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9. Kapitel. Die fremden Vögel in des Forstrats Garten.

Die Frau Hofrat Schilling hatte in ihrem Zorn noch am späten Abend das Strafgericht über Ellen abhalten wollen. Doch ihr Sohn hatte dies kühl abgewehrt: ›Morgen ist auch noch Zeit.‹ Dem Herrn Direktor war die ganze Sache recht unangenehm, da kam er nun her, um zum erstenmal seit Jahren dem Geheimrat von Thurn über das Tun und Treiben seiner Mündel zu berichten, und da hörte er nichts wie Klagen über Ellen. »Es ist eine mühsame Sache, sich mit fremden Kindern abgeben zu müssen,« brummte er mißlaunig.

Seine Mutter stimmte ihm zu. »Es war auch viel verlangt vom Vetter Gerhard, daß er dir das Amt übertragen hat,« sagt sie.

»Nun – er hat ja auch die Bürgschaft bei der Bank für mich übernommen,« gab ihr der Sohn zur Antwort. Es klang widerwillig, denn er gehörte zu denen, die nicht gern eine erwiesene Guttat anerkennen, und doch hatte gerade dadurch der Geheimrat von Thurn ihm zu einer besonders guten Stellung verholfen. Seine Mutter, die nur dem Scheine nach wohlhabend war, hatte ihm das Geld damals nicht geben können, der Geheimrat hatte es getan, und durch diese Hilfe stand er jetzt so da, daß er alle Schulden abtragen und seine Mutter unterstützen konnte. Den Direktor bedrückten allerlei unangenehme Erinnerungen, seine Mutter hatte diese Verstimmung wohl bemerkt und schob alles auf Ellen; ach, wie viele Scheltworte sagte sie dem armen Ding an diesem Abend in ihrem Herzen.

Und dann kam der Morgen, und die Hofrätin konnte es kaum erwarten, das Strafgericht zu beginnen. Zu bitterböse war sie. Sie ging selbst hinauf, klopfte etliche Male laut und zornig, aber da innen alles still blieb, holte sie sich den Kammerschlüssel. Sie dachte dabei: wir sind doch klüger als so ein Gänschen. Die Kammer konnte von Ellens Zimmer aus nicht verschlossen werden, und so ging sie mit hartem Schritt hindurch, öffnete die Türe und da – das Zimmer war leer. Das Bett unberührt, das Fenster weit offen und keine Ellen zu sehen.

Die Frau stieß einen lauten Schrei aus. Dieser lockte zuerst die kleine Marie herbei, die ins Zimmer schaute und flink wieder davonrannte, denn in dem Augenblick bekam sie doch Angst, sie könnte gefragt werden. Sie rief aber den Direktor und die Köchin herbei, und da zu Frau Schillings großem Ärger gerade die Waschfrau da war, kam die auch noch mit. Und alle standen und starrten in das leere Zimmer.

»Ausgerissen!« stöhnte die Hofrätin.

»Wer denn, das hübsche Freilein, wo bei Sie zu Besuch war?« fragte Frau Hammelmeier, die Waschfrau, sehr neugierig. »Ih nä, so was, warum denn?«

»Gehen Sie alle hinaus,« schrie der Direktor die Waschfrau, die Köchin sowie die kleine Marie an, die sich scheu im Hintergrund hielt, und schob die dicke Frau Hammelmeier einfach aus der Stube, schloß die Türe, kümmerte sich kein bißchen um das Gezeter, das draußen anhub, sondern begann das Zimmer zu untersuchen. Da Ellen nur wenige Sachen mitgenommen hatte, meinte seine Mutter, alles wäre da. Der Direktor sah nun zum Fenster hinaus, sah ein paar abgerissene Ranken, ein weißes Tüchlein, und sagte: »Sie ist zum Fenster hinausgeklettert.«

»Das hätte Flick gehört.«

»Der war gestern lange im Zimmer!«

»Aber wohin ist sie gelaufen?« jammerte die Hofrätin.

Ja, wohin? Der Direktor sah so wütend drein, als müsse er ein ellenlanges Gedicht hersagen, das er nicht konnte. »Vorerst nur schweigen,« knurrte er.

»Die Hammelmeiern!« Seine Mutter lief erschrocken aus dem Zimmer, die Treppe hinab, um der Waschfrau das allertiefste Schweigen anzuempfehlen. Doch unten teilte ihr die Köchin mit, Frau Hammelmeier hätte ganz plötzlich noch einmal heimgehen müssen, sie würde erst mittags mit dem Waschen anfangen.

Das war eine Geschichte! Die gute Frau Hammelmeier war eine Klatschbase ersten Ranges, sie würde nun ganz gewiß in aller Eile überall herumerzählen, die Nichte der Frau Hofrat Schilling wäre ausgerissen. Die Dame glich nun beinahe ihrer dicksten Päonie im Garten vor Ärger, und Marie mußte ihr flink ein Brausepulver bringen. Die Köchin schlurrte herbei und versuchte zu trösten, aber da kam der Direktor, der wies die beiden barsch aus der Stube, um sich mit seiner Mutter zu beraten.

Die sagte: »Wir müssen zu Regine gehen, dort wohnt auch der junge Mann, mit dem Ellen sich getroffen hat.« Dem Direktor war es recht. Es war merkwürdig bei Schillings, immer hatten sie vielerlei an Fräulein Regine Andernach auszusetzen, aber allemal, wenn sie nicht recht aus noch ein wußten, gingen sie doch zu ihr, um sich Rat zu holen. Und schon kurze Zeit später verließen Mutter und Sohn das Haus. Gerade als sie aus der Haustüre kamen, rannte einer den Höhenweg daher, der alles andere eher sich wünschte, als gerade dem Herrn Bankdirektor Schilling in die Arme zu laufen.

Friedrich Leander blieb einen Herzschlag lang stehen, dann drückte er sich in einen Hauseingang hinein und starrte den beiden nach. Die hatten ihn nicht erblickt, sie gingen ernst und würdevoll bis zu Fräulein Regines Haus, darin verschwanden sie.

»Uff,« stöhnte Friedrich, »gut, daß ich jetzt nicht drin bin.« Aber was sollte er nun tun! Er mußte Ellen sprechen, und da jetzt die Tante ausgegangen war, ging er beherzt auf das Haus zu, klingelte und wollte nach Fräulein Ellen Leander fragen. Er kam aber gar nicht dazu, die Köchin, die auch jeden Menschen kannte, der den Höhenweg entlang lief, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und kreischte, als sie ihn erblickte: »Jemine, wo ist denn Fräulein Ellen? Die Gnädige denkt doch, Sie sind mit ihr durchgegangen!«

»Ich?« Friedrich Leander sah verdutzt in das rote runde Gesicht, und sein Erstaunen war so ehrlich, daß die Köchin ihm unbedingten Glauben schenkte. Stolz auf ihren Scharfblick sagte sie dann: »Ich habe mir's gleich gedacht, alleene ist sie davongelaufen, das Einsperren und Hungern hat ihr nicht gepaßt!«

»Einsperren, hungern, wo?« Friedrich Leander erbleichte, was sagte die Köchin da? Diese sah sein tiefes Erschrecken, und sie begann mit großer Zungenfertigkeit das Geschehene zu erzählen. Schon bei ihren ersten Worten aber tauchte hinter ihr die kleine Marie auf, die stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte durch allerlei Zeichen Friedrichs Aufmerksamkeit zu erregen. Der sah sie auch bald, und da begann Marie flink eine Zeichensprache, ihre alte lustige geheime Schulsprache. Und Friedrich Leander verstand auch wirklich die Zeichen, er verstand das Lippenbewegen zu deuten, und als er genug verstanden hatte, ließ er die Köchin mitten in ihrer Erzählung im Stich und rannte davon.

»Nu soll einer daraus klug werden,« rief die rotbackige Köchin, »haste nicht gesehen, rennt der weg.«

Marie mußte lachen, und da erst bemerkte sie die Köchin. Sie rief geärgert: »Warum lachste denn, ist denn so was zum Lachen!«

Doch die kleine Marie war einmal ins Lachen gekommen, sie lachte, lachte, und plötzlich umschlang sie die dicke Köchin, drehte die rundum und rief: »Minnachen, Minnachen, so'n bißchen Ausreißen ist doch zu lustig. Hungern müssen und eingesperrt sein, brrrr!«

Doch Minna war nicht recht zu Späßen aufgelegt, die brummte und knurrte und sagte endlich mürrisch: »Vielleicht haste gar geholfen. Man kann nie wissen.«

Aber selbst Minnas Brummen konnte Maries gute Laune nicht ganz dämpfen. Die war zu froh, daß die still bewunderte Ellen Leander bei ihrer lieben Ursel Andernach saß. Und nun kam auch noch der Bruder dazu, da würde, so meinte sie, alles gut werden.

Friedrich hatte auch wirklich spornstreichs den Weg zur Base Ursel eingeschlagen. Er rannte die grüne Gasse hinauf, fand das Pförtchen, klopfte, aber er klopfte vergebens. Da lief er ein Stück an der Mauer hin, bis er eine Stelle gewahrte, die ihm gut zum Übersteigen dünkte. Er war ein ganz gewandter Kletterer, er erfaßte einen starken Baumast, schwang sich daran hoch und wollte sich drüben sacht herablassen. Doch der Ast war an solche Früchte nicht gewöhnt, kaum hatte sich Friedrich daran hoch gezogen, da brach er. Friedrich wollte sich halten, verlor aber das Gleichgewicht und sauste in einem weiten Bogen in den Garten hinein.

Forstrat Andernach saß mit Ellen und Ursel immer noch am Frühstückstisch, als da so unversehens Friedrich unweit des Tisches wie eine reife Pflaume zu Boden plumpste. Selbst der Forstrat erschrak im ersten Augenblick, auch die beiden Mädels schrien laut auf. Doch da stand Friedrich Leander schon wieder auf den Beinen, er schüttelte sich und sah etwas verlegen drein. Ellen eilte mit einem Jubelruf auf ihn zu: »O Friedrich, du!« Und gleich kam die Angst, der Bruder könnte sich verletzt haben, und sie fragte erschrocken, ob alles heil wäre.

»Na, er sieht nicht gerade aus, als ob er alle Knochen gebrochen hätte,« rief der Forstrat. »Übrigens, 'ne kuriose Art hereinzukommen hat der liebe Neffe, das muß ich sagen. Aber Friedrich Leander scheint es dem Mädelgeschrei nach wirklich zu sein.«

»Ja, er ist's!« jubelte Ursel. »Und fein finde ich das, so plumps über die Mauer zu springen.«

»Zu fallen,« verbesserte Friedrich verlegen. Er blickte ein wenig unsicher den Forstrat an, aber da sah er auch, wie sehr dieser seinem Vater glich, und ein helles warmes Rot der Bewegung lief über sein junges Gesicht.

Der Forstrat sah es. Er sah auch, wie klar und freimütig des unbekannten Neffen Augen dreinblickten, und er streckte ihm herzlich die Hand hin: »Also willkommen, Friedrich. Ihr beiden Leanders scheint ja etwas ungewöhnlich eure Besuche zu machen. Die Schwester kommt zu nächtlicher Stunde, und der Bruder fällt am frühen Morgen über die Mauer, macht ihr das immer so?«

Friedrich schlug fest in die dargebotene Hand und erzählte treuherzig, warum er so eilig und sonderbar hereingekommen wäre. Als er sagte, Direktor Schilling wäre zu Fräulein Regine Andernach gegangen, zuckte es im Gesicht des Forstrats, halb war es Zorn, halb Spott: »Ja, ja,« ließ er sich vernehmen, »wenn sie nicht weiter wissen, laufen sie zu ihr, aber sonst verklatschen sie sie überall. Na ja, jedenfalls ist's gescheit, daß Ellen hier ist. Und du, mein Junge, wirst Hunger verspüren, du scheinst schon einen langen Morgenspaziergang hinter dir zu haben?«

Friedrich Leander sah verlegen auf seine staubigen Schuhe und seinen Anzug herab, der wirklich etwas die Spuren des Waldlagers an sich trug. Er erzählte von seinem Weg und seiner ungewöhnlichen Schlafstätte. Da blitzte es in den Augen des Forstrats auf, und er rief: »Bravo, ein Städter, der sich so ohne Umstände im Walde hinlegt und die Nacht darin verschläft, der gefällt mir.«

Ellen Leander aber las in des Bruders Zügen irgendeinen verborgenen Kummer, sie wußte auch, es war nicht seine Art, so einfach sich im Walde zum Schlafe hinzulegen, ihr fehlte etwas in seinem Bericht, und so fragte sie: »Warum hast du denn deinen Wandergefährten im Stich gelassen?«

Friedrich wurde ernster. Der heitere Morgen hatte das trübe Erlebnis des vergangenen Tages etwas verwischt, jetzt packte ihn wieder der Gedanke an seines Vaters verkaufte Sammlung. Erst kniff er die Lippen zusammen, um nichts zu verraten, aber dann stieß er doch heraus: »Im Schloß sind – Vaters liebste Stücke, der Onkel hat sie wohl – verkauft.«

Ellen erschrak heftig, und jäh faßten sich die Geschwister bei den Händen. Über Ellens junges Gesicht rannen Tränen: »Vaters Sammlung verkauft!« stammelte sie.

Friedrich nickte stumm. Er biß die Lippen zusammen, und in seine hohe reine Stirn gruben sich zwei finstere Falten. Der Forstrat ersah daran, das waren zwei, die schwer litten. Wohl, um eine Sammlung! Um solche Dinge kümmerte sich der Forstrat eigentlich nicht viel, Museen waren Gebäude, die er nie betrat, ihm war sein Wald der Inbegriff aller Schönheit. In Sonnenschein, Sturm und Unwetter, zu jeder Jahres- und Tageszeit fand er im Wald Freude, Erbauung, im Walde kämpfte er seinen Kummer nieder, aus ihm holte er sich Trost und Kraft. Aber er wußte auch noch gut, wie oft er seinen Vetter geneckt hatte mit seiner Freude an der Kunst vergangener Zeiten, und einmal hatte ihm dieser aus Italien geschrieben: »Ich habe einen kostbaren Schatz für meine Sammlung erworben, wenn ich ihn nur gut heimbringe.«

»Sprich dich aus, Friedrich,« sagte er, »was ist's mit deines Vaters Sammlung? Welcher Onkel soll sie verkauft haben?« Während der Forstrat das sagte, kam ihm eine dumpfe Erinnerung, seine Schwester Regine hatte einmal etwas von einer verkauften Sammlung erwähnt, doch der rechte Zusammenhang fehlte ihm. »Ursel,« gebot er, »gib dem Friedrich doch erst einmal eine Magenstärkung, dann soll er uns Aufklärung geben. Ich will klar sehen. Dieser Friedrich soll doch eigentlich ein ausgemachter Taugenichts sein, was ich aber bis jetzt von ihm gesehen und gehört habe, gefällt mir nicht übel.«

»Ich bin kein Taugenichts.« Friedrich hob stolz den Kopf, und sein Blick begegnete rein und klar dem des Forstrats. Der schaute ihn gleichfalls mit seinen scharfen Jägeraugen durchdringend an und streckte ihm dann noch einmal seine Hand hin. »Das bist du auch nicht, mein Junge, das sehe ich. Also los, erzähle. Zuerst einmal, warum in aller Welt ist dieser Schilling, der ja auch mein Neffe ist, so fuchswild, wenn er von dir spricht?«

»Genau weiß ich das selbst nicht, eigentlich nur deshalb, weil ich etwas anderes werden will, als er verlangt,« antwortete Friedrich. Und dann erzählte er einfach und schlicht von seinem und seiner Schwester Leben nach dem Tode der Eltern, erzählte, wie sie erst zusammen in einer Pension, bei einer Arztwitwe gewesen, bis diese zu ihren Kindern gezogen war. Damals hatte er kurz vor seinem Examen gestanden, und der Direktor Schilling hatte ihn wie die Schwester in einem teuren Fremdenheim untergebracht, wo sie sich beide ganz selbst überlassen gewesen waren. Er erzählte von seinem Wunsch, Archäologe, wie sein Vater zu werden, von des Direktors heftigem Widerstand, der so weit gegangen war, daß ihm dieser alle Mittel zur Weiterbildung entzogen hatte. Und dann erklang warm und herzlich das Lied treuer Schwesternliebe. Ellen sah still und froh zu dem Bruder auf und sagte nur einmal dazwischen: »Ich habe es so ja viel besser mit dir zusammen.«

»Ja wohl, und hast dabei auf deinen Wunsch verzichten müssen, darfst nun auch nicht werden, was du willst,« rief Friedrich bitter.

»Was wollte sie denn werden?« fragte der Forstrat.

»Sängerin,« antwortete Friedrich rasch, trotzdem Ellen bat, darüber lieber still zu sein.

»Langt es denn dazu?«

»Ja, es langt dazu.« Friedrich sah die Schwester stolz an, und fügte zuversichtlich hinzu: »Sie wird es auch noch, sie hat ja noch Zeit dazu und irgendwie helfen wir uns schon.«

»So ist's recht, nur den Mut nicht sinken lassen.« Mit wachsender Freude sah der Forstrat auf die beiden, deren tapferes Miteinandergehen so recht nach seinem Geschmack war. »Na, und nun die Sammlung, was ist mit der?« fragte er gespannt, mit dem Schicksal der Geschwister schon ganz beschäftigt.

Friedrich wollte antworten, als Ursel wie eine Feder vom Stuhl aufschnellte. »Schillings kommen,« flüsterte sie, »flieht da ins Gartenhaus!« Und puff, puff, stieß und schubste sie die Base und den Vetter nach dem Gartenhaus, das nur wenige Schritte tiefer im Gebüsche lag. Ellen und Friedrich wußten kaum, wie ihnen geschah. Aber da tauchten wirklich schon in dem Gang, der zu dem Frühstücksplatz führte, die Hofrätin und ihr Sohn auf. Fräulein Regine Andernach folgte ihnen. Ursel, die Ohren wie ein Mäuslein besaß, wie ihr Vater sagte, hatte die Stimmen richtig erkannt.

Der Forstrat, der gar nicht auf das ferne Klingeln der Haustür und die Stimmen geachtet hatte, war im ersten Augenblick etwas verwirrt, er wußte nicht gleich, was er sagen sollte. Ursel dagegen stürmte mit lautem Geschrei den Verwandten entgegen. Sie tat so, als wären sie und die Tante Hofrat die allerbesten Freundinnen.

Was hat denn meine Ursel, dachte Fräulein Regine, während ihre Schwester höchst erstaunt dreinschaute. Sie war seit vielen Monaten nicht im Hause ihres Bruders gewesen und kam nur, um auch ihm die ärgerliche Geschichte mitzuteilen, nun kam ihr Ursels laute Freude höchst seltsam vor. »Du bist ja so aufgeregt,« sagte sie tadelnd.

»Ich freu' mich so!« Ursel wußte sich nicht anders zu helfen, sie fiel ihrer Tante Regine um den Hals, und diese hörte das junge Herz laut schlagen. »Mädel, was hast du?« fragte sie leise.

»Nachher,« flüsterte Ursel. Sie schnitt ein höchst sonderbares Gesicht, denn soeben erzählte die Hofrätin klagend und anklagend die Geschichte von Ellens Flucht. »Auch der junge Mann, den Regine unverantwortlicherweise bei sich aufgenommen hat, ist mitverschwunden,« schloß sie. Ihre Stimme klang messerscharf, ihr Sohn dagegen sah eher etwas verlegen drein.

»Na, so eine Geschichte!« Der Forstrat konnte sich schwer verstellen, und seine Verwunderung glich ein wenig der eines schlechten Schauspielers. Fräulein Regine Andernach sah ihren Bruder erstaunt an, während Frau Caroline spitz sagte: »So bist du nun, wenn man zu dir in einer so furchtbar ernsten Sache kommt, spottest du noch darüber!«

»Bewahre, fällt mir gar nicht ein.« Der Forstrat wollte sehr unschuldsvoll dreinsehen, als plötzlich vom Gartenhaus her ein lauter Krach ertönte. »Die Katze,« schrie Ursel und raste wie besessen davon. Der Forstrat aber mußte lachen. Er dachte: O jeh, nun haben sich die zwei auf die zerbrochene Bank gesetzt, und lachte weiter seine bitterböse Schwester an.

Diese war tief entrüstet. »Komm, Franz,« sagte sie zu ihrem Sohn, »es scheint, wir sind hier sehr unwillkommen. Welche Schande diese Leanderschen Kinder über unsere Familie bringen, daran denkt ihr scheinbar nicht.« Die Hofrätin warf einen zürnenden Blick auf Bruder und Schwester und wollte davonrauschen. Doch ihr Sohn hielt sie fest und redete ihr zu, noch etwas zu bleiben. Er tat zwar auch sehr entrüstet, aber der Forstrat spürte doch seine Verlegenheit heraus, und fragte ganz gelassen: »Was hat Friedrich Leander eigentlich getan, daß du gar so böse auf ihn bist?«

Direktor Schilling, der verlegen mit der Antwort zögerte, brauchte sie nicht zu geben, denn vom Gartenhäuschen her tönte auf einmal wieder ein lautes Krachen, Platschen, Klirren, Rumpeln, es war ein fürchterliches Getöse; Fräulein Regine Andernach wollte gerade hineilen, und auch der Forstrat sah etwas verwundert drein, als Ursel patschnaß und sehr verlegen aus dem Häuschen herauskam.

»Nein, deine Tochter!« Die Hofrätin sah aus, als wäre sie selbst eine ellenlange Strafpredigt, und Ursel stammelte verlegen etwas vom Wasserfaß und der Katze, dann stürmte sie dem Hause zu. Nun hatte es der Direktor Schilling sehr eilig, er erklärte, er müsse sofort Schritte unternehmen, um nach Ellens Verbleib zu forschen, und die Hofrätin sagte leidvoll zu ihrer Schwester: »Ich hoffe, du kommst mit zu mir und stehst mir in diesen schweren Stunden bei.«

»Ich komme später nach.« Fräulein Regine Andernach schien das Beistehen nicht sonderlich nötig zu finden. »Sie ist eben herzlos,« sagte ihre Schwester draußen zu ihrem Sohn, der sehr verdrießlich neben ihr herging.

Das herzlose Fräulein Regine aber sagte indessen zu ihrem Bruder: »Jetzt verrate mir einmal, Meinhardt, was ist denn das da in eurem Gartenhaus?«

»Geh selbst hin und sieh dir die Vögel an, die wir drin haben,« antwortete der Forstrat heiter. »Ich fürchte, es sind inzwischen Wasservögel geworden.«

Nicht wie Wasservögel, sondern wie ein paar ins Wasser gefallene Unglücksraben, so hockten Friedrich und Ellen auf einem Schubkarren im Gartenhaus, ringsum war ein See, alles schwamm, und Wasser strömte dem Forstrat und seiner Schwester entgegen. Friedrich sagte kläglich: »Erst bin ich in die Wassertonne hineingefallen, und dann ist sie umgekippt!«

»Herr – Müller,« rief Fräulein Regine voller Staunen, »Sie hier und – Ellen auch.«

»Nenne ihn Friedrich, Friedrich Leander,« sagte der Forstrat. »Aber ehe er dir seinen Müllernamen erklärt, soll er sich lieber erst frische Hosen anziehen, mir scheint, das ist sehr nötig. Du scheinst das Fallen sehr zu lieben, Friedrich, erst von der Mauer, dann in die Wassertonne, was kommt nun?«

»Nichts mehr heute,« stammelte Friedrich verlegen. Das erstaunte Fragen in Fräulein Regines Blick bedrückte ihn, und er war froh, als ihn der Forstrat nochmals ermahnte, in das Haus zu laufen, denn dort würde ihm schon Hilfe aus der Wassernot werden. Da schlug er eilig den Weg zum Hause ein, Ellen lief mit, und der Forstrat klopfte seiner Schwester lachend auf die Schulter. »Sieh nicht drein wie Lots Weib,« mahnte er, »es ist so, der hübsche Bursche heißt Friedrich Leander, und trotz der Müllerei, glaube mir, an dem ist kein Falsch. Warum den Franz Schilling durchaus zu einem Taugenichts stempeln will, ist mir noch unklar. Aber eins weiß ich, wenn da eine Schuld ist, hat sie eher der andere begangen.«

»Du konntest Franz Schilling nie leiden, und doch ist er ein tüchtiger Mann geworden, während mir hier die falsche Namennennung wenig gefällt.« Fräulein Regine sah viel strenger drein, als es sonst ihre Art war, und sie nahm auch weiter den Sohn ihrer Schwester lebhaft in Schutz, obgleich sie ihn im Grunde nicht sonderlich liebte. Seine kalte berechnende Art war ihrer warmen Herzlichkeit so ganz entgegen. Sie sagte, sie wolle nun auch in ihr Haus zurückkehren, sie sei müde, wäre gestern abend erst spät wiedergekommen, doch der Forstrat ließ sie nicht fort. »Erst muß der Friedrich selbst dir alles sagen, dann wird es dir gehen wie mir, er wird sich in dein Herz hineinreden,« verlangte er.

Und Regine Andernach blieb, ja ihr streng gewordenes Gesicht erhellte sogar jetzt ein Lächeln, als Friedrich, gefolgt von den Basen in einem Anzug des Forstrats daherkam, der ihm ein gutes Stück zu groß war. Ellen steckte in einem Urselkleid, das ihr wieder zu kurz war. Alle drei sahen aus, als hätten sie eben tüchtig gelacht, nun aber hatte sich Verlegenheit eingestellt, und sie hingen die Köpfe wie drei arme Sünderlein.

»So, Schwesterherz,« sagte der Forstrat, »nun halte Gericht, lasse dir alles erzählen, in deine Hände lege ich jetzt alles. Ich muß in den Wald, es ist schon spät geworden. Gott befohlen, alle miteinander.« Mit langen Schritten ging der Forstrat davon und war vollkommen darüber beruhigt, daß seine Schwester die ganze verwirrte Geschichte zu einem guten Ende führen würde.

Und Regine Andernach machte gar nicht den Versuch, den Bruder zurückzuhalten, sie wußte schon, daß er verwirrte Fäden nicht gerne löste. Sie sagte kühler als sonst: »Du bist also wirklich Friedrich Leander. Nun da erzähle einmal, wie du zu dem Mummenschanz gekommen bist, als Herr Müller aufzutreten.«

Friedrich zog die Stirn in Falten, das Wort hatte ihm weh getan, und er preßte fast etwas trotzig die Lippen zusammen. Das sah Ellen, und sie begann daher zu reden. Ganz eifrig und flink, sie ließ sich auch durch die Zwischenfrage der Tante: »Bist du deines Bruders Anwalt?« nicht stören. Sie redete, bis Friedrich seinen trotzigen Stolz überwunden hatte und nun selbst weiter erzählte, von seiner Arbeit, ihrem Zusammenleben bei Frau Bienert. Bei dem Worte Bienert, da stimmte die Schwester wieder mit ein, und doppelstimmig erklang deren Lob.

»Nun siehst du wieder gut aus,« rief Ursel dazwischen und umhalste die Tante. Auch die anderen sahen dies und bemerkten dabei wie allmählich alle Strenge aus dem noch immer schönen Gesicht der Tante gewichen war, heiter und herzlich sah sie die Geschwister an, und dachte jetzt wie ihr Bruder: Nein, Friedrich Leander ist kein Taugenichts, sicher nicht, aber warum soll er es sein?

»Und nun machen wir einen Kriegsplan,« rief Ursel, als Friedrich schwieg. »Gelt, Tanterl, du hilfst uns!«

Regine Andernach nickte. »Ja schon, Mädel, aber eigentlich gibt es nur eins, warten bis der Onkel Gerhard zurückkommt, der ist euer gesetzlicher Vormund. Bis dahin müßt ihr hier im Verborgenen leben.«

»Himmlisch,« schrie Ursel begeistert, der die ganze Geschichte romantisch vorkam.

»Das ist wohl am besten. Nur – na, hoffentlich betreibt Franz Schilling das Suchen nicht gleich zu eifrig, denn sonst könntet ihr doch aufgespürt werden!« Fräulein Regine war über dies heimliche Verstecktsein nicht ganz so entzückt wie Ursel, sie empfand es als ein Unrecht gegen ihre Schwester, und ihrer offenen Natur widerstrebten solche Geheimnisse. Sie dachte aber auch, wenn die beiden jetzt zum Vorschein kommen, kann Franz Schilling eine Zusammenkunft mit dem Onkel Gerhard hintertreiben, und der mußte doch einmal die beiden selbst erst sehen und sprechen. Also stimmte sie für das Verborgenbleiben. Allzu schwer war das nicht, des Forstrats Garten war groß und schattig, hineinsehen konnte niemand, auch brauchten die beiden den Teil, der nach dem Höhenweg zu ging, nicht zu betreten. Besuch kam auch selten, die Magd, die schon viele Jahre im Hause lebte, war verschwiegen, da mochten die beiden schon ein paar Tage in der grünen Stille verborgen bleiben.

Ursel sang vor Freude und auch Ellen erhob ihre Stimme, die wie eine Glocke tönte. Ein paar Herzschläge lang lauschte Fräulein Regine verwundert über den schönen Klang dieser Stimme. Dann aber mahnte sie: »Singe lieber nicht, Ellen, denn es möchte sonst vielleicht doch jemand den fremden Vogel in Forstrats Garten hören.«

Ellen sah sich gleich so erschrocken um, als stiege da schon jemand über die Mauer, und sie gelobte Stillschweigen. Fräulein Regine mahnte auch noch: »Lacht nicht zu viel und zu laut,« und auch dies versprachen ihr die drei eifrig. Sie unterließen auch das Begleiten bis zur Türe, versprachen immer tief im Schatten bleiben zu wollen, und als dann Fräulein Regine Andernach draußen die Gittertüre nach dem Höhenweg hin zuschloß, tönte aus der Tiefe des Gartens ein seliges Lachen heraus. Das Verbot hatten die drei schon wieder vergessen, sie wußten in der Freude über ihre Freiheit und ihr Beieinandersein gar nicht, daß sie lachten. Die Tante blieb stehen, als sie dies hörte. Wenn das nur gut ausgeht, dachte sie bei sich. Wenn doch der Vetter Gerhard bald heimkäme, ja, und wenn ich ihn vorher sprechen könnte, ehe Schillings ihn erhaschen. Sie seufzte tief. Früher waren sie und der Vetter Gerhard gute Freunde gewesen, Kameraden, die sich gegenseitig in manchem Lebensleid beigestanden hatten. Ein vorschnelles Wort von ihr, es wäre nicht recht, daß er sich so wenig um die beiden Leanders kümmere, hatte die Schwester ihm geschrieben, ein paar Briefe waren hin- und hergegangen, die nicht geklärt, sondern verschärft hatten. Geschriebenes Wort klingt oft härter als es gemeint ist; wenn der Ton der Stimme, ein guter versöhnender Blick fehlt, schleichen sich eher Mißverständnisse ein. So war es gekommen, daß die lebenslange Freundschaft zwischen Regine Andernach und dem Geheimrat von Thurn einen schier unheilbaren Riß bekommen hatte. Als der Geheimrat heimkam, mied er das Haus der Base. Sie litten beide unter diesem Auseinanderkommen, und keins gab nach. Und nun waren diese Kinder da, nun hatte Regine Andernach ein Recht zu sagen: »Ich habe es vorausgesehen, Franz Schilling ist nicht der Rechte, um zwei junge verwaiste Kinder zu behüten.« Ach, sie hätte sich ja damals so gern um die Verlassenen gekümmert, aber gerade damals war ihr alter Onkel am Ende seines Lebens angelangt gewesen. Sie hatte ihn nicht verlassen können, und dann hatte ihr Vetter erbittert erklärt, er wünsche nicht, daß andere sich um die Erziehung der Leanderschen Kinder kümmern sollten.

Das alles überdachte Fräulein Regine Andernach, als sie durch ihren Garten ging. Sie war unruhig und lauschte immer wieder nach dem Nachbargarten hin. Als sie dabei wieder einmal an den Zaun nach der Straßenseite hin kam, sah sie die kleine Marie den Höhenweg herabkommen. Sie trat rasch an die Türe und rief des Mädchens Namen. Marie blieb auch gleich stehen und sagte, ohne eine Frage erst abzuwarten, sie wäre eben oben bei dem Geheimrat gewesen, um zu fragen, wann er käme. Übermorgen vielleicht, hätte er geschrieben, er wollte noch einen kleinen Umweg machen und wüßte nicht genau, mit welchem Zuge er heimkäme.

»Übermorgen erst!« Fräulein Regine seufzte unwillkürlich, und Marie nickte so bedachtsam, als wäre sie eine alte Frau. Plötzlich aber horchte sie auf, sie hörte Frau Schillings Stimme, flüsterte noch rasch die Bitte, Ursel und Ellen zu grüßen, und dann rannte sie davon. Der Höhenweg lag wieder ganz still und menschenleer, nur aus der nachbarlichen Gartentiefe erscholl hin und wieder ein seliges Lachen. Es lockte zwar auch ein Lächeln auf Fräulein Regines Gesicht, aber dennoch ging sie noch einmal hinüber, um die drei lustigen Vögel wiederholt zum Stillesein zu ermahnen.


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