinnt, ist der Zusammenhalt, der diese Menschen auch unter sich vereinheitlicht und es ganz grundlos macht, daß sie »kontrovertieren«.

Es ist nur die praktische Wendung dieses Zusammenhanges und deshalb seine Bestätigung, wenn er den Saint-Simonisten gegenüber bemerkt, es solle doch ein jeder bei sich anfangen und sein eigenes Glück machen, woraus dann unfehlbar das Glück des Ganzen entstehen müßte. Unmöglich kann dies auf der trivial-liberalen »Harmonie der Interessen« gegründet sein, die sich nur auf die Einzelphänomene der Oberfläche bezieht. Er kann nur meinen, daß das »Glück« des Einzelnen – ganz entsprechend jenen »Neigungen« – in einem bestimmten harmonischen Verhältnis zum Weltsein überhaupt wurzle oder bestehe. Wo er vom Glück in einem so prinzipiellen Sinne spricht, ist es nie der atomistische Zufall eines isolierten Wohlbefindens, sondern immer die Totalstimmung der Persönlichkeit, die nur in der Relation mit der Totalität des objektiven Daseins möglich ist. Diese Weltbeziehung jeder einzelnen Individualität – die wirklich »mit sich einig ist«, ihren wahren Neigungen folgt, ihr wirkliches »Glück macht« – ist es, die das Band zwischen allen einzelnen knüpft, die die inhaltlich und dem singulären Objekt gegenüber noch so divergenten Überzeugungen, die noch so heftig sich bekämpfenden Glücksbestrebungen als Einheit und Ganzheit offenbart.

Dies also scheinen mir die Motive zu sein, durch die Goethe die Individualisation des Erkennens davor bewahrt, in einen verantwortungslosen Subjektivismus oder in eine Verzweiflung an der Erkenntnismöglichkeit auszugehen. Die Verknüpftheit des Erkennens mit dem Leben, durch die es an die einzelnen Träger dieses Lebens, mit ihren besonderen Charakteren und Bedürfnissen gewiesen wurde, ist ihm gerade zum Mittel geworden, die gar nicht wegzuleugnende Mannigfaltigkeit der Überzeugungen in die zugleich weiteste und engste Verbindung mit dem objektiven Dasein, seiner Ganzheit und seiner Einheit, zu setzen. Der Ausgangspunkt dieser Darlegungen: die Abhängigkeit des Erkennens vom Sein des Menschen, die Goethe all unsern theoretischen Überzeugungen zusprach und die nur von der andern Seite gesehen ist, wenn ihm alle Belehrung »verhaßt« ist, die nicht zugleich seine Tätigkeit befördert – ist mit einer weiteren höchst charakteristischen Tendenz verbunden, die man entweder als jenen unterbauend ansehen kann, oder als ihm benachbart und auf ein gemeinsames geistiges Fundament von letzter Tiefe hinweisend. Es ist das Motiv: daß jegliches Begreifen nur durch eine Wesensgleichheit mit dem Begriffenen möglich ist; und dieses Motiv durchzieht sein ganzes Leben, von dem enthusiastischen Ausruf des Einundzwanzigjährigen: »Über große Leute sollte niemand reden, als wer so groß ist wie sie«, bis zu der geheimnisvollen Mahnung des Greises: »Bedenkt: der Teufel, der ist alt, So werdet alt, ihn zu verstehen« – und der noch tiefer greifenden Äußerung des Einundsiebzigjährigen: »Verstehen heißt: dasjenige, was ein anderer ausgesprochen hat, aus sich selbst entwickeln«. Im Zentrum steht hier, nach der psychologischen Seite hin: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst« – was doch bedeutet, daß man nur den Geist begreift, dem man gleicht; und nach der metaphysisch weiteren:

»Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt' es nie erblicken;
Läg' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?«

Es ist in formaler Hinsicht die alte Empedokleische Weisheit: daß wir Gleiches durch Gleiches erkennen, sogar die Elemente der physischen Natur um uns nur dadurch, daß diese in uns selbst vorhanden sind. Und dieser Zusammenhang stärkt sich, indem er auch in der umgekehrten Richtung gilt. Daß im Subjekt und Objekt ein identischer Seinsinhalt besteht, führt unsere Erkenntnis nicht nur über das Subjekt zum Objekt, sondern auch über das Objekt zum Subjekt: das Glück des Entdeckens und Erfindens bestünde darin, daß man »beim Anlaß einer äußeren Erscheinung sich in seinem Innern selbst gewahr wird« und: »Der Mensch erlangt die Gewißheit seines eignen Wesens dadurch, daß er das Wesen außer ihm als seinesgleichen, als gesetzlich anerkennt«. Nun das Motiv: das individuelle Sein bestimmt die Erkenntnis der äußeren Realität – Gegenbild und Stütze an dem anderen findet: die äußere Realität bestimmt die Selbsterkenntnis des Individuums, offenbart sich als die tiefere Begründung des ersteren, daß Subjekt und Objekt gemeinsam in einem definitiveren Sein, einer letzten Gesetzlichkeit wurzeln; indem auch das individuelle Sein von diesem getragen und durchwachsen ist, begreifen wir, daß es die Erkenntnis ganz nach sich bestimmen und damit doch dem Objekt volle Treue halten kann. Gerade hier wird ein letzter Knotenpunkt aller Goetheschen Geisteswege, seines ganzen auf diesen Seiten zusammengebrachten Bildes von Wahrheit sichtbar. Das menschliche Erkennen ist ihm kein freischwebendes ideelles Gebilde, das in einem τοποσ ατοποσ seine Heimat, oder vielmehr überhaupt keine Heimat hätte. Sondern es ist selbst Realität, es wächst aus dem Ganzen des Seins und bleibt in dessen Bezirke wohnen. Daß es als Prozeß, als Teil alles Geschehens überhaupt so dem Dasein verhaftet ist, das trägt die Wahrheitsqualität seiner Inhalte, ermöglicht freilich auch Irrtum, da manches Stück seiner Wirklichkeit sich nicht aus der zentralen Quelle des Ganzen speist, sondern ins Peripherische abschweift und verkümmert; ermöglicht aber auch, daß manches, nach einseitigen Kriterien Irrige, vom Zentralen her eine Wahrheit höheren Sinnes äst. Daß die Individualität des erkennenden Geistes sein jeweilig Wahres bestimmt, will nur sagen, daß sie die besondere Form des Seins überhaupt ist, die gerade in Frage steht; denn das Sein lebt an und in einzelnen Ausgestaltungen, und wenn das Erkennen nicht jenes Unhaftende, heimatlos Schweifende ist, sondern ein Seinshaftes, Naturverbundenes, so muß es deshalb ein individuelles sein. Dies trennt es nicht von der Wahrheit über das Sein, sondern verbindet es ihm. Solcher Seinscharakter des Geistes, solche tiefe Quelleneinheit aller Natur, der er mitsamt seinen theoretischen Werten angehört, muß folgerichtiger Weise auch schon die Fragen beherrschen, die er stellt. Dies ist der Sinn von Goethes Ausspruch: »Man kann sich sagen, daß niemand eine Frage an die Natur tue, die er nicht beantworten könne; denn in der Frage liegt die Antwort, das Gefühl, das sich über einen solchen Punkt etwas denken, etwas ahnen lasse.« Es ist bedeutsam, festzustellen, daß eben dieses Motiv in einem öfters angedeuteten Goetheschen Gedanken aus ganz untheoretischem Gebiet lebt. »Unser Wollen, sagt er, ist ein Vorausverkünden dessen, was wir unter allen Umständen tun werden.« »Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden.« Das heißt also, daß auch unsere Willensvorstellungen – nicht nur die unmittelbar praktischen, sondern auch die ganz ideellen, als bloße Wünsche aufsteigenden – in unserm realen Sein Substanz haben. Auch die flüchtigen, huschenden Begehrungen sind so wenig wie unsere Erkenntnisvorstellungen frei fliegende, wurzellose Gebilde, die Notwendigkeit ihres Aufsteigens ist nicht einfach psychologische Verkettung, sondern unser Sein, die reale Dynamik unsres sich vorbereitenden Handelns und Ergreifens bildet ihren Inhalt. Eine ganz besondere Beziehung zwischen unsern Wünschen und unsrer Realität kommt damit auf. Jene schweben nicht nur über dieser wie der Geist über den Wassern, bald auf sie einwirkend, bald sie nicht berührend; sondern sie sind Stationen unserer Seinsentwicklung selbst, und tragen deshalb die Sicherheit, ihren Inhalt auf späteren Stationen wiederzufinden, ihn zu bewähren, ebenso in sich, wie unsere Erkenntnisvorstellungen Wahrheit in sich tragen, weil sie, durch den Prozeß unsrer Individualität hindurchgeleitet, aus dem Ganzen des Seins kommen, auf das sich ihr Inhalt bezieht.

An diesem Punkte treffen sich weitgreifende Gedankenverkettungen. Wenn die Existenz von so etwas wie Wahrnehmen oder Verstehen Goethe nur dadurch möglich scheint, daß jede Wirklichkeit, die des Subjekts wie des Objekts, von der einen und gleichen Strömung des »so natürlichen wie göttlichen« Seins erzeugt ist und getragen bleibt – so ist doch daraufhin nicht alles von allem durchdrungen, nicht jedes jedem verständlich und genießbar. Und dies begründet sich aus dem Lebendigkeitscharakter der Goetheschen Welteinheit. Die abstrakte, unterschiedslose Einheit des rationalen Pantheismus verwirft er, warnt davor, das göttliche Prinzip »in eine vor unserm äußern und innern Sinne verschwindende Einheit zurückdrängen« zu lassen. Die Einheit des Alls bedeutet keineswegs Allgleichheit, Allverschwommenheit, sondern die dynamische Einheit des Lebens, das alle noch so mannigfaltigen Glieder durchströmt und in unzähligen Maßen und Arten funktionell zusammenhält; sie ist durch den Reichtum, nicht, wie meistens die philosophische, durch die Resignation gewonnen. Ohne es durch Anführungen belegen zu können, möchte ich in Goethes Sinne das »Begreifen« als ein »Urphänomen« ansprechen; denn indem es nur auf Grund der Seinsgleichheit stattfindet, kommt in ihm die allgemeine Verbundenheit der Dinge zum prägnantesten Ausdruck, die funktionelle Beziehung zur reinsten Anschaulichkeit, – da sie hier bis zur Gleichheit vorschreitet, diese Gleichheit aber nicht ein totes mathematisches Sich-Decken bedeutet, sondern die geistige Bereicherung des einen durch das andere, das Aufnehmen in den Lebensprozeß. Gewiß hat die Einheit des Daseins nicht überall dieses Sich-Aufnehmen und Begreifen zur Folge; wo solches aber stattfindet, weist es auf jene Einheit, als seinen metaphysischen Grund zurück, ist dessen vielleicht stärkstes und entschiedenstes Phänomen.

Die in dem Vers vom sonnenhaften Auge ausgesprochene Abhängigkeit alles Begreifens vom Sein – insofern der Inhalt des Begriffenen irgendwie dem Begreifenden einwohnen muß – ist in einer anderen Äußerung weitergeführt; »Hätte ich nicht die Welt durch Antizipation bereits in mir getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und alle Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen als ein ganz totes und vergebliches Bemühen«, – was sich dann nach der ethischen Seite hin mit dem Satze wendet: »Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns.« Goethe schätzt im allgemeinen das Angeborene des Menschen überhaupt als sein Wesentliches und Bestimmendes (und eine Äußerung wie die: »Nicht nur das Angeborene, sondern auch das Erworbene ist der Mensch« bestätigt dies dadurch, daß er solche Erweiterung auszusprechen für nötig hält); hier aber ist nun das Angeborene nicht nur für das Persönliche und Subjektive des Lebensverlaufes entscheidend, sondern es enthält als ein reales Daseiendes alles andere Dasein in ideeller Form in sich. In höchst eigentümlicher Vermittlung zwischen der Theorie der angeborenen Ideen und dem Kantischen Apriori bewegt sich dieser Begriff. Jene legt in den Geist bestimmte Wissensinhalte, die in dessen reiner Eigenentwicklung und von aller Erfahrung, aller erworbenen Erkenntnis unabhängig hervortreten; für den Apriorismus seinerseits muß aller Wissensstoff dem an sich völlig inhaltlosen Geiste gegeben werden, dieser ist nichts als die funktionelle Form, die jenen Stoff zu der – allein gültigen – empirischen Erkenntnis gestaltet. Für Goethes Überzeugung nun wohnt auch der Wissensstoff von vornherein unserm Dasein ein, in einer Art, die er freilich nicht näher gedeutet hat; aber dennoch wird er nur durch »Erforschung und Erfahrung« zum Wissen. Alles, was der Einzelne von der Welt wissen kann, was ihm Welt werden wird, ist ihm angeboren – aber nun muß er die Welt erst aufnehmen, erst erfahren, damit dieses Vor-Wissen zum Wissen werde. Er drückt dies einmal für »besonders begabte Menschen« so aus, daß sie »zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, noch in der äußern Welt die antwortenden Gegenbilder suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen steigern«. Damit offenbart sich die Abhängigkeit des Erkennens vom Sein des Menschen als der fundamentalen und unbedingten Einheit entsprossen, die für Goethe zwischen Geist und Welt besteht. Der Geist enthält alles in sich, was für ihn »Welt« sein kann, er ist Mikrokosmos; aber das wird nicht zu solipsistischer Beziehungslosigkeit und Unabhängigkeit der Welt gegenüber, sondern sie muß nun noch erforscht und erfahren werden, damit jene Vorzeichnung in die Form der Realität übertrete: die Welt »antwortet«, d.h. sie gibt dem Geiste von sich nur den Gehalt hin, der ihr schon aus ihm entgegenkommt. »In dem gegenwärtigen wie in den früheren Heften (zur Morphologie) habe ich die Absicht verfolgt, auszusprechen, wie ich die Natur anschaue, zugleich aber gewissermaßen mich selbst, mein Inneres, meine Art zu sein, insofern es möglich wäre, zu offenbaren. – Die Aufgabe: Erkenne dich selbst – kam mir immer verdächtig vor – um den Menschen von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer inneren falschen Beschaulichkeit zu verleiten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.« Das also ist der tiefste und metaphysische Grund, aus dem ihm alle Beschäftigung mit dem Denken als solchem widerwärtig ist. Denn damit würde das Denken etwas Freischwebendes, in sich Kreisendes, das von dem lebendigen Sein des Menschen und eben deshalb auch von dem der Welt losgerissen und isoliert wäre. Mit voller Klarheit setzt er so den, ich möchte sagen, organischen Ursprung des Denkens an die Stelle des logischen:

Ja, das ist das rechte Gleis,
Daß man nicht weiß, was man denkt,
Wenn man denkt:
Alles ist wie geschenkt.

Anderwärts: »Das Schlimme ist, daß alles Denken zum Denken nichts hilft; man muß von Natur richtig sein, so daß die guten Einfälle immer wie freie Kinder Gottes vor uns dastehn und uns zurufen: da sind wir.« Und für seine wesentliche Klugheit, die Bedingung seiner Erfolge, erklärt er, »nie über das Denken gedacht zu haben«. Das Entscheidende ist ihm also, daß das Denken sozusagen nicht aus sich selbst, nicht in der Reflexion auf sich selbst sich erzeuge, sondern ihm selbst müssen seine Inhalte durch den Naturprozeß des Lebens »geschenkt« werden. Und eben insofern das Denken aus dem Sein des Menschen kommt, erhält es auch seine logisch-sachliche Bedeutung, weil es dadurch dem Sein überhaupt verbunden ist. Es ist gewissermaßen nur eine gefühlshafte Steigerung dieser genetischen Beziehung unsres Erkennens zu unsrem Sein, wenn er schon als ganz junger Mensch schreibt: »Man lernt nichts kennen als was man liebt und je tiefer und vollständiger die Kenntnis werden soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muß Liebe, ja Leidenschaft sein.« Alles Verstehen ist ja ein Schaffen (gelegentlich des Begriffes der »schaffenden Kraft« sagt er: »der untätige, untaugende Mensch wird das Gute, das Edle, das Schöne weder an sich, noch an Andern gewahr werden«) – und darum kann es nur nach den Qualitäten des Schaffenden vor sich gehen, also nur da gelingen, wo das Objekt diesen Beschaffenheiten adäquat ist. »Es war mir angeboren, sagt er gelegentlich seines frühen Verstehens mannigfaltiger Verhältnisse, mich in die Zustände Andrer zu finden, eine jede besondre Art des menschlichen Daseins zu fühlen.« Und weil ihm die Normen des Erkennens eine Lebensaktivität sind, so greift diese geforderte Seinsparallelität zwischen dem lebend schaffenden Subjekt und seinem »Gegenstand« im weitesten Sinne auch in alles Künstlertum. Er sagt, noch ganz jung, über die Unfähigkeit der meisten Baumeister zu »Palästen und Monumenten«: »Jeder Bauer gibt dem Zimmermann die Idee zur Schöpfung seiner Hütte. Wer soll Jupiters Wohnung in die Wolken türmen? wenn es nicht Vulkan ist, ein Gott wie er. Der Künstler muß eine große Seele haben, wie der König, für den er Säle wölbte.« Hiermit schließt sich nun endlich dieser Kreis und zeigt sich als mit dem weiteren konzentrisch, den Goethes Wahrheitsbegriff angab. Jedes Erkennen, ja jedes geistige Schaffen, das sich an einen gegebenen Inhalt knüpft, offenbarte sich zuletzt als an eine Wesensgleichheit gebunden, die zwischen dem Subjekt und dem realen Gegenbild seines geistigen Tuns besteht. Und damit ist das Zentrum des ganzen Anschauungskreises: die Einsenkung des Erkennens in das Sein – erst gesichert. Denn damit begreifen wir, nun nicht mehr psychologisch, sondern metaphysisch, daß die Wahrheit von dem Sein des Subjektes abhängt: sie ist dazu legitimiert, weil ihr reales Objekt der Realität des Subjekts verwandt oder gleich ist – weshalb wir denn auch, wie Goethe so oft ausspricht, durch unsere jeweilige Individualität von so und so vielen Erkenntnissen ausgeschlossen sind. Die Isolierung und Zugesperrtheit, die uns von dieser differentiellen Individualität zu kommen schien, ist damit grade nach der Seite der Wahrheit hin gesprengt. Konnte ich zuerst zeigen, daß es die Verknüpftheit des Lebens ist, die den Individualismus der Wahrheit aller subjektivischen Zweideutigkeit enthebt – indem ein höchster Lebenssinn über die logische Wahrheit eine vitale setzte, indem die Besonderheiten der Geister sich innerhalb des Menschheitsgedankens gegenseitig ergänzten, indem die innere Einheit des Individuums es der objektiven Weltform gleich machte – so wird nun diese innere Verknüpftheit des Lebens umgriffen, getragen, gewissermaßen gerechtfertigt durch seine Seinsverknüpftheit mit den Objekten seiner Wahrheit. Denn unter der Harmonie des Geistes wie der Geister und unter der Sonnenhaftigkeit des Auges lebt die Gott-Natur; und nur als einen Strahl ihrer Einheit hat Goethe die zwischen Subjekt und Objekt spielende Möglichkeit des Erkennens begreifen können.


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