Henryk Sienkiewicz
Die Jagd nach dem Glück und andere Novellen
Henryk Sienkiewicz

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Die Jagd nach dem Glück

Erstes Kapitel.
Die Seereise. – Der Sturm.

Das deutsche Segelschiff »Blücher« hatte seine Reise von Hamburg nach New-York angetreten und wiegte sich stolz auf den Wellen des Ozeans.

Es war seit vier Tagen unterwegs, hatte vor zwei Tagen die irländische Küste verlassen und befand sich nun auf offenem Meere. So weit das Auge reichte, sah man vom Verdeck aus nichts weiter, als die graublaue Wasserfläche, welche in langgestreckten Furchen heftig hin und her wogte und in der Entfernung immer dunkler zu werden und mit dem Horizont in Eins zu verschwimmen schien. Hier und da zogen Schaumflocken auf den Wogenkämmen daher, tief unten am Horizont schwebten leichte weiße Wolken, die sich im Wasser spiegelten und da, wo ihr Schein hinfiel, demselben die Farbe der Perlmutter verliehen. In dieser Färbung spiegelte sich der Rumpf des Schiffes mit seinem nach Westen gerichteten Bug so deutlich ab, daß man genau sehen konnte, wie das Vorderteil desselben von den Wellen bald hoch emporgehoben, bald tief hinabgesenkt wurde. Er trennte die ihm entgegenströmenden Fluten, und ihm nach zog wie eine sich wälzende Riesenschlange eine mächtige weiße Schaummasse. Einige Möven umflatterten das Steuer und stießen, in der Luft sich überschlagend, fröhliche Locktöne aus.

Seit der Abfahrt des »Blücher« aus Hamburg war das Wetter hell, zwar windig, aber nicht stürmisch. Der Wind kam von Osten und nur in einzelnen Stößen; zuweilen herrschte völlige Stille. Das schöne Wetter hatte die Passagiere auf das Verdeck gelockt. Auf dem hinteren Teile desselben sah man die schwarzen Paletots und Hüte der Kajüten-Passagiere erster Klasse, während auf dem Vorderdeck diejenigen des Zwischendecks in buntem Gewimmel sich tummelten. Einige saßen auf Bänken, aus kurzen Pfeifen rauchend, andere hatten sich gelagert, während ein großer Teil der Passagiere an der Brüstung lehnte und hinab auf das Wasser sah. Es befanden sich auch etliche Frauen mit Kindern an Bord, welche Blechgeschirre am Gürtel befestigt trugen und einige junge Männer, die im Auf- und Abschreiten, mühsam das Gleichgewicht haltend, deutsche Lieder sangen.

Ein wenig abseits von der großen Menge saßen ganz allein zwei Menschen, denen man ansehen konnte, wie vereinsamt sie sich vorkamen. Auf den ersten Blick mußte man erkennen, daß die beiden, ein älterer Mann und ein junges Mädchen, niemand anderes sein konnten, als polnische Bauern. Sie waren thatsächlich vereinsamt, denn sie verstanden kein Wort Deutsch.

Der Mann hieß Lorenz Toporek; das Mädchen, Maryscha mit Namen, war seine Tochter. Sie reisten nach Amerika und waren eben zum ersten Male auf das Verdeck gekommen. Auf ihren von der Seekrankheit bleichen Gesichtern malte sich Erstaunen und Furcht zugleich. Sie ließen die erschrockenen Blicke über die Reisegefährten, die Matrosen und das ganze Deck schweifen, betrachteten angstvoll den schwer ächzenden, großen Schornstein und die mächtigen schaumgekrönten Wellen, welche bis zu Maryscha über Bord des Schiffes spritzten. Maryscha hielt sich am Arme des Vaters und klammerte sich bei jeder Schwankung des Schiffes fester an ihn. Beide verharrten schweigend. Endlich unterbrach der Vater das Schweigen, indem er rief:

»Maryscha!«

»Was soll es, Vater,« frug das Mädchen.

»Siehst Du?« sagte der Alte.

»Freilich sehe ich,« war die Antwort.

»Und wunderst Du Dich?«

»Freilich wundere ich mich,« sagte Maryscha.

Sie fürchtete sich aber mehr, als sie sich wunderte, und der alte Toporek ebenfalls. Glücklicherweise beruhigte sich jetzt der Wellenschlag etwas, der Wind hörte auf zu wehen und die Sonne brach durch die Wolken.

Als die beiden die »geliebte Sonne« erblickten, wurde ihnen leichter um's Herz, denn sie dachten, daß sie hier genau so scheine wie in Lipiniez. Alles um sie her war ihnen ja fremd, neu und unbekannt, nur sie nicht, diese Strahlen, die ihnen plötzlich wie ein treuer Freund, wie ein Beschützer erschienen.

Immer mehr glättete sich das Meer, die Segel hingen schlaff herab und vom anderen Ende des Schiffes her ertönte die Signalpfeife des Kapitäns. Sofort eilten die Matrosen herzu, sie zu befestigen. Der Anblick dieser in der Luft schwebenden, über dem Abgrund hängenden Menschen versetzte den Alten und seine Tochter wiederum in Staunen.

»Unsere Jungen würden das nicht fertig bringen,« sagte Toporek.

»Wenn die es hier fertig gebracht haben, klettert der Jaschu auch hinauf,« entgegnete Maryscha.

»Welcher Jaschu? Der Jaschu Sobek?« frug der Vater.

»Ach woher denn. Ich meine den Jaschu Smolak, den Bereiter,« versetzte die Tochter.

»Er ist ein netter Bursche,« meinte der Alte, »aber schlage ihn Dir aus dem Sinn. Er ist nicht für Dich und Du nicht für ihn. Du fährst nach Amerika, um eine Dame zu werden, er bleibt Bereiter in Lipiniez, da mag nur die ganze Sache auch bleiben wie sie ist.«

»Er hat doch aber auch einen kleinen Hof,« warf Maryscha ein.

»Ja, aber einen in Lipiniez.«

Maryscha antwortete nicht mehr, aber sie dachte: »was Einem bestimmt ist, dem entgeht man nicht.«

Das Schiff zog jetzt ganz ruhig auf der glatten Fläche dahin. Immer neue Gestalten fanden sich auf dem Verdeck ein, Arbeiter, deutsche Bauern, Müßiggänger aus allen Weltteilen. Es entstand ein dichtes Gedränge. Lorenz und seine Tochter drückten sich, um niemandem im Wege zu sein, in eine Ecke, wo sie sich auf einer Rolle Schiffstaue niederließen.

»Müssen wir noch lange auf dem Wasser fahren, Väterchen?« frug Maryscha nach einer Weile.

»Wenn ich das wüßte!« war die Antwort. »Hier kann ja keiner polnisch antworten.«

»Wie werden wir uns da in Amerika verständigen?« fuhr das Mädchen fort zu fragen.

»Hast Du nicht gehört, wie man uns sagte, daß in Amerika eine ganze Menge der Unserigen sich befinden?« entgegnete der Alte.

»Väterchen?«

»Was gibt es?«

»Man muß sich hier über Vieles wundern und staunen, das ist wahr, aber – die Wahrheit zu sagen – in Lipiniez war es besser.«

»Lästere nicht!« rief der Vater ärgerlich.

Nach einer Weile aber setzte er sanfter, wie im Selbstgespräch hinzu:

»Gottes Wille geschehe! . . .«

Dem Mädchen füllten sich die Augen mit Thränen. Beide verfielen gleich darauf in tiefes Sinnen. Lorenz Toporek dachte darüber nach, warum er auf der Reise nach Amerika sei, und wie das so gekommen war. Wie war es gekommen? Vor rund einem halben Jahre, im Sommer, hatte man ihm die Kuh gepfändet, weil sie auf fremdem Acker in's Futter gegangen. Der Nachbar, welcher sie gepfändet, verlangte drei Mark Schadenersatz. Toporek hatte nicht zahlen wollen, die Kuh blieb als Pfand. Man war in's Gericht gegangen, die Angelegenheit blieb schweben bis zur Fällung des Urteils, die Kosten wuchsen schnell von Tag zu Tag. Lorenz glaubte sich im Recht; ihn dauerte das viele Geld, er wollte das Recht erzwingen.

Aber es ließ sich nicht zwingen; er verlor den Prozeß. Die Prozeßkosten hatten sein Bargeld aufgezehrt, die Unterhaltungskosten der Kuh mußten durch Pfändung seines Inventars gedeckt werden. Man nahm ihm das Pferd, und da gerade die Ernte begonnen hatte, so konnte er sein Getreide nicht rechtzeitig einbringen, Regengüsse kamen, es war bald ausgewachsen. Toporek sah sich im Elend, noch ehe dasselbe wirklich da war; er verlor die Besinnung um so mehr, da er bisher ein wohlhabender Mann gewesen, und um die Gedanken an kommende Not zu bannen, griff er zu dem gebräuchlichsten Mittel, – er fing an zu trinken.

Im Wirtshause lernte er einen Agenten kennen, welcher unter dem Vorwande, Flachskäufe abzuschließen, Menschen zur Auswanderung nach Amerika warb. Er versprach jedem Einzelnen dort so viel Land und Wald, als ganz Lipiniez zusammen nicht umfaßte. Zuerst glaubte Toporek nicht recht an die Erfüllung solcher Versprechungen, als aber der alte Jude, welcher Inhaber der Gastwirtschaft war, beistimmte und erzählte, er wisse von seinem Enkelsohn, daß man in Amerika Land geschenkt bekomme so viel man wolle, da leuchteten die Augen Toporeks begehrlich auf, er verkaufte seine ganze Habe und beschloß nach Amerika auszuwandern. Was sollte er denn noch hier? Die Not kam auf ihn zu, wie ein drohendes Ungewitter. Der Prozeß hatte ihn so viel Geld gekostet, daß er kaum noch einen Knecht würde halten können. Oder sollte er vielleicht betteln gehen hier, wo jedermann ihn kannte? Er ordnete bis Michaeli alle seine Angelegenheiten, dann hatte er den Rest seines Geldes und seine Tochter genommen und – nun war er auf dem Wege nach Amerika.

Die Reise hatte nicht zum besten angefangen. In Hamburg war ein großer Teil seines Geldes daraufgegangen. Er reiste mit seiner Tochter als Zwischendeck-Passagier, die Unendlichkeit des Meeres, das Schaukeln des Schiffes erschreckte ihn. Niemand verstand seine Sprache, er verstand die anderen nicht, man spottete über ihn und Maryscha.

Wenn zur Mittagszeit alles nach der Küche drängte, um sich vom Koch die Rationen verteilen zu lassen, da stieß man sie und drängte sie zurück, so daß oft nichts für sie übrig blieb und sie mit leerem Magen schlafen gehen mußten. Er fühlte sich einsam und verlassen mit seinem Kinde unter den fremden Menschen und nur Gottes Schutz über sich. Vor seiner Tochter verbarg er sorgfältig, was er dachte und fühlte; er frug nur immer, ob sie alle die neuen Dinge, welche sie zu Gesicht bekommen, nicht mit Staunen erfüllten. Er selbst traute niemanden, und zuweilen überfiel ihn eine Angst, daß diese »Heidenvölker«, wie er still für sich seine Reisegenossen nannte, sie beide eines Tages in's Wasser werfen, oder irgend einen Pakt mit dem Bösen zu unterschreiben zwingen könnten.

Das Schiff selbst, welches sich vom Dampfe getrieben, so von selbst fortbewegte und wie ein Drache pfauchte, erschien ihm verdächtig – eine unreine, gefährdende Gewalt. Eine kindische Furcht bemächtigte sich seiner beim Anblick so vieler Dinge, die sein Verstand nicht zu fassen vermochte. Thatsächlich befand sich dieser polnische Bauer, losgetrennt von der heimatlichen Scholle, wie er es war, in der gleichen Lage mit einem hilfs- und schutzbedürftigen Kinde.

Es war daher nicht zu verwundern, wenn jetzt der Kopf des auf der Rolle Schiffstaue sitzenden Mannes tief auf seine Brust herabsank unter der Last der Ungewißheit und der Sorgen. Seine Lippen murmelten leise den Namen seines Heimatdorfes »Lipiniez«; ihm war, als bringe die Sonne, die auch jenes Dorf beschien, und der Luftzug, der über das Wasser zog, ihm Grüße von dort zu und die Frage der Nachbaren: »Wie geht es Dir Lorenz?«

Es waren Gedanken ganz anderer Art, welche Maryscha inzwischen beschäftigten, nur die gleiche Sehnsucht hatten sie mit denen des Vaters gemein. Sie flossen rückwärts mit dem Kielwasser des Schiffes, mit den Möven flogen sie den östlichen Gestaden zu. Kurz zuvor ehe sie abgereist waren, hatte sie in Lipiniez am Brunnen gestanden, daran mußte sie denken. Es war im Herbst, sie wollte Wasser schöpfen, die ersten Sterne blinkten eben am Himmelszelt. Sie zog am Schwengel den vollen Eimer herauf und sang dabei: »Jasiek will die Pferde tränken – Kasia gießt das Wasser aus« – (ihr wurde sehr wehmütig bei dieser Erinnerung). – Da tönte ein Pfiff vom Walde herüber, langgezogen, wie der Ton einer Saftpfeife. Jaschu Smolak wollte ihr damit sagen, daß er den Brunnenschwengel in die Höhe steigen gesehen und daß er sogleich von den Wiesen herkommen werde. Bald darauf ertönte Pferdegetrappel, die Erde dröhnte unter dem Galopp der Tiere, jetzt hielt er sie mit einem Ruck an, sprang vom Braunen herab und schüttelte seine Flachsmähne. Was Jaschu ihr damals gesagt, klang ihr noch jetzt wie Musik in den Ohren. Sie schloß die Augen und träumte, Jaschu stehe neben ihr und flüstere wie damals mit vor Aufregung bebender Stimme:

»Wenn Dein Vater sich durchaus nicht von der Auswanderung abbringen lassen will, so werde ich das Angeld auf den Jahreslohn bei Hofe zurückgeben, mein Anwesen verkaufen und Euch nachkommen . . . Marysch mein«, – hatte er gesagt – »Dir nach fliege ich mit den Kranichen, mit den Enten durchschwimme ich die Wasser und als goldener Reif will ich die Landstraßen durchrollen. Wo Du auch seist; ich finde Dich, Einzige! Ist denn ohne Dich ein Glück zu denken? Wo Du bist, will ich sein, was Dir geschieht, soll mir geschehen. Wir zweie sind eins im Leben und Sterben, und wie ich Dir hier bei diesem reinen Wasser schwöre, so möge Gott mich verlassen, wenn ich Dich je verlasse, Marysch, meine einzige!«

Während sie diese Worte zu hören glaubte, sah sie jenen Brunnen, den Vollmond über dem Walde und Jaschku leibhaftig vor sich. Das gewährte ihr einigen Trost. Jaschku war ein resoluter Bursche! er wird halten, was er versprochen. O wäre er jetzt hier, es wäre viel fröhlicher, zusammen mit ihm dem Brausen des Meeres zu lauschen. Was mochte er jetzt in Lipiniez machen? Gewiß lag dort schon hoher Schnee! Ob er wohl mit der Axt in den Wald zu den Holzfällern geht, oder ob er die herrschaftlichen Pferde besorgt? Wo mochte er sein, der Herzgeliebte? Dem Mädchen stand plötzlich das ganze Dorf vor Augen, so wie es jetzt aussehen mußte. Der Schnee knarrt unter den Füßen der Menschen auf der Dorfstraße, das Abendrot leuchtet durch die blätterlosen, vom Rauhreif bedeckten Baumäste, ein Flug Krähen zieht krächzend vom Walde her dem Dorfe zu, Rauchwölkchen steigen aus den Schornsteinen der strohgedeckten Hütten, der Brunnenschwengel ruht angefroren am Geländer des Brunnens und in der Ferne schimmert der mit Schnee überstreute Wald, von der Abendröte warm angehaucht, rosig herüber.

Ach und wo war sie jetzt! Wohin hatte ihres Vaters Wille sie geführt! Ueberall, wohin das Auge auch suchend schweift, nichts als Wasser grünlich durchfurcht, mit Schaumkämmen, und in dieser unermeßlichen nassen Wüste nichts, als das Schiff, auf dem sie waren, eine verirrte Möve, darüber das Himmelsgewölbe, ringsum das unaufhörliche Tosen und Brausen der Wasser, bald pfeifend, gurgelnd, bald kläglich wie das Weinen eines Kindes und vor sich die unbekannte grausige Ferne.

Armer Jaschu, wie wirst du sie finden, wohin ihr folgen? Wirst du deiner Maryscha wie die Ente nachschwimmen, oder wie die Kraniche fliegen, oder wie der Reif rollen? Denkst du wohl ihrer in Lipiniez jetzt auch?

Allmählich war die Sonne unter die Fluten des Meeres getaucht. Ein breiter Lichtstrom, der letzte Schein der Scheidenden, lag auf den Wellen, und als nun das Schiff in diesem schillernden, leuchtenden Glutstrom seinen Weg fortsetzte, sah es aus, als jage es der sinkenden Sonne nach. Die dem Schornstein entsteigende Rauchwolke war rot, die Leinen, die Taue, die feuchten Segel in rosiges Licht getaucht, die Matrosen sangen, während der Lichtkreis immer kleiner wurde, bis er endlich nur noch einen lichten Streifen bildete, da, wo die Sonne untergegangen. Man konnte kaum noch unterscheiden, wo das Meer sich von der Luft abgrenzte; es verschwamm alles in diesem Lichtstreifen. Das Meer murmelte leise, als spreche es sein Abendgebet.

In solchen Augenblicken fühlt der Mensch sich gehoben. Die Seele bekommt Flügel und was Liebes in der Ferne ihr weilt, dem fliegt sie auf sehnsüchtigen Schwingen zu.

Lorenz und Maryscha fühlten das jetzt auch. Sie erkannten in dieser Stunde, daß nicht das Land ihre Heimat werden würde, welchem der feuchte Wind sie zutrieb, sondern daß der Baum ihres Lebens tief wurzelte in jenem Erdstrich, den sie verlassen, in dem Stück heimatlicher Erde, wo die goldenen Aehren im Sommer wogen, die Wiesen bunt blühen und Luft und Wasser von lustigen Vögelscharen wimmeln, wo in den Dörfern die strohgedeckten Hütten stehen, stattliche Herrensitze sich bereiten und wo der Mensch den Menschen mit dem Gruße anspricht: »Gelobt sei Jesus Christus,« welchen der Andere erwidert mit dem Gegengruß: »In alle Ewigkeit, Amen!« Alle die Gefühle, welche bisher den beiden einfachen Menschen unbekannt geblieben waren, stürmten in dieser Stunde gewaltig auf sie ein. Der alte Toporek nahm die Mütze ab. Das Abendrot beleuchtete seine grau melierten Haare, in seinem Gesicht arbeitete es heftig, man sah, daß es ihm schwer wurde, einen Ausdruck für das zu finden, was er seiner Tochter gern sagen wollte. Endlich stammelte er:

»Mir ist so, Marysch, als hätten wir dort etwas zurückgelassen.« Bei diesen Worten wies er mit der Hand rückwärts nach Osten zu.

»Unser Glück, unser Lieben ist dort zurückgeblieben,« antwortete das Mädchen, während sie die Augen wie zum Gebet nach oben richtete.

Es war unterdessen finster geworden; die Passagiere begannen das Verdeck zu verlassen. Trotzdem herrschte auf dem Schiffe ein ungewöhnlich reges Leben. Oftmals pflegt einem so schönen Sonnenuntergange ein Unwetter zu folgen, deshalb ertönten die Signalpfeifen der Offiziere unablässig und die Matrosen arbeiteten unablässig am Takelwerk. Ein dichter Nebel stieg am Horizont auf, welcher von Minute zu Minute sich weiter über das Wasser verbreitete und bald den ganzen Gesichtskreis, ja sogar das Schiff umhüllte. Eine Stunde später sah man die Matrosen in der dicken Luft nur noch wie Schatten und noch etwas später auch sie nicht mehr, noch den Schornstein, noch die brennende Schiffslaterne. Alles war in einen weißlichen Dunst gehüllt.

Das Schiff lag unbeweglich still; die Nacht sank lautlos und finster herab. Plötzlich ertönte vom Horizont her ein seltsames Geräusch. Es klang wie das schwere Atmen aus gepreßter Brust. Dann schien es, als töne ein Ruf durch die Finsternis, dann wie ein Rufen und Stöhnen verschiedener Stimmen durcheinander, welche aus der grenzenlosen Weite auf das Schiff zukamen, näher und näher. Der Kapitän stand, in einen Gummimantel gehüllt, am Vordersteven, der Leutnant auf seinem Platze. Außer Toporek und seiner Tochter befand sich niemand mehr von den Passagieren auf Deck. Nun verließen auch sie es, um in den gemeinschaftlichen Schlafsaal im Zwischendeck hinunterzugehen.

Derselbe war groß, aber düster. Das Licht der Lampen, welche von der niedrigen Decke herabhingen, erhellte den Raum und die in Häufchen um ihre Betten zusammensitzenden Auswanderer nur spärlich. Die Luft darin war gesättigt von dem Geruch geteerter Leinwand, der Feuchtigkeit ausströmenden Schiffstaue und des Seetang. Gewöhnlich wirkt die zweiwöchentliche Ueberfahrt, verbunden mit dem Aufenthalt in diesem Raume, äußerst schädlich auf die Lungen der Reisenden. Auch Lorenz und Maryscha spürten die Folgen davon schon, obgleich sie erst wenige Tage unterwegs waren. Die Seekrankheit und die schlechte Luft hatten ihre Wangen gebleicht und ihre Konstitution geschwächt, umso mehr, als sie bis heute nicht gewagt hatten, den Saal zu verlassen im Glauben, das sei nicht erlaubt. Auch hatten sie ihre Sachen hüten wollen. So setzten sie sich gleich den anderen Reisegenossen auch wieder zu den ihrigen. Das Reisegepäck der Auswanderer lag in Bündeln im ganzen Saale umher. Betten, Kleidungsstücke, Mundvorräte, verschiedenes Kochgeschirr lag in buntem Durcheinander auf der Diele, während die Menschen teils auf ihnen, teils um sie herum saßen. Die einen kauten Tabak, andere rauchten. Der Qualm aus den Tabakspfeifen stieg empor zu der niedrigen Decke, stieß sich dort ab und zog in langen Streifen daran hin, das Lampenlicht verschleiernd. Ein paar Kinder weinten in den Winkeln, sonst herrschte tiefe Stille, denn der Nebel draußen hatte alle Gemüter traurig und ängstlich gemacht. Die Erfahreneren unter den Auswanderern wußten, daß er der Vorläufer eines Sturmes sei, niemand verhehlte sich mehr, daß eine Gefahr, möglicherweise der Tod nahe. Lorenz und Maryscha, welche sich mit Niemanden verständigen konnten, wußten von alledem nichts. Aber die eigentümlichen Töne, die zu ihnen drangen, sobald jemand die Thüre öffnete, erfüllten auch sie mit heimlichem Grausen.

Man hatte sie, wie das schüchternen, in der Fremde ratlosen Menschen oft geschieht, in den schmalsten Teil des Saales, zunächst des Vorderteiles gedrängt, wo die Schwankungen des Schiffes am meisten sich bemerklich machten. Der Alte stillte seinen Hunger an einem Stück Brot, welches er aus Lipiniez mitgenommen, und das Mädchen, welchem der Müßiggang ein Greuel war, flocht sich die Zöpfe zur Nacht.

Sie wunderte sich zuletzt doch über die unheimliche Stille, die den sonst so lauten Raum erfüllte.

»Warum sprechen die Menschen heute gar nicht?« frug sie den Vater.

»Ich weiß es nicht!« antwortete Toporek. »Sie müssen wohl irgend einen Feiertag morgen haben, der ihnen am Vorabend Schweigen auferlegt, oder so etwas . . .«

Plötzlich unterbrach ein heftiger Stoß seine Rede. Das Schiff knarrte in allen Fugen. Die Blechgeschirre flogen klappernd durcheinander, die Lampen lohten hell auf und flackerten dann hin und her. Einige Stimmen schrieen ängstlich durcheinander.

»Was soll das sein? Was bedeutet das?« frug Lorenz.

Aber er erhielt keine Antwort. Dem ersten Stoß folgte bald ein zweiter, heftigerer, der das ganze Schiff in's Schwanken brachte. Sein Vorderteil wurde in die Höhe gehoben, und ebenso plötzlich wie das geschehen, schien es in eine unermeßliche Tiefe zu sinken. Gleichzeitig schlug eine Sturzwelle mit lautem Getöse an die eine Schiffswand.

»Ein Sturm kommt,« flüsterte Maryscha erschrocken.

Jetzt brauste es die Schiffswände entlang, wie wenn ein heftiger Sturmwind sausend durch die Wipfel eines Waldes fährt, daß die Kronen sich tief neigen. Gleich darauf heulte es ringsum, als ob eine Heerde Wölfe ihre Stimmen ertönen ließen, und im nächsten Augenblicke legte der Sturm das Schiff ein, zwei Mal auf die Seite, drehte es im Kreise herum, riß es in die Höhe und schleuderte es in den Abgrund. Die Schiffswände krachten, der ganze Rumpf ächzte und stöhnte wie ein Kranker, die Gepäckstücke der Reisenden, die Kochgeschirre, Betten und Mundvorräte flogen von einem Winkel in den anderen. Ein Chaos entstand. Einzelne Bettstücke waren an Nägeln hängen geblieben, zerrissen; die Federn flogen umher, einige Menschen wurden umgeworfen, die Cylinder der Lampen klirrten melancholisch.

Die über das Deck hereinbrechenden Sturzwellen verursachten ein Brausen, Poltern, Plätschern, welches tosend bis in das Zwischendeck hinunter drang. Dazu schrieen die Frauen, die Kinder weinten, die Männer suchten das Gepäck zu befestigen und all' diesen Lärm übertönte der gellende Pfiff der Signalpfeifen. Zuweilen nur konnte man die Tritte der auf dem Vorderdeck herumlaufenden Matrosen vernehmen.

»Heilige Jungfrau von Tschenstochau!« flüsterte Maryscha.

Ein neuer Anprall hob das Vorderteil des Schiffes haushoch in die Höhe, um es ebenso schnell wieder sinken zu lassen. Obgleich sich beide mit aller Kraft festklammerten, wurden sie so hinuntergeschleudert, daß sie wiederholt heftig an die Schiffswand schlugen. Das Gebrüll der Wogen übertönte jedes andere Geräusch während das Holz der Decke aus den Fugen zu weichen und herabzustürzen drohte.

»Halte Dich fest Marysch!« schrie Lorenz mit aller Kraft, um das Toben der Wasser zu übertönen. Bald aber schnürte die Angst ihm und den anderen die Kehle zu. Die Kinder hatten zu weinen aufgehört, das Geschrei der Frauen war verstummt, man hörte nur heftiges schnelles Atmen, ein jeder suchte sich mit äußerster Anstrengung an irgend einen festen Gegenstand zu klammern.

Die rasende Wut des Sturmes hatte aber ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Elemente waren entfesselt, der Nebel verdichtete sich noch mehr. Wolken, Wasser, Sturm und Gischt verbanden sich miteinander, um die Schrecknisse der Nacht noch zu vergrößern. Donnernd schlugen die Wogen bald über dem Schiff zusammen, bald warfen sie es seitwärts, spielten mit ihm wie mit einem Ball, es flog nach rechts, links, stieg hoch empor bis an die Wolken, kurz es war ein gräßlicher Kampf mit den Elementen. Die Oellampen im Schlafsaal verlöschten eine nach der anderen. Es wurde immer dunkler in demselben, und Toporek glaubte nicht anders, als die Nacht des Todes sei für alle angebrochen.

»Marysch!« rief er mit halberstickter Stimme. – »Verzeihe mir, daß ich Dein Verderben verschuldet habe. Unsere letzte Stunde ist gekommen, wir werden die Welt mit unseren sündigen Augen nicht mehr sehen. Wir müssen ohne Beichte, ohne die Sakramente in den Tod gehen, zum letzten Gericht, wir werden nicht in der stillen Erde ruhen, sondern auf dem Grunde des Meeres werden unsere Gebeine bleichen. Du armes Kind!«

Als Maryscha den Vater so sprechen hörte, fing sie selbst an zu glauben, es gäbe keine Rettung mehr für sie. In ihr schrie etwas auf! Eine Stimme rief in ihrer Brust:

»Jaschku, Jaschku, Herzlieber, hörst Du mich in Lipiniez?«

Ihr wurde so todestraurig, daß sie laut zu schluchzen anfing. Das Schluchzen tönte durch den Raum, während der Sturm eine Pause zu machen schien, mitten in das Grabesschweigen der anderen hinein. Da rief eine Stimme: »Still dort!« Im selben Augenblick erlosch wieder eine der Lampen. Es wurde noch dunkler. Die Menschen rückten näher zusammen, das Schweigen des Schreckens lagerte über ihnen. Da tönte laut und vernehmlich in die Stille die Stimme Toporek's:

»Kyrie Eleyson!«

»Christe Eleyson!« antwortete schluchzend das Mädchen.

»Christe erhöre uns!

»Gott Vater im Himmel, erbarme Dich unser!« Sie beteten die Litanei. Die Stimme des Alten und das von Schluchzen unterbrochene Antworten des Mädchens, übten eine beruhigende Wirkung auf die anderen aus; eine feierliche Stimmung bemächtigte sich ihrer, einige der Auswanderer entblößten die Häupter und schienen still mitzubeten. Die Stimme Maryscha's gewann immer mehr an Festigkeit, sie sprach ruhiger, während das Toben des Sturmes von Außen her das Gebet begleitete.

Da plötzlich schrieen die der Thür zunächst Stehenden laut auf. Eine Sturzwelle hatte die nach dem Zwischendeck führende Thür aufgedrückt, ein Wasserstrahl ergoß sich plötzlich von oben herab in den Saal und drang bis in die äußersten Winkel. Die Frauen schrieen laut und stiegen auf die Bettstellen. Alle glaubten, das Ende sei da.

Einen Augenblick später trat der dienstthuende Leutnant herein. Er hielt eine Laterne in der Hand, war ganz durchnäßt, sein Gesicht von der angestrengten Arbeit gerötet. Mit wenigen Worten beruhigte er die Frauen, indem er erklärte, daß nur ein Zufall das Eindringen des Wassers verschuldet habe, daß die Gefahr nicht so groß sei, weil das Schiff auf offener See schwimme.

Noch zwei, bis drei Stunden tobte der Sturm, bald rasend heftig, bald etwas nachlassend. Allmählich beruhigten sich die Gemüter. Endlich schien es draußen zu dämmern. Ein blasser Lichtschimmer stahl sich durch das dicke Glas des Deckenfensters. Nachdem Lorenz und Maryscha alle Gebete verrichtet, die sie auswendig wußten, hüllten sie sich in ihre Schlafdecken und verfielen bald in tiefen Schlaf.

Sie wurden erst geweckt, als der Ton der Glocke zum Frühstück rief. Aber sie konnten nichts genießen. Ihre Köpfe waren schwer wie Blei! Lorenz befand sich noch schlimmer als seine Tochter. Er war außer sich. Der Agent, welcher ihn für die Auswanderung gewonnen, hatte ihm zwar gesagt, daß sie über das Wasser fahren würden, er hatte aber niemals gedacht, daß das Meer so groß sei. Er hatte gemeint mit einem Prahm hinüber zu kommen. Niemals hätte er sich auf dieses große Wasser begeben, wenn er es vorher gekannt hätte. Außerdem quälte ihn unaufhörlich der Gedanke, daß er sein und seiner Tochter Seelenheil leichtsinnig in Gefahr gebracht hatte. War das nicht eine große Sünde für einen Katholiken aus Lipiniez? War das nicht Gott versucht? Seine Gewissensbisse sollten während der nächsten sieben Tage noch zunehmen, denn der Sturm hielt volle achtundvierzig Stunden an, dann erst fingen die Wolken an zu brechen, der Nebel schwand allmählich. Endlich wagte Lorenz mit seiner Tochter wieder auf das Verdeck zu gehen, als sie aber die noch sehr hoch gehenden schwarzen Wasserberge mit ihren Schlünden und Abgründen erblickten, mußten beide wieder denken, daß nur Gottes Hand allein sie glücklich bewahren könne.

Endlich wurde der Himmel wieder heiter. Aber ein Tag nach dem anderen verging, ohne daß etwas anderes als Wasser rings zu sehen gewesen wäre. Bald schillerte die Flut grün, bald wie der Himmel blau, mit dem sie in Eines zusammenzufließen schien. Am Firmament tauchten von Zeit zu Zeit kleine weiße Wölkchen auf, welche sich gegen Abend rosig färbten und dann im fernen Westen verschwanden. Das Schiff schwamm ihnen unablässig nach. Das wiederholte sich täglich und Lorenz fing thatsächlich an zu glauben, daß das Meer endlos sei. Zuletzt faßte er Mut und beschloß, noch einmal eine Frage zu wagen. Eines Tages nahm er seine viereckige Mütze vom Kopfe, verneigte sich ehrfurchtsvoll vor einem vorübergehenden Matrosen und sagte demütig:

»Werden wir nicht bald an eine Landungsstelle kommen, gnädiger Herr?«

Und o Wunder! Der Matrose brach nicht in schallendes Gelächter aus, wie die anderen, wenn er zu sprechen anfing, sondern blieb stehen und horchte auf. Auf dem wettergebräunten Gesicht entwickelte sich ein lebhaftes Mienenspiel, es sah aus, als versuche er, sich auf etwas zu besinnen. Nach einer Weile frug er:

»Was?«

»Ich frage, ob wir bald an das Land kommen?« antwortete Lorenz.

»Zwei Tage! Zwei Tage!« brachte der Matrose mühsam in polnischer Sprache heraus, indem er gleichzeitig zwei Finger emporhob.

»Ich danke ergebenst«, beeilte sich Lorenz zu sagen.

»Woher seid ihr?« frug der Matrose polnisch.

»Aus Lipiniez«.

»Was ist das Lipiniez?« frug er nun deutsch.

Maryscha, welche während der Unterhaltung herbeigekommen war, richtete mit schüchternem Erröten die Augen zu dem Matrosen empor und sagte mit sanfter Stimme:

»Wir sind aus Posen, mein Herr!«

Der Matrose sah unverwandt auf den Kopf eines großen kupfernen Nagels, welcher die Bordwände miteinander verband, endlich sah er das Mädchen an, betrachtete ihren Flachskopf wie etwas Wunderbares, dann zog es wie Rührung über die harten Züge, zuletzt brachte er ernst und langsam, halb polnisch, halb deutsch gesprochen, die Worte hervor:

»Ich war in Danzig . . . verstehe polnisch . . . Ich bin ein Kassube . . . Euer Bruder, aber das ist lange her! – Jetzt bin ich deutsch . . .«

Nach dieser Rede griff er nach dem Tauende, welches er bei der ersten Frage Toporeks hatte fallen lassen, drehte den beiden den Rücken und nach Matrosenart »ho! ho! o!« rufend, begann er daran zu ziehen . . .

Von da ab lachte er sie immer freundlich an, sobald er Lorenz und Maryscha auf Deck sah und in ihre Nähe kam. Auch sie freuten sich sehr über ihre Bekanntschaft, denn nun hatten sie auf dem Schiffe unter den vielen fremden Menschen doch eine wohlwollende Seele, welcher sie sich im Notfalle anvertrauen konnten. Die Reise sollte ja auch nicht mehr lange währen. Zwei Tage später, als sie am frühen Morgen auf Deck kamen, erblickten sie zu ihrer Verwunderung in der Ferne einen großen schwimmenden Gegenstand auf dem Wasser. Als sie sich mit dem Schiffe ihm näherten, sahen sie erstaunt, daß es eine große rote Tonne war, welche sanft von den Wellen hin und her geschaukelt wurde. In einiger Entfernung tauchte bald noch eine, eine dritte, vierte Tonne auf. Ueber der See lag es wie ein leichter, durchsichtiger Schleier, sie schimmerte silbergrau und nur sanft kräuselte sich ihre Oberfläche. Soweit das Auge reichen konnte lag sie still, nur eine immer sich vermehrende Zahl Tonnen kam allmählich in Sicht. Unzählige Scharen weißer Vögel mit schwarzen Flügeln sammelten sich um das Schiff und folgten ihm auf seiner Fahrt. Auf dem Verdeck wurde es lebendig. Die Matrosen scheuerten dasselbe, putzten die messingenen Beschläge und Bänder blank, welche die Bordwände zusammen hielten, wuschen die Fenster und zogen, als diese Arbeit beendet war, frische Jacken an. Eine Fahne wurde am Mast aufgezogen, eine zweite auf dem Hinterdeck angebracht.

Die Reisenden überkam eine neue Lebensfreudigkeit und eine ungewohnte Rührigkeit. Alles, was lebte, erschien auf Deck. Man begann Gepäckstücke heraufzutragen und festzuschnallen.

Alle diese Vorbereitungen gaben Maryscha die Gewißheit, daß sie nun bald am Ziele ihrer Reise angelangt seien.

Neue Hoffnung bemächtigte sich ihrer und ihres Vaters, als nun westlich die erste Insel, Sandy-Hok, in Sicht kam und bald darauf eine zweite, mit einem in ihrer Mitte stehenden großen Gebäude. In der Ferne schwebte es wie verdichteter Nebel, eine Rauchwolke oder derartiges; undeutlich verschwommene, gestaltlose Gegenstände, bei deren Anblick eine große Bewegung auf Deck entstand. Fast alle Anwesenden wiesen mit den Händen darauf hin, sprachen lebhaft miteinander, dazwischen pfiff die Dampfpfeife, daß es gellte.

»Was ist das dort?« frug Lorenz den neben ihm stehenden Kassuben.

»New-York!« antwortete dieser.

Nun begannen Rauch und Nebel sich zu teilen, zu zerstieben. Die Umrisse von Häusern, Dächern, Schornsteinen, spitzen Türmen wurden sichtbar und traten immer deutlicher aus dem Dunst hervor. Neben den Türmen tauchten hohe Fabrikschlote auf mit hohen Rauchsäulen darüber, welche hoch oben in der Luft in einzelne Bündel sich auflösten. Unten vor der Stadt ein Wald von Masten, von deren äußersten Spitzen tausende bunte Wimpel wehten, von der leichten Brise anmutig hin und her bewegt.

Immer näher kam das Schiff der schönen Stadt, welche aus dem Meere emporzutauchen schien. Lorenz war von einer überwältigenden Freude erfüllt. Er hatte die Mütze abgenommen und starrte mit offenem Munde und trunkenen Augen die Wunder der neuen Welt an. Endlich rief er seine Tochter:

»Marysch!«

Das Mädchen, welches ebenso staunte wie der Vater über das, was um sie her vorging, jauchzte freudig auf:

»O Gott, wie schön!«

»Siehe doch, sieh!« rief der Alte.

»Ich sehe ja.«

»Wunderst Du Dich nicht?«

»Freilich wundere ich mich,« entgegnete Maryscha.

Lorenz aber konnte kaum noch den Augenblick erwarten, wo er das Land betreten würde. Während er die grünen Ufer zu beiden Seiten des Hafens und die dunklen Parkbäume betrachtete, sprach er weiter:

»Ei nun, das gefällt mir. Wenn man uns gleich hier in der Nähe der Stadt ein Stück Land mit Wiese geben wollte, so hätten wir es nicht weit zu Markte. Wenn Jahrmarkt ist, könnte man bequem Kuh und Schwein zum Verkauf hineinführen. Man merkt, das Land ist sehr bevölkert. In Polen war ich ein Bauer, hier werde ich Herr sein.«

Das Schiff fuhr soeben an dem wunderschönen National-Park vorüber, welcher sich seiner ganzen Länge nach am Hafen hinzog. Als Lorenz die herrlichen Baumgruppen und Bosketts erblickte, fuhr er fort in seinem Selbstgespräch:

»Ich werde den gnädigen Herrn Kommissar von der Regierung ganz demütig bitten und sehr geschickte Worte suchen, damit er mir wenigstens zwei Gewände dieses Waldes hier schenkt. Die nötigen Aecker selbstverständlich dazu. Wenn ich ein Herr sein will, muß ich auch eine Herrschaft haben. Ich kann dann ausholzen und früh immer den Knecht mit dem Holzwagen in die Stadt schicken. Gott sei Dank! Der Agent hat mich nicht betrogen.«

Auch Marysch träumte sich nun als Herrin eines Gutes hier. Sie wußte selbst nicht, woher die Fröhlichkeit kam, von der sie gegenwärtig erfüllt war. War es der Gedanke an Jaschu, der sie ihr brachte? Sie sah im Geiste ihn schon hier landen und sich zu seiner Begrüßung an den Hafen eilen, sie – eine Gutsbesitzerin.

Inzwischen war das von der Quarantänestation gesandte Boot am Schiff angelangt. Vier bis fünf Männer kamen an Bord. Zurufe und Hinundwiderreden wurden laut. Diesem Boote folgte bald ein zweites direkt aus der Stadt. Es brachte Agenten aus den Hotels und Boarding-houses, Führer, Geldwechsler, Eisenbahnagenten. Alle diese Menschen riefen, schrieen und lärmten durcheinander, es begann ein Stoßen und Hinundherschieben auf Deck.

Lorenz und Maryscha wußten in diesem Wirrwarr nicht mehr was sie thun sollten. Da kam der Kassube und riet ihnen, gleich hier ihr Geld zu wechseln. Er wollte ihnen behilflich sein und dafür sorgen, daß sie dabei nicht betrogen würden. Toporek erhielt für das, was er besaß, siebenundvierzig Silberdollars. Während alles das auf dem Schiffe sich begab, war dasselbe der Stadt so nahe gekommen, daß man nicht nur die Häuser, sondern auch die davorstehenden Menschen unterscheiden konnte. Das Bollwerk stand dichtgedrängt voll Männer und Frauen, die der Ankunft des Schiffes entgegen sahen. Es lavierte jetzt zwischen größeren und kleineren Fahrzeugen hindurch, lief in die Docks ein und ließ dann die Anker fallen.

Die Seereise war zu Ende.

Die Menschen strömten der Stadt zu, es wirbelte auf dem Schiffsdeck wie in einem Bienenstock, auf der schmalen Landungsbrücke entstand ein großes Gedränge. In buntem Wechsel kamen sie alle, die an's Land wollten, sich stoßend, schiebend – die Passagiere der ersten und zweiten Klasse, die des Zwischendecks zuletzt mit ihrem Gepäck beladen.

Als Lorenz und Maryscha die Landungsbrücke eben betreten wollten, stand an der Bordöffnung ihr kassubischer Freund. Er streckte ihnen beide Hände entgegen, schüttelte die ihrigen kräftig und verabschiedete sich von ihnen mit den Worten:

»Bruder, ich wünsche Euch Glück und auch Dir, Mädel! Gott helfe Euch!«

»Gott lohne Dir Deinen Wunsch,« antworteten beide gleichzeitig. Dann wurden sie durch die Nachdrängenden von ihm getrennt. Sie befanden sich bald darauf in dem geräumigen Zollhause.

Der Zollbeamte in grauem Rock mit silbernem Stern betastete ihr Gepäck, darnach rief er: »All right« und wies sie nach dem Ausgange! Nun standen sie auf der Straße.

»Was werden wir jetzt anfangen, Väterchen?« frug Maryscha.

»Wir müssen warten,« antwortete Lorenz. »Der Agent hat mir gesagt, daß der Kommissar von der Regierung bald nach Ankunft des Schiffes kommen und nach uns fragen werde.«

Sie suchten sich eine geschützte Stelle dicht an der Mauer des Zollhauses und warteten. Der Lärm der Großstadt umtoste sie. So etwas hatten sie noch nicht gesehen. Die langen geraden Straßen, Wagen, Menschen, Omnibusse, Lastwagen, alles, als ob Jahrmarkt hier wäre, dazu die fremden Leute ringsum, die Sprache, in welcher gesprochen, gerufen, geschrieen wurde und von der sie nichts verstanden. Beim Anblick einiger Schwarzer bekreuzten sie sich, im Glauben, es seien böse Geister.

So verstrich Stunde um Stunde. Sie standen noch immer an derselben Stelle, aber der Kommissar kam nicht. Wo anders wäre das seltsame Paar, dieser polnische Bauer mit dem langen, graumelierten Haar und der viereckigen Pelzmütze und das blonde Mädchen im roten Mieder und den vielen Glasperlenschnüren um den Hals wohl jedermann aufgefallen, in New-York fällt nichts auf, dort hastet ein jeder nach Erwerb und hat nicht Zeit, sich um andere zu kümmern.

Wieder hatte die Turmuhr in der Nähe eine volle Stunde geschlagen; der Himmel hatte sich mit Wolken bezogen, Regen mit Schneeflocken vermischt träufelte leise hernieder, ein feuchter kalter Wind stellte sich gegen Abend ein.

Der polnische Bauer hat viel Ausdauer und Geduld, er versteht zu warten. Doch als der Kommissar noch immer nicht erschien, wurde ihnen beiden sehr wehe zu Mute.

Wenn sie sich auf dem Schiffe vereinsamt gefühlt hatten, so war das jetzt hier noch mehr der Fall. Sie hatten sich sicher und geborgen geglaubt, sobald sie festes Land unter sich hatten, nun merkten sie erst, daß der Einzelne in dem Getriebe der Großstadt vollkommen verschwindet.

Maryscha bebte vor Angst und Kälte. Wind und Regen hatten ihre und des Vaters Kleider durchnäßt, wo sollten sie hin, wo ein Obdach finden.

Allmählich stockte das Leben und Treiben im Hafen, abendliche Ruhe trat ein. Die Arbeiter von den Werften zogen singend heimwärts, die Stadt erglänzte nach und nach in einem unendlich scheinenden Lichtmeer. Das Zollhaus wurde geschlossen, dann wurde es ganz still um sie und zuletzt brach die Nacht herein. Wenn sie auch längst gerne das Warten aufgegeben hätten, so wußten sie doch nicht, wohin sie sich hätten wenden können. So verharrten sie also auf ihrem Platze, von dem sie auch niemand vertrieb. Der Agent hatte sie sicher betrogen; er bekam seine Prozente für die Stückzahl der Auswanderer, was kümmerte ihn schließlich ihr Fortkommen und ihr Verbleib.

Lorenz fühlte, wie die Füße unter ihm schwach wurden; aber er fühlte nicht nur seine Schwäche, viel mehr als diese drückte ihn die Verantwortung seiner Tochter gegenüber. Hatte nicht sein Wille das Mädchen in die trostlose Lage gebracht, in der sie sich befanden?

Er stand und wartete und litt mit der Ausdauer des polnischen Bauern . . .

»Väterchen!« tönte es leise neben ihm.

»Sei stille! Es gibt keine Barmherzigkeit,« sagte er barsch.

»Gehen wir zurück nach Lipiniez,« flehte das Mädchen.

»Eher ertränke ich mich!«

»O Gott, o Gott!« flüsterte Maryscha.

Eine große Seelenpein bemächtigte sich Toporek's.

»O Du arme Waise . . .« rief er verzweifelt. »Gott erbarme sich Deiner.«

Sie hörte ihn nicht mehr. Ihr Kopf war an die Wand gesunken, sie war vor Müdigkeit eingeschlafen.

Die Morgendämmerung beleuchtete mit fahlem Schein zwei schlafende Menschen mit blassen, von der Kälte bläulich angehauchten Gesichtern. Eine leichte Schneedecke lag auf ihren Kleidern, wie ein Bahrtuch über Gestorbenen.

* * *

Zweites Kapitel.
In New-York.

Wenn man die breiten Straßen New-York's verläßt und vom Broadway nach der Richtung von Chattamsquare einige Nebenstraßen nach dem Hafen zu durchschreitet, gelangt man in eine Gegend, welche von Schritt zu Schritt ärmlicher, verlassener und düsterer wird. Die Häuser sind noch von holländischen Ansiedlern erbaut; sie haben breite Risse, die Dächer sind stellenweise eingesunken, der Putz von den Wänden losgebröckelt, die Gassen eng und ganz im Gegensatz zu den gradlinigen Straßen der Stadt krumm. Die Fenster der Souterrains blicken kaum noch halb über den Erdboden hinweg, so tief sind die Fundamente eingesunken, was den Häusern eben jenes rissige, schiefe Aussehen gibt.

In Folge der Nähe des Meeresufers stehen überall Pfützen und die wenigen kleinen freien Plätze gleichen kleinen Teichen mit trübem, schlammigen Wasser angefüllt. Abgerissene Papierfetzen, Lumpen und Unrat schwimmen darauf herum, überall sieht man Schmutz, Elend und Unordnung.

In diesem Stadtteil befinden sich Wirtshäuser, in denen man für zwei Dollar wöchentlich Nachtquartier und Essen bekommt; hier sind auch die Spelunken, welche den Walfischfängern und allerhand Gesindel als Schlupfwinkel dienen, Geheimschreiber treiben zusammen mit Agenten aller Zungen ihr Unwesen darin.

Trotz des Elends, welches herrscht, findet man hier dennoch ein reges Leben. Alle diejenigen Auswanderer, die nicht mehr ein zeitweiliges Unterkommen in der Kaserne von Castle-Garden erhalten können, oder nicht in die sogenannten »Arbeiterhäuser« gehen wollen oder dürfen, sammeln sich und verhungern oft hier. Wenn man die Auswanderer im allgemeinen schon als den Auswurf der Menschheit bezeichnet, so kann man die Bewohner dieser Spelunken mit gutem Recht als den Abschaum der Auswanderer betrachten. Schlägereien, Messeraffairen und Spitzbübereien sind an der Tagesordnung, selbst die kleinen Negerjungen balgen sich mit den Kindern der Ausgewanderten um jeden abgenagten Knochen und beide, Weiße und Farbige, lassen keinen Erwachsenen vorüber, ohne ihn anzubetteln.

In diesem Gehenna finden wir unsere Bekannten vom »Blücher« wieder. Die Herrschaft, welche sie in Amerika zu erhalten gehofft, war ein Traum gewesen, der in Nichts zerronnen. Die reale Wirklichkeit präsentiert sich ihnen in Gestalt einer engen, im Erdgeschoß liegenden Stube mit einem Fenster, dessen Scheiben zerschlagen sind. Die Wände der Stube triefen von Nässe, der Schimmel liegt auf ihnen. An der einen Wand steht ein eiserner Ofen mit durchgebrannten Löchern und ein schlotteriger, dreibeiniger Tisch, während ein Häuflein Gerstenstroh im Winkel die Bettstatt vertritt.

Das ist alles! Der alte Lorenz kniet vor dem Ofen und sucht in der verkohlten Asche, ob nicht irgendwo darin eine Kartoffel zu finden sei. Er sucht seit zwei Tagen schon wiederholt vergebens danach. Maryscha sitzt auf dem Strohhäuflein. Sie hat ihre Hände um die Kniee geschlungen und starrt unbeweglich zu Boden. Das Mädchen ist krank und elend. Wohl scheint es dieselbe Maryscha von früher, aber die ehemals roten Wangen sind hohl und bleich, die Gesichtsfarbe ist krankhaft, das ganze Gesicht scheint kleiner, die Augen größer, der Blick starr. Die Spuren von Gram, Kummer, mangelhafter Nahrung und vor allem die Einwirkungen der schlechten Luft sind deutlich darin sichtbar.

Ihr Vater und sie haben sich bisher nur mit Kartoffeln genährt, seit zwei Tagen aber sind auch diese nicht mehr vorhanden. Sie wissen beide nicht mehr, was sie thun, womit sie sich nähren werden. Drei Monate sind seit ihrer Ankunft in New-York verflossen: sie haben nicht einen Pfennig Geld mehr. Lorenz hatte wiederholt nach Arbeit gefragt, man hatte aber nicht verstanden, was er wollte. Er war in den Hafen gegangen, um sich als Gepäck- und Kohlenverlader anwerben zu lassen, aber er brauchte dazu eine Karre und wußte nicht, konnte, da man ihn nicht verstand, auch nicht erfahren, wo er eine solche kaufen könnte und war deswegen von anderen verdrängt worden. Die Irländer, ohnehin neidisch auf jeden Fremden, drohten, ihn mit ihren Fäusten zu bearbeiten. Dann versuchte er es bei den Docks Arbeit zu bekommen, eine Axt hatte er mit herüber gebracht, doch wie sollte er arbeiten, wenn er sich mit niemandem über die Arbeit verständigen konnte. Er konnte anfangen was er wollte, überall wies man ihn aus demselben Grunde zurück; nirgends gelang es ihm, einen Groschen zu verdienen oder irgend etwas zu erbitten. Das Haar war ihm vollständig gebleicht in dieser Zeit der Sorge, die Hoffnung geschwunden, das Geld alle geworden, jetzt begann der Hunger an ihm zu nagen.

Ja, wäre er jetzt in der Heimat, da hätte er schlimmsten Falles mit dem Bettelsack auf dem Rücken und dem Stab in der Hand sich nur an den ersten besten Kreuzweg zu stellen brauchen, oder an die Kirchthüre und zu singen. Jeder Vorübergehende würde ihn beachtet, ihm etwas geschenkt haben. Der Edelmann vom Pferde herab, die Edelfrau im Kutschwagen durch die Vermittelung ihres rosigen Töchterchens, jeder Bauer im Dorfe, nein, keiner würde ihm ein Almosen versagen, sondern ihm etwas geschenkt haben; er hätte dort nicht Hunger leiden dürfen. Dazu hätte er über sich den Gekreuzigten mit den ausgebreiteten Armen, die nach dem Himmel langten, zu dem konnte er beten. Rings um ihn die grünen, nach frischem Getreide duftenden Felder und die tiefe feierliche Dorfstille.

Hier, im Geräusch der Stadt, wo es sauste und brauste wie in einem Dampfkessel, mußte sein Bitten ungehört verhallen. Einer konnte sich um den anderen nicht kümmern, denn jeder hatte vollauf mit sich zu thun. Ach, dieser Unterschied zwischen hier und dem stillen Lipiniez! Dort hatte er seine Wirtschaft, sein Land gehabt, sein sicheres Brot; dort war er Beisitzer im Gemeinderat gewesen, dort war er Sonntags mit der Kerze vor den Altar gegangen – hier war er ein Fremder, ein verirrtes Schaf, und wie ein zugelaufener Hund wurde er überall fortgejagt. In den ersten Tagen der beginnenden Not hatte er sich oft gesagt: »es war besser in Lipiniez!« Das Gewissen schrie ihm zu: »Lorenz, dich hat Gott verlassen, weil du deine Heimat verließest.« Er hätte ja gern sein Kreuz aus sich genommen, wenn nur Aussicht auf Besserung seines Loses gewesen wäre; aber jeder Tag überzeugte ihn von neuem, daß er nicht imstande sein werde, sich aus dem Elend herauszuarbeiten, sich und seine Tochter. Was blieb ihm zuletzt zu thun übrig? Sollte er sich einen Strick zurechtdrehen, ein Vaterunser sprechen und dann am nächsten Baume aufhängen? Er würde es thun, ihn konnte der Tod nicht schrecken, was aber sollte aus dem Mädchen werden? Wenn er an sie dachte, dann fühlte er sich nicht nur von Gott verlassen, sondern auch dem Wahnsinn nahe.

Das Heimweh wurde übermächtig in ihm. Vergebens kämpfte er Tag und Nacht dagegen an. Er hätte sich die Haare ausraufen mögen, schreien vor Verzweiflung, doch wer hätte ihn hier hören oder verstehen sollen?

Ihnen half niemand, denn obgleich eine ganze Menge Polen in New-York wohnten, so doch niemand von ihnen, dem es gut ging in diesem Viertel. Sie hatten in der zweiten Woche ihres Hierseins zwar zwei polnische Familien kennen gelernt; die eine war aus Schlesien, die andere aus Posen selbst eingewandert, aber auch sie hatte das Elend bereits umgebracht. Der schlesischen Familie waren schon zwei Kinder gestorben, das dritte war krank und mußte dennoch mit seinen Eltern seit vierzehn Tagen jede Nacht unter den Bogenpfeilern der Brücke zubringen. Sie ernährten sich nur von dem, was sie auf der Straße fanden. Seit gestern waren sie ganz verschwunden. Der zweiten Familie ging es noch schlechter, denn der Vater hatte sich dem Trunke ergeben. Maryscha hatte die Frau unterstützt, solange sie selbst etwas hatte, jetzt bedurfte sie selbst der Unterstützung.

Es hätte wohl eine Rettung für sie gegeben, durch den Pfarrer der polnischen katholischen Kirche in Hoboken. Der Pfarrer hätte sie an andere ihrer Landsleute weisen, ihnen Ratschläge erteilen können. Toporek und Maryscha wußten ja doch aber nichts von der Existenz einer polnischen Kirche, eines Pfarrers in der großen Stadt. Jeder ausgegebene Cent führte sie eine Stufe abwärts, dem Abgrunde zu.

In diesem Augenblicke also saß Lorenz am Ofen, Maryscha auf dem Strohlager. Eine Stunde um die andere verrann langsam. Es wurde dunkel in der Kammer; denn, obgleich es zwar Mittagszeit war, so verdunkelte der vom Wasser aufsteigende Nebel die Luft, besonders da die Frühjahrsnebel in New-York immer sehr stark auftreten. Trotz der im Freien warmen Luft fröstelten die beiden in dem feuchten Raum. Lorenz hatte die Hoffnung aufgegeben, noch eine Kartoffel in der Asche zu finden.

Während er sich erhob und nach seinem Rucksack langte, sagte er zu Maryscha:

»Ich halte es vor Hunger nicht mehr aus und Du sicherlich auch nicht: ich werde an den Hafen gehen und versuchen etwas Holz zum Einheizen aufzufischen, – vielleicht finde ich auch etwas Eßbares.«

Sie antwortete nicht und er ging.

Er war schon öfter hinaus zum Hafen gewandert, hatte dort angeschwemmte Bretter und Holzstücke von Kisten und Kästen aus der See gefischt, wie alle diejenigen es machten, die kein Geld hatten, um Kohlen zu kaufen. Oft hatte er bei dieser Arbeit Rippenstöße und blaue Augen, von Faustschlägen roher Patrone herrührend, davongetragen. Heute war ihm das Glück hold. Es war um die Zeit des »Lunch«, am Ufer befanden sich nur einige Knaben, die zwar nicht unterließen ihn anzuschreien und mit Schlamm und Kot zu bewerfen, doch aber sich nicht stark genug fühlten, eine Schlägerei mit ihm anzufangen. In kurzer Zeit hatte er ein ganzes Häufchen Holz zusammengehäuft. Die Wellen spülten auch noch anderes heran, Abfälle aus den Schiffsküchen, in denen sich zuweilen noch etwas Eßbares fand. Auch diese durchsuchte er und aß, was irgend genießbar war sofort auf; daran, daß seine Tochter auch Hunger haben mußte, dachte er in seiner Gier gar nicht.

Das Glück schien ihm heute besonders günstig, denn während er nach Hause zurückging begegnete er einem großen, mit Kartoffeln beladenen Wagen, welcher auf dem Wege nach dem Hafen zu im Straßenschmutz in einem tiefen Geleise stecken geblieben war und nicht weiter konnte. Lorenz griff sogleich in die Speichen und half dem Kutscher das Gefährte wieder flott zu machen. Es war ein schweres Stück Arbeit, der Rücken that ihm wehe davon, aber als die Pferde endlich scharf anzogen und der Wagen aus dem Loche heraussprang, da fiel auch eine ganze Menge Kartoffeln von dem hochgeladenen herab. Der Kutscher dachte gar nicht daran, sie aufzulesen, dankte ihm für die Hilfe, während die Pferde von ihm angetrieben schon weitertrabten.

Lorenz las mit gieriger Hast die Kartoffeln sorgsam auf und barg sie in seinem Rucksack. Unglückliche Menschen läßt der geringste Glücksfall hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. So auch Lorenz! Dem halb Verhungerten schienen die gefundenen Kartoffeln ein unschätzbares Gut; er murmelte auf dem Nachhausewege nun unaufhörlich vor sich hin:

»Gott sei's gedankt, daß er unser Elend geschaut hat. Wir haben Holz, das Mädel kann ein Feuer anzünden und Kartoffeln haben wir auch, die langen wenigsten auf zwei Tage. Der liebe Gott ist doch barmherzig – das arme Mädel hat anderthalb Tage nichts genossen – ja Gott ist barmherzig!«

Während er so mit sich selbst sprach, schleppte er unter dem einen Arm das Holz, und betastete mit der anderen Hand von Zeit zu Zeit den Rucksack, ob auch die Kartoffeln noch darin seien. Er trug ja einen großen Schatz und er richtete oft den Blick dankbar nach oben.

»Ich dachte schon, ich würde zum Stehlen greifen müssen«, – murmelte er weiter – »da fielen sie mir vom Wagen ganz von selbst zu, ich brauchte nicht zu stehlen! Gott ist barmherzig! Maryscha wird gleich vom Lager aufstehen, wenn sie hört, daß ich Holz und Kartoffeln bringe.«

Unterdessen hatte Maryscha nach seinem Fortgange regungslos in der Stellung verharrt, in welcher Lorenz sie verlassen hatte. Früher, wenn Lorenz Holz gebracht hatte, heizte sie morgens den Ofen, holte Wasser, aß was zu haben war, dann starrte sie stundenlang in's Feuer. Auch sie hatte eifrig nach Arbeit und Verdienst gesucht. Unter anderem war sie sogar zu einer Anstellung als Geschirraufwäscherin in einer Gastwirtschaft gelangt, aber da man sich nicht mit ihr verständigen konnte und infolgedessen fortwährende Mißverständnisse vorkamen, so hatte man sie nach zwei Tagen wieder entlassen. Ganze Tage war sie auf der Suche nach Arbeit, leider ohne Erfolg, nun fürchtete und scheute sie sich bis vor die Thüre zu gehen, um nicht neue Enttäuschungen zu erleben. Auf der Straße war sie wiederholt von Irländern und betrunkenen Matrosen insultiert worden. Aber der Müßiggang machte sie sehr unglücklich, die Sehnsucht nach der Heimat fraß an ihr, wie der Rost am Eisen. War sie doch noch viel unglücklicher als ihr Vater, denn dem Hunger, den Nahrungssorgen und der gänzlichen Hoffnungslosigkeit ihrer Lage gesellte sich noch der Gedanke an Jaschu. Er hatte ihr ja Treue geschworen, das war wirklich beruhigend für sie, aber wo war er jetzt? War er noch in der Heimat, oder schon unterwegs zu ihr? Würde er sie finden? Und wenn? – Wie anders lagen jetzt die Verhältnisse.

Früher war sie eine Wirtstochter; sie war nach Amerika gegangen, um eine Dame zu werden. Er war ein Hofknecht, hatte nur ein kleines, vom Vater ererbtes Anwesen – sie war damals diejenige, die zu ihm herabsteigen wollte.

Jetzt war er derselbe geblieben, der er war, – sie war verarmt, hungerig, wie eine Kirchenmaus. Würde er sie noch wollen, würde er sie an sein Herz nehmen und mitleidsvoll zu ihr sagen: »Du mein armes, liebes Mädchen?« War ihre Kleidung doch fast zerrissen wie die einer Bettlerin, die Hunde in Lipiniez würden sie anbellen, wenn sie dort so erschiene, wie sie jetzt war und dennoch – sie hätte hinfliegen mögen mit den Möven, den Schwalben, sei es auch nur, um in der Heimat zu sterben. Dort, dort lebte Jaschu, ob treu oder untreu, ihr Einziger, Lieber, dort war Friede und Glück für sie, sonst nirgends.

Das waren ihre Gedanken, wenn sie den Blick auf das Feuer gerichtet hielt, sie hatten trotz aller Sehnsucht noch immer etwas Tröstliches für sie gehabt. Seit gestern morgen, wo weder Feuer noch Nahrungsmittel im Hause mehr waren, starrte sie in's Leere vor sich hin und von Stunde zu Stunde wurden ihre Gedanken trauriger, verzweifelter. Ihre Thränen, die vorher so reichlich geflossen, waren versiegt. Zuletzt fing die Schwäche an sie zu befallen, sie fühlte sich sogar zu schwach zum Denken. So litt sie unsäglich, während sie resigniert mit weitgeöffneten Augen vor sich hin sah.

Da öffnete jemand die Thüre der Kammer. In der Meinung, der Vater kehre zurück, blickte Maryscha erst gar nicht auf, bis eine fremde Stimme an ihr Ohr schlug.

»Look here!« rief dieselbe.

Sie gehörte dem Besitzer der Budicke, in welcher sie wohnten. Er war ein alter Mulatte mit finsterem Gesicht, schmutzig, zerlumpt, und hatte beide Backen mit Kautabak vollgepfropft.

Als das Mädchen ihn erblickte, erschrak sie heftig. Sie wußte, er kam, den für die nächste Woche fälligen Dollar einzufordern und sie hatten nicht einen Cent mehr in der Tasche. Sie konnte aber vielleicht durch demütiges Bitten ihn bewegen, Frist zu geben; deshalb näherte sie sich ihm, umfaßte seine Kniee und küßte seine Hände.

»Ich komme nach dem Dollar!« sagte er.

Sie verstand nur den Ausdruck »Dollar«. Kopfschüttelnd und die Ausdrücke verwechselnd, den flehenden Blick auf ihn gerichtet, die gefalteten Hände emporgehoben, suchte sie ihm ihre Lage klar zu machen; sie sagte, daß sie nichts mehr hätten, daß sie schon seit zwei Tage hungerten, daß er sich ihrer erbarmen möge. Sie schloß mit den Worten:

»Gott wird es Ihnen lohnen, gnädiger Herr, erbarmen Sie sich unser«.

Der gnädige Herr verstand zwar nicht, daß er gnädig sei, aber so viel begriff er doch, daß der Dollar nicht zu haben war. Dies letztere hatte er sogar so gut verstanden, daß er sofort mit einer Hand das Bündel Sachen ergriff, welches seinen Mietern gehörte, mit der anderen Hand das Mädchen leicht vorwärts schob, der Treppe zu. So brachte er sie bis auf die Straße, wo er ihr das Bündel vor die Füße warf und sie stehen ließ. Phlegmathisch öffnete er dann die Thüre der nebenanliegenden Gastwirtschaft zur Hälfte und rief hinein:

»Hej Paddy, die Stube für Dich ist frei.«

»All right,« antwortete eine Stimme von innen, »ich komme zur Nacht.«

Darauf verschwand der Mulatte im Flur seines Hauses und das Mädchen blieb allein auf der Straße zurück.

Sie nahm das Bündel, legte es in eine Mauernische, damit es nicht im Straßenkot bliebe, dann stellte sie sich daneben, stumm und apathisch die Rückkehr des Vaters erwartend.

Diesmal ließen die vorübergehenden betrunkenen Iren und Matrosen sie in Ruhe. In der Kammer hatte Dämmerlicht geherrscht, hier außen war es licht und hell, und in dieser hellen Beleuchtung konnte man erst sehen, daß das Gesicht Maryscha's bleich und abgezehrt aussah, wie das einer schwer Kranken. Die Lippen waren blau, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, die Backenknochen standen vor und nur die flachsblonden Zöpfe hatten ihre Farbe behalten. Sie sah aus wie eine Blume, die langsam hinwelkt. Die Vorübergehenden sahen sie mitleidig an. Eine alte Mohrenfrau frug sie etwas, doch da sie keine Antwort erhielt, zog sie sich verletzt zurück.

Das alles war geschehen, während Lorenz dem Hause zustrebte mit dem beruhigenden Gefühl, welches ein offenbarer Beweis der Barmherzigkeit Gottes in sehr unglücklichen Menschen wachruft. Er malte sich aus, wie gut ihnen die Kartoffeln schmecken würden, dachte, daß er morgen wieder versuchen wolle, welche zu erlangen, weiter, an das Uebermorgen dachte er nicht mehr, dazu war er augenblicklich zu hungerig. Als er schon von Ferne Maryscha vor dem Hause stehen sah, wunderte er sich darüber und beeilte seine Schritte.

»Was ist das? Warum stehst Du hier?« frug er, noch ehe er sie erreicht hatte.

»Der Hauswirt hat uns hinausgeworfen, Vater,« sagte sie leise.

»Er hat uns vor die Thür gesetzt?«

Wie ein Verzweiflungsschrei klang die Frage. Er ließ das Holz fallen. Das war zu viel. Jetzt, wo Holz und Kartoffeln mühsam beigebracht waren, obdachlos. Was sollten sie nun beginnen, wo die Kartoffeln kochen, wohin gehen, womit sich sättigen? Lorenz riß die Mütze vom Kopfe und warf sie zu dem Holz am Boden. Verzweifelt rang er die Hände. »Jesus, Jesus!« rang es sich von seinen Lippen und während er wie irrsinnig seine Tochter anstarrte, frug er noch einmal:

»Er hat uns hinausgeworfen?«

Dann wandte er sich, als wolle er wohin gehen, aber er kehrte gleich wieder um, und fragte mit dumpfer drohender Stimme:

»Warum hast Du ihn nicht gebeten, Dummkopf?«

Sie seufzte.

»Ich habe ihn ja gebeten.«

»Bist Du ihm zu Füßen gefallen?«

»Ja!«

Wieder drehte er sich um. Es wurde ihm schwarz vor den Augen.

»Daß Dich die Erde verschlinge,« schrie er die Tochter an.

Das Mädchen sah ihn schmerzlich an.

»Vater, bin ich denn schuld?«

»Bleibe hier stehen, rühre Dich nicht vom Fleck,« rief der Alte wieder. »Ich werde ihn bitten, daß er uns wenigstens die Kartoffeln braten läßt.«

Er ging. Einen Augenblick daraus erscholl Lärm im Flur, zankende Stimmen wurden hörbar, Getrampel mit den Füßen und gleich darauf flog Lorenz von starker Hand gestoßen aus der Thüre auf die Straße.

Er brauchte eine Weile, um zu sich zu kommen, dann sagte er barsch:

»Komm!«

Sie nahm die Sachen auf. Für ihre geschwächten Kräfte war das keine leichte Arbeit, aber er half ihr nicht. Es war, als sähe er nicht, als höre er nicht, er schien nicht zu bemerken, daß die Last viel zu schwer für sie war.

Sie gingen. – Wenn die Menschen hier nicht gefühllos geworden wären durch den fortwährenden Anblick gräßlichen Elendes, so hätten die beiden Jammergestalten das Mitleid der Vorübergehenden gewiß erregt. Sie waren schrecklich anzusehen, der verzweifelte Greis und das apathische Mädchen. Wohin sollten sie sich wenden, wer zeigte ihnen einen Ausweg?

Das Mädchen atmete von Schritt zu Schritt schwerer, sie schwankte ein paar mal hin und her, dann wandte sie sich bittend an den Vater:

»Nehmt die Sachen, Vater, ich kann nicht mehr«.

Er fuhr empor wie aus einem Traume.

»Dann wirf sie hin!« rief er.

»Aber wir brauchen Sie doch«, wandte sie schüchtern ein.

»Nein, wir brauchen sie nicht mehr!«

Und da er sah, daß Maryscha noch zauderte, schrie er wütend auf sie ein:

»Wirf die Sachen hin, oder ich erschlage Dich!«

Nun gehorchte sie. Sie gingen weiter. Im Gehen wiederholte Lorenz noch einige Male die Worte:

»Wenn alles verloren ist, dann mag auch das verloren sein!«

Dann verstummte er, aber in seinen Augen blitzte es wild auf, als ob er etwas Böses im Sinne hätte.

Immer enger und schmutziger wurden die Gäßchen, durch welche sie auf weiten Umwegen dem Außenrande des Hafens zuschritten. Endlich gelangten sie an das Pfahlwerk, welches denselben umgab: sie kamen am letzten Hause vorüber, welches die Aufschrift trägt: »Sailors asilum«, und standen bald darauf dicht am Wasser. Es wurden an dieser Stelle neue Docks gebaut. Hohe Gerüste zum Einrammen der Pfähle zogen sich weit hinein in das Wasser. Auf den Brettern und Balken derselben bewegten sich Arbeiter hin und her, die an den Dockbauten Beschäftigung gefunden hatten.

Maryscha setzte sich auf ein paar übereinander gestößte Balken; ihre Füße versagten ihr den Dienst, sie konnte nicht weiter. Lorenz setzte sich stillschweigend neben sie.

Es mochte ungefähr die vierte Nachmittagsstunde sein. Im Hafen herrschte lautes Leben und Treiben. Die Luft war klar und die warmen Strahlen der Sonne legten sich schmeichelnd um die Gestalten der beiden Verlassenen. Vom Wasser her zog ein lauer wonniger Frühlingshauch, ringsum lag über allem so viel Glanz und Schimmer, daß die Augen davon geblendet wurden, das Azurblau des Himmels floß mit dem des Meeres zusammen. Inmitten des Hafens ragten ruhig die Schornsteine und Masten der Schiffe, an denen bunte Wimpeln hin- und herflatterten. Von Ferne sah man noch andere Schiffe dem Hafen zuschwimmen, deren straff ausgespannte Segel wie glänzende, weiße Wolken aussahen und sich scharf von dem Lazur des Wassers abhoben. Andere Schiffe fuhren aus dem Hafen auf hohe See, nach jener Richtung, wo Lipiniez lag, das für die beiden verlorene Glück.

Maryscha grübelte darüber nach, womit sie sich wohl so versündigt haben könnten, daß der barmherzige Gott, der alle Menschen beschützte, von ihnen allein sein Antlitz abwandte. In seiner Hand allein lag es doch, ihnen wieder zum früheren Wohlstande zu verhelfen. So viele Schiffe schwammen der Heimat zu, konnte nicht eines davon sie mit zurücknehmen? Noch einmal umfaßten ihre Gedanken das geliebte Heimatdorf mit allem, was es enthielt und Jaschu, dann übermannte sie die Schwäche.

Der Hunger quälte sie nicht sehr, da sie krank war, aber die Lider sanken ihr über die Augen, der Kopf fiel auf die Brust, ein unruhiger Schlummer entrückte sie der Wirklichkeit. Bald träumte ihr, sie falle in einen Fluß und Jaschu sah es von einem Berge aus; er warf ihr eine seidene Schnur zu, aber diese war zu kurz und Maryscha stückelte sie mit ihrem Zopf an. Sie hörte Gesang und erschrak heftig, denn sie hatte das deutliche Gefühl, ihre Zöpfe seien abgefallen und sie sei in einen Abgrund gestürzt. Nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt, bemerkte sie, daß der Gesang von einem Schiffe herübertönte, welches soeben die Anker zur Ausfahrt lichtete. Der Abend war herangekommen, die Arbeiter schickten sich an heimzukehren. Ach, sie hatten alle einen Platz zum Schlafen, ein Dach über dem Haupte, nur ihr Vater und sie waren obdachlos.

Inzwischen empfand der alte Toporek immer mehr die Qualen des Hungers. Ein tierischer Ausdruck lag in seinem Gesicht; der Alte sah aus, als ob ein unheilvoller Entschluß in ihm zur Reife gekommen sei. Er wechselte während der ganzen Stunden kein Wort mit seiner Tochter und erst als der Abend hereinzubrechen begann, als der Hafen öde und verlassen dalag, alles Geräusch verstummt war, sagte er mit seltsam klingender Stimme:

»Komm Marysch!«

»Wohin werden wir gehen?« frug sie schlaftrunken

»Wir werden auf die Gerüste über dem Wasser steigen und uns auf die Bretter schlafen legen.«

Sie gingen. – In der Dunkelheit mußten sie sehr vorsichtig vorwärts schreiten, um nicht in das Wasser zu fallen.

Die amerikanischen Gerüste aus Brettern und Balken zogen sich in zahlreichen Windungen, gleichsam einen Korridor bildend, weit über das Wasser hinaus, bis zu einer Plattform, inmitten welcher sich die Maschine zum Einrammen der Pfähle befand. Auf der Plattform, geschützt vor Regen und Schnee durch ein leichtes Dach, standen sonst die Arbeiter, welche die Stricke der Rammen anzuziehen und in gleichmäßigen Abständen locker zu lassen hatten. Jetzt war dieselbe leer.

Lorenz führte seine Tochter bis an den äußersten Rand der Plattform und sagte kurz:

»Hier wollen wir schlafen!«

Maryscha fiel mehr auf den Bretterboden, als daß sie sich hinlegte und trotz der Mosquitos, welche gleich über sie herfielen, versank sie sofort in tiefen Schlaf.

Plötzlich, mitten in der Nacht, erweckte sie die Stimme ihres Vaters:

»Maryscha steh' auf!«

Es lag etwas so Schreckliches in dem Tone seiner Stimme, was sie sogleich völlig ermunterte.

»Was gibt es, Vater?« frug sie erschreckt.

Dumpf und fürchterlich drangen nun durch die Finsternis die Worte an ihr Ohr:

»Mädel, Du sollst nicht langsam Hungers sterben! Du sollst auch nicht an fremde Thüren betteln gehen und nicht mehr im Freien schlafen. Die Menschen haben Dich verlassen, Gott hat Dich verlassen, das Elend hat Dich krank gemacht, so möge der Tod Dich in seine Arme nehmen.«

Maryscha hörte nur die Stimme des Vaters; sie konnte in der Dunkelheit seine Gestalt nicht erkennen, so sehr sie auch ihre Sehkraft anstrengen mochte.

Die Stimme fuhr zu sprechen fort:

»Ich werde zuerst Dich ertränken, dann mich. Es gibt keine Rettung für uns, keine Barmherzigkeit über uns. Morgen wirst Du keinen Hunger, keinen Durst mehr haben, nicht mehr frieren, morgen wird Dir wohl sein – besser als heute.«

Sie sprang auf. Nein! Sie wollte nicht sterben. Sie war erst achtzehn Jahre alt, sie liebte das Leben und fürchtete den Tod, wie die Jugend ihn nur fürchten kann. Ihre Seele schreckte vor dem Gedanken zurück, daß ihr Leib, derjenige einer Ertrunkenen, morgen da unten in der Finsternis der See liegen sollte, zwischen Fischen und Seetieren auf schlammigem Grunde. Um alles in der Welt nicht! Eine fürchterliche Angst befiel sie; der Vater, welcher in der finsteren Nacht zu ihr sprach, mußte vom bösen Geiste besessen sein.

Da fühlte sie plötzlich ihre beiden Arme von seinen Händen festgehalten; die Stimme des Alten tönte dicht an ihrem Ohre, als er mit grausenerregender Ruhe sprach

»Schreie nicht! Es hört Dich doch niemand! Ein Stoß nur und in der Zeit, wo man zwei Vaterunser spricht, ist alles zu Ende!«

»Ich will nicht, Vater, ich will nicht!« schrie das Mädchen aus. »Fürchtet Ihr denn nicht den Zorn Gottes? Vater! lieber, einziger Vater, habt Erbarmen mit mir! Was habe ich Euch denn gethan? Ich habe ja nicht über meine Not geklagt, habe ich nicht mit Euch alles geduldig ertragen, Hunger und Kälte? . . . Vater!«

Sein Atem ging hastig, seine Hände hielten ihre Arme wie mit eisernen Klammern umfaßt. Sie bat immer flehentlicher um ihr Leben.

»Habt Mitleid! Erbarmen! Erbarmen! Ich bin ja Euer Kind, ich fürchte das Wasser, ich will nicht sterben!«

Es begann nun ein Ringen aus Leben und Sterben. Maryscha klammerte sich an den Kleidern des Vaters fest; sie küßte die Hände, welche sich bemühten, sie in den Abgrund zu stoßen. Das alles aber schien seinen Vorsatz noch zu stärken. Seine Ruhe war die eines Irrsinnigen, Minuten lang war nichts zu hören, als die schweren Atemzüge der Kämpfenden, ein Hinundhertreten und das Knarren der Bretter. Hilfe konnte nirgends her kommen, denn sie befanden sich an der äußersten Spitze des Hafens, es konnte sie niemand hören, da außer den Arbeitern kein anderer Mensch die Gerüste betrat.

»Erbarmen! Erbarmen!« schrie Maryscha noch einmal.

Der Alte hatte sie jetzt mit dem einen Arme bis dicht an den Rand des Gerüstes gezogen, während er mit der anderen Hand auf ihren Kopf einhieb, um sie zu betäuben. Man hörte nichts sonst ringsum, als das Heulen eines Hundes.

Das Mädchen fühlte ihre Kräfte schwinden. Zuletzt wich der Boden unter ihren Füßen, die Hände klammerten sich noch an den Kleidern des Vaters, aber auch sie wurden schlaff. Ihre Hilferufe wurden immer schwächer, endlich riß ein Fetzen unter ihren Fingern, sie verlor allen Halt und fiel über die Brüstung.

In der furchtbaren Todesangst hatte sie in der Luft nach einer Stütze gehascht und ein Brett gefunden, an das sie sich festhielt. Nun hing sie zwischen Himmel und Meer und – schrecklich ist es zu sagen – der Alte bog sich hernieder und bemühte sich, ihr auch diesen letzten Halt zu nehmen.

Die Todesangst führte ihr Visionen vor die Augen. Die Erlebnisse der letzten Monate ziehen an ihr vorüber. Lipiniez, der Schwengelbrunnen, die Abreise, das Schiff, der Sturm und das ganze Elend in New-York. Aber was ist das? – Sie sieht ein Schiff vor sich, eine Menge Menschen darauf und ganz vorn auf demselben steht Jaschu und streckt die Arme nach ihr aus, über ihm aber schwebt, umgeben von der Strahlenkrone, mit lächelndem Munde die Mutter Gottes! Sie schreit dem Schiffe, welches davonfahren will nach: »Heilige Jungfrau! Jaschu, Jaschu! ich will mit, wartet noch einen Augenblick! . . . Zum letzten Mal bittet sie: »Vater helft mir, ich will zur Mutter Gottes, dort ist sie!«

Dieselben Hände, welche sie in den Abgrund zu stoßen sich bemüht, fassen ihre Arme jetzt helfend. Mit fast übernatürlicher Kraft wird sie in die Höhe gezogen. Sie fühlt wieder Boden unter ihren Füßen, sie wird wieder von Armen gehalten, aber nicht mehr von den Armen des Henkers, sondern von denen des Vaters und ihr Kopf sinkt erschöpft an die Brust des Vaters.

Als sie sich von ihrer Ohnmacht erholt hatte, fand sie sich neben ihrem Vater liegend. Die dichte Finsternis war etwas gewichen, sie erkannte, daß er zu Kreuze lag und daß heftiges Weinen und Schluchzen seinen ganzen Körper erschütterte.

Endlich bemerkte er, daß ihr Bewußtsein zurückgekehrt war und nun bat er mit vom Weinen erstickter Stimme:

»Marysch, mein Kind! verzeihe mir.«

Das Mädchen suchte in der Dunkelheit seine Hände zu fassen, und indem sie dieselben an ihre Lippen zog, stammelte sie unter Thränen:

»Mögen Gott und der Herr Jesus Euch so verzeihen, wie ich Euch verzeihe, Vater . . .«

Ein schwaches Zwielicht erhellte die Nacht immer mehr; die volle Mondscheibe stieg allmählich am Horizont empor, hell und klar. Und wieder geschah etwas Wunderbares. Maryscha sah, wie von der Mondscheibe ganze Scharen kleiner Engel sich loslösten; wie goldene Bienchen schwebten sie auf den Mondstrahlen bis zu ihr heran, und während dieselben um sie herumschwärmten, sangen sie mit lieblichen Stimmchen:

»Du armes müdes Mädchen, Friede sei mit dir! Du armer, kranker Vogel, Friede sei mit dir! Du geduldige, stille Feldblume, Friede sei mit dir!«

Dabei ließen sie weiße Lilienblüten und kleine Anemonen auf sie herniederfallen, die ihr ein Schlummerlied läuteten:

»Schlaf ein, Mädchen, schlaf ein!«

Ihr wurde so wohl zu Mute, so still und friedlich, daß sie wirklich bald einschlief.

So verging der Rest der Nacht; es fing an zu tagen. Das Wasser nahm wieder seine Silberfarbe an, die Masten und Schornsteine tauchten allmählich immer deutlicher aus dem Grau der Dämmerung hervor, sie schienen mit jeder Minute näher zu kommen. Lorenz war neben seiner Tochter niedergekniet und hatte sich über sie gebeugt.

Er glaubte, sie sei gestorben. Ihre schlanke Gestalt lag unbeweglich, die Augen hatten sich geschlossen, das blasse Gesicht hatte einen bläulichen Schimmer und sah in seiner starren Ruhe aus, wie das einer Toten. Der Alte rüttelte sie am Arme, aber sie regte sich nicht. Lorenz meinte, auch er werde sterben, wenn sie tot sei. Eine ängstliche Hast überfiel ihn; er legte seine Hand auf ihren Mund und machte die Wahrnehmung, daß sie atmete. Das Herz schlug, aber sehr schwach. Der Alte verhehlte sich nicht, daß der Tod jeden Augenblick eintreten konnte. Wenn der Tag ein klarer wurde und die Sonne den erstarrten Körper erwärmte, so war zu hoffen, daß sie wieder zum Leben erwachte, sonst nicht.

Die Möven waren auch schon munter; sie kamen herbeigeflogen, sie umkreisten den Alten und sein Kind, als trügen sie Sorge um beide. Einige ließen sich in der Nähe nieder. Frischer Thau tropfe langsam nieder und wurde schnell von dem Westwind aufgesogen, welcher lau und voll wonniger Düfte über das Meer zu ihnen herüberstrich.

Dann ging die Sonne auf. Ihre ersten Strahlen streiften die höchsten Spitzen des Gerüstes: allmählich kamen sie tiefer herab, warfen erst einzelne Streiflichter auf die Gestalt Maryscha's, zuletzt fielen sie voll auf das bleiche, totenähnliche Antlitz. Sie schienen es zu küssen, umschmeichelten sanft die kalten Wangen des Mädchens, welches mit dem aufgelösten Haar und dem friedlichen Ausdruck in den Zügen aussah, wie ein Engel. Sie war ja auch wirklich ein Engel voll Güte und Sanftmut.

Herrlich stieg der Tag aus dem Meere empor; die Sonne sandte immer wärmere Strahlen aus, die laue Luft schien dem kranken Mädchen Leben einhauchen zu wollen, er kräuselte mitleidig ihr Haar und die Möven umkreisten sie krächzend, als wollten sie sie wach rufen. Lorenz zog seinen Rock aus und hüllte sie damit ein; er fing an zu hoffen.

Allmählich schien der Puls lebhafter zu werden, der blaue Schimmer im Gesicht verlor sich und machte einer leisen Röte Platz. Einmal lächelte sie wie im Traum, endlich schlug sie die Augen auf. Da Lorenz das wahrnahm, kniete er nieder, faltete die Hände und während er die Augen zum Himmel aufschlug und still betete, floßen Thränenströme über seine runzeligen Wangen. In dieser Stunde wurde er sich bewußt, wie sehr dieses Mädchen sein Augapfel, die Seele seiner Seele, etwas über alles Geliebtes war; seine Tochter.

Nun war sie ihm wiedergeschenkt; sie war erwacht zu neuem Leben und nicht das allein, sie fühlte sich auch gesünder und frischer als gestern, denn die verpestete Luft in jener Kammer hatte an ihr gezehrt, während die frische Seeluft sie stärkte. Auch das Lebensbedürfnis war wieder in ihr erwacht. Sie setzte sich auf und sprach:

»Ich bin hungerig, Vater!«

»Komm, wir wollen hinunter an das Wasser gehen, vielleicht wirft es etwas Eßbares für uns ab.«

Mit diesen Worten half Toporek seiner Tochter sich aufzurichten. Ohne allzugroße Schwäche erhob sie sich, dann stiegen sie hinunter. Während sie den Gang des Gerüstes durchschritten, sah Toporek plötzlich dicht neben sich etwas in ein Tuch eingewickelt, zwischen zwei Balken eingeklemmt liegen. Als er das Tuch auseinanderfaltete fand er darin einen Laib Brod, etwas gekochte Maiskörner und ein Stück gesalzenes Fleisch. Jedenfalls hatte einer der Hafenarbeiter gestern seine Ration für heute hier zurückgelassen; die Arbeiter haben die Gewohnheit das öfter zu thun. Lorenz und Maryscha hegten andere Gedanken über den kostbaren Fund. – Wer Anders konnte Lebensmittel auf jene Stelle gebracht haben, als Derjenige, welcher die Blumen des Feldes, die Vögel in der Luft und die Ameisen im Walde speist!

»Gott!«

Sie beteten das Morgengebet, aßen sich satt und gingen am Wasser entlang bis zu den Hauptdocks. Ihre Kräfte belebten sich nach der Sättigung und in der frischen Luft. Als sie das Zollhaus erreicht hatten, wandten sie sich aufwärts, gingen die Waterstreet entlang nach dem Broadway. Mit einigen Ruhepausen waren auf dieser Wanderung ein paar Stunden vergangen, denn der Weg war weit. Wenn sie müde waren, setzten sie sich auf umherliegende Holzstöße, oder Gepäckstücke. Ziellos gingen sie immer weiter. Ein unbestimmbares Gefühl trieb Maryscha vorwärts der Stadt zu. Sie begegneten auf dem Wege dorthin einer Menge schwerbeladener Wagen, die alle dem Hafen zurollten. In der Waterstreet war es schon sehr lebendig. Aus geöffneten Thorbögen traten Menschen und eilten ihren gewohnten Beschäftigungen nach. In einem dieser Thorbogen erblickten sie jetzt einen großen älteren Herrn mit großem Schnurrbart, welcher einen Knaben von etwa 15 Jahren neben sich hatte. Im Heraustreten war sein Blick auf Maryscha und Lorenz gefallen. Er schien aufmerksam ihre Kleider zu mustern. Man konnte deutlich sehen, daß er sich über das Fremdländische derselben wunderte; sein Schnurrbart zuckte wiederholt, ein Zug von Rührung ging über das schöne Gesicht des alten Herrn. Er betrachtete sie noch eingehender, trat nahe an sie heran und lächelte.

Ein Gesicht, welches sie freundlich anlachte hier – in New-York – das erschien dem Vater und der Tochter so wunderbar, daß sie verdutzt stehen blieben.

Der Herr blieb auch stehen und frug nun im reinen Polnisch:

»Woher seid ihr Leute?«

Als hätte der Blitz sie getroffen, so zuckten beide zusammen bei dem vertrauten Klange der Muttersprache. Lorenz wurde kreideweiß, als hätte man ihn auf einem Verbrechen ertappt. Maryscha faßte sich eher, umfaßte sogleich die Kniee des Herrn und sagte:

»Wir sind aus der Provinz Posen, Erlaucht! aus der Provinz Posen.«

»Was thut Ihr hier?«

»Wir leben in Not und sind schon bald elend verhungert, teurer Herr!«

Maryscha konnte die Thränen nicht länger zurückdrängen und Lorenz fiel weinend dem alten Herrn zu Füßen. Er küßte den Rockzipfel desselben und hielt ihn fest, als ob sein Wohl und Wehe daran hinge.

War sein Träger doch ein Herr, ein wirklicher Herr und noch dazu ein polnischer. Der würde sie nicht Hungers sterben lassen, er würde sie retten aus dem Elend.

Der junge Herr, welchen der Alte bei sich hatte, riß vor Staunen die Augen weit auf: bald sammelte sich eine Menge Menschen an, welche mit offenem Munde gaffend stehen blieben, um zu sehen wie der fremde arme Mann vor dem Amerikaner kniete und seinen Rockzipfel küßte. Das war in Amerika ein niegesehener Anblick. Der alte Herr aber trat scheltend an die Gaffer heran und trieb sie auseinander.

Dann aber wandte er sich zu Lorenz und Maryscha:

»Wir wollen nicht auf der Straße bleiben,« sagte er, »kommt mit mir.«

Er führte sie nach dem nächsten bar-room, ließ dort ein Separatzimmer öffnen und trat mit ihnen ein.

Wieder wollten sie ihm zu Füßen fallen, aber er wehrte, ihnen indem er sagte:

»Laßt das Leute! Wir sind ja Landsleute, aus derselben Provinz, von einer Mutter Erde . . .«

Es schien, daß der Rauch der Zigarre, welche er rauchte, ihn in die Augen zwickte, denn er fuhr sich mit der Hand über dieselben, als wollte er etwas wegwischen.

»Seid Ihr hungrig?« frug er dann.

»Wir haben seit zwei Tagen nichts genossen als das, was wir heute morgen auf dem Gerüst gefunden.«

»William!« sagte der alte Herr zu seinem Sohne, »bestelle etwas zu essen für sie.«

Hierauf frug er weiter:

»Wo wohnt ihr?«

»Nirgends, Erlauchter Herr! Wir sind obdachlos.«

»Wo habt ihr geschlafen?«

»Auf dem Gerüst am Wasser.«

»Man hat Euch also vor die Thüre gesetzt?«

»Ja, der Wirt hat uns 'rausgeworfen, weil wir die Miete nicht zahlen konnten.«

»Habt Ihr noch Sachen außer denen die ihr tragt?«

»Nein! Wir haben nichts mehr.«

»Habt Ihr noch Geld?«

»Auch das nicht«, antwortete Lorenz.

»Was gedenkt ihr nun zu thun?«

»Wir wissen es noch nicht, Herr!«

Der alte Herr hatte die Fragen schnell nach einander an beide zugleich gerichtet.

Jetzt wandte er sich fast etwas barsch direkt an Maryscha:

»Wie alt bist Du Mädchen?« frug er sie.

»Ich vollende achtzehn auf Maria Geburt«, antwortete sie.

»Du hast viel gelitten? Man sieht es Dir an.«

Sie antwortete nicht mehr und schlug die Lider verlegen zu Boden.

Der alte Herr fuhr sich wieder über die Augen.

Der Kellner brachte jetzt warmes Fleisch und Bier. Der alte Herr nötigte seine Gäste tüchtig zuzulangen und es sich gut schmecken zu lassen. Lorenz zierte sich und meinte, daß es sich für sie nicht schicke, an einem Tisch mit ihm zu sitzen und zu essen, er aber schalt und nannte sie dumm, wenn sie es nicht thun wollten. Sein Schelten benahm ihm aber in ihren Augen nichts von seiner Güte, er erschien ihnen, wie ein Engel vom Himmel.

Während sie aßen sah er ihnen zu, freute sich über ihren Appetit, und nachdem sie gesättigt waren, ließ er sich von Lorenz erzählen, was ihn zur Auswanderung bewogen, und welche Schicksale sie bisher durchgemacht hatten.

Der Alte erzählte wahrheitsgetreu, er verheimlichte, oder beschönigte nichts. Der alte Herr kanzelte ihn tüchtig herunter, wo er unrecht gehandelt hatte, redete ihm tröstlich zu, wo Lorenz verzweiflungsvoll klagte, als er ihm aber die Scenen der vergangenen Nacht berichtete, wie er sein Kind hatte ertränken wollen, da fuhr der alte Herr zornig auf und rief:

»Du verdienst, daß man Dir das Fell über die Ohren zieht, Alter!« Dann wandte er sich zu Maryscha, nahm ihren Kopf zwischen seine beiden Hände und küßte sie auf die Stirne.

»Armes Mädchen!« sagte er, ihr die Wangen streichelnd.

Nachdem er eine Weile schweigend überlegt hatte, fuhr er fort:

»Ihr habt viel Kummer und Elend durchgemacht, aber das Land hier ist nicht schlecht, man muß nur verstehen etwas anzufangen.«

Lorenz sah seinen Wohlthäter erstaunt an. Dieser kluge, edle Mann nannte Amerika ein gutes Land.

»Das ist es auch, Du Dummkopf,« sprach der Herr weiter, als er das erstaunte Gesicht Toporeks sah, »es ist wirklich ein gutes Land. Als ich vor Jahren hierher kam, besaß ich nichts, jetzt bin ich ein wohlhabender Mann. Ihr Bauern aber solltet nicht auswandern, Ihr sollt daheim Eueren Acker bebauen, anstatt Euch in der Welt umherzutreiben. Dort fehlt Ihr, denn Ihr seid in der Heimat notwendig, hier gibt es nichts für Euch zu holen. Das Herüberkommen ist nicht schwer, zurück aber könnt Ihr nicht mehr, die meisten von Euch gehen hier zu Grunde.«

Wie im Selbstgespräch fuhr er dann fort:

»Ich bin nun schon einige vierzig Jahre hier ansässig und habe viel von dem vergessen, was in der Heimat Brauch und Sitte ist. Vieles mag sich seitdem wohl auch geändert haben, dennoch packt mich das Heimweh oft gewaltig. Nicht wahr, William, Du mußt dorthin fahren, wo die Wiege Deiner Väter gestanden hat, wo sie gelebt und gewirkt haben. – Das hier ist mein Sohn!« unterbrach er sich, den Knaben seinen Landsleuten vorstellend. – »William, Du mußt hin, um eine Handvoll heimatlicher Erde zu holen für mich als Ruhekissen in den Sarg, nicht wahr?«

»Ja Vater!« antwortete der Angeredete in englischer Sprache.

»Auch auf die Brust eine Handvoll, hörst Du?«

»Ja Vater.«

Die Augen standen dem alten Herrn voll Thränen. Um seine Rührung zu verbergen, sprach er im Polterton weiter:

»Der Bengel versteht ganz gut polnisch, aber er spricht lieber englisch. Das ist nun aber nicht anders. Wer hierher über das Meer vom Schicksal verschlagen wird, der ist verloren für die Heimat für immer. Geh' William, sage Deiner Schwester, daß wir Mittagsgäste bekommen. Sie soll auch ein Gastzimmer für die Nacht herrichten lassen.«

Der Knabe eilte hastig davon. Der alte Herr aber versank in tiefes Nachdenken, in welchem seine Gäste ihn nicht zu stören wagten. Nach längerer Zeit fing er wieder wie im Selbstgespräch zu reden an:

»Wenn ich sie auch zurückschicken wollte, so hätte das keinen Zweck. Die Reisekosten sind nicht unbeträchtlich und was sollten sie zudem ohne Mittel in der Heimat anfangen. Wer weiß, was dem Mädchen alles begegnen kann, wenn sie hier Dienste nimmt, das ist nicht, wie daheim. Wenn sie einmal hier sind, wollen wir es doch mit der Arbeit versuchen, vielleicht bringen sie es zu etwas. Das Mädchen findet im Handumdrehen einen Mann, wenn sie nach einer unserer Ansiedelungen kommt. Vielleicht erwerben beide so viel, daß sie dann nach Europa zurückkehren und den Alten mitnehmen können, wenn sie nicht vorziehen, hier zu bleiben.«

Plötzlich wandte er sich an Lorenz:

»Hast Du von unseren Ansiedlungen hier in Amerika gehört?«

»Nein, ich weiß nichts davon,« antwortete der Alte.

»Erbarmt Euch Menschen!« rief da der Herr aus. »Ist es denn möglich? Ihr verlaßt die sichere Heimat, zieht in die unbekannte Ferne, ohne jemanden zu fragen, wie man dort lebt, wie man sein Fortkommen finden kann? Und da wundert Ihr Euch, daß Ihr hier zu Grunde geht? In Chicago gibt es solche wie Du, an zwanzigtausend, ebenso in Milwaukee; auch in Buffalo und Detroit sind viele Polen. Sie arbeiten alle in Fabriken, aber das ist nicht ihr rechtes Feld. Das Lebenselement des Bauern ist und bleibt der Ackerbau. Ich möchte Euch nach Illinois oder nach Radom schicken, hm! Dort ist nur der Acker schon rar geworden. Jetzt heißt es, die Polen wollen eine neue Provinz mit einer Hauptstadt Posen in Nebrasca anlegen, aber dahin ist es sehr weit, das Reisegeld kostet zu viel. Die Kolonie Santa Maria in Texas liegt ebenfalls sehr entfernt. In Borowina am Mississipi wäre noch die beste Aussicht für Euer Fortkommen, umsomehr, da ich in der Lage bin, Euch dorthin einen Freifahrtschein auszustellen und das Geld, was sonst für die Reise ausgegeben werden müßte, Euch zur Einrichtung bleiben würde.«

Er überlegte noch längere Zeit. Plötzlich sagte er:

»Höre Alter! In Arkansas soll eine neue Ansiedelung von Polen gegründet werden, der man den Namen Borowina geben will. Das Land ist sehr schön, das Klima warm, aber arm an Bevölkerung. Du wirst dort hundertsechzig Morgen Wald von der Regierung umsonst erhalten; der Bahnverwaltung bezahlst Du eine Kleinigkeit – verstehst Du? Die Fahrscheine will ich Dir geben, ebenso etwas für den Anfang zur Einrichtung. Ihr fahrt also bis zur Stadt Little-Rock mit der Eisenbahn, von da aus werdet Ihr einen Wagen nehmen müssen. Dort werdet Ihr Menschen finden, die auch dorthin wollen, Ihr könnt also mit ihnen zusammen weiterreisen. Außerdem werde ich Euch Empfehlungsbriefe mitgeben. Ich will Euch helfen, so gut ich kann, weil ich Euer Landsmann bin. Deine Tochter bedauere ich hundertmal mehr als Dich, verstehst Du? Ihr könnt Gott danken, daß Ihr mich gefunden habt.«

Hier wurde seine Stimme weich.

»Höre nun Du mich aufmerksam an, Kind«, wandte er sich an Maryscha. »Hier hast Du meine Visitenkarte, die verwahre gut. Sollte jemals Not Dich heimsuchen, oder Du allein und schutzlos in der Welt bleiben, so suche mich auf. Du bist ein armes, gutes Kind. Sollte ich inzwischen gestorben sein, dann wird William für Dich sorgen. Nun kommt mit mir«.

Unterwegs kaufte er ihnen Wäsche und Kleider, dann führte er sie in seine Wohnung, um sie dort als seine Gäste zu behalten bis zu ihrer Abreise. Sie waren alle gute Menschen, denn auch William und seine Schwester Jenny behandelten Lorenz und Maryscha so liebevoll, als wären sie Verwandte von ihnen. William, der schon begann, den Herrn herauszukehren, behandelte Maryscha sogar galant und sagte ihr Artigkeiten, wie einer Lady, was ihr der Verlegenheit Röte in das Gesicht trieb. Am Abend bekam Fräulein Jenny Besuch von mehreren schön gekleideten jungen Damen, welche sehr hübsch aussahen und sehr gut waren. Sie nahmen Maryscha in ihre Mitte, bedauerten sie, weil sie so bleich aussah, flüsterten einander zu, wie schön sie sei und wie sie ihnen gefalle, dabei lachten sie herzlich, wenn Maryscha nach ihrer Gewohnheit ihnen die Kniee umfaßte und die Hände küßte.

Der alte Herr blieb mit den jungen Leuten zusammen. Er hielt Selbstgespräche, murmelte zuweilen kopfschüttelnd vor sich hin, dann wieder schien er zornig zu sein, zwischendurch plauderte er bald englisch, bald polnisch, unterhielt sich mit Maryscha und Lorenz von alten vergangenen Zeiten, von den Ereignissen im Vaterland, erinnerte sich an Mancherlei, was er erlebt hatte und mußte oft nach den von der Rührung feuchten Augen langen, um sie zu trocknen.

Als dann die Zeit kam, wo alle zur Ruhe gingen, da konnte sich Maryscha der Thränen nicht erwehren, als sie sah, wie Fräulein Jenny mit eigenen Händen ihr das Lager zurecht machte. O, wie gut waren doch diese Menschen! Das war aber kein Wunder, denn sie waren ja Landsleute aus derselben Provinz.

Am dritten Tage darauf befanden sich Lorenz und Maryscha schon auf dem Wege nach Little-Rock. Der Bauer fühlte sich reich mit den hundert Dollars in der Tasche, die ihm sein Wohlthäter geschenkt, und Maryscha fühlte sich geborgen in dem Bewußtsein, daß Gottes Barmherzigkeit sie behütete, daß seine Hand sie führen und nicht verderben lassen würde, ja sie glaubte heute mehr denn je, daß der, welcher sie aus der höchsten Not gerettet, auch Jaschu sicher zu ihr geleiten und ihnen beiden helfen werde, wieder nach Lipiniez zurückzukehren.

Der Eisenbahnzug hatte schon eine beträchtliche Wegstrecke zurückgelegt. Sie waren an Farmen und Landstädten vorübergekommen. Hier war es ganz anders als in New-York. Hier war die Luft reiner, Büsche, Felder und kleine Häuschen, um welche Obstbaumgruppen standen, ganze Flächen Ackerfurchen, auf denen die Saat grünte, ganz wie daheim. Das Herz ging dem alten Lorenz auf, ihm wurde so fröhlich zu Mute, daß er am liebsten laut aufgejauchzt hätte: »o, ihr Wälder, ihr grünen Felder!« Auf den Wiesen weideten Schaf- und Rinderherden und in den Gehölzen sah man Männer mit Aexten arbeiten.

Allmählich wurde die Gegend stiller, öder. Die Farmen kamen immer vereinzelter zu Gesicht, das Land wurde zur weiten, offenen Steppe. Hohe Gräser und Steppenblumen wogten vom Winde bewegt hin und her, stellenweise schlängelten sich wie goldene Bänder Streifen durch das Grasmeer, die nur mit tausenden goldigen Blüten bedeckt waren; das waren die ehemaligen Steppenstraßen, auf welchen die rollenden Wagenräder den Graswuchs zerstört hatten. Meterhohe Königskerzen, Koloquinten und stachelige Disteln nickten im Winde, als wollten sie die Vorüberfahrenden grüßen. Steppenaare kreisten mit weitgespreizten Flügeln über der endlosen Fläche und suchten spähend im tiefen Grase nach Beute.

Der Zug raste vorwärts, als könne er nicht früh genug an seinem Ziele anlangen. Von den Fenstern der Wagen aus, konnte man ganze Herden Hasen und kleine Präriehunde sehen, die sich friedlich miteinander vertrugen. Seltener sah man das Geweih und den Kopf eines Hirsches über den Gräsern auftauchen. Nirgends ein Kirchturm, ein Haus, eine Stadt, ein Dorf, die Stationen nur vereinzelt und auch in ihrer Nähe keine Spur von menschlichen Ansiedelungen.

Lorenz sah das alles und schüttelte ein über das andere Mal verwundert den Kopf, daß so viel »teueres Gut«, wie er die Prärie nannte, unbebaut dalag.

So fuhren sie einen Tag und eine Nacht. Am Morgen des nächsten Tages kamen sie in den Urwald. Die Baumriesen waren von Schlingpflanzen umrankt, die so dicht und so dick waren wie die Arme eines Menschen. Ihre Ranken zogen sich von Baum zu Baum, so daß der Wald undurchdringlich dicht schien. Unbekannte Vögel flatterten und hüpften in diesem Dickicht umher; einmal war es den Reisenden so, als hätten sie im Vorübersausen, zwischen dem Gehölz Reiter gesehen, mit bunten Federbüschen auf den Köpfen und kupferfarbenen Gesichtern, die wie poliert glänzten.

Lange hatten unsere Reisenden stillschweigend diese Wunder der Urwälder betrachtet, ohne ihrer Verwunderung laut Ausdruck zu geben. Endlich brach Lorenz das Schweigen, indem er in seiner gewohnten Weise kurz frug:

»Marysch!«

»Was wollt Ihr, Vater?«

»Siehst Du?«

»Ja, ich sehe!«

»Und wunderst Du Dich?«

»Freilich wundere ich mich.«

Zuletzt fuhren sie über die Brücke eines Flusses, welcher drei Mal so breit war als die Warthe und dessen Namen sie erst später erfuhren; es war der Mississipi. Spät in der Nacht erreichten sie ihr vorläufiges Ziel, Little-Rock.

Dort mußten sie erst den weiteren Weg nach Borowina erfragen.

Verlassen wir Lorenz und Maryscha einstweilen. Der zweite Teil ihrer Jagd nach dem Glück geht hier zu Ende.

* * *

Drittes Kapitel.
Das Ansiedlerleben.

Was ist Borowina? Eine Ansiedelung die erst entstehen soll. Man hatte einen Namen für sie ersonnen, noch ehe sie existierte, wahrscheinlich von dem Grundsatze ausgehend, daß, wo erst ein Name sei, sich auch die Sache dazu finden werde.

Die polnischen und englischen Zeitungen in New-York, Chicago, Buffolo, Detroit, Milwaukee, Manitovok, Denver, Calumet, mit einem Wort überall dort, wo man polnisch sprechen hörte, hatten Bekanntmachungen folgenden Wortlautes gebracht:

»Allen hierorts im allgemeinen, besonders aber den polnischen Ansiedlern sei bekannt gemacht, daß wer gesund sein, reich und glücklich werden, gut essen, lange leben und nach dem Tode selig werden will, der zeichne einen Teil an dem Unternehmen, eine neue Ansiedelung zu gründen in dem Paradiese dieses Weltteils, genannt Borowina in Arkansas, dem zwar noch urbar zu machenden, aber schönsten und gesündesten Stück Erde. Zwar ist die Stadt Memphis jenseits des Mississipi eine Brutstätte des gelben Fiebers, aber nach sicheren Mitteilungen kann weder das gelbe noch ein anderes Fieber einen so breiten Strom passieren, als der Mississipi ist. Es ist auch deshalb noch nicht bis an die oberen Ufer des Flusses Arkansas vorgedrungen, weil die benachbarten Chowtak Indianer es unbarmherzig skalpieren würden, so bald es sich sehen ließe.«

»Das Fieber zittert beim Anblick einer Rothaut, weshalb die neuen Ansiedler in Borowina das Vergnügen haben werden, zwischen dem Fieber im Osten und den Rothäuten im Westen, auf völlig neutralem Gebiete zu wohnen, denn die Indianer fürchten das Fieber ebenso sehr, als sie von ihm gefürchtet werden, daher sich beide geflissentlich aus dem Wege gehen. Borowina hat eine große Zukunft; es wird in tausend Jahren eine nach Millionen zählende Einwohnerschaft haben und der Acker Land, welcher gegenwärtig für einen halben Dollar zu erstehen ist, wird nach Ablauf dieser Zeit zu Bauplätzen im Preise bis zu tausend Dollar für den Quadratmeter verkauft werden.«

Es war schwer solchen Lockungen zu widerstehen. Denjenigen, welche dennoch Bedenken trugen in so naher Nachbarschaft mit den Chowtak's zu wohnen, wurde zugesichert, daß dieser tapfere Indianerstamm gerade den Polen große Sympathieen entgegenbringe und ihre Beziehungen die denkbar angenehmsten zu werden versprechen. Zudem war genügend bekannt, daß, wo die Eisenbahn mit ihren Telegraphenstangen in Gestalt von Kreuzen ihren Weg sich legt, diese Stangen sehr bald die Grabdenkmäler auf den Gräbern der Indianer werden. Da nun das Land bis Borowina von der Eisenbahnverwaltung bereits angekauft war, so blieb das Verschwinden der Indianer nur eine Frage der Zeit.

Das Land war wirklich schon zur Anlegung einer Bahnstrecke angekauft, ein Umstand, welcher der neuen Ansiedelung die Verbindung mit der Außenwelt, den Handelsplätzen in sichere Aussicht stellte, sowie das Verkehrsmittel zur Verwertung der zu erwerbenden und zu erwartenden Produkte. Die Zeitungen hatten nur vergessen, in der Bekanntmachung zu sagen, daß der Bau der Bahnlinie erst projektiert sei und daß die Verwirklichung des Projektes ganz von der Zahl der von der Direktion zu verkaufenden Parzellen abhänge, deren Ertrag die Bau- und Anlagekosten decken sollten. Diese Vergeßlichkeit hatte nur einen Unterschied zur Folge, und zwar den, daß Borowina anstatt an einer Verkehrslinie zu liegen, in einer Wildniß liegen mußte, zu welcher der Zugang nur mittels Wagen unter sehr schwierigen Verhältnissen stattfinden konnte. Doch die Mißverständnisse und Unbequemlichkeiten, welche aus dieser Vergeßlichkeit entstehen mußten, konnten nur von kurzer Dauer sein, d. h. nur so lange währen, bis die Bahn gebaut war.

Man wußte ja auch, daß in Amerika Bekanntmachungen nicht wörtlich genommen werden durften, denn wie jede Pflanze in diesem Lande, auf Kosten des Wohlgeschmackes der Frucht, üppig in's Kraut schießt, so treibt auch die Phantasie in der amerikanischen Reklame die unglaublichsten Auswüchse, so daß es oft schwer fällt, aus dem rhetorischen Ueberschwang das Korn Wahrheit herauszufinden, das er enthält. Abgesehen aber von allem, was in den Bekanntmachungen über Borowina sogenannter humbug war, konnte immerhin angenommen werden, daß die Anlage der Ansiedelung nicht unter schwierigeren Verhältnissen zu bewerkstelligen sein würde, als diejenige tausend anderer, die gleich überschwänglich angekündigt worden waren.

Da die Bedingungen verhältnismäßig günstige gewesen sind, so konnte es nicht fehlen, daß eine Menge Personen, ja ganze polnische Familien, welche in allen Staaten Nordamerikas zerstreut waren, von den großen Seen, bis hinunter nach Florida, vom atlantischen Ozean bis Kalifornien sich an der neu zu erstehenden Ansiedelung beteiligen wollten.

Masuren aus Ostpreußen, Schlesier, Posener Auswanderer, galizische Bauern, Lithauer und Warschauer Masuren, welche in den Fabriken Chicago's und Milwaukee's arbeiteten, alle diejenigen, welche sich längst nach der Arbeit und den Gewohnheiten des Bauernstandes sehnten, beeilten sich, die Gelegenheit zu ergreifen, um den rauchigen Städten und der ungesunden Fabrikarbeit den Rücken zu kehren und zu Pflug und Axt zu greifen, um im schönen Arkansas Wald und Land zu bearbeiten. Der Beiname des Staates Arkansas »Bloody-Arkansas«, das heißt »blutiges«, schreckte nicht zu viele von der Beteiligung zurück. In Wahrheit besteht die Bevölkerung des Landes dort nur aus raubgierigen Indianern, Räubern, die sich durch Flucht dem Urteil des Gesetzes entzogen, aus verwilderten Squaters, welche entgegen dem Verbot der Regierung am Red-River die Waldungen ausholzten, aus Abenteuerern und Verbrechern, die dem Galgen entronnen. Der westliche Teil des Staates Arkansas ist bis auf den heutigen Tag noch viel genannt, wegen der blutigen Zusammenstöße der Indianer mit den weißen Jägern auf den Büffeljagden, und des schrecklichen Lynchgerichtes wegen, welches dort noch geübt wird.

Das alles aber schreckte die Bewerber nicht ab. Wenn der Masure eine Axt in der Hand hat, dazu von jeder Seite noch einen, und im Rücken auch einen Masuren, dann nimmt er es mit jedem und allem auf. Er schreit einem jeden, der ihm in den Weg kommt sein »Platz da!« zu und haut gleich d'rein, wenn der andere nicht Folge leistet.

Der Hauptsammelpunkt der Auswanderer war die Stadt Little-Rock. Von Little-Rock bis Clarcsville, der nächsten Ansiedelung von Borowina aus, war es etwas weiter als von Warschau nach Krakau und das schlimmste war, daß der Weg dahin durch wüstes Land, durch fast unpassierbare Wälder und über aus ihren Ufern getretene Flüsse ging. Etliche der Auswanderer, die nicht bis zum Aufbruch der ganzen Karawane warten wollten, traten allein die Reise nach Clarcsville an und blieben verschollen. Die Karawane war eben jetzt glücklich in Borowina angekommen, und hatte sich nun im Walde gelagert.

Die Auswanderer fühlten sich sämtlich sehr enttäuscht, als sie an Ort und Stelle angekommen waren. Sie hatten erwartet, Ländereien und Wald vorzufinden und hofften, sogleich mit der Bearbeitung des Ackers beginnen zu können. Statt dessen fanden sie nur dichten Urwald, welcher erst gerodet werden mußte, um ein freies Fleckchen zu gewinnen. Schwarze Eichen, Rotholz, Baumwollenbäume, Platanen und düstere Zypressen, alle dicht nebeneinander, eine formlose Masse bildend. Das war nicht zum Freuen, nicht zum Lachen. Dichtes Buschwerk bildete das Unterholz, Lianen rankten sich von Baum zu Baum, von Ast zu Ast so dicht, daß sie nicht von einander zu trennen waren. Kreuz und quer zogen sich die Ranken bis hoch hinauf in die Wipfel der höchsten Bäume, so daß kein Durchblick gestattet war, kein Lichtstrahl, kein Sonnenfunke in diese Wildnis dringen konnte. Das war kein offener Wald, wie die Wälder der heimatlichen Erde; hierhinein konnte niemand gehen. Wer da hineindringen wollte, der lief Gefahr, sich zu verirren oder von wilden Tieren zerrissen, oder von sonst was getötet zu werden. Einer und der andere der Masuren sah mit prüfendem Blick seine arbeitgewohnten Hände, seine scharfe Axt an und ließ dann den Blick hinüberschweifen zu der Wildnis mit der stummen Frage im Auge: »Werden wir euch zwingen, ihr Riesen, wer von uns wird der Stärkere sein?« Und der Mut sank ihnen, denn wie sollten sie diese Eichen fällen, deren schwächste einen Umfang von mehreren Metern hatte?

Es ist etwas schönes um den Besitz eines Stückes Wald, der uns das Material zum Aufbau eines Hauses liefert, uns Holz gibt, im Winter unsere Oefen zu heizen. Unmöglich aber ist es für einen einzelnen, die Baumriesen hier auf einer Fläche von hundertsechzig Morgen auszuroden, die Wurzelstöcke aus der Erde zu heben und den Boden zu ebnen, um ihn dann erst für die Einsaat zu bearbeiten. Dazu ist eine Reihe von Jahren erforderlich.

So ähnlich waren wohl die Gedanken aller, die hier angekommen waren, Güter, Reichtümer und Glück zu erjagen. Da es aber sonst nichts zu thun gab, so faßten einzelne kurz entschlossen ihre Axt, bekreuzten sich fromm und gingen an's Werk. Unter Aechzen und Stöhnen fielen die ersten Schläge und von da ab konnte man täglich die dumpfen Schläge der Aexte in dem Urwalde von Arkansas hören, zuweilen auch tönten die Melodieen polnischer Lieder dazwischen, die der Luftzug, in lang gezogenen Tönen, weit in die Ferne trug:

»Kam der Michel her den Weg
Von dem Herrenhofe,
Und vom Felde her den Steg
Wohl der Herrin Zofe.
Bat der Michel sie gar schön,
Komm, laß uns zum Walde geh'n.«

Das Lager der Auswanderer stand an einem Bache, auf einem ziemlich geräumigen Plane, um dessen Rand im Quadrat die Wohnhäuser, mit der Zeit dann in der Mitte eine Kirche und ein Schulhaus erbaut werden sollten. Da bis zur Fertigstellung der Wohnhäuser wohl noch einige Zeit vergehen konnte, so nahmen inzwischen die Wagen die Stelle derselben ein, aus welchen die Ansiedlerfamilien angekommen waren. Man hatte sie in einem rechten Winkel aufgestellt, damit sie im Falle eines Ueberfalles gleich als Schutzwall und kleine Festung dienen konnten. Hinter den Wagen, auf dem übrigen freien Platze, liefen die Maulesel, Pferde, Kühe und Schafe frei herum. Aus den jüngsten männlichen Gliedern der Ansiedler hatte man Wächter für die Herden angestellt, welche auch sonst das Lager zu bewachen hatten. Die Menschen schliefen in den Wagen, zum Teil auch im Freien an Lagerfeuern.

Tagsüber befanden sich nur Frauen und Kinder im Lager. Die Anwesenheit der Männer verriet sich nur durch die dumpfen Schläge der Aexte, von welchen der Wald widerhallte. Nachts hörte man das Geheul der wilden Tiere aus dem Dickicht, besonders das der Steppenwölfe, der Jaguare und Hyänen. Häßliche graue Bären, welche den Schein des Feuers weniger fürchten als andere Tiere, kamen bis dicht an die Wagen, weshalb die nächtliche Ruhe oft durch Flintenschüsse und die Rufe: »Helft, schlagt die Bestie nieder!« unterbrochen wurde. Diejenigen Männer, die aus Texas herübergekommen waren, waren meist sehr geschickte Jäger und sie waren es auch, welche mit Leichtigkeit sich und ihren Familien Wildbraten verschafften, namentlich das Fleisch der Antilopen, Hirsche und Büffel, denn gerade jetzt hatten diese Tiergattungen ihre Wanderungen vom Süden nach dem Norden angetreten.

Die anderen Ansiedler nährten sich von den Vorräten, welche sie in Little-Rock gekauft und mitgebracht oder in Clarcville erstanden hatten. Sie bestanden zumeist aus Maismehl und Salzfleisch. Außerdem wurden Schafe geschlachtet, deren jede Familie eine bestimmte Anzahl angekauft hatte.

Wenn abends um die Wagen herum die großen Feuer brannten, versammelten die jungen Leute sich, anstatt schlafen zu gehen, um dieselben zum Tanz. Einer der jungen Burschen hatte eine Geige bei sich, auf welcher er nach dem Gehör, beliebte Tanzstücke spielte, und wenn der Ton der Geige im weiten Raume allzusehr verhallte, so halfen andere nach, indem sie nach amerikanischer Weise mit Blechgefäßen dazu trommelten. Das Leben verfloß unter schwerer Arbeit lärmend und ungeregelt.

Die erste Sorge der Ansiedler war die, Wohnhäuser zu bauen: es standen auch bereits in kurzer Zeit die Umfassungswände einiger Blockhäuser auf dem Plan, welcher ganz und gar mit Spänen, Hobelspänen, Rinde und sonstigen Abfällen bedeckt war. Das Rotholz ließ sich leicht bearbeiten, nur mußte man es oft weit herholen. Einige richteten sich einstweilen Zelte aus den Plachen der Wagen her; andere, besonders unverheiratete Burschen, denen es weniger um ein Obdach zu thun war und die sich selbstzufrieden mit ihrem Mantel zudeckten, fingen an, den Erdboden umzuackern, da, wo kein Unterholz zwischen den Bäumen sich befand und die Eichen und Eisenbäume nicht so dicht standen. Zu jener Zeit wurden in den Wäldern von Arkansas zum ersten Mal die Rufe laut, mit welchen die Polen ihre Zugtiere antreiben: »Hetsch, ksobie, bysch!«

Es stürmte aber eine solche Arbeitslast auf die Ansiedler ein, daß sie thatsächlich nicht wußten, wo sie beginnen, und wo aufhören sollten. Was war wohl das Notwendigere – Häuser aufbauen, Bäume fällen, pflügen oder der Jagd nachgehen? Gleich anfangs hatte es sich herausgestellt, daß der Bevollmächtigte der Kolonisten von der Eisenbahn das Land gekauft hatte, ohne es gesehen zu haben, sonst hätte er unmöglich nur Urwald kaufen können, besonders da es leicht gewesen wäre, eine nur teilweise mit Wald bestandene Steppenfläche in gleichem Flächenmaße käuflich zu erhalten. Nun war er mit einem Beamten, einem Bevollmächtigten der Eisenbahndirektion hergekommen, um die einzelnen Parzellen zu vermessen und einem jeden das Seinige zuzuteilen. Als sie die Lage der Dinge erkannten, drehten sie sich zwei Tage lang in der Kolonie herum, ohne etwas zu thun, zankten sich tüchtig und reisten zuletzt ab unter dem Vorwande, ihre Instrumente zu holen. Dieselben wollten sie in Clarcsville zurückgelassen haben, sie kehrten aber nicht wieder nach Borowina zurück.

Bald erwies sich, daß die einen der Ansiedler mehr, die anderen weniger bezahlt hatten und was das schlimmste war, – niemand wußte, was sein war und was den anderen gehörte. Keiner konnte sagen, wo die Grenzen seines Grundstückes anfingen und wo sie aufhörten. Die Ansiedler blieben ohne jede Leitung, ohne Obrigkeit und Führer, welche ihre Angelegenheiten hätte wahrnehmen und ordnen und die ausbrechenden Streitigkeiten schlichten können. Man verstand auch nicht die Arbeit einzuteilen. Deutsche Ansiedler hätten sicherlich sich gemeinschaftlich mit vereinten Kräften an die Urbarmachung eines Teiles des Waldes gemacht; sie hätten dann zuerst Wohnungen gebaut und dann rings um dieselbe jedem vorläufig ein kleineres Stück Land zugemessen.

Die Masuren und Polen machten es anders. Sie wollten ein jeder gleich das Seinige voll und ganz zugemessen haben, jeder wollte für sich arbeiten und nur sein Haus bauen, seinen Acker bestellen und ein jeder wollte seinen Anteil dicht an dem Lagerplane, wo der Wald am wenigsten dicht war, und nahe beim Wasser haben. Daraus entstanden erst Plänkeleien, dann ernsthafte Händel, welche bald noch größere Dimensionen annahmen, als eines schönen Tages wie vom Himmel herab ein gewisser Herr Grünmanski mit einem großen Wagen erschien. In Cincinnati bei den Deutschen mochte dieser Herr kurzweg Grünmann geheißen haben. Hier in Borowina legte er diesem Namen ein ski zu, damit er polnisch klinge und der Handel besser gehe. Sein Wagen hatte eine hohe Leinwandplane; auf jeder Seite derselben leuchtete in großen schwarzen Buchstaben die Inschrift: »Saloon« und darunter etwas kleiner: »Brandy, whisky, drink«.

Wie dieser Wagen so allein in seiner ganzen Größe und Schwere den gefahrvollen Weg durch die Wildnis zwischen Clarcsville und Borowina zurückgelegt haben mochte, erschien allen rätselhaft. Wunderbar, er war unbeschädigt geblieben trotz der Steppenräuber, welche in kleinen Abteilungen die Gegend unsicher machten und vereinzelte Reisende und Fuhrwerke überfielen. Warum Herr Grünmann von den Indianern nicht skalpiert worden war, das blieb sein Geheimnis; genug, er war da und machte gleich am ersten Tage ein gutes Geschäft.

Von diesem Tage an war offener Streit unter den Ansiedlern ausgebrochen. Den tausenderlei kleinen Ursachen zu Streitigkeiten um die Teilung des Areals, das Handwerkszeug, die Schafe und um die Schlafstellen an den Lagerfeuern gesellten sich jetzt die nichtigsten Dinge. Es war da plötzlich unter den Ansiedlern ein gewisser amerikanischer Lokalpatriotismus erwacht, welcher unter dem Einfluß der Spirituosen sich zu einem ernsthaften Kampfe der Geister entwickelte. Diejenigen, welche aus den nördlichen Staaten hierher gekommen waren, lobten ihren früheren Aufenthaltsort auf Kosten der südlichen Staaten und umgekehrt. Da konnte man jenes amerikanisch-polnische Kauderwelsch hören, welches hier mit englischen Floskeln so innig verwoben war, wie anderwärts mit Worten anderer fremder Idiome, die der Pole sich gerne aneignet, wo er abgetrennt vom Vaterlande unter fremden Völkern sich aufhält.

»Zu was Ihr erst Euere südlich gelegenen Winkel lobt,« sagte ein junger Mensch aus der Gegend von Chicago. »Bei uns, in Illinois findet Ihr, wohin Ihr Euch auch wendet, die schönsten Farmen und seid Ihr mit den Braunen oder Rappen eine kleine Meile gefahren, kommt Ihr wieder zu einer Stadt. Will man eine Farm anlegen, dann braucht man nicht erst ein Stück Wald auszuroden, um das Haus bauen zu können, man kauft einfach das Bauholz. Wie steht es dagegen bei Euch?« renommierte der Bursche.

»Bei uns,« erwiderte der Gehänselte, »ist dafür eine Farm viel mehr wert, als bei Euch eine ganze Stadt voll Blockhäuser.«

»Goddam, Du beleidigst mich!« rief der erstere. »Was willst Du? Dort war ich ein syr, ich will auch hier ein syr sein und was bist Du?«

»syr« bedeutete in englischer Sprache sir; der polnische Bauer verunstaltete das Englisch durch die Aussprache.

Doch der andere ließ sich nicht einschüchtern.

»Halt's Maul!« schrie er, »oder ich nehme den szyngels oder ich tauche Dir den Kopf in das Theerfaß, damit Du das Maul voll genug kriegst, um mich in Ruhe zu lassen. Was willst Du noch?«

»Du willst mich fallisieren?«

Mit diesen Worten hatte der erste seinen Gegner an der Kehle und die Schlägerei war im Gange.

* * *

Es wurde von Tag zu Tag schlimmer in der Ansiedelung; die Menschenheerde hier glich einer Heerde Schafe ohne Hirten. Der Streit um die Feststellung der Grenze wurde immer erbitterter. Die Kämpfe erstreckten sich nicht mehr nur auf einzelne Personen, sondern es bildeten sich Parteien der verschiedenen Ansiedlergebiete, aus welchen man hierher gekommen war. Alte, erfahrene und kluge Männer gewannen zwar mit der Zeit das Uebergewicht und eine kleine Machtstellung in der Ansiedelungsgemeinde; es gelang ihnen jedoch nicht immer die Streitenden auseinander zu halten. Einigkeit, vollkommene Einigkeit herrschte nur in Stunden gemeinsamer Gefahr, und wenn z. B. indianische Spitzbuben bis dicht an die Wagen vordrangen, um einige Schafe zu stehlen, dann wandten sich alle jungen Hitzköpfe ohne Besinnung der Verfolgung zu. Man hatte das eine Mal den Dieben die Beute wieder abgejagt und eine Rothaut so kräftig durchgebläut, daß sie kurz darauf starb. An diesem Tage herrschte die schönste Eintracht im Lager, doch schon am nächsten begannen die allen Streitigkeiten wieder. Auch wenn abends nach gethaner Arbeit der Geiger zu spielen anfing, nicht zum Tanze, sondern verschiedene Liedermelodieen, welche ein jeder entweder selbst aus der alten Heimat, im Vaterlande, oder durch Ueberlieferung kannte, wurde es still im Lager. Die Männer schaarten sich um den Spieler im Kreise, der Wald rauschte die Begleitung dazu, die Feuer im Lager knisterten und warfen Funkenfontänen in die Luft. Die Köpfe der Zuhörenden senkten sich dann wohl auf die Brust, die Stirnen umdüsterten sich und die Gedanken zogen fort, weit hinüber über das Meer. Oft stand der Mond schon lange am Himmel oben und schien hernieder auf die Menschen da drunten zwischen den Bäumen des Urwaldes, die noch immer stumm dasaßen und den heimatlichen Melodieen lauschten.

Ausgenommen aber diese wenigen Stunden friedvollen Zusammenhaltens, lockerten sich die nationalen Bande, welche dieses hierher in die Wildnis verschlagene Häuflein Menschen hätten zusammen halten sollen, immer mehr; sie vermochten, verlassen von intelligenten Führern und Beratern, nicht sich selbst zu regieren.

Mitten unter diesen Ansiedlern finden wir zwei uns wohlbekannte Gestalten, – den alten Lorenz Toporek und seine Tochter Maryscha. Nachdem sie einmal nach Arkansas gekommen waren, mußten sie in Borowina das Loos der Ansiedler teilen. Es ging ihnen anfangs gut und sie befanden sich sehr wohl, denn der Wald war für sie ein weit angenehmerer Aufenthalt als das Straßenpflaster von New-York. Dort hatten sie nichts besessen. Hier besaßen sie einen Wagen, etwas Inventar, welches sie in Clarcsville billig erstanden hatten, und etwas Ackergerät. Dort hatte das Heimweh sie fast aufgezehrt, hier ließ die harte Arbeit vom Morgen bis zum Abend sehnsüchtige Gedanken nicht erst aufkommen. Lorenz rodete vom frühen Morgen an im Walde und spaltete Späne und Balken für ein Blockhaus zurecht. Das Mädchen wusch am Bach die Wäsche, unterhielt das Feuer, damit es nicht verlösche, und bereitete die Mahlzeiten. Aber trotz aller Arbeit und Mühen sahen beide, Maryscha und Lorenz, wohler aus als früher. Die Bewegung in der frischen Waldluft hatte allmählich jede Spur von Krankheit aus Maryscha's Antlitz verwischt, der warme Wind von Texas ihre Wangen gefärbt und das zarte Gesicht mit einem bräunlichen Schimmer überzogen. Die jungen Burschen von San Antonio und von den großen Seen, die sonst um jede Lappalie sich gegenseitig mit den Fäusten bedrohten, waren doch einig in der Meinung, daß Maryscha's Augen unter den flachsblonden Haaren hervorschauten wie die Kornblumen aus dem Aehrenfelde und daß sie das schönste Mädchen sei, welches sie je gesehen. Die Schönheit seiner Tochter gereichte auch dem alten Lorenz zum Segen, denn er hatte bei der Teilung sich dasjenige Stück Land und Wald genommen, wo die Bäume am wenigsten dicht standen, und niemand hatte dagegen protestiert, weil alle Burschen sofort seine Partei ergriffen. Einer oder der andere half ihm auch beim Fällen der Bäume, beim Behauen der Balken und dem Zusammenfügen derselben, und da der Alte klug genug war, um zu durchschauen, warum sie das thaten, sagte er von Zeit zu Zeit zu ihnen:

»Meine Tochter geht auf der Wiese wie eine Lilie daher, wie eine Dame und Königin. Ich werde sie nicht dem ersten besten geben, denn sie ist eine Wirtstochter; nur der soll sie haben, der mit mir schön thut und mich artig behandelt, kein anderer!«

Die jungen Burschen wußten nun, daß wer sich selbst dienen wollte, ihm dienen mußte.

Es wäre dem Alten und seiner Tochter nun thatsächlich gut gegangen, wenn für die Ansiedler auch nur im mindesten gute Aussichten gewesen wären. Leider aber wurden dieselben von Tag zu Tag schlechter. Woche um Woche verging. Rings um den Plan waren schon eine Menge Bäume gefallen, der Boden lag dicht mit Holz und Spänen bedeckt, hie und da standen schon die Wände eines Blockhauses. Doch war das, was bis jetzt gethan war, verschwindend klein zu dem, was noch gethan werden mußte. Die grüne Mauer des Waldes wich nur ganz langsam den Axthieben der Ansiedler. Diejenigen, welche sich einmal tiefer in die Wildnis gewagt hatten, brachten die Nachricht mit, daß der Wald endlos sich weiter strecke, daß sie auf Sümpfe gekommen seien, die sie hinabzuziehen gedroht, und daß sie deutlich unterirdische Wasser murmeln gehört. Andere erzählten, der Wald sei von unheimlichen Wesen bewohnt; sie hätten genau gesehen, daß Mißgestalten auf den Bäumen umherklettern, daß unförmliche Schatten, gleich Gespenstern, durch das Dickicht huschten, Schlangen unter dem Geranke zischelten und sie geheimnisvolle Stimmen flüstern gehört hätten: »Geht nicht weiter!«

Ein Bursche aus der Gegend von Chicago wollte den Teufel in eigener leibhaftiger Gestalt gesehen haben, wie er den gräulichen, zottigen Kopf aus dem Sumpfe erhoben, ihn erst angefaucht und dann auf ihn zugekommen sei, so daß er kaum noch vor Schreck zu laufen und in das Lager zu entkommen vermocht hätte. Die Ansiedler aus Texas bemühten sich vergeblich, ihm zu erklären, daß das, was er gesehen, ein Büffel war; er blieb dabei, das könne nur der Teufel gewesen sein. So halfen die Vorurteile und eine thörichte Furcht vor Gespenstern und übernatürlichen Wesen, die Lage der Ansiedler noch zu verschlimmern. Der Zufall wollte, daß zwei Vorwitzige, die den Wald einmal gründlich untersuchen wollten, nicht wieder zurückkehrten.

Einige der Männer erkrankten von der Ueberanstrengung. Sie bekamen Kreuzschmerzen, später kam das Fieber dazu. Die Streitigkeiten um »mein« und »dein« arteten zu blutigen Kämpfen aus. Wer sein Vieh nicht gezeichnet hatte, dem bestritt der andere sein Eigentumsrecht an dasselbe. Die Parteien trennten sich, man schob die Wagenburg auseinander, die Wagen standen auf dem ganzen Plane umher; alle Ordnung war aufgelöst, man bestellte keine Wächter mehr für das Lager, für das Vieh, die Schafe verliefen sich im Walde und wurden von Raubtieren gefressen. Und zu alledem mehrte sich die Gewißheit von Tag zu Tag, daß Tau und Feuchtigkeit die Menschen krank machen werde, ehe ein Sonnenstrahl die Finsternisse dieses Waldes durchbrechen konnte, daß alle Vorräte zu Ende gehen mußten, daß Hunger und Not sie aufzehren würden, ehe man so weit gekommen, um das erste Samenkorn in die Erde zu streuen.

Jeder von ihnen hätte freudig gearbeitet, wenn er sich hätte sagen können, »bis dahin bin ich am Ziele!« Keiner aber konnte sagen, das gehört mir, jenes dir, keiner aber konnte das Ende seiner Arbeit absehen. Klagen wurden laut. Man beschuldigte die Vertreter der Ansiedler bei der Regierung, daß diese sie in die Wildnis geschickt, um sie dem Verderben zu überliefern. Allmählich machten sich diejenigen, welche noch etwas Geld hatten, auf und gingen mit ihren Wagen nach Clarcsville zurück. Der größte Teil der Ansiedler hatte jedoch sein Geld bereits in das Unternehmen gesteckt; sie hatten nicht mehr die Mittel von hier fortzukommen. Diese Armen rangen verzweifelt die Hände, wenn wieder ein Wagen davonfuhr. Allmählich verstummten die Axtschläge, denn Müdigkeit und Mutlosigkeit hatte die Zurückbleibenden erfaßt; sie sahen ihrer Vernichtung entgegen.

Der Wald brauste ihnen ein Lied von Sterben und Verderben.

Eines Tages abends kam Lorenz zu seiner Tochter und sagte zu ihr:

»Ich sehe es kommen, Marysch, daß wir alle hier zu Grunde gehen, wir mit.«

»Es geschehe Gottes Wille,« entgegnete das Mädchen. »Er war uns bis jetzt mit seiner Barmherzigkeit nahe, wie sollte er uns nun verlassen.«

Während sie das sagte, richtete sie die kornblumfarbenen Augen empor zum Himmel und die hellen Sterne, welche da oben funkelten, schienen auf sie herab, so daß sie aussah, wie ein Madonnenbild.

Die Burschen aus Chicago und die Jäger aus Texas konnten ihre Blicke nicht losreißen, von ihrem Anblick. Sie riefen wie aus einem Munde:

»Auch wir werden Dich nicht verlassen, so wahr uns Gott helfe.«

Sie dachte soeben, daß in der ganzen Welt nur einer war, dem sie gefolgt wäre, bis ans Ende der Welt – Jaschu in Lipiniez. – Der aber hatte sie verlassen, obgleich er geschworen, ihr zu folgen, dahin, wo sie auch sei.

Auch ihr konnte nicht entgangen sein, wie schlimm die Dinge in der Ansiedelung standen. Gott hatte sie aber nicht verlassen, als sie in größeren Nöten sich befunden; er hatte ihr in der schrecklichsten Not ihres Lebens beigestanden. Deshalb schreckte sie so leicht nichts mehr. Sie blieb auch jetzt heiter, das Vertrauen auf die Hilfe des Allmächtigen konnte ihr nichts rauben.

Endlich auch hatte sie für den Fall höchster Not die Adresse des alten Herrn in New-York, welcher ihnen so edelmütig auf die Füße geholfen, sie hieher geschickt und ihr bei Einhändigung seiner Karte so eindringlich empfohlen hatte, sie nicht zu verlieren und sogleich zu ihm zu kommen, wenn sie sich in Not befinden sollte. Bei ihm fand sie sicher jederzeit Hilfe.

Aber es sollte noch schlimmer kommen. Es wurde immer einsamer und stiller im Lager; von denen, welche es schon verlassen hatten, drang keine Nachricht zu ihnen. Niemand wußte, ob sie glücklich in Clarcsville angekommen waren oder nicht.

Da erkrankte auch der alte Lorenz. Die übermäßige Anstrengung hatte schon jüngere niedergeworfen, wie sollte der alte Mann ihr Stand halten. Zwei Tage lang beachtete er die Schmerzen im Rücken nicht, am dritten konnte er sich nicht mehr aufrichten. Maryscha ging in den Wald, sammelte eine ganze Menge Moos und machte ihm von demselben auf eine fertig gefügte Wand zu ihrem künftigen Wohnhause, welche auf der Erde lag, ein weiches Lager zurecht, ließ ihn sich darauf legen und kochte ihm eine Arznei von Kräutern mit Whisky.

»Marysch!« stöhnte der Mann. »Der Wald hier bringt mir den Tod, Du wirst allein in der Fremde bleiben, arme Waise. Gott straft mich für die schwere Sünde, die ich auf mich geladen, denn ich habe Dich der Heimat entrissen und hieher geführt. Das Sterben wird mir schwer.«

»Vater!« antwortete das Mädchen. »Gott hätte mich gestraft, wenn ich Euch hätte allein ziehen lassen.«

»Wenn ich Dich nur nicht allein zurücklassen müßte! Wenn ich Dich noch in den Ehestand segnen könnte, mir würde das Sterben leichter werden. Marysch nimm den schwarzhaarigen Orlik zum Manne; er ist ein guter Mensch, er wird Dich nicht verlassen.«

Der »schwarze Orlik« der beste Schütze und Jäger in Texas, sank, als er die Worte des Alten hörte, in die Knie und bat:

»Ja Vater! segnet uns. Ich liebe Maryscha über alles, ich bin in den Wäldern zu Hause, sie wird bei mir nicht Not leiden dürfen.« Er sah sie dabei mit forschenden, ängstlichen Blicken an. Was sie jetzt sagen würde, mußte ihn entweder sehr glücklich, oder sehr unglücklich machen.

Maryscha kauerte sich neben dem Vater nieder, faßte seine Hand und antwortete sanft aber fest:

»Bindet mich nicht, Vater. Ihr wißt, wem ich Treue gelobt, und ihm will ich sie auch halten.

»Nein, Du wirst sie ihm nicht halten, denn ich werde ihn töten, ich werde Dich zwingen!« rief Orlik, indem er aufsprang. »Du wirst mir gehören oder keinem. Alle die hier sind dem Verderben geweiht, auch Du bist es, wenn ich Dich nicht rette.«

Doch Maryscha blieb fest.

Wie er gesagt, kam es. Das Verhängnis nahm seinen unabwendbaren Lauf. Krankheit und Not griffen immer mehr um sich, das Fieber warf immer neue Opfer auf das Krankenlager. Die Menschen fluchten und beteten zugleich, denn die Nahrungsmittel fingen an auszugehen, man mußte die Arbeitstiere schlachten, um sich vor dem Hungertode zu schützen. Wie lange aber konnte dies noch dauern, dann war man am Ende.

An einem Sonntage knieten alle, die noch gesund waren, Alte, Frauen und Kinder auf dem Plane nieder und fingen an zu singen: »Heiliger Gott! Heiliger, starker, unsterblicher Gott! erbarme dich unser!« Hundert Stimmen wiederholten die Worte, mächtig mit ergreifender Gewalt stieg der Gesang zum Himmel auf. Es schien, als wolle der Wald selbst dem Gebet der Bedrängten lauschen, denn er hatte aufgehört zu rauschen, alle Wipfel ruhten. Plötzlich, als der Gesang beendet war, fuhr ein Windstoß durch die Zweige. Es klang nach der vorangegangenen Stille wie eine Drohung aus dem Walde: »Hier bin ich König und Herr! Hier bin ich der Stärkere.«

Der »schwarze Orlik« aber, welcher die Stimmen des Waldes genau kannte, sah erstaunt auf, heftete einen langen, verwunderten Blick auf die Wipfel der Riesen, dann sagte er laut:

»So! da ist er endlich, nun laßt uns handeln!«

Die Versammelten sahen ihn erst ängstlich an, was er wohl meinen könnte. Diejenigen, welche ihn von Texas aus kannten, hatten ein großes Vertrauen zu ihm, denn er war als Jäger selbst in dem an Jägern so reichen Texas berühmt. Man kannte dort die Sicherheit seiner Hand und wußte, daß er ganz allein es mit einem Bären aufnahm. In San Antonio, seinem früheren Wohnsitz, kannte man auch seine Gewohnheit, monatelang in der Wildnis umherzuirren, um dem Walde und den wilden Tieren ihre Geheimnisse abzulauschen. Er war immer gesund und heil wieder dahin zurückgekehrt. Man hatte ihm den Beinamen »der schwarze« gegeben, weil seine Haare schwarz, und seine Haut von der Sonne dunkel gebrannt war; er war in der Steppe verwildert und stark wie eine Eiche. Man hatte ihn zuvor im Verdacht, daß er an den Grenzen Mexiko's das Räuberhandwerk betrieben, aber das war nicht der Fall. Er hatte nur Felle von daher mitgebracht und zuweilen ein paar Indianerskalpe, bis der Ortspfarrer ihm für das letztere mit der Exkommunikation gedroht hatte. Seitdem war er nicht mehr nach den Grenzen von Mexiko gegangen.

Hier in Borowina war er der einzige, der sich keine Sorgen machte. Der Wald nährte und kleidete ihn. Als die Ansiedler zu flüchten begannen, da nahm er die Sache in die Hand, hielt die Zurückbleibenden in Ordnung und sprach ihnen Mut zu. Als er nun seine Aufmerksamkeit dem Walde zuwandte, da waren alle überzeugt, daß er etwas besonderes vorhabe.

Die Sonne war untergegangen. Der Wind kam vom Süden her und brachte Regenwolken mit. Orlik nahm seinen Karabiner und ging in den Wald.

Die Nacht war schon herniedergesunken, als die Ansiedler im Dickicht des Waldes etwas aufleuchten sahen, wie einen goldenen Punkt, der sich vergrößerte und mit rasender Schnelligkeit zur blutig roten Flamme wurde.

»Der Wald brennt! Der Wald brennt!« rief es im Lager. Gleichzeitig ertönte ein Krächzen, Flattern und Flügelschlagen, unzählige Vogelscharen erhoben sich hoch in die Lüfte. Das Vieh im Lager brüllte, die Hunde heulten, und die Menschen rannten verwirrt umher, denn sie wußten noch nicht, ob das Feuer die Richtung nach dem Lager nehmen würde, oder nicht. Aber nein! Der starke Südwind konnte die Flammen nur nach der entgegengesetzten Seite treiben. Unter dessen waren noch an drei anderen Stellen die Feuerkugeln aufgeblitzt. Es währte nicht lange, so hatte sich das Feuer der ganzen Waldlinie bemächtigt. Die Flammen schlugen hoch empor; die brennenden Bäume und Lianenranken, gewährten einen prachtvollen Anblick. Der Wind war immer stärker geworden, mit furchterregender Schnelligkeit trieb er die Flammen vor sich her, prasselnd erfaßten sie Baum um Baum, die Waldriesen schienen sich im Flammenmeere zu biegen, zu winden, als litten sie Schmerzen. Dazwischen tönte das Gebrüll und Gewinsel flüchtender, oder brennender Tiere, das Angstgekrächze der Vögel. Immer größer wogte das Feuer, immer höher schlugen die Flammen, von den in der Luft hin und hergeschaukelten Lianenranken immer weiter bis hoch in die höchsten Wipfelspitzen geschleudert.

Im Lager verbreitete sich Rauch und würziger Harzduft; auch sehr heiß wurde es. Obgleich für sie jede Gefahr ausgeschlossen war, wurden die Ansiedler doch ängstlich. Sie riefen einander zu, sich zu sammeln, um dichter bei einander zu sein. Ein Laufen und Rennen entstand. Da trat plötzlich von der Waldseite her, beschienen von dem grell leuchtenden Feuer der »schwarze Orlik« auf sie zu. Sein von Rauch geschwärztes Gesicht sah schreckenerregend aus. Als man ihn umringte, lehnte er sich müde auf seinen Karabiner und sagte:

»Nun werdet ihr Euch nicht mehr quälen. Ich habe den Wald angezündet, morgen werdet Ihr dort drüben Land haben, so viel ihr wollt!« Dann trat er auf Maryscha zu und sprach weiter:

»Du mußt mein werden, Mädchen, so wahr ich derjenige bin, der den Wald in Brand gesetzt hat. Ich war stärker als die Wildnis, ich habe sie ausgerottet, wer wollte mich bezwingen?«

Maryscha war sehr erschrocken; sie zitterte am ganzen Leibe, denn in den Augen Orliks brannte ein Feuer, verheerend fast, wie jenes drüben.

Zum ersten Male im Leben dankte sie Gott, daß Jaschu weit fort von hier, in Lipiniez weilte.

Unterdessen war der Waldbrand immer weiter vom Lager gewichen, je weiter die Nacht vorschritt. Der Morgen erwachte regnerisch. Sobald es Tag geworden, gingen viele der Ansiedler nach dem Walde, um die Brandstätten in der Nähe zu sehen; die Hitze, welche von dort ausströmte, war aber so groß, daß eine Annäherung unmöglich war.

Am nächstfolgenden Tage hing ein so dichter Nebel in der Luft, daß bis auf ein paar Schritte nichts mehr zu erkennen war. Die Nacht darauf fing es an zu regnen. Der Regen verwandelte sich bald in einen wolkenbruchartigen Guß, jedenfalls eine Folge der durch den Brand verdichteten Atmosphäre, welche sich in Gestalt von Wolken über der Brandstätte angesammelt hatte. Es war aber außerdem die Zeit der Frühlingsregen, welche am Mississipi entlang, namentlich in der Gabel, wo dieser mit dem Arkansas und dem roten Flusse zusammenfließt, besonders heftig auftreten. Die Ausdünstungen der vielen kleinen Ströme und Seen in Arkansas und der Sümpfe, welche einen großen Teil der Niederung ausmachen, sind wohl die Ursache dieser großen Wolkenansammlungen.

Der ganze Plan, auf welchem das Lager der Ansiedler stand, war aufgeweicht und glich bald einem kleinen Teich. Das Fieber trat bei den bis auf die Haut durchnäßten Menschen immer heftiger auf, die Erkrankungen mehrten sich. Noch ein paar Familien wollten versuchen, nach Clarcsville zu gelangen, sie kehrten aber bald zurück und brachten die Nachricht mit, daß der Fluß ausgetreten und ein Passieren desselben unmöglich sei. Die Lage der Ansiedler wurde immer bedrohlicher, da unter diesen Umständen die ausgehenden Lebensmittel nicht durch andere aus Clarcsville ergänzt werden konnten. Nur Lorenz und Maryscha befanden sich in einer besseren Lage als alle die anderen, denn die fürsorgliche Hand Orlik's bewahrte sie vor vielen Unannehmlichkeiten. Er brachte ihnen täglich morgens frisches Wild, welches er entweder geschossen oder in Schlingen gefangen hatte, und auf der Balkenwand, auf welcher der kranke Vater lag, befestigte er sein Zelt, um ihn vor dem Regen zu schützen. Sie mußten sich diese aufdringliche Fürsorge gefallen lassen, denn er ließ sich eben nicht abweisen. Für Maryscha war sie doppelt peinlich, weil sie ihr die Dankespflicht auferlegte, da er keine Bezahlung dafür annahm sondern nur um Maryscha selbst bat.

»Bin ich denn das einzige Weib in der Welt?« bat sie ihn oft auf sein Drängen. »Geh', suche Dir doch eine andere, bessere als mich, denn ich liebe doch einen anderen.«

Orlik aber antwortete immer nur:

»Ich würde keine zweite solche finden, wie Du bist, und wenn ich bis an's Ende der Welt gehen wollte. Für mich bist Du die einzige, Du mußt die Meine werden. Was willst Du anfangen, wenn der Vater stirbt. Du wirst dann von selbst zu mir kommen und ich werde Dich mit mir nehmen wie der Wolf das Lamm, in die Wälder sollst Du mit mir, aber ich will Dich nicht auffressen, sondern Dich auf Händen tragen. Du, meine einzige. Wer will es mir verwehren, wen habe ich zu fürchten? So rufe doch Deinen Jaschu herbei, ich will mit ihm um Dich kämpfen.«

In Bezug auf Lorenz hatte Orlik recht. Der war ein Sterbender. Von Zeit zu Zeit phantasierte er im Fieber. Er sprach von seinen Sünden, von Lipiniez, klagte, daß Gott ihm nicht mehr erlauben wolle, die Heimaterde wieder zu sehen. Maryscha vergoß heiße Thränen über das Leiden des Vaters und über ihr Geschick.

Orlik hatte ihr versprochen, mit ihr nach Lipiniez zu gehen, wenn sie ihn erhören und zum Manne nehmen wolle. Das war aber kein Trost für sie, denn dorthin zurückkehren als das Weib eines Anderen, nein! Lieber hier in der Wildnis sterben. Sie hoffte bestimmt, daß Gott sie zu sich nehmen werde.

Der Regen goß in immer heftigeren Strömen. In einer Nacht – dumpfe Schwüle lagerte über dem Erdreich – erhob sich plötzlich, während Orlik im Walde war, ein markerschütterndes Geschrei: »Wasser, Wasser!« hörte man rufen und als die Menschen erschreckt den Schlaf aus den Augen rieben, da sahen sie ringsum nichts als eine glänzende Wasserfläche, welche vom Winde getrieben plätschernd und gurgelnd hin und her wogte. Lautes Getöse und gewaltiges Rauschen in der Ferne kündete an, daß das Wasser im Steigen begriffen sei. Ein einziger Schrei des Entsetzens erscholl durch das ganze Lager. Frauen und Kinder retteten sich auf die Wagen, die Männer liefen nach dem Walde zu, wo die Bäume schon vorher gefällt worden waren, der Plan hatte nach dorthin eine kleine Steigung. Das Wasser reichte ihnen bis an die Kniee, stieg aber mit großer Schnelligkeit. Rufe mischten sich mit dem Brausen des Wassers und des Windes. Man rief einander zu, um sich der Nähe von Menschen zu versichern. Die größeren Haustiere schwankten bereits unter dem Anprall der Wogen, die Strömung wuchs also. Die Schafe wurden unter jämmerlichem Blöken vom Wasser fortgetragen, das Brausen verwandelte sich in ein wildes Tosen. Die Wagen standen nicht mehr fest, sie wurden in die Höhe gehoben und gerieten in bedenkliches Schwanken. Das war keine gewöhnliche Ueberschwemmung mehr, der Arkansas mit allen seinen Zuflüssen musste ausgetreten sein.

Einer der Wagen fiel um. Auf das Hilfegeschrei der Insassen stürzten einige Männer herzu, sie wurden aber vom Strome erfaßt und fortgetrieben. Die Insassen der anderen Wagen kletterten auf die Planen, der Regen goß noch immer in Strömen, Balken schwammen umher und stießen an die Wagen; es war die reine Sintflut, die Angst- und Hilferufe mehrten sich anfangs, verstummten allmählich aber immer mehr. Dazu die tiefe Finsternis der Nacht.

Und Lorenz und Maryscha? Was war aus ihnen geworden? Der Umstand, daß sie sich auf der Balkenwand befanden, wurde ihre Rettung. Gleich einem Floß wurde sie vom Wasser gehoben und schwamm nun, vom Wirbel erfaßt, im Kreise herum, dem Walde zu, wo sie, von einem Baum zum anderen gestoßen, in das Bett des Stromes geriet. Maryscha kniete neben dem Lager des Vaters und betete mit gefalteten Händen um Rettung. Das Zeltdach zerriß vom Sturm, das Floß konnte jeden Augenblick zerschellen, denn deutlich fühlten sie die Stöße der um sie herumschwimmenden fortgerissenen Hölzer aus dem Walde, welche es nicht nur zerschellen, sondern auch umstürzen konnten.

Da blieb es in den Zweigen irgend eines Baumes hängen, dessen Wipfel aus dem Wasser herausragten. In demselben Augenblicke ertönte auch aus den Zweigen eine Stimme:

»Hier, nimm den Karabiner und geht hinüber auf die äußerste Kante des Floßes, damit es nicht umschlägt, wenn ich springe.«

Kaum hatten die beiden seinem Verlangen Folge geleistet, da sprang Orlik aus dem Geäste herunter.

»Siehst Du Mädchen,« sagte er, »das Schicksal führt uns doch zusammen. So wahr Gott lebt, ich verlasse Dich nicht und will Dich mit Einsetzung meines Lebens erretten.«

Er nahm das Beil, welches er immer bei sich hatte und schlug damit einen geraden, langen Ast los, entfernte im Augenblick alle kleinen von ihm, befreite dann das Floß durch einen kräftigen Stoß aus der Baumkrone und begann zu rudern.

Nachdem sie in die Mitte der Strömung gelangt waren, schwammen sie mit Blitzesschnelle stromabwärts. Wohin? Das wußten sie nicht, aber die Fahrt ging gut vonstatten, denn Orlik achtete auf jeden ihnen nahe kommenden Baumstamm, auf jedes Hindernis und stieß mit seinem Ruder alle ab, das Floß so vor einem Zusammenstoß bewahrend. Sein scharfes, an die Finsternis gewöhntes Auge erkannte rechtzeitig jede Gefahr, seine Kräfte schienen ins Riesenhafte zu wachsen. Stunde um Stunde verrann. Jeder andere wäre längst vor Ermüdung umgesunken, er hielt noch immer stand. Gegen Morgen waren sie aus den Wäldern heraus, denn sie sahen nichts vor und rings um sich, als eine unendliche Wasserfläche, deren Einförmigkeit nur von gelben, gurgelnden Wirbeln unterbrochen war. Der Tag brach schnell an und als Orlik bemerkte, daß jetzt das Wasser frei war von Hindernissen, hörte er einen Augenblick mit Rudern auf.

»Jetzt bist Du mein!« sagte er zu Maryscha gewendet, »denn ich habe Dich den Fluten entrissen.«

Er hatte die Mütze abgenommen. Sein von der angestrengten Arbeit gerötetes und vom Schweiß feuchtes Gesicht war in diesem Augenblick schön, seine Züge in jeder Linie ausdrucksvoll, redeten von der physischen, wie von der Kraft der Seele, die diesem Sohne der Wildnis zu eigen war. Maryscha wagte zum ersten Male nicht, ihm zu widersprechen.

»Marysch,« sagte der Bursche weich, »Marysch, Herzliebe!«

»Wohin fahren wir?« frug sie ausweichend.

»Was frage ich darnach, wenn Du nur bei mir bist, Geliebte!«

»Rudere, damit wir dem Tode entrinnen,« sagte sie.

Er nahm sogleich seinen Stab wieder zur Hand und folgte ihrem Wunsch. Der Zustand des alten Lorenz hatte sich verschlimmert. Das Fieber verließ ihn nur noch auf Augenblicke, er schwand zusehends dahin. Gegen Mittag war er vollständig bei Besinnung. Er rief Maryscha's Namen.

»Ich werde den morgigen Tag nicht erleben,« sagte er. »O hätte ich doch Lipiniez nicht verlassen. Aber Gott ist barmherzig, ich habe viel gelitten! Begrabt mich, dann soll Orlik Dich nach New-York zu dem guten Herrn bringen; er wird Dir beistehen, Dir Reisegeld geben, damit Du nach Lipiniez zurückfahren kannst. Ich kann nicht mehr hin, aber Gott wird meiner Seele Flügel geben, sie wird Dich dort suchen.«

Er fing wieder an zu phantasieren, dann betete er: »Unter Deinen Schutz und Schirm fliehe ich . . .« und schrie plötzlich auf: »Werft mich nicht ins Wasser, ich bin kein Hund!« und gleich darauf bat er: »Verzeihe mir, Kind, ich wollte Dich ja nur aus Not ertränken, verzeihe mir!«

Schluchzend mit gefalteten Händen saß Maryscha neben ihm. Sie fühlte nicht Hunger, nicht die von strömendem Regen durchnäßten Kleider. Orlik ruderte weiter, die Thränen rollten ihm an den Wangen herab; er unterdrückte ein lautes Aufschluchzen mit Gewalt.

Gegen Abend hörte es auf zu regnen, das Wetter hellte sich auf. Einen Augenblick brach sogar die Sonne durch die Wolken, ihr Strahl fiel in grellen, gelben Streifen auf das Gesicht des sterbenden Lorenz. Gott hatte Erbarmen mit ihm, er gab ihm einen sanften Tod. Während der letzten halben Stunde phantasierte er noch viel von der fernen Heimat. Zuerst klagte er, daß er sie verlassen, allmählich aber sah er sich auf der Heimreise. Der alte Herr in New-York hatte das Reisegeld gegeben. Sie fuhren jetzt auf dem Ozean, dann kamen sie in Hamburg an. Allerhand Städte flogen vor seinen Augen vorüber, er fühlt sich der Heimat immer näher, eine große Freude schwellt seine Brust, er atmet leichter. Heimatluft umweht ihn! »Was, schon die Grenze?« Das Herz pocht in heftigen Schlägen! »Da, wirklich schon der große Birnbaum, Maziek's Aecker?« Er steigt aus der Eisenbahn, jetzt geht er mit Maryscha den alten, wohlbekannten Weg. Die Abendglocken läuten zum Ave Maria – es ist Frühling, Maikäfer schwirren durch die Luft, sie weinen beide vor Freude, er wirft sich auf den Boden und küßt die Heimaterde und ruft: »Jesus, Jesus! womit habe ich das verdient!« Dort steht der Wegweiser. »Jetzt bin ich daheim, in Lipiniez!« ruft er mit leiser, verschwebender Stimme.

Ja, er war daheim, er hatte ausgelitten.

»Vater! Vater!« schreit Maryscha laut auf, aber ihre Stimme erreichte ihn nicht mehr, er ist eingegangen in die himmlische Heimat. Dann kam die Nacht! Das Ruder entfiel fast den Händen Orliks. Sie waren steif und müde geworden, Hunger quälte ihn, er fühlte seine Kräfte schwinden. Während er überlegte, was er thun könnte um sie aus dieser Wasserwüste an das Land zu bringen, kniete Maryscha an der Leiche ihres Vaters und betete unaufhörlich Sterbegebete; sie hatte für nichts Sinn, was um sie her geschah.

Das Floß mußte in das Strombett eines breiteren Flußes gekommen sein, denn es trieb wieder mit rasender Schnelligkeit dahin. Es war unmöglich, dasselbe länger zu steuern, denn der Wirbel drehte es zuweilen direkt im Kreise herum. Orlik ergab sich in das Unvermeidliche, er empfahl Maryscha und sich der Barmherzigkeit Gottes. Plötzlich sprang er mit beiden Füßen zugleich auf und schrie:

»Bei den Wunden des Gekreuzigten! dort ist ein Licht!«

Auch Maryscha blickte nun auf in jener Richtung, nach welcher sein Arm ausgestreckt war. Und wirklich! Dort vor ihnen, in der Ferne leuchtete ein Fünkchen, das einen matten Schimmer auf das Wasser warf.

»Das muß ein Kahn aus Clarcsvill sein« – sagte Orlik schnell. »Die Yankee's haben ihn als Rettungsboot ausgesandt. Wenn sie uns nur nicht verfehlen möchten und wir uns ihnen bemerklich machen könnten. Marysch! vielleicht rette ich Dich noch. Hoop! Hoop!«

Gleichzeitig ruderte er mit dem Aufgebote seiner ganzen Kraft. Das Licht wurde größer, in seinem Schein erschien der Schatten eines großen Bootes noch ferne, aber sie kamen ihm näher. Nach einer Weile jedoch bemerkte Orlik, daß sie sich wieder von ihm entfernten. Sie waren mit den Floß in eine andere Strömung geraten, welche sie wieder von dem Kahn abtrieb. Orlik bemühte sich mit dem Baumast sein Fahrzeug in die frühere Richtung zu bringen, doch vergebens. Bei der heftigen Anstrengung zerbrach im der Ast in der Hand.

Nun waren sie ganz ohne Ruder, der Willkür des Wassers preisgegeben. Der Kahn kam seitwärts von ihnen zu liegen. Glücklicherweise befand sich die neue Strömung ziemlich parallel mit der anderen, sie behielten den Kahn in Sicht. Da wurde das Floß gegen einen noch feststehenden Baumstamm, jedenfalls aus der Steppe, getrieben, welcher bis an die Krone im Wasser stand. Dort blieb es hängen. Beide, Orlik und Maryscha fingen an, aus Leibeskräften zu rufen, doch das Brausen des Wassers übertönte ihre Rufe.

»Ich werde es mit Schießen versuchen«, sagte Orlik. »Vielleicht sehen sie dort drüben den Blitz und hören den Knall.«

Kaum daß er es gesagt, hielt er schon den Lauf des Karabiners in die Luft; statt des Knalles war jedoch nur das Knacken des Hahnes zu hören. Das Pulver war feucht geworden.

Orlik warf sich auf dem Floß nieder, so lang er war. Es gab keine Rettung mehr für sie. Eine Zeitlang blieb er wie tot liegen, endlich erhob er sich und sagte:

»Marysch! . . . Ein anderes Mädchen hätte ich mir mit Gewalt genommen und in den Wald getragen, Dir konnte ich das nicht anthun, ich wagte es nicht, denn ich habe Dich mehr lieb als mein Leben. Wie ein Wolf bin ich in der Welt umhergezogen, ein Schrecken für die Menschen. Du hast mir Respekt eingeflößt, ich fürchtete mich, Dich zu berühren. Du mußt mir einen Zaubertrank gegeben haben. Ich will Dich nicht zwingen mein Weib zu werden, lieber will ich sterben. Ich will versuchen, Dich zu retten. Gelingt es, so bist Du frei, und wenn ich untergehe, dann denke voll Mitleid an mich, bete für mein Seelenheil! Habe ich Dir etwas zu leid gethan, so verzeihe! Ich denke Dein! Ach Marysch Marysch! lebe wohl, meine Liebe, meine Sonne!«

Ehe das Mädchen noch erraten konnte, was er vorhatte, war der »schwarze Orlik« vom Floß in das brausende Wasser gesprungen. Sie schrie entsetzt auf. Einen Augenblick sah sie in der Dunkelheit seinen Kopf und seine Arme über dem Wasser gegen den Strom arbeiten, – er war ein tüchtiger Schwimmer, – dann verlor sie ihn aus den Augen. Er wollte zum Kahn hinüber, ihn zu ihrer Rettung holen. Wenn es ihm gelang, diese Strömung zu durchqueren, in den Strom hineinzukommen, der ihn dem Kahn entgegentreiben mußte, so konnte das Werk gelingen. Trotz seiner fast übermenschlichen Anstrengung aber konnte er nur langsam vorwärts kommen. Dicke, gelbe Wassermassen warfen ihm ihren Schaum in die Augen, so daß er den Kopf hoch heben mußte, um die Richtung festhalten zu können, in welcher er schwimmen mußte. Er keuchte immer heftiger, wenn wieder eine Welle ihn zurückdrängte oder ihn hoch empor hob; er fühlte, daß die Beine ihm steif wurden. Nein, es war wohl unmöglich, länger den Kampf mit den Wogen fortzusetzen – da war es ihm, als höre er Maryscha's geliebte Stimme rufen: »Rette mich!« – das gab ihm neue Kraft. Die Augen traten ihm fast zum Kopfe heraus vor Anstrengung. Wenn er jetzt umkehrte, war er in wenigen Minuten wieder auf dem Floß; daran dachte er aber gar nicht, denn das Licht des Kahnes kam näher und näher. Er war in dieselbe Strömung gekommen, in die das Floß geraten war. Noch eine kurze Anstrengung und sie waren beide gerettet. Da fühlte er, wie seine Kniee und die Beine plötzlich ganz steif wurden. Er faßte alle Kräfte zusammen und schrie: »Hilfe! Rettung!« Das letzte Wort verhallte, denn eine Welle füllte seinen Mund mit Wasser. Er tauchte unter, kam aber wieder über Wasser. Dicht neben sich hört er das Plätschern der Ruder. Noch einmal ruft er nach Hilfe und es scheint, daß man ihn gehört, denn das Plätschern wird lebhafter. Da sinkt er wieder; ein Wirbel hat ihn erfaßt . . . einen Augenblick wirft der Strudel ihn in die Höhe, dann sieht man seine Arme sich emporrecken, zum letzten Mal – die Tiefe hat ihn verschlungen.

Inzwischen saß Maryscha allein neben der Leiche des Vaters auf dem Floß und starrte unverwandt auf das Licht des Kahnes. Sie weiß nicht, daß er in die gleiche Strömung mit dem Floß gekommen, sie denkt nicht an ihre Rettung, an nichts. Doch als beim Näherkommen des Kahnes der Lichtschein immer größer wird, erschrickt sie sehr und schreit furchtbar, denn ihr erscheint das Licht wie ein sich windender feueriger Wurm, der auf sie zukriecht, um sie zu verschlingen.

»Heh, Smith!« ruft da dicht bei ihr eine Stimme in englischer Sprache. »Ich lasse mich hängen, wenn ich nicht vorhin einen Hilferuf gehört und jetzt wieder höre; es ist jemand in Not.«

Einen Augenblick darauf fühlt sich Maryscha von starken Armen in den Kahn hinübergehoben. Es sind nicht die Arme Orlik's, der »schwarze Orlik« war tot.

* * *

Zwei Monate später wurde Maryscha aus dem Hospital in Little-Rock entlassen. Sie hatte während dieser ganzen Zeit dort schwer krank gelegen. Nun war sie genesen, man hatte eine Sammlung für sie veranstaltet, die zwar nicht sehr reich ausgefallen war, dennoch ihr die Rückkehr nach New-York ermöglichte. Einen, den letzten Teil dieses Weges hätte sie dennoch zu Fuß zurücklegen müssen, wenn sie nicht bei den Eisenbahnbeamten Erhörung gefunden hätte. Sie hatte genug von der englischen Sprache erlernt, um sich jetzt verständlich machen zu können. Als die Beamten ihre Schicksale erfuhren, gewährten sie ihr freie Fahrt. Mitleidige Menschen, denen das bleiche, kranke Mädchen mit den schönen blauen Augen auffiel, nahmen sich ihrer an und versorgten sie mit Kleidern und Nahrung. Sie hatte immer gute Menschen gefunden, nie hatte ihr jemand etwas zu Leide gethan, nur das Leben hatte sie hart mitgenommen. Sie wollte Amerika und seinem tollen Treiben den Rücken kehren. Was sollte sie auch hier? Ihr Platz war in Lipiniez, dem friedlichen polnischen Dorfe mit seiner Kirche und den bekannten Gesichtern.

In New-York angekommen, konnte sie es kaum erwarten, bis sie in die Water-Street kam. Als sie in dem Hause ihres Wohlthäters angekommen war. zog sie mit freudiger Hast an der Klingel. Der Diener, welcher ihr öffnete, erkannte sie nicht sogleich.

»Ist Mister Slotopolski zu Hause?« frug sie ihn.

»Nein,« antwortete der Diener, »der Herr ist gestorben.«

Maryscha erschrak heftig.

»Und Mister William?« frug sie weiter.

»Der junge Herr steht eben im Begriff zu verreisen.«

»Und Miß Joanna?«

»Auch!«

»Bitte melden Sie mich bei der Miß,« bat Maryscha den Diener, welcher sie nun doch erkannt hatte.

Das Wiedersehen war ein sehr trauriges. Die jungen Herrschaften begrüßten Maryscha mit Erstaunen über ihr Aussehen. Es gab viel zu erzählen. William und Joanna hatten auch ganz vor kurzem den guten Vater durch den Tod verloren. Er hatte auf seinem Krankenlager ihnen nochmals das Versprechen abgenommen, nach Europa zu fahren, seine Heimat aufzusuchen und eine Handvoll Erde auf seinen Sarg von dort mitzubringen. Nun waren sie im Begriff zu den Verwandten im anderen Erdteil aufzubrechen. Es war selbstverständlich, daß Maryscha mit ihnen ging; das Mädchen war ja auch ein teueres Vermächtnis ihres Vaters. Die Geschwister fühlten sich verpflichtet, für ihr Fortkommen bestens zu sorgen. Wäre sie wenige Stunden später gekommen, so hätte sie ihre Wohlthäter nicht mehr angetroffen.

* * *

Die Herbstsonne schien warm auf die Fluren und Aecker des Dorfes Lipiniez. Der Tag hatte herrlich begonnen, Fluren und Wald lagen wie in Gold getaucht. Braune, frischgezogene Furchen zogen sich durch den Acker, der Altweibersommer spann seine silbernen Fäden über sie, über die Stoppeln, über Baum und Strauch. Es war Mittagszeit. Die Knechte hatten bereits ausgespannt und zogen mit ihren Gespannen dem Dorfe zu, um Rast zu halten. Nur einer hatte sich etwas verspätet; er hatte es nicht eilig mehr, in's Dorf zu kommen, seit vor fast einem Jahre Maryscha mit ihrem Vater nach Amerika gegangen war. Damals hatte er sogleich sein Dienstverhältnis zum Herrenhofe gelöst, um Maryscha nachzureisen. Aber sein kleines Anwesen ließ sich so schnell nicht verkaufen als er geglaubt, und als sich ein Käufer fand, da wurde ihm so wenig geboten, daß er es nicht hergeben mochte. Er wollte es nicht dem alten Toporek nachmachen und das Gewisse für das Ungewisse hergeben. Eine leise Ahnung sagte es ihm, daß Maryscha möglicherweise wiederkehren könnte, dann mußte sie hier eine Heimstätte finden. Ging es den Toporeks gut, so konnte er immer noch nachziehen. Da er seine Stelle bei Hofe aufgegeben, so mußte er sich nach einem anderen Dienste umsehen und fand ihn bei einem Bauer, dessen Aecker er soeben für die Winteraussaat bearbeitete.

Langsam spannte er die Pferde vom Pfluge, nahm die Peitsche auf, und wollte sich eben auf das Leitpferd schwingen, da ließ er den Blick noch einmal den Weg entlang schweifen, der vom Städtchen her führte. Eine Frauengestalt kam auf demselben daher, fremdartig gekleidet, und doch kam sie ihm bekannt vor. Noch war sie ein ziemliches Stück von ihm entfernt, da fing sie plötzlich an zu laufen, zu rennen, atemlos kam sie auf ihn losgestürzt und »Jaschu, mein Jaschu« rufend, blieb sie vor ihm stehen. Sie hatte plötzlich gestockt in ihrem Lauf, denn sie wußte ja nicht, ob . . . »Jaschu, der liebe Gott hat mich wunderbar aus allen Gefahren wieder nach Hause geführt.«

»Maryscha!« jauchzte da der Bursche auf, während er seine Mütze hoch in die Luft warf »Maryscha!«

Dann fielen sie einander in die Arme.

»Ich habe Dir die Treue bewahrt«, sagte das Mädchen mit Thränen in den Augen.

»Und ich Dir!«

Sechs Wochen darauf feierten Jaschu und Maryscha Hochzeit. Die New-Yorker Freunde wohnten der Trauung bei. Sie gaben der Braut ein so ansehnliches Hochzeitsgeschenk, daß sie sich ihre Wirtschaft schön einrichten und noch etwas übrig behalten konnte. Es geht dem jungen Paare gut. In freien Stunden erzählt Maryscha ihrem Jaschu immer von neuem ihre Erlebnisse: er wird nicht müde sie zu hören. Der Geist ihres Vaters und der des »schwarzen Orlik« weilt oft bei ihnen.

 

Ende.

 


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