Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Was war Borowina? Eine Ansiedlung, die erst entstehen sollte. Der Name wurde jedoch augenscheinlich im voraus gewählt, da man von dem Prinzip ausging, daß, wo ein Name vorhanden war, auch ein Gegenstand existieren mußte. Schon lange vorher hatten polnische und sogar auch englische Zeitungen, die in Neuyork, Chicago, Buffalo, Detroit, Milwaukee, Manitowoc, Denver, Calumet, mit einem Wort überall erschienen, wo man polnisch sprechen hörte, aller Welt, besonders aber den polnischen Ansiedlern verkündet, daß, wer gesund, reich und glücklich sein, gut essen und lange leben und nach dem Tode sichere Erlösung finden wollte, der sollte sich an der Parzellierung des irdischen Paradieses, Borowina geheißen, beteiligen.
Die Bekanntmachungen berichteten, daß Arkansas, wo Borowina gegründet werden sollte, zwar noch ein ödes, aber das gesundeste Land der Welt sei. Das Städtchen Memphis, an der äußersten Grenze, jenseits vom Mississippi gelegen, sei zwar ein Herd des gelben Fiebers, aber nach den Bekanntmachungen sei weder ein gelbes noch irgendein anderes Fieber imstande, einen solchen Strom, wie den Mississippi zu durchschwimmen. Am oberen Ufer des Flusses ist das Fieber auch deshalb nicht eingedrungen, weil die benachbarten Choctaw-Indianer es erbarmungslos skalpieren würden. Das Fieber erbebt nämlich beim Anblick der Rothäute.
Infolge dieser Sachlage werden die Ansiedler von Borowina zwischen dem Fieber im Osten und den Rothäuten im Westen wohnen, aber in einem ganz neutralen Streifen, der also eine solche Zukunft vor sich hatte, daß Borowina in 1000 Jahren zweifellos zwei Millionen Einwohner zählen und daß das Land, für das man heute einen halben Dollar pro Morgen zahlte, mindestens mit 1000 Dollars pro Quadratrute verkauft werden wird.
Solchen Versprechungen und Aussichten konnte man nur schwer widerstehen. Denjenigen, welchen die Nachbarschaft der Indianer nicht gefiel, versicherten die Bekanntmachungen, daß dieser kriegerische Stamm eine ganz außerordentliche Sympathie für die Polen hätte, daß also die angenehmsten Beziehungen vorauszusetzen seien.
Übrigens war es bekannt, daß, wo immer über Wälder und Steppen die Eisenbahnen und Telegraphenstangen in Gestalt von Kreuzen gingen, diese letzteren sehr bald zu Sinnbildern auf den indianischen Gräbern werden. Da aber das Land bei Borowina von einer Eisenbahn angekauft wurde, so war das Verschwinden der Indianer nur eine Frage der Zeit.
Das Land war in der Tat von einer Eisenbahn angekauft worden, was der Ansiedlung die Verbindung mit der Welt, einen Absatz für die Produkte und die zukünftige Entwicklung sicherte. Die Bekanntmachungen vergaßen zwar hinzuzufügen, daß diese Eisenbahn erst geplant war, und daß erst der Verkauf der Landstriche, welche der Eisenbahn von der Regierung in der öden Gegend angewiesen wurden, das zum Bau erforderliche Kapital sichern oder ergänzen sollte. Diese Vergeßlichkeit war jedoch bei einem so verwickelten Geschäft leicht verzeihlich. Übrigens bestand der Unterschied für Borowina nur darin, daß die Ansiedlung statt an der Eisenbahnstrecke in öder Wildnis lag, zu der man nur mit großer Mühe zu Wagen gelangen konnte.
Aus dieser Vergeßlichkeit konnten verschiedene Unannehmlichkeiten erwachsen, doch waren diese nur vorübergehend und hörten auf, sobald die Eisenbahnlinie durchgeführt war.
Außerdem war bekannt, daß man die Ankündigungen in diesem Lande nicht wörtlich auffassen durfte, denn ebenso, wie jede auf amerikanischem Boden versetzte Pflanze üppig emporwuchert, wenn auch auf Kosten der Früchte, nimmt auch die Reklame in den amerikanischen Zeitungen solche Riesenformen an, daß es oft schwer hält, ein Körnchen Wahrheit aus der rethorischen Spreu auszuhülsen.
Wenn man aber von alledem absieht, was man in den Ankündigungen von Borowina als sogenannten Humbug betrachten mußte, konnte man noch immer annehmen, daß diese Ansiedlung nicht schlechter sein wird, als tausend andere, deren Entstehen ebenso geräuschvoll angekündigt wurde.
Die Bedingungen erschienen sogar in vieler Hinsicht günstig. Aus diesem Grunde ließen sich eine Menge Personen und sogar polnische Familien, die in den Vereinigten Staaten überall ausgestreut sind, von den großen Seen bis zu den Palmenwäldern Floridas und vom Atlantischen Ozean bis zur kalifornischen Küste als Ansiedler in der entstehenden Ansiedlung einschreiben.
Preußische Masuren, Schlesier, Posener, Galizier, Litauer aus dem Gouvernement Augustowo und Masuren aus der Nähe von Warschau, die in den Fabriken von Chicago und Milwaukee arbeiteten und die sich längst nach einem Leben sehnten, das ein echter Bauer führen muß, ergriffen gern diese erste Gelegenheit, um aus den verrauchten und verrußten, engen Städten wieder herauszukommen und in den fernen Feldern, Steppen und Wäldern von Arkansas zum Pfluge und zur Axt zu greifen.
Diejenigen, denen es in »Jungfrau Maria« und in Texas zu heiß oder in Minnesota zu kalt oder in Detroit zu feucht oder in Radom, in Illinois zu armselig war, vereinten sich mit den erstgenannten, und mehrere hundert Menschen, meist Männer, aber auch viele Frauen und Kinder zogen nach Arkansas.
Der Name »Blood-Arkansas«, d. h. das blutige Arkansas, schreckte die Kolonisten nicht zurück. Obgleich dieses Land bis zum heutigen Tage überfüllt ist mit raubgierigen Indianern, sogenannten »Outlaw« oder Räubern, die dem Gesetze entwichen waren, ferner mit jenen wilden Eingeborenen, welche das Holz trotz des Gesetzesverbots am Red-River fällten, und mit verschiedenen anderen Abenteurern und Landstreichern, die dem Galgen nur zufällig entgangen waren; obgleich der westlichere Teil dieses Staates noch heute wegen der grausamen Kämpfe zwischen den Rothäuten und den weißen Büffeljägern und wegen des fürchterlichen »Lynchgesetzes« berühmt war, – so konnte allen diesen Dingen auf irgend eine Weise abgeholfen werden.
Wenn ein Masur seinen Knotenstock in der Hand fühlt und besonders je einen Masuren auf jeder Seite, dazu einen Masuren hinter sich, gibt er nicht so leicht nach, und wer ihm etwa in den Weg treten will, dem schreit er zu: »Rühr' mich nicht an! Sonst schlage ich dir alle Knochen klein, du Schurke!«
Auch war es bekannt, daß die Masuren gern zusammenhielten und sich so ansiedelten, daß ein Bauer dem anderen jeden Augenblick zu Hilfe eilen konnte. Ein Sammelpunkt für die meisten war die Stadt Little-Rock. Aber von hier nach Clarksville, der nächsten westlichen Ansiedlung, in deren Nachbarschaft Borowina liegen sollte, war es etwas weiter, als von Warschau nach Krakau; was aber schlimmer war, man mußte über ödes, von dichtem Wald und tiefem Wasser unterbrochenes Land fahren. Einige Menschen, die nicht auf den Trupp warten wollten und sich allein auf den Weg machten, waren spurlos verschwunden, aber der Haupttabor kam glücklich an und lagerte jetzt schon inmitten des Waldes. Aufrichtig gesagt, waren die Ansiedler, als sie an Ort und Stelle kamen, sehr enttäuscht. Sie hatten gehofft, auf dem für die Kolonisierung bestimmten Boden, Feld und Wald zu finden, statt dessen trafen sie Wald an, der erst ausgerodet werden mußte.
Schwarze Eichen, Rotholz, Baumwollenstauden, helle Platanen und düstere Nadelhölzer standen in gedrängter Masse nebeneinander. Die Wildnis war kein Scherz: unten verwachsener und verworrener Boden, oben von Lianen dicht durchflochten, die wie Schnüre und Leinen von Baum zu Baum sprangen, bald Hängebrücken bildend, bald Schleier, bald Linnengewebe, mit Blumen bedeckt und so dicht und eng aneinander gedrängt, daß das Auge nicht in die Ferne schweifen konnte, wie in unseren Wäldern.
Wer sich hier tiefer hineinwagte, der sah keinen Himmel über sich, mußte in der Finsternis umherirren und konnte leicht den Weg verlieren, um niemals wieder herauszugelangen.
So mancher Masur blickte hier bald seine Faust, bald die Axt, bald jene Eichen mit einigen Ellen im Umfange an, und so manchem wurde dabei unheimlich. Es war ein seliges Gefühl, Holz zum Bau der Hütte und zur Feuerung zu haben, aber den Wald auf einer Strecke von 160 Morgen auszuroden, die Stämme aus der Erde herauszureißen, das Land zu ebnen und erst dann zum Pfluge zu greifen, das war für jeden einzelnen eine Arbeit von mehreren Jahren.
Da es aber keine andere Arbeit hier gab, so bekreuzigte sich mancher schon am nächsten Tage nach der Ankunft, benetzte die Hände, griff zur Axt, stöhnte, holte weit aus und schlug darauf los.
Von nun an hörte man täglich das Dröhnen der Äxte in diesem Wald von Arkansas, und manchmal erschallte auch ein Lied, das vom Echo weithin getragen wurde.
Jasienko kam vom Hof hinaus
Und rief: »Kasienka, heraus, heraus!
Komm, liebe Kasienka, ach komm doch bald,
Mit mir in den Wald, in den finsteren Wald!«
Die Karawane ließ sich am Fluße nieder, auf einer ziemlich großen Wiese, an deren Rande sich im Quadrat die Hütten erheben sollten, in der Mitte mit der Zeit eine Kirche und eine Schule. Aber das hatte noch gute Weile. Inzwischen standen hier die Wagen, aus denen die Ansiedlerfamilien angekommen waren. Man stellte diese Wagen im Dreieck auf, damit man sich im Falle eines Angriffs wie in einer Festung verteidigen konnte. Hinter den Wagen gingen auf dem übrigen Teile der Wiese Maulesel und Pferde, Kühe und Schafe umher, die von jungen, bewaffneten Knechten bewacht wurden. Die Leute schliefen auf den Wagen oder auch hinter denselben, in der Nähe der Feuerherde.
Am Tage blieben die Frauen und Kinder im Tabor, während man die Gegenwart der Männer nur durch die Axthiebe erkannte, die im ganzen Walde erdröhnten.
Nachts heulten im Dickicht wilde Tiere, nämlich Jaguare und Wölfe. Fürchterliche graue Bären, die sich vor dem Feuerglanz weniger fürchteten, traten manchmal ziemlich nahe an die Wagen heran, und dann knallten Schüsse mitten in der Finsternis, und man hörte Rufe:
»Es ist um dich geschehen, Bestie!«
Die Leute, die aus den Wildnissen von Texas hierher kamen, waren größtenteils geübte Jäger und verschafften sich und ihren Familien mit Leichtigkeit Wild, namentlich Antilopen, Hirsche und Büffel; denn es war zur Frühlingszeit, als diese Tiere nach dem Norden auswanderten. Die übrigen Ansiedler nährten sich von dem Vorrat, den sie in Little-Rock oder Clarksville eingekauft hatten, und der aus Maismehl und Pökelfleisch bestand. Außerdem schlachtete man Schafe, mit denen sich jede Familie versehen hatte.
Abends, wenn in der Nähe der Wagen ein großes Feuer angezündet wurde, begann die Jugend, anstatt schlafen zu gehen, gewöhnlich noch zu tanzen. Ein Spielmann brachte irgendeine Geige mit auf der er nach dem Gehör einen wilden Rundtanz spielte. Und als die Stimme der Geige zu sehr von dem Waldrauschen unter offenem Himmel übertönt wurde, unterstützten andere den Spielmann auf echt amerikanische Weise, indem sie auf blecherne Kessel schlugen.
Das Leben verging in schwerer Arbeit ziemlich lärmend, aber ungeregelt. Zuerst galt es, Hütten zu errichten, und bald auch erhoben sich auf dem grünen Wiesenboden Balken und Brettergebinde; ringsumher lagen Späne, Borkenstücke und ähnliche Holzabfälle ausgestreut.
Das Rotholz ließ sich zwar leicht verarbeiten, aber man mußte es oft weit herholen.
Manche bauten sich unterdessen Zelte aus Leinwand, die sie von den Wagen abrissen. Andere, besonders die unverheirateten, die es weniger eilig hatten, unter ein Dach zu kommen und des Ausrodens überdrüssig wurden, begannen an den Stellen zu pflügen, wo das Dickicht lichter und wo die Eichen und andere »eiserne« Bäume seltener waren. Damals erschallten zum erstenmal, seitdem der Wald von Arkansas bestand, die Rufe: »Ho, hott!«
Im allgemeinen gab es aber so viel Arbeit für die Ansiedler, daß sie nicht wußten, woran sie zuerst Hand legen sollten: ob Häuser bauen, oder den Boden ausroden oder auf die Jagd gehen.
Gleich im Anfang stellte es sich heraus, daß der Bevollmächtigte das Land von der Eisenbahn auf Treu und Glauben gekauft hatte, ohne selbst dort gewesen zu sein, sonst hätte er nämlich nicht diese verschlagene Wildnis erworben, besonders, da es eben so leicht war, ein Steppenstück zu kaufen, das nur teilweise mit Wald bedeckt war.
Später kam er sowohl, wie auch der Bevollmächtigte der Eisenbahn zur Stelle, um die Teile abzumessen und jedem sein Eigentum anzuweisen. Als sie aber sahen, wie die Sache lag, drehten sie sich zwei Tage herum, dann gerieten sie in Streit und reisten, angeblich um Meßinstrumente zu kaufen, nach Clarksville, von wo sie aber nicht mehr zurückkehrten.
Bald erwies es sich, daß einige von den Ansiedlern mehr bezahlt hatten, als die anderen, und das schlimmste war, daß niemand wußte, wo sein Teil lag, noch wo er abzumessen hatte, was ihm zukam.
Die Ansiedler blieben ohne jede Leitung, ohne jede Obrigkeit, die ihre Angelegenheiten hätte ordnen und die Streitigkeiten hätte beilegen können. Man wußte nicht recht, wie man an die Arbeit gehen sollte. Die Deutschen hätten wahrscheinlich gemeinschaftlich den Wald ausgehauen, die ganze Strecke gesäubert, mit vereinten Kräften Häuser errichtet und sodann erst das Land parzelliert.
Aber jeder Masur wollte sogleich auf seinem Grund und Boden arbeiten, sein eigenes Haus aufstellen und auf seiner Parzelle den Wald ausroden. Dabei wollte jeder einen Platz in der Nähe der Wiese haben, wo die Wildnis am dünnsten und das Wasser am nächsten war. Aus diesem Grunde entstanden Streitigkeiten, welche sofort anwuchsen, als eines Tages der Wagen eines gewissen Herrn Grünmanski, wie vom Himmel gefallen, auf der Bildfläche erschien.
Dieser Herr Grünmanski nannte sich in Cincinnati, wo Deutsche wohnten, wahrscheinlich einfach Grünmann, aber in Borowina hängte er sich noch ein »ski« an, um bessere Geschäfte zu machen. Sein Wagen hatte ein großes Leinwanddach, auf dessen beiden Seiten eine Inschrift mit großen schwarzen Lettern: »Saloon« und darunter mit kleineren »Brandy, Whisky, Gin« stand.
Wie es diesem Wagen gelungen war, die gefährliche Wüste zwischen Clarksville und Borowina unbehelligt zurückzulegen, wieso er von den Steppenabenteurern nicht überfallen wurde, weshalb die Indianer, die gruppenweise auf dem Wege lungerten, auch oft ganz in der Nähe von Clarksville, Herrn Grünmanski den Schädel nicht eingehauen hatten, – das war sein Geheimnis. Tatsache war, daß er unbeschädigt eintraf und noch am selbigen Tage vorzügliche Geschäfte machte.
Aber ebenfalls an demselben Tage begannen die Ansiedler sich zu zanken. Zu den tausend Gründen wegen der Parzellen, der Früchte, der Stellen am Herdfeuer, kamen ganz nichtige Anlässe hinzu. In den Kolonisten erwachte der amerikanische Lokalpatriotismus.
Diejenigen, welche aus den nördlichen Staaten stammten, lobten ihre früheren Kolonien auf Kosten der Ansiedlungen und der Ansiedler ans den südlichen Gegenden, und umgekehrt.
Damals konnte man jenes Durcheinander von Nordamerikanisch und Polnisch hören, eine Sprache, die überall mit englischen Fäden gestopft wurde, wo sie infolge der Losreißung vom Heimatlande und des Aufenthaltes unter fremden Leuten durchlöchert war. Die Bauern hatten eine Menge englische Ausdrücke erlernt, mit denen sie ihre Sprache vollspickten, und so entstand auf diese Weise ein sonderbar klingender, fremdartiger Dialekt.
In der Ansiedlung ging es schlimm zu, denn die Scharen erinnerten geradezu an eine Herde Schafe ohne Hirt.
Die Streitigkeiten um die Parzellen wurden immer heftiger. Schließlich kam es zu Kämpfen, bei welchen die Genossen aus einer Stadt oder einer Ansiedlung sich gegen solche, die aus anderer Gegend stammten, vereinigten.
Die Erfahreneren, Älteren und Klügeren, gelangten schließlich zu Macht und Ansehen, aber es gelang ihnen nicht immer, sie aufrecht zu erhalten.
Nur in den Augenblicken der Gefahr ließ der Instinkt der gemeinsamen Abwehr alle Streitigkeiten vergessen.
Eines Abends, als ein Trupp von indianischen Landstreichern mehrere Schafe geraubt hatte, setzten die Bauern ihnen scharenweise nach, ohne einen Augenblick zu überlegen. Die Schafe nahm man den Rothäuten ab und einen von ihnen zerschlug man derartig, daß er kurz darauf starb. An diesem Tage herrschte die größte Eintracht. Aber schon am nächsten Morgen schlugen sie sich wieder beim Ausroden.
Frieden herrschte auch, wenn der Spielmann des Abends nicht nur zum Tanz, sondern verschiedene Lieder spielte, die jeder vor langer Zeit in der Heimat unter den Strohdächern gehört hatte. Dann verstummte die Unterhaltung. Die Bauern umgaben den Geiger im großen Kreise, das Waldesrauschen begleitete ihn, das Feuer im Herde zischte und ließ die Funken sprühen; sie aber standen, die Häupter traurig über die Brust gesenkt, und ihre Seelen entschwebten weit über das Meer.
Manchmal stieg der Mond schon hoch über den Wald, und noch immer lauschten sie.
Aber mit Ausnahme jener kurzen Augenblicke wurde es in der Ansiedlung immer ungeregelter und zerfahrener. Mit der Unordnung wuchs und steigerte sich auch der Haß. Diese kleine, mitten im Walde verschlagene, von den übrigen Menschen losgerissene und von den Führern verlassene Gemeinde konnte sich allein keinen Rat geben.
Unter den Ansiedlern finden wir zwei uns bekannte Gestalten: den alten Bauern Wawrschon Toporek und seine Tochter Marysja.
In Arkansas angelangt, sollten sie in Borowino das Schicksal der anderen teilen. Anfangs ging es ihnen besser. Ein Wald war immerhin etwas anderes, als das Pflaster von Neuyork; außerdem besaßen sie dort nichts, während sie hier einen Wagen, etwas Inventar, das sie billig erstanden und einige Ackergeräte hatten. Dort zehrte an ihnen die Sehnsucht, hier aber erlaubte die schwere Arbeit nicht, die Gedanken loszureißen.
Der Bauer mußte vom Morgen bis zum Abend den Wald ausroden, Späne spalten oder Balken für das Haus bearbeiten. Das Mädchen mußte die Wäsche im Flusse waschen, Feuer anlegen und das Essen bereiten. Aber trotz der Anstrengung verwischten Waldluft und Bewegung von ihrem Gesichte allmählich die Spuren der Krankheit, welche sie sich durch das Elend in Neuyork zugezogen. Der heiße Windhauch von Texas verbrannte ihr blasses Gesichtchen und bedeckte es mit goldenem Glanz.
Die jungen Burschen aus San Antonio und von den großen Seen, die bei jedem Anlaß mit den Fäusten aufeinander losgingen, waren sich nur darin einig, daß Marysjas Augen unter dem hellen Haar hervorschauten, wie die Kornblumen aus dem Roggen, und daß sie das schönste Mädchen sei, die das Menschenauge je geschaut.
Marysjas Anmut kam auch Wawrschon zugute. Er wählte sich selber ein Stück Wald aus, wo das Dickicht dünner war, und niemand widersprach, weil alle Knechte auf seiner Seite standen. Manch einer half ihm auch beim Fällen der Bäume oder beim Bearbeiten der Balken oder auch beim Einrammen derselben. Da der Alte ein schlauer Fuchs war, merkte er nur zu gut, worauf es die jungen Leute abgesehen hatten, und er sagte von Zeit zu Zeit:
»Mein Töchterlein wandelt über die Wiese, wie eine Lilie, wie eine Herrin, wie eine Königin! Ich gebe sie, wem ich will, aber nicht dem ersten besten, denn sie ist eine wirtschaftliche Tochter. Wer sich am tiefsten vor mir verneigt und mir am meisten hilft, dem werde ich sie geben, aber keinem Vagabunden.«
Wer ihm also Dienste leistete, glaubte sich selber zu helfen. Wawrschon erging es deshalb besser als den anderen, und es wäre im allgemeinen alles gut gewesen, wenn die Ansiedlung eine Zukunft vor sich hätte. Aber die Zustände wurden dort immer schlimmer.
Es verging eine Woche und die zweite. Ringsumher auf der Wiese wurde Holz gefällt, der Boden bedeckte sich mit Spänen, hier und dort erhob sich die gelbe Wand eines Hauses. Aber alles, was schon getan, war eine Spielerei im Vergleich mit dem, was noch zu tun übrig blieb. Die grüne Wand des Waldes wich nur langsam unter den Axthieben. Diejenigen, welche tiefer in das Dickicht eindrangen, brachten seltsame Nachrichten mit, daß der Wald überhaupt kein Ende habe, daß weiterhin fürchterliche Moräste, Sümpfe und stagnierendes Wasser unter den Bäumen sich befänden, daß dunkle Schatten, gleichsam Geister im Dickicht herumschlichen, Schlangen zischten, und oft ließen sich Stimmen vernehmen, die warnend riefen: »Geh nicht weiter!« Wunderliche Sträucher klammerten sich an die Kleider und ließen keinen wieder los.
Ein Bursche aus Chicago behauptete, er habe den Teufel in eigener Person gesehen, wie er seinen gräßlichen, zottigen Kopf aus dem Sumpf hervorhob und so nach ihm schnappte, daß es ihm kaum gelang, in den Tabor zurückzugelangen. Die Ansiedler in Texas erklärten ihm, es müsse ein Büffel gewesen sein, aber er wollte nicht daran glauben. Auf diese Weise fügte er zu der gefährlichen Lage noch den Schrecken des Aberglaubens hinzu.
Einige Tage nach dem Auftauchen des Teufels ereignete es sich, daß zwei Wagehälse in den Wald gingen und nie wieder gesehen wurden. Einige Leute erkrankten an Kreuzschmerzen, aus Überanstrengung, und dann wurden sie vom Fieber befallen.
Der Zank um die Parzellen steigerte sich derartig, daß es zu blutigen, heftigen Verwundungen in den Kämpfen kam. Wer sein Vieh nicht zeichnete, dem wurde das Eigentum abgestritten. Der Tabor dehnte sich weit aus, man stellte die Wagen an allen Ecken der Wiese aus, um so weit wie möglich voneinander entfernt zu sein.
Man wußte nicht, wer das Vieh hüten sollte, so daß die Schafe oft verschwanden und verloren gingen.
Inzwischen wurde eins immer klarer: daß, bevor die Sonne aufstieg, der Tau ihnen auf die Augen schlug, und bevor die Saat am Waldsaum grünen und eine Ernte bringen konnte, die Lebensmittel ausgehen und der Hunger drohen konnte.
Verzweiflung ergriff die Leute. Die Axthiebe nahmen im Walde ab, denn die Geduld und der Mut ließen ebenfalls nach.
Jeder hätte gern weiter gearbeitet, hätte ihm nur jemand gesagt: »Hier nimm das, bis hierhin gehört die Parzelle dir!« Aber niemand wußte, was sein war oder nicht. Die gerechten Klagen über die Agenten wurden immer lauter. Die Leute sagten, daß man sie in die Wüste geführt habe, damit sie im Elend umkommen. Wer noch etwas Geld bei sich hatte, bestieg seinen Wagen und begab sich nach Clarksville. Größer aber war die Zahl derjenigen, welche den letzten Heller hier untergebracht hatten und nicht über Mittel verfügten, um nach ihren früheren Wohnorten zurückzukehren. Diese rangen die Hände, da sie den sicheren Untergang sahen.
Endlich hörten die Äxte auf, das Holz zu fällen, und der Wald rauschte, als lache er über die menschliche Ohnmacht.
»Zwei Jahre lang schlägt man mit der Axt drein, um dann Hungers zu sterben,« sagte ein Bauer zum anderen.
Und der Wald rauschte, als ob er lachte und spottete. Eines Abends kam Wawrschon zu Marysja und sagte: »Ich sehe, daß alle hier zugrunde gehen, und auch wir werden umkommen.«
»Gottes Wille geschehe!« antwortete das Mädchen, »aber er war barmherzig gegen uns und wird uns auch jetzt nicht verlassen.«
Während sie diese Worte sprach, erhob sie ihre kornblumblauen Augen gen Himmel und sah im Feuerglanz aus, wie ein Kirchenbildchen.
Und die Burschen aus Chicago und die Jäger aus Texas betrachteten sie und sagten:
»Auch wir werden dich nicht verlassen, Morgenröte!«
Sie dachte daran, daß es nur einen gibt, mit dem sie bis ans Ende der Welt gehen würde, nur Jasko aus Lipinze. Aber dieser, der ihr versprochen, als Entrich über das Meer zu schwimmen, als Vogel die Luft zu durchmessen, als goldener Ring über die Landstraße zu rollen, kam weder geschwommen, noch geflogen, dieser eine hatte sie verlassen.
Marysja konnte es nicht entgehen, daß es in der Ansiedlung schlimm aussah, aber Gott hatte sie schon aus solchem Elend, aus so tiefen Abgründen gerettet, ihre Seele war in all diesem Mißgeschick so geläutert, daß das Vertrauen auf Gotteshilfe ihr durch nichts geraubt werden konnte.
Übrigens erinnerte sie sich, daß der alte Herr aus Neuyork, der ihnen aus dem Elend half und sie hierherschickte, ihr seine Karte gegeben und gesagt hatte, sie möge sich zu ihm begeben, sobald die Not sie bedrückte; er würde ihr stets helfen.
Inzwischen wurde die Lage in der Ansiedlung mit jedem Tage drohender.
Die Leute flüchteten bei Nacht, und was mit ihnen dort vorging, das wußte keiner. Ringsumher rauschte der Wald und höhnte.
Der alte Wawrschon wurde schließlich vor Erschöpfung krank. Er klagte über heftige Kreuzschmerzen. Zwei Tage achtete er nicht darauf. Am dritten Tag konnte er nicht aufstehen. Das Mädchen ging in den Wald, sammelte Moos, bettete damit eine Wand des Hauses aus, die auf der Wiese lag, legte den Vater darauf und kochte ihm eine Arznei mit Branntwein.
»Marysja,« brummte der Bauer, »der Tod nähert sich mir aus dem Walde, und du bleibst allein auf der Welt zurück, als eine Waise. Gott straft mich für meine schweren Sünden, denn ich habe dich über das Meer hinausgeführt und zugrunde gerichtet. Schwer wird mein Ende sein.«
»Väterchen!« antwortete das Mädchen, »Gott hätte mich noch schwerer gestraft, wenn ich Euch nicht gefolgt wäre.«
»Wenn ich dich nur nicht allein zurückließe! Könnte ich dich zu einem Ehebund segnen, so würde ich leichter sterben. Marysja, nimm den schwarzen Orlik zum Mann, er ist ein braver Bursche und wird dich nicht verlassen.«
Der schwarze Orlik, ein vorzüglicher Jäger aus Texas, hörte diese Worte und warf sich sofort dem Alten zu Füßen.
»Segnet mich, Vater!« sagte er, »ich liebe dieses Mädchen, wie mein eigenes Leben. Ich bin mit dem Walde vertraut und werde sie nicht umkommen lassen.«
Indem er so sprach, blickte er Marysja mit seinen Falkenaugen an, als wäre sie ein Regenbogen. Sie aber neigte sich zu den Füßen des Alten und sprach:
»Zwingt mich nicht, Väterchen! Wem ich Treue gelobt, dem werde ich angehören oder keinem!«
»Wem du Treue gelobt, dessen wirst du nicht sein, denn ich schlage ihn tot. Du mußt mir angehören oder keinem!« rief Orlik. »Hier werden alle umkommen, und auch du wirst zugrunde gehen, wenn ich dich nicht rette.«
Der schwarze Orlik hatte recht. Mit der Ansiedlung ging es zu Ende; wieder vergingen zwei Wochen, und die Vorräte waren bald erschöpft. Man begann das zur Arbeit bestimmte Vieh zu schlachten. Das Fieber raffte immer neue Opfer dahin, die Menschen in der Wildnis fluchten und riefen mit lauten Stimmen zum Himmel um Rettung.
Eines Sonntags kniete Alt und Jung, Frau und Kinder auf dem Rasen und sang Gebete. Hundert Stimmen wiederholten: »Heiliger Gott, Allmächtiger, Unsterblicher, erbarme dich unser!«
Der Wald hörte auf zu rauschen und zu wogen; er lauschte. Erst als das Lied verstummte, begann er wieder zu rauschen, als ob er drohend riefe: »Hier bin ich König, hier bin ich Herr, bin der Allmächtige!«
Aber der schwarze Orlik, der den Wald genau kannte, richtete seine schwarzen Augen in die Ferne, blickte seltsam und dann sagte er laut:
»Nun, dann werden wir den Kampf wagen!«
Die Leute sahen Orlik der Reihe nach an, und neuer Mut erfüllte ihr Herz. Diejenigen, die ihn noch von Texas her kannten, hatten zu ihm großes Vertrauen, da er selbst in Texas als Jäger berühmt war. In den Steppen wild aufgewachsen, war er stark wie eine Eiche; er ging ganz allein auf einen Bären los.
In San Antonio, wo er früher wohnte, wußte man, daß er manchmal mit der Büchse in die Wüste hinauszog und erst nach Monaten wieder nach Hause kam, aber immer gesund und unbeschädigt. Man nannte ihn den »schwarzen«, weil er von der Sonne so verbrannt war. Man sagte sogar, er hätte die Grenze von Mexiko unsicher gemacht, aber das stimmte nicht. Er brachte nicht nur Felle, sondern manchmal auch Indianerskalpe.
Schließlich drohte ihm der Ortspfarrer mit dem Fluch.
Hier in Borowina kümmerte er sich um nichts. Der Wald gab ihm zu essen und zu trinken, der Wald sorgte auch für seine Kleidung. Als die Menschen also den Kopf verloren und sich aus dem Staube machten, nahm er alles in die Hand und führte, wie eine graue Gans am Himmel die Zugvögel, seine Leute aus Texas, die ihm vollauf vertrauten.
Als er nach dem Gebet den Wald starr anblickte, dachten die Leute, er würde irgendeine Hilfe schaffen.
Inzwischen ging die Sonne unter. Hoch zwischen den schwarzen Zweigen der ehernen Bäume leuchtete noch eine Zeitlang der goldene Schimmer, dann rötete er sich und verlosch. Der Wind zog gen Süden, als es dämmerte.
Orlik griff zu seiner Büchse und ging in den Wald.
Kaum war die Nacht hereingebrochen, als die Leute in der dunklen Ferne gleichsam einen goldenen Stern oder das Morgenrot oder auch die Sonne zu erblicken meinten; der helle Fleck wuchs mit beängstigender Schnelligkeit und verbreitete einen blutroten Schimmer.
»Der Wald brennt, der Wald brennt,« rief man im Tabor.
Vögelschwärme erhoben sich lärmend, schreiend und krächzend von allen Seiten des Waldes. Das Vieh im Tabor begann zu brüllen, die Hunde heulten, die Menschen liefen bestürzt umher, da sie nicht wußten, ob die Feuersbrunst nicht auch sie umfassen werde, aber der starke Südwind trieb die Flammen von der Wiese fort.
Inzwischen blinkte in der Ferne ein zweiter roter Stern auf, dann ein dritter. Beide vereinten sich bald mit dem ersten, und die Feuersbrunst verbreitete sich knarrend über einen immer größeren Raum. Die Flammen strömten wie Wasser, liefen über die dürren Lianenzweige und den wilden Wein und erschütterten das Laub. Der Sturmwind riß die brennenden Blätter empor und trug sie immer weiter, wie feurige Vögel. Die Bäume krachten mit Kanonendonner und barsten in den Flammen, die sich gleich roten Feuerschlangen aus dem harzigen Grunde der Wildnis dahinschlängelten. Zischen, Lärm, das Knistern der Zweige, das dumpfe Dröhnen des Feuers, mit dem Krächzen der Vögel und dem Gebrüll der Tiere vermischt, erfüllte die Luft, die bis zum Himmel ragenden Baumstämme schwankten, wie Flammensäulen und Pfähle. Brennende Lianen rissen sich von den Bäumen los, wiegten sich grausig wie Satansarme und übermittelten die Funken von Baum zu Baum. Der Himmel rötete sich, als wäre dort oben eine zweite Feuersbrunst.
Es wurde tageshell. Dann verschmolzen alle Flammen zu einem Feuermeer und zogen durch den Wald, wie ein Hauch des Todes oder wie der Zorn Gottes.
Rauch, Hitze und Brandgeruch erfüllten die Luft. Obgleich den Leuten im Tabor keine Gefahr drohte, schrien und riefen sie sich einander an, als plötzlich von der Brandstätte her inmitten der Flammen und des funkensprühenden Glanzes der schwarze Orlik erschien. Sein Gesicht war ganz verrußt und von drohendem Ausdruck. Als man ihn umkreiste, stützte er sich auf seine Büchse und sagte:
»Jetzt werdet ihr nicht mehr roden! Ich habe den Wald angezündet. Morgen werdet ihr soviel Acker haben, wieviel jeder von euch braucht.«
Dann näherte er sich Marysja und sprach:
»Jetzt mußt du mein sein, denn ich bin's, der den Wald angezündet! Wer ist hier stärker als ich?!«
Das Mädchen begann am ganzen Leibe zu zittern, denn in Orliks Augen spiegelte sich der rote Feuerschein, und er erschien ihr fürchterlich.
Zum erstenmal seit ihrer Ankunft dankte sie Gott, daß Jasko fern in Lipinze war. Das Feuer verbreitete sich immer weiter unter Lärm und Gepolter. Es brach ein bewölkter Tag an, und es drohte zu regnen. Bei Morgendämmern gingen manche Leute hinaus, um sich die Trümmer anzusehen, doch war es unmöglich, sich der Brandstätte infolge der Hitze zu nähern.
Am nächsten Tage hing so dichter Nebel in der Luft, daß die Menschen einander auf drei Schritt nicht unterscheiden konnten. In der Nacht begann es zu regnen, und bald prasselte der Regen in heftigen Strömen hernieder. Vielleicht hatte das Feuer die Luft erschüttert und die Wolken zusammengetrieben; außerdem aber pflegen zur Frühlingszeit im weiteren Laufe des Mississippi und an der Mündung des Arkansas und des roten Stromes gewöhnlich Regengüsse einzutreten. Hierzu trägt auch die Ausdünstung der Gewässer bei, die in Arkansas das ganze Land in Gestalt von Sümpfen, kleinen Seen und Flüssen bedecken und im Frühling infolge des schmelzenden Schnees im fernen Gebirge bedeutend zunehmen.
Die ganze Wiese weichte auf und verwandelte sich allmählich in einen großen Teich. Die Leute waren völlig durchnäßt und erkrankten infolgedessen.
Manche verließen die Ansiedlung, um nach Clarksville zu gehen, aber bald kehrten sie mit der Nachricht zurück, daß der Fluß angeschwollen und eine Überfahrt unmöglich sei.
Die Lage wurde entsetzlich; denn es war bereits ein Monat seit der Ankunft der Ansiedler vergangen, die Vorräte konnten sich vollends erschöpfen und neue aus Clarksville herbeizuschaffen, war ganz ausgeschlossen.
Nur Wawrschon und Marysja waren weniger vom Hunger bedroht, als die anderen, denn über ihnen wachte die mächtige Hand des schwarzen Orlik. Jeden Morgen brachte er ihnen Wild, das er erlegt oder gefangen hatte. Auf der Wand, auf welcher Wawrschon lag, hatte Orlik sein Zelt aufgestellt, um den Alten und Marysja gegen den Regen zu schützen. Sie mußten diese seine Hilfe, welche er ihnen fast aufdrängte, annehmen und verpflichteten sich auf diese Weise zur Dankbarkeit, denn er wollte keine Bezahlung annehmen und verlangte nur Marysjas Hand.
»Bin ich denn die einzige auf der Welt?« rief sie flehend. »Geh, suche dir eine andere, denn auch ich liebe einen anderen.«
Aber Orlik antwortete:
»Wenn ich bis ans Ende der Welt ginge, fände ich keine zweite wie du. Du bist für mich die einzige auf der Welt und mußt mir angehören. Was willst du anfangen, wenn dir der Alte stirbt? Du wirst selber zu mir kommen, du kommst, und ich nehme dich, wie ein Wolf das Lamm, trage dich in den Wald hinaus, aber nicht, um dich zu fressen. Du meine einzige, mein Mädchen! Wer könnte dich mir rauben, wen fürchte ich hier? Mag dein Jasko kommen: ich will es!«
Was Wawrschon betrifft, schien Orlik recht zu haben. Der Alte kränkelte immer mehr, wurde vom Fieber gequält und sprach von seinen Sünden, von Lipinze, das Gott ihm nicht erlauben werde wiederzusehen.
Marysja weinte bittre Tränen über ihn und über sich. Wenn Orlik ihr auch versprochen, mit ihr nach Lipinze zurückzukehren, wenn sie sich ihm nur vermählte, war das für sie mehr Bitterkeit als Trost. Nach Lipinze zurückzukehren, wo ihr Jasko war, und als Frau eines anderen. Um nichts in der Welt! Lieber wollte sie hier unter dem ersten besten Baum sterben. Sie dachte, daß es wohl so eines Tages kommen werde!
Inzwischen sollte die Ansiedlung von einem neuen Mißgeschick heimgesucht werden. Der Regen wurde immer heftiger. In einer stockfinsteren Nacht, als Orlik wie gewöhnlich in den Wald gegangen war, erhob sich im Tabor der durchdringende Ruf: »Wasser, Wasser!«
Als die Leute sich den Schlaf aus den Augen rieben, sahen sie in der Finsternis, so weit das Auge reichte, eine einzige weiße Fläche, auf die der Regen niederprasselte und die vom Wind bewegt wurde. Das flackernde Dämmerlicht der Nacht glänzte stahlgrau auf der sich brechenden und kräuselnden Flut. Vom Ufer her, wo die Stämme emporragten, und von dem niedergebrannten Wald, hörte man das Rauschen und Plätschern der neuen Wellen, die eilig herbeiströmten. Im ganzen Tabor erhob sich lautes Geschrei.
Frauen und Kinder flüchteten sich auf die Wagen, die Männer eilten so schnell wie sie konnten, nach der Westseite der Wiese, wo die Bäume noch nicht gestürzt waren, das Wasser reichte ihnen kaum bis an die Knie, aber es stieg schnell. Das Rauschen vom Walde her vergrößerte sich und vermischte sich mit dem Angstgeschrei, dem Rufen bei den Namen und mit den Angstschreien nach Rettung.
Bald begannen auch die größeren Tiere vor dem Andrang der Wellen von einem Ort zum anderen zurückzuweichen, man merkte, daß die Strömung immer heftiger anschwoll, die Schafe schwammen und blökten jämmerlich, als riefen sie um Hilfe, schließlich verschwanden sie in der Richtung der Bäume.
Es goß wie aus Eimern, und jeder Augenblick brachte neuen Schrecken. Das feine Rauschen verwandelte sich in lärmendes Brausen wütender Wellen. Die Wagen begannen unter ihrem Anprall zu zittern. Man überzeugte sich, daß dies kein gewöhnlicher Regenstrom sei, sondern daß der Fluß Arkansas und alle seine Nebenflüsse ausgetreten sein mußten. Es war die richtige Überschwemmung, welche die Bäume mit den Wurzeln ausriß, ganze Wälder niederstürzte; hier herrschten die entfesselten Elemente, Grauen, Finsternis und Tod.
Ein Wagen, der dem niedergebrannten Walde am nächsten stand, fiel plötzlich um. Auf den herzzerreißenden Angstschrei der darin befindlichen Frauen sprangen einige dunkle Männergestalten von den Bäumen herab, aber die Welle trug die Rettenden davon, drehte sie im Wirbel und riß sie in den Wald zu ihrem Verderben hinaus. In den übrigen Wagen verbarg man sich auf den Leinwanddächern.
Der Regen rauschte immer heftiger; immer tiefere Finsternis fiel über die düstere Wiese. Ab und zu huschte ein Balken vorüber, an den sich eine menschliche Gestalt klammerte und der bald empor, bald hinabgeworfen wurde; von Zeit zu Zeit sah man die dunkle Form eines Tieres oder eines Menschen, bald wieder tauchte eine Hand aus dem Wasser hervor, um rasch darauf für immer hinabzutauchen.
Schließlich betäubte der wütende Lärm des Wassers alle anderen Stimmen, sowohl das Gebrüll der ertrinkenden Tiere, wie auch die Hilferufe: »Jesus! Jesus Maria!« Auf der Wiese bildeten sich Wasserstrudel, in denen die Wagen verschwanden. Und Wawrschon und Marysja? Die Wand, auf der der alte Bauer unter Orliks Zelt lag, rettete sie zunächst, denn sie schwamm wie eine Holztraft. Die Welle trug sie über die ganze Wiese nach dem Walde hin, warf sie von einem Baum zum anderen, drängte sie schließlich in das Flußbett und trug sie in die dunkle Ferne. Das Mädchen kniete bei dem alten Vater, erhob die Hände zum Himmel und flehte um Rettung. Aber nur das Prasseln des wütenden, vom Winde gepeitschten Regenstromes antwortete ihr …
Das Zelt wurde vom Wind davongetragen, und auch die Traft selbst konnte alle Augenblicke zerschellen, denn vor und hinter ihr schwammen die Stämme jener entwurzelten Bäume, die sie zerdrücken oder umstürzen konnten …
Endlich geriet sie zwischen die Zweige eines Baumes, dessen Wipfel nur aus dem Wasser emporragten, aber in demselben Augenblick erhob sich von diesem Gipfel eine menschliche Stimme:
»Nehmt die Büchse, geht auf die andere Seite, damit die Traft nicht umfällt, wenn ich hinunterspringe.«
Kaum hatten Wawrschon und Marysja getan, wie ihnen befohlen wurde, als eine Gestalt vom Aste auf die Traft heruntersprang.
Es war Orlik.
»Marysja,« rief er, »wie ich dir sagte, ich werde dich nicht verlassen. Bei Gott! Ich werde euch aus dieser Wassernot erretten.«
Mit einem Beil, das er bei sich hatte, schnitt er einen geraden Ast vom Baume los, bearbeitete ihn in einem Augenblick, dann stieß er die Traft aus den Zweigen ab und begann zu rudern.
Als sie sich wieder in dem eigentlichen Flußbett befanden, schwammen sie mit Blitzesschnelle; wohin, das wußte keiner von ihnen.
Orlik stieß von Zeit zu Zeit die Stämme und Äste zurück oder lenkte die Traft, um nicht auf einen noch stehenden Baum zu geraten. Seine Riesenkraft schien sich zu verdoppeln. Trotz der Finsternis entdeckte sein Auge jede Gefahr. Stunde um Stunde verrann. Jeder andere wäre vor Anstrengung niedergefallen, ihm sah man die Mühe überhaupt nicht an. Gegen Morgen gelangten sie aus den Wäldern heraus; kein Gipfel war am Horizont zu sehen. Dagegen nahm sich die ganze Gegend wie ein einziges Meer aus. Die ungeheuerlichen Biegungen des gelben schäumenden Wassers rollten brüllend auf der öden Fläche dahin. Indessen tagte es immer mehr.
Als Orlik sah, daß kein Stamm sich mehr in der Nähe befand, hörte er einen Augenblick auf zu rudern und wandte sich zu Marysja:
»Jetzt bist du mein, denn ich habe dich dem Tode entrissen.«
Sein Kopf war entblößt, sein feuchtes, gerötetes, von dem Kampf mit dem Wasser erhitztes Gesicht trug einen solchen Ausdruck von Kraft, daß Marysja zum erstenmal nicht wagte, ihm zu antworten, daß sie einem anderen die Treue geschworen:
»Marysja,« sagte der Bursche weich, »herzige Marysja!« »Wo schwimmen wir hin?« fragte sie, um die Unterhaltung in eine andere Bahn zu lenken.
»Was liegt daran, wenn ich nur mit dir sein kann, Geliebte!«
»Rudere weiter, solange der Tod vor uns ist.«
Orlik begann wieder zu rudern. Inzwischen fühlte Wawrschon sich immer schlechter. Das Fieber verließ ihn wohl manchmal, doch wurde er immer schwächer. Zu groß war das Leid für seinen alten abgehärmten Körper. Es nahte das Ende mit der großen Linderung und dem ewigen Frieden. Genau um die Mittagsstunde erwachte er und sagte:
»Marysja, ich werde den morgigen Tag nicht mehr erleben. Ach, Mädchen, Mädchen! Hätte ich doch niemals Lipinze verlassen und dich nicht ins Verderben gestürzt! Aber Gott ist barmherzig! Ich habe genug gelitten, und so wird er mir auch meine Sünden vergeben. Beerdigt mich, wenn ihr könnt; dich aber mag Orlik zu dem alten Herrn in Neuyork führen. Es ist ein guter Herr, er wird sich deiner annehmen und dir Geld zur Heimreise geben. Ich werde Lipinze nicht mehr wiedersehen. O Gott, barmherziger Gott! Erlaube wenigstens meiner Seele, dorthin zu schweben als ein Vöglein, um noch einmal die Heimat zu sehen.«
Hier ergriff ihn wieder das Fieber, und er sprach.
»In deinen Schutz befehl ich mich, heilige Mutter Gottes!« Plötzlich schrie er auf:
»Werft mich nicht ins Wasser, denn ich bin ja kein Hund!« Dann erinnerte er sich jedenfalls, wie er Marysja ertränken wollte, denn wieder rief er: »Vergib mir, mein Kind, vergib mir …«
Die Ärmste lag aber schluchzend ihm zu Häupten …
Orlik ruderte, während die Tränen ihm die Kehle zusammenpreßten.
Gegen Abend klärte es sich auf. Die Sonne erschien im Westen über der überschwemmten Fläche und spiegelte sich im Wasser als ein langer, goldener Streifen. Der Alte lag im Sterben. Gott hatte sich seiner erbarmt und ihm einen friedlichen Tod geschenkt. Anfangs wiederholte er mit klagender Stimme: »Mein Heimatland habe ich verlassen, das liebe Polen!« – dann schien es ihm aber im Fieberwahn, daß er dort zurückkehrte. Er glaubt, daß der alte Herr aus Neuyork ihm Reisegeld zur Heimkehr und zum Wiederkauf seiner Besitzung gegeben habe, und nun kehrte er mit Marysja zurück. Sie waren auf dem Ozean, das Schiff schwamm Tag und Nacht, und die Matrosen sangen. Dann sah er den Hafen von Hamburg, wo sie sich eingeschifft. Verschiedene Städte huschten vor seinen Augen vorüber, rings umher ertönte die deutsche Sprache. Mit rasender Eile flog der Zug dahin, Wawrschon fühlte also, daß er der Heimat immer näher kam. Reine Freude schwellte ihm die Brust, eine andere so liebliche Luft wehte aus der Heimat entgegen. Was ist das? Die Grenze! Wie ein Hammer klopft sein armes Bauernherz … Fahrt weiter! Gott, mein Gott, da sind ja auch schon die Felder und die Birnbäume, die grauen Hütten und die Kirchen. Dort geht ein Bauer mit der Pelzmütze hinter dem Pfluge her, er streckt die Hände aus dem Waggon zu ihm aus: »Landwirt, Landwirt!« ruft er, aber die Kehle schnürt ihm die Stimme zu. Sie fahren weiter. Was ist dort? Die Stadt Prschyremble und dahinter Lipinze. Er geht mit Marysja über den Weg, und beide weinen. Es ist Frühling. Das Getreide blüht, … die Maikäfer summen in der Luft …
In Prschyremble läuten die Glocken … Jesus, Jesus! Wieviel Glück sendet Gott auf ihn, den Sünder, herab! Wie hat er das verdient? Noch jene Anhöhe hinauf, dann kommt das Kreuz, der Wegweiser und die Grenze von Lipinze! Jetzt gehen sie nicht mehr, sie fliegen, gleichsam wie auf Schwingen. Schon sind sie auf der Anhöhe, am Kreuz, beim Wegweiser. Der Bauer wirft sich auf den Boden und brüllt vor Glücksgefühl und küßt die Erde und kriecht zum Kreuze und umschlingt es mit den Armen. Jetzt ist er in Lipinze. Ja! Er ist in der Heimat; denn nur sein erstarrter Leichnam ruht auf der öden, inmitten der Flut verirrten Traft, seine Seele aber ist entflohen, dorthin, wo das Glück und der Friede wohnen.
Vergeblich weint und ruft das Mädchen: »Väterchen, Väterchen!« Arme Marysja! Er kehrt zu dir nicht mehr zurück! Ihm ist zu wohl in Lipinze. Die Nacht brach herein. Orlik entfiel das Ruder, denn er war vor Hunger ermattet. Marysja kniete über dem Leichnam des Vaters und flüsterte mit abgerissener Stimme Gebete. Rings umher bis zu den äußersten Grenzen des Horizontes sah man nur die weite Flut.
Sie schwammen auf das Flußbett eines größeren Stromes hinaus, denn die Strömung trug die Traft wieder schneller dahin. Es war unmöglich, sie zu lenken. Vielleicht waren es Wasserstrudel über den Tiefen der Steppe, denn sie drehten sich oft im Kreise. Orlik fühlte, daß die Kräfte ihn verließen, plötzlich sprang er auf beide Füße auf und rief:
»Bei Christi Wunder! Dort ist Licht!«
Marysja blickte in der Richtung, wohin er mit der Hand zeigte. Von der Ferne leuchtete tatsächlich ein Flämmchen, die sich als Streifen im Wasser spiegelten.
»Das ist ein Boot aus Clarksville,« sagte Orlik hastig. »Die Yankees sandten es zu unserer Rettung aus! Wenn sie nur nicht an uns vorbeifahren. Marysja, ich werde dich retten. Hoop! Hoop!«
Er ruderte mit der größten Anstrengung. Das Feuer wuchs in ihren Augen, und in seinem roten Licht hoben sich die Umrisse eines Bootes ab. Es war noch weit entfernt, aber sie näherten sich ihm. Nach einiger Zeit bemerkte Orlik, daß das Boot sich nicht weiter bewegte. Sie waren auf eine breite große Strömung geraten, die sie in entgegengesetzter Richtung mit dem Boote trieb.
Plötzlich zerbrach auch das Ruder in Orliks Hand.
Sie blieben ohne Ruder. Die Strömung trieb sie immer weiter. Das Licht wurde immer kleiner. Zum Glück stieß die Traft nach einer Viertelstunde an einen an der Steppe einsam stehenden Baum und blieb zwischen seinen Ästen stehen.
Sie schrien beide um Hilfe, aber das Getöse des Stromes betäubte ihre Stimmen:
»Ich werde schießen,« sagte Orlik. »Sie werden das Feuer sehen und den Knall hören.«
Kaum hatte er das gedacht, als er den Lauf der Büchse emporhob, aber statt des Knalles hörte man das dumpfe Klappern des Hahnes gegen die Pfanne. Das Pulver war feucht geworden.
Orlik warf sich seiner ganzen Länge nach auf die Traft. Nun gab es keine Hilfe mehr. Eine Weile lag er wie tot. Endlich erhob er sich und sagte:
»Marysja, ein anderes Mädchen hätte ich längst mit Gewalt genommen und in die Wälder getragen. Auch mit dir wollte ich es tun, aber ich wagte es nicht, denn ich habe dich lieb gewonnen. Einsam ging ich in der Welt umher wie ein Wolf, und die Menschen fürchteten mich, ich aber fürchtete mich vor dir, Marysja! Du mußt mich verzaubert haben … Aber willst du dich mir nicht vermählen, so gehe ich lieber in den Tod. Ich werde dich retten oder untergehen! Und sollte ich umkommen, so bedaure mich wenigstens, du Herzliebste und sprich für mich ein Gebet. Was habe ich dir Böses getan? Worin besteht meine Schuld? Ach Marysja, Marysja, leb wohl, mein liebes Mädchen, meine Sonne ….«
Bevor sie sich besann, was er tun wollte, stürzte er in die Fluten hinab und schwamm davon.
Eine Zeitlang sah sie in der Finsternis seinen Kopf und seine Schultern, die trotz des Gegenstromes die Flut durchschnitten, denn er war ein tüchtiger Schwimmer. Bald aber verschwand er ihren Blicken.
Er schwamm nach jenem Boot, um sie zu retten. Die reißende Strömung hemmte seine Bewegungen und zerrte ihn nach hinten, aber er riß sich immer wieder los und eilte vorwärts. Könnte er über die Strömung hinweg kommen und in eine andere gelangen, so wäre er sicher ans Ziel gelangt. Inzwischen bewegte er sich trotz übermenschlicher Anstrengung nur langsam vorwärts.
Die trüben, gelblichen Fluten warfen ihm oft den Schaum in die Augen, er hob also den Kopf empor, atmete und spähte in die Finsternis hinaus, um nach dem Boot mit dem Licht zu sehen. Manchmal schleuderte ihn eine heftige Welle zurück, bald riß sie ihn wieder empor; er atmete immer schwerer und fühlte, daß seine Knie steif wurden. Schon dachte er: »ich komme nicht ans Ziel.« Aber plötzlich flüsterte ihm etwas ins Ohr, es schien ihm, als wäre es Marysjas Stimme: »Rette mich!« Und wieder begann er verzweifelt die Flut mit den Armen zu durchschneiden.
Seine Wangen blähten sich, der Mund prustete das Wasser hinaus, die Augen traten ihm aus den Höhlen. Würde er umkehren, so könnte er noch mit der Strömung die Traft erreichen, aber er dachte nicht daran, denn das Licht des Bootes kam immer näher und näher. In der Tat wurde das Boot von derselben Strömung, gegen die er kämpfte, ihm entgegengebracht.
Plötzlich fühlte er, daß seine Knie und Füße ganz steif waren. Noch einige verzweifelte Anstrengungen … Immer näher kam das Boot. »Hilfe! Rettung!« rief er. Das letzte Wort verschallte im Brausen des Wassers, das ihm in die Kehle drang. Er sank unter. Die Welle ging über seinen Kopf hinüber, aber er schwamm wieder heraus. Ganz dicht stand das Boot jetzt vor ihm. Er hörte das Plätschern der Ruder und die Stöße gegen die Planken. Zum letztenmal strengte er die Stimme an und rief nach Hilfe. Man hatte ihn gehört, denn das Plätschern nahm zu. Aber Orlik tauchte, von einem neuen Strudel erfaßt, wieder unter … Eine Weile schimmerte ein schwarzer Fleck auf den Wellen, dann ragte nur eine Hand über dem Wasser empor, schließlich verschwand er in der Flut.
Marysja saß unterdessen allein auf der Traft, nur mit der Leiche des Vaters und blickte mit irrendem Blick nach dem fernen Licht.
Aber die Strömung brachte es ihr entgegen. Bald traten die Umrisse des Bootes mit vielen Rudern hervor, die sich im Glanz des Feuers wie die roten Füße eines Riesenwurmes bewegten. Marysja begann verzweifelt zu schreien.
»Heda! heda! Smith!« rief eine Stimme auf englisch! »Gehängt soll ich werden, wenn ich nicht einen Hilferuf vernommen! Auch jetzt höre ich ihn wieder.«
Nach einer Weile trugen kräftige Arme Marysja nach dem Boot, aber Orlik befand sich nicht darin.
Zwei Monate danach verließ Marysja das Krankenhaus in Little-Rock und fuhr für das Geld, das gute Leute gesammelt hatten, nach Neuyork.
Aber das Geld reichte nicht aus. Sie hätte einen Teil des Weges zu Fuß zurücklegen müssen, da sie aber schon ein wenig englisch sprach, bewegte sie die Schaffner dazu, sie umsonst mitzunehmen.
Viele Leute hatten Mitleid mit diesem armen, abgehärmten, von der Krankheit ruinierten Mädchen, dessen große blaue Augen nur allein noch die frühere Lieblichkeit verrieten. Jetzt glich sie eher einem Schatten als einem Menschen, wenn sie mit Tränen in den Augen um Mitleid bat.
Die Leute waren nicht schlecht zu ihr, nur das Leben und das Schicksal meinten es so böse. Was sollte auch die zarte Feldblume von Lipinze in diesem riesigen amerikanischen Getriebe? Wie sollte sie sich helfen? Kein Wunder, daß der erste beste Wagen sie überfahren und ihren zarten Leib zerdrücken mußte, wie die Blume, die am Wege stand.
Eine abgemagerte, vor Schwäche zitternde Hand zog an der Klingel in der Water-Street zu Neuyork. Marysja suchte Hilfe bei dem alten Herrn aus dem Posenschen.
Ein fremder, unbekannter Mann öffnete ihr.
»Ist Mister Zlotopolski zu Hause?«
»Wer ist das?«
»Ein älterer Herr.« Hier zeigte sie die Karte.
»Er ist gestorben.«
»Gestorben? Und sein Sohn, Herr William?«
»Ist verreist.«
»Und Fräulein Jenny?«
»Ebenfalls verreist.«
Die Tür schloß sich vor ihr. Sie ließ sich auf der Schwelle nieder und wischte sich das Gesicht. Wieder war sie in Neuyork allein, ohne Hilfe, ohne Stütze, ohne Geld, dem Willen Gottes preisgegeben. Sollte sie hier bleiben? Nimmermehr! Sie wird nach dem Hafen gehen, nach den deutschen Docks, vor den Kapitänen niederknien und sie anflehen, daß sie sie mitnehmen. Wenn sie sich ihrer erbarmen, so wird sie bettelnd Deutschland durchwandern und nach Lipinze zurückkehren. Dort ist ihr Jasko. Außer ihm hat sie niemand mehr auf der weiten Welt. Nimmt er sie nicht auf, hat er sie vergessen oder stößt er sie von sich, so will sie wenigstens in seiner Nähe sterben! …
Sie ging zum Hafen und warf sich den deutschen Kapitänen zu Füßen. Sie hätten sie mitgenommen, denn sie würde sicher wieder ein schönes Mädchen werden, wenn sie sich ein wenig erholte. Sie täten es gern, aber das Gesetz erlaubt es nicht, es wäre ein Betrug … Möge sie sie darum in Ruhe lassen …
Das Mädchen blieb auf derselben Brücke, wo sie schon einmal mit dem Vater geschlafen hatte, in jener denkwürdigen Nacht, als er sie ertränken wollte. Sie nährte sich davon, was das Wasser hinauswarf, wie sie sich mit dem Vater damals in Neuyork ernährte. Zum Glück war es Sommer und die Luft warm.
Jeden Tag, sobald es dämmerte, ging sie nach dem deutschen Dock, um Erbarmen zu flehen, aber immer vergeblich. Ihre bäurische Ausdauer begann schließlich zu weichen. Sie fühlte, daß, wenn sie jetzt nicht heimfuhr, sie bald sterben müsse, wie alle jenen, mit denen das Geschick sie verband.
Eines Morgens schleppte sie sich mit der größten Anstrengung wieder dorthin, mit der Überzeugung, daß es das letztemal war, weil ihre Kraft bis morgen nicht mehr ausreichen würde. Sie beschloß, nicht mehr zu bitten, sondern sich auf das erste beste Schiff, daß nach Europa abging, zu schleichen und sich irgendwo auf dem Boden zu verstecken. Wenn sie einmal vom Lande gestoßen waren und sie fanden, würden sie sie doch nicht ins Wasser werfen, und täten sie es, was läge daran? Da sie sterben mußte, war es ja einerlei, auf welche Weise.
Aber die Brücke, die nach dem Schiffe führte, wurde streng bewacht, und der Wächter stieß sie bei dem ersten Versuch zurück. Sie setzte sich also auf einen Pfahl am Wasser, und es war ihr, als ergriffe sie das Fieber. Sie begann jedoch zu lächeln und zu murmeln …
»Ich bin eine Erbherrin, Jasko, und habe dir dennoch die Treue gehalten. Kennst du mich nicht mehr?«
Nicht vom Fieber war sie erfaßt, die Ärmste, sondern dem Wahnsinn verfallen.
Von nun an kam sie täglich nach dem Hafen, um nach Jasko auszuschauen. Die Leute gewöhnten sich an sie und schenkten ihr manchmal ein Almosen. Sie dankte demütig und lächelte wie ein Kind.
Das dauerte etwa zwei Monate. Aber eines Tages erschien sie nicht mehr am Hafen und war seitdem nicht mehr gesehen. Der Polizeibericht meldete am nächsten Tage, daß man am äußersten Ende des Hafens die Leiche eines Mädchens gefunden habe, dessen Namen und Herkunft niemand bekannt seien.
Herrosé & Ziemsen, G m. b. H.,
Wittenberg.