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Kunstmaler Baron v. Seydewitz verstand den ironischen Blick des Violinvirtuosen Ary Elditt, der neben ihm auf dem Sofa saß, strich über sein bartloses, domherrenartiges Gesicht von oben nach unten, als wollte er eine Maske wechseln, und kam lächelnd zuvor:
»Nicht wahr? daß auf meinem Schreibtische diese zwei Bücher, Fritz Reuter und die Briefe der hl. Theresia von Spanien, so einträchtig bei einander liegen, finden Sie sonderbar? In der Tat habe ich auch eine Doppelseele: Auf der einen Seite, der Fritz Reuter'schen, bin ich Baron aus Mecklenburg, behäbiger Villenbesitzer in Dachau, wo ich mit den Hühnern zu Bette gehe, daneben aber, – ich weiß nicht, wie mir dies in München so angeflogen ist –, spiritistische Phantasterei, katholischer Weihrauch und ein klein wenig schwarze Magie mit Satanskult. Haben Sie vorhin in meinem Atelier nicht sogar einen Weihwasserkessel und ein ewiges Licht gesehen? Merkwürdig, wie es mich zum Schaffen inspiriert! Gerade male ich nämlich an einem alten Waldkirchlein mit einem melancholischen Altar, die Madonna in verblaßtem gelbem Kleid, ein verschüchtertes Jesuskind auf dem Arm.« –
»Ich finde das Jesuskind nicht gerade schüchtern, das Christentum überhaupt nicht; im Gegenteil. Übrigens bin ich vom Christentum so weit entfernt wie die Erde vom Sirius,« fiel Elditt fast zu lebhaft ein.
Er war dreißig Jahre alt, trotz seiner halb slavischen Abstammung von südländischem Typus, seit Jahren durch den Wirbelsturm seiner Konzertreisen in Europa umhergetrieben, sybaritisch und voll frauenhafter Schlaffheit, mit all den Launen des raffinierten Reisenden.
»Verreden Sie's nicht!« sagte v. Seydewitz. »Ihr Beruf als Geigenvirtuose ist der Nährboden für ungesunden Egoismus und allerlei seelische Kompliziertheiten. Sie erinnern mich sehr an die Humanisten des 16. Jahrhunderts; die waren ebenso entwurzelt wie Sie, ebenso sophistisch und durch die Garantielosigkeit ihres Daseins und das Schwanken ihrer Lebensanschauung in ein Chaos von Irrungen hineingehetzt; schließlich aber scheiterten sie an einer lächerlichen Klippe der Alltäglichkeit, und flüchteten zum Kreuz zurück. Genau so sind Sie Ästhet, – spielen vorzugsweise den hyperromantischen Paganini – und eines Tages werde ich Sie nach Lourdes pilgern sehen.« –
Elditt protestierte mit gespieltem Ernst. »Paganini heißt auf deutsch der kleine Heide oder vielmehr Sohn des kleinen Heiden. Seine Leiche mußte ohne kirchlichen Segen fast ein halbes Jahrhundert lang ruhelos wandern, als wäre der ewige Jude hinter ihr her – vielleicht war er selbst Jude – und ich habe ungefähr zwei Dutzend Religionen und ebenso viele Vaterländer, jede Woche ein anderes – begreife überhaupt nicht, wie es heutzutage noch möglich ist, eine überzeugte Weltanschauung zu haben. Wir sind, wie Schlemmer nach einer Mahlzeit, mit Theorien, Spekulationen und Religionen überfüttert und unser kranker Magen kann nichts mehr behalten, selbst wenn wir von irgend etwas überzeugt wären.«
»Schade, wenn es Ihr Ernst wäre,« sagte v. Seydewitz mit einem bestimmten Lächeln. »Nach Ihren Reden sind Sie ein seelischer Nihilist; Sie müssen aber doch eine Inspiration für Ihre Konzerte haben. Ich z. B. bin ganz verschossen in das ewige Licht in meinem Atelier. Wie ein kleines goldenes Auge sieht es mir unablässig beim Malen zu, es hat Leben; manchmal verlängert es sich, als wollte es mir etwas sagen, wird wie eine kleine, gelbliche Zunge und windet sich fast wie ein Körper in einer Art Ekstase.« –
Der Hauch eines ironischen Lächelns kräuselte Elditts Lippen.
»Mich inspiriert Licht sehr wenig; ich spiele am liebsten im halbdunklen Zimmer. Eine kleine Woge von Narzissenduft und purpurroter Mohn muß dabei sein, ganz roter, wie er nur in der Campagna di Roma glüht. – Ich gebe zu, daß an dem Feuer meiner Skepsis viele Dinge vertrocknet sind, die Sie als gesunder Mecklenburger sehr ernst nehmen. Übrigens hat man in Ihrer Heimat auch Moorgründe, in denen man versinken könnte. – Sie können manchmal die richtigen Gespensteraugen dazu machen. Stimmt das mit dem grauen Zwerge, von dem mir gestern Derleth eine Andeutung gemacht hat?«
Wieder machte v. Seydewitz die charakteristische Geste, als wollte er etwas Lästiges mit der Hand verscheuchen.
»Ich erzähle es sonst niemandem und Sie werden mich gewiß auslachen und Halluzination annehmen; aber ich könnte beschwören, daß ich alles, so wahr ich hier sitze, leibhaftig erlebt habe. Der unheimliche Spuk begann vor einem Jahre in München, hier in diesem Zimmer. Ich war damals nervenkrank, wie Sie, lieber Elditt, vollständig brach und seelisch gelähmt. Unbegründete Melancholie quälte mich; was ich malte, verzerrte sich mir unter der Hand zur Fratze. Eine Art Besessenheit mußte es sein, wie sie Görres in seiner schrecklichen Mystik schildert. Meine Freunde, selbst Derleth, nahmen es nicht ernst. Ich wollte es ergründen und trieb nach dem Rezept Oskar Wilde's den Zustand auf die Spitze. Damals ließ ich das ewige Licht brennen, las Görres, besuchte Kartenschlägerinnen, Somnambulen, Magnetiseure und theosophische Zirkel. Ganz besonders regte mich eine Orchesterphantasie des Wiener Komponisten Camillo Horn auf: ganz seltsame Klänge waren es, dämonisch und medusenhaft, Glasglöckchen von krankem, wollüstigem Reiz, alte Instrumente, wie man sie im siebzehnten Jahrhundert hatte. Ich träumte von dieser Musik, konnte den ganzen Tag über die Melodie nicht aus dem Kopfe bannen. Es war Abend; ich saß hier auf diesem Sofa. Schon fielen die Schatten herein, die Bäume des Englischen Gartens schwankten hin und her, wie von Riesen geschüttelt, in einem Sturmwind, der ganz plötzlich wie aus der Unterwelt kam. Auf der Leopoldstraße zogen Betrunkene; sie verstummten mit einem Male. Etwas Fremdes war in's Zimmer eingedrungen, das fühlte ich genau. Ich fand es gar nicht merkwürdig, daß sich die Türe ganz leise geöffnet hatte, und jetzt! – durch die Türspalte schlüpfte ein kleines, graues Männchen herein; ganz putzig und gefällig, nach Zwergenart, kam es näher.
Ich empfand nicht die mindeste Furcht, wie es so langsam zu mir an's Sofa kam, am Tische vorbeischlüpfte. Jetzt war es ganz nahe, als müßte es so sein – und dann – so wahr ich es Ihnen erzähle – schlüpfte es in mich hinein, in meinen Körper. Ganz genau fühlte ich, wie es Besitz von mir nahm, in mir wohnte. Wie dies sein kann? Fragen Sie einen Theosophen oder einen Adepten der schwarzen Magie in Paris, wenn Sie jetzt dahin reisen. Ich fühlte es, wie man körperlich nur etwas fühlen kann; unmöglich war es eine Halluzination.«
Elditt hatte ein Lächeln, welches die Augensprache vervollständigt und irgend ein sonderbares Wort unterstreicht. Dieses starre Lächeln gab seinen Zügen einen maskenhaften, faunischen Zug, der vom Profil nur das spitze Dreieck von Nase und Kinn sehen ließ, ein verjüngtes Abbild der berühmten Voltairebüste von Houdon.
»Ganz sonderbar, lieber Baron; in der Tat. Der alte Geisterseher Swedenborg hätte seine Freude daran gehabt. Aber ich habe auch meine Seltsamkeit – ich mag den Spiritismus nicht leiden, seit ich einmal von Swedenborg las, daß seine Hauswirtin in Amsterdam sich so sehr über sein schmutziges Äußere gewundert habe. Seitdem ist mir alles, was nach Okkultismus schmeckt, ganz fatal, weil ich immer an Swedenborg's schmutzige Wäsche denken muß. Hätte er blendend weiße, gefältelte Halskragen getragen, dann wäre ich vielleicht Spiritist und würde an Ihren Zwerg glauben.« –
»Aber das ist ja, – verzeihen Sie! –, krankhaft. Hat denn ein schmutziger Hemdkragen etwas mit Weltanschauung zu tun?«
»Sehr viel. Ich hörte neulich in Wien einen alldeutschen Agitator seine Plattheiten vortragen, und wäre im stande gewesen, seinen Vortrag bis zu Ende anzuhören. Da machte er eine Pause, nahm gierig einen Schluck Bier und wischte sich, alles so unästhetisch und teutonisch wie möglich, den Mund ab. Seit dieser Zeit bin ich international, Antimilitarist und wähle sozialdemokratisch. Hätte er sich damals ästhetischer benommen, so wäre ich vielleicht heute noch getreuer deutscher Reichsuntertan. – Und dann war Swedenborg Sohn eines evangelischen Pastors – denkt man da nicht an einen Haufen Kinder in enger Stube, die nach Bibelwesen und christlicher Ehe mit schmutzigen Kinderwindeln riecht?«
»Das ist ganz ungesunder Schönheitskult, ärgerlicher Ästhetizismus, nehmen Sie mir's nicht übel, lieber Elditt! Durch Ihre Musik saugen Sie diese Dinge ein. Ihr Paganini war ein kranker Dämon, der Sie wiederum krank macht. Oder kann man es anders nennen, wenn er sich stundenlang in sein Hotelzimmer einschloß und vor sich hin weinte, ohne zu wissen, warum? In Genua schlich er nachts auf den Kirchhof und spielte den Nachtvögeln, Gespenstern und Lebendigbegrabenen vor. Sah er ein häßliches Gesicht im Saal, so konnte er nicht spielen. Ein bildhübscher, junger Provençale reiste darum mit ihm; den sah er an, damit er schön spielte. So wie ich das ewige Licht. Aber das alles ist krank.«
Er sprach wie ein Kapuziner, mit derben, väterlichen Geberden, fing an, zu zitieren.
»Paganini's Musik, krankhaft und teuflisch, führt zu Abgründen. Obwohl es nur Töne sind, fein wie Spinnweben. Sie nehmen beim Spiel auch ganz seine Züge an: das phantastische Lächeln der schmalen Lippen, die hageren, holzschnittartigen Züge eines Melancholisch-Wahnsinnigen. Sie leiden an ihm, weil Sie Jahre lang nichts anderes gedacht, gespielt und gefühlt haben als ihn, der krank, böse, satanisch war.«
Gelassen antwortete Elditt:
»Soll ich denn die nationalliberale Musik von Brahms spielen, oder Max Reger, der wie eine Motte aus Sebastian Bachs Perücke gekrochen ist und mit listigen, schnellen Äuglein herum flattert? Paganini hat wenigstens Phantasie.« –
Die Geschichte da mit dem grauen Zwerge bereitete ihm fliegenartiges, nachdenkliches Unbehagen, so sehr er sich in der Rolle des ironisch Lächelnden gefiel. Von dem mystizistischen Wunderwesen, das v. Seydewitz vor ihm aufrollte, wirbelte ihm der Kopf. Im Grunde zwar war er auch Mystiker. Als seine Schwester starb, hatte er das eigentümliche Klopfen der Sterbenden gehört, ein zischendes Geräusch von einem Fingernagel, der am Holz kratzt. Als er in Brüssel bei César Thomson Violine studierte, kannte er einen jungen Pariser, der auf Entfernung hypnotisieren konnte, wildfremde Menschen, die er vom Fenster aus auf der Straße vorübergehen sah, durch magnetisch streichende Bewegungen seiner Hände auf's Zimmer zitierte, wo sie irgend etwas Ungereimtes stotterten, das er ihnen suggeriert hatte.
Auch Prof. Lummer in Breslau, der große Physiker, hatte ihm neulich, als er nach dem Konzerte mit ihm zusammengetroffen war, etwas ganz Merkwürdiges gesagt, das aus dem Munde des großen nüchternen Gelehrten um so bedeutsamer klang. »Die toten Dinge sind oft die lebendigsten,« hatte er gesagt. Das hatte er damals nicht verstanden. Nun erinnerte er sich dieser Worte, die bis an die äußersten Grenzen des Erkennens streiften, und fühlte, daß es so viele Rätsel gab, die in den Abgründen der Seele aufzuckten.
Das Fenster des Salons stand offen, ließ schwülen Rosenduft herein. Die Wolken über dem Englischen Garten hatten Perlmuttergeflimmer, die Schatten der kulissenartigen Baumgruppen wuchsen, wie dunkle Gefühle, die eine Seele überfallen und vergewaltigen.
Elditts Stimme klang ernst und tief, als er fragte: »Wie haben Sie den Dämon wieder ausgetrieben, lieber Baron? Er kann doch nicht lange in Ihnen gewohnt sein. Ich denke mir, daß Sie zu dem Franziskanerpater Expeditus Schmitt gegangen sind, der vielseitig genug Literat, Kontroversist, Theaterkritiker, Exorzist und Seelenrat aller Literaten und Künstler Münchens ist.«
»Nein. Ich ging nach Italien, was übrigens Pater Expeditus mir auch riet. Das Wunder geschah in Assisi am Grab des hl. Franziskus. Aber Sie spotten, wenn ich es Ihnen näher ausführe. Ihr Chamäleonsgeist ist heute in eine ironisch-welke Schlangenhaut hineingeschlüpft, die man nicht fassen kann. Doch ich will es erzählen. Es war wirklich ein Wunder. Gerade während des Hochamts bei der Wandlung wich der Dämon. Soll ich Ihnen sagen, daß ich es leibhaftig spürte?«
»Sie fühlten dies so genau?«
»Es war mir, als ob ein schwerer Felsblock, der auf meiner Brust lag, langsam wankte, ganz langsam, und dann wegrollte, herab auf die Fließen der Kirche. Ich schäme mich nicht, zu sagen, daß ich in Tränen ausbrach, wie ein Kind – aber seitdem bin ich gesund.« –
»Der Zwerg war ein Geschöpf Ihrer Einbildung; Sie haben ihn aus einem alten nordischen Hünengrab Ihrer Mecklenburgischen Heimat mit nach München gebracht oder aus der Mystik von Görres herausgelesen.«
v. Seydewitz sah Elditt langsam an, zuckte leise die Achsel.
»Sie haben wohl nie von Napoleons Zwerg gelesen, der vor wichtigen Schlachten, an den Wachen vorbei, die ihn ganz genau sahen, in sein Zelt schlüpfte, oder vom Dämon des Sokrates, der durchaus keine bloß abstrakte innere Stimme war? Seit einer Woche ist Maler Karl Leipold hier; übrigens auch aus meiner Heimat. Ein Bild von ihm hängt in der neuen Pinakothek. Er malt das, was über den Dingen schwebt, wie kein Zweiter auf der Welt: träumende venetianische Paläste, tote Galeren, die reden, islamitische Tempel, die Sünden begehen – alles liegt in einem Farbenton, in einem Hauche . . .«
»Karl Leipold glaubt an Ihren grauen Zwerg?«
»So gut wie ich. Er ist in die höheren Grade der schwarzen Magie eingeweiht, die er bei den indischen Fakiren und, ich glaube bei den Basken, studiert hat. Er sieht aus wie Dr. Faust, hager, schwarz, hat ein Gespensterwesen wie der fliegende Holländer. Zu Hause trägt er ein blutrotes Kostüm. Er malt ohne Modell, die Zigarette im Munde; große Bilder, wozu andere einige Monate brauchen, malt er in ebensoviel Tagen, fast unbewußt, wie ein Medium.«
»Malmedium?« rief Elditt erstaunt. »Daß es so etwas gibt! Sie schleudern mich ja von einem okkulten Phänomen zum andern.«
»Wahrscheinlich ist Leipold von einem Malergespenste der früheren Jahrhunderte besessen – dieser Geist malt durch ihn, durch seine Hand, die nur den Pinsel an die Leinwand zu halten braucht.« –
»Ich muß ihn kennen lernen,« sagte Elditt und fügte in einer Art Gedankenflucht bei: »Sie haben Recht; ich bin seelisch krank. – Gestern erlebte ich überdies etwas ganz Widerwärtiges in der Tonhalle, einen wahren Skandal . . .«
»Skandal in der Tonhalle? Was war da?« fragte v. Seydewitz, aufs höchste überrascht.
»Sie werden heute in der Zeitung davon lesen. Die Musiker des Kaimorchesters haben gegen den Kritiker Dr. Lovis demonstriert und das Publikum hat verlangt, daß er den Saal verlasse. Weil er sich zuerst weigerte, ohrfeigten ihn zwei Studenten und ein Architekt aus Schwabing warf ihn hinaus. Es war ein unbeschreiblicher Tumult. Ich bin mit Dr. Lovis bekannt, und obwohl mich sein Streit nichts angeht, fühle ich es telepathisch mit. Denken Sie sich! Er steckt diese unerhörten Beleidigungen ein, revanchiert sich nur durch einen matten Zeitungsartikel, und lobt dabei so nebenher seine bandwurmartige Proteusphantasie. Ließe sich ein Italiener dies bieten? Betrachten Sie Florenz und seine alten Gassen am Arno, wo jedes Haus eine Festung mit räuberischem Überfall, Blutrache und Mordscene war! – Seit gestern leide ich wieder einmal an Deutschland und selbst an der Münchner Luft.« –
»Italien wird Ihnen gut tun,« sagte der Baron mit feinschmeckender Intelligenz, und schwärmte von Venedig. Elditt war ermüdet. Die Worte der beiden mit ihren buntscheckigen Themen glitten an einander vorbei, wie Schiffe auf offner See, die nur ihre Flagge erkennen.
v. Seydewitz erzählte, daß er, wie sein Freund Karl Leipold, sich jetzt stundenlang in alte Münchner Häuser einschließe, um für sein nächstes Bild etwas Mittelalter und archaistische Stimmung einzusaugen.
»Es gibt noch solche graue Häuser mit verschnörkelten Giebeln, mit großen, hallenden Säulengängen, dämmerigen Gelassen, vergitterten, verträumten Balkonen, und Schornsteinen, zu denen noch der Teufel mit gierigen Augen hereinschaut.«
Ob Elditt von dem schwäbischen Bauerndichter Christian Wagner gehört habe?
»Er ist 70 Jahre alt, naiv wie ein Kind, bettelarm, lebt von der Milch zweier Ziegen, die er sich hält, das Wenige, das ihm sein Verleger schickt, nimmt ihm sein Neffe ab. Einmal ging er zu Fuß von Stuttgart nach Italien bis nach Pompeji. Dort, vor ausgegrabenen griechischen Tempeln und Palästen sank er buchstäblich anbetend auf die Knie. Namentlich eine Vase hatte es ihm angetan. Stundenlang stand er vor ihr, streichelte sie mit der Hand, wie der Geizhals seine Schätze, liebkoste sie und plötzlich – in einer Art Seelenwanderung – bildete er sich ein, damals in Pompeji gelebt zu haben, vor 2000 Jahren. Das Erstaunliche war, daß Christian Wagner noch nie ein Kunstlexikon in der Hand gehabt hatte, und nun plötzlich wie durch Inspiration, die Namen der Maler wußte, welche damals die Wände der Atrien und Tempel ausschmückten. Ist dies nicht seltsam? Durch tote Vasen Dinge zu erfahren, die vor zwei Jahrtausenden waren? Christian Wagner ist, – Sie dürfen nicht über ihn lächeln – ein Poet von Gottes Gnaden. Ludwig Derleth, den Sie ja auch kennen, hat mir neulich einen Aufsatz über Christian Wagner in der Revue de deux mondes gezeigt.«
»Seelenwanderung?« flüsterte Elditt.
Eine belebende Kraft, die in dem Worte schlummerte, stieg auf, zwang ihn, den angefangenen Gedanken weiter zu denken, dem Klang der Laute nachzuspüren. Dann war es ihm, als habe er das Wort zum ersten Male gehört, wie von einer seltenen, unverständlichen Sprache, deren Hieroglyphen nicht zu fassen sind.
Andere Bilder drängten sich herzu, machten sich Raum, wurden durch das Wort lebendig; nachtwandlerisch tasteten sie sich voran, durch Gedankenverbindungen und leise Anknüpfungen wie durch verborgene Falltüren und Abgründe, die sich im Innern der Seele auftaten.
Das, was ihn dunkel gequält hatte, regte sich und eine geheime Dämonie des Wortes, des Bildes, der Kunst warf ihn fast nieder.
Hastig verabschiedete er sich vom Baron, lief fast nach dem Englischen Garten, dessen Bäume schon Dunkelheit eingesogen hatten, ganz in der Wirrnis seiner Gedanken, die um das Wort Seelenwanderung wirbelten. Gleich einer fernen ängstlichen Glocke tönte es. Wie er den Großhesseloher See sah, der halbschwarz wie ein Auge funkelte, entwirrte sich ein Gedankenbild, etwas, das seiner jetzigen Umgebung ganz fremdartig war: Ein marmorweißer, im Sonnengold funkelnder Tempel, von Rosen und Jasminbüschen eingerahmt – dann verschwand das Bild wieder.
Eine neue, geheimnisvolle Welt, voll seltener Pracht, aber noch wie mit einem Pupurmantel zugedeckt, tat sich vor ihm auf; zitternde Lichtstrahlen waren aus verschlossenen ehernen Pforten vor seinen trunkenen Augen aufgezuckt.
Die Säulen des Monopteros, sonst grau und einfältig, hatten jetzt etwas Feierliches, wie wenn sie in eine neue unbekannte Welt führten. Die Häuser Münchens schauten groß und sprechend in einem geheimnisvollen Lichte, die Bäume so uralt und von Geheimnissen der Vergangenheit beschwert.
Zu wissen, wann er gelebt hätte! Wenn dies möglich wäre!
Wie ein Stein, vom Krater ausgeworfen, tauchte es in ihm auf.
Mit einem Male stand er vor Derleths Wohnung am Rathausplatz. Dort nämlich verkehrte der Maler Leipold, das Malmedium, sehr viel. Es war ein ganz altertümliches Haus, holländisch schmal, fünf Stockwerke hoch, wie ein über und über vollgeschriebenes altes Buch in einem Trödelladen.
Die Türe stand noch offen. Langsam ging Elditt die engen Stiegen hinauf; ganz oben stand an einer altmodischen Messingschelle: Ludwig Derleth, Schriftsteller.
Eine große schlanke Dame mit großen grauen, merkwürdig klugen Augen öffnete, tat gar nicht erstaunt, daß es schon so spät war.
»Ja; Leipold war da.« Er schien schon alles zu wissen. »Gehen Sie nach Italien!« sagte er. Seine Art war ganz so, wie v. Seydewitz sie gezeichnet hatte. Die Stimme hatte etwas Klangloses, Krächzendes.
»In Italien kann man viel schwarze Magie lernen. Dort werden Sie alles erfahren. Sie sind Schönheitssucher und Phantast; im 16. und 17. Jahrhundert lebten viel solche Menschen wie Sie in Italien. Heute versteht man sie nicht mehr. Auch damals wurden gar manche von ihnen verbrannt. Gehen Sie nach Italien!« wiederholte er. »Dort lebt noch alte Hexerei, Schönheitssehnsucht und Bildzauber. Genießen Sie das Opium der italienischen Sonne und – erfüllen Sie Ihr Schicksal!«
Er sprach wie inspiriert, mit mächtiger Geste. Die Stimme hatte jetzt einen unwiderstehlichen Zauber. Die Bewegung, die in seinen Worten zitterte, ließ seine Wangen noch bleicher erscheinen, als sie gewöhnlich waren.
»Vergessen Sie nicht,« fügte er nach einigem Besinnen hinzu, »daß der Pfad, den Sie nachtwandlerisch gehen, zum Tode führt, der Weg zurück zu den Geheimnissen, von denen wir herkamen. Wäre ich gottesgläubig, so würde ich zu Ihnen sagen: Ihre melancholische Verstimmung ist die so häufige Form der Verzweiflung an Gott, wie sie Lenau, Byron, Leopardi empfunden haben. Ich würde Ihnen raten, in einer Kirche zu beten und Weihrauch einzuschlucken. Oder auch einmal Ihre Nerven ausruhen zu lassen. Aber ich stehe abseits von all diesen Dingen, mit einem Fuße im stygischen Reich der Göttin Proserpina. Uns alle ja ziehen dunkle Abgründe hinab . . .«
Am nächsten Morgen klopfte an Elditts Türe sein Freund Alfons Singer, ein trefflicher Pianist, der ihn öfter im Konzert begleitet hatte. Er besaß den altbayerischen Humor, der so nervenberuhigend wirkt und sprudelte nur so von Neuigkeiten, sprang von einem Thema zum andern. Ob er noch ein Konzert geben wolle? Im Café Stefanie habe er gestern einen sehr interessanten Schriftsteller kennen gelernt; ein Maler habe ihn zum Atelierfest eingeladen. Dann kopierte er Elditts hastige Art, auf das Podium zu gehen und seine sonderbaren, steifen Komplimente. Auch über den grauen Zwerg des Barons v. Seydewitz hätten sie gelacht.
»Besonders ein Schriftsteller Feldheim, der seit drei Jahren Lombroso studiert und den Zusammenhang von Genie und Wahnsinn. Weil er sehr viel Sonderbares an sich hat, will er von jedermann auch für ein Genie gehalten werden. Jetzt ist er auf die Idee verfallen, sich homosexuell zu stellen, weil fast alle Großen so waren. Er hält sich einen Buhljungen für die Fensterauslage im Café Stefanie; insgeheim aber läuft er jeder Ladnerin nach. Über dich hat er auch räsoniert, weil du den anarchistischen Vortrag Sontheimers angehört hast« – und noch anderes Kaffeehausgeklatsch.
Elditt lächelte vornehm.
»Feldheim ist auch Mitglied des ›Federklubs‹, der zur gegenseitigen Förderung der jungen Künstler gegründet wurde. Jedenfalls gehört es aber zu den geheimen Klubstatuten, daß jedes Mitglied hinter dem Rücken des anderen so sehr wie möglich intriguiert und klatscht.« –
Singer lachte. Elditt packte seine Koffer für die italienische Reise.
Gegen Mittag schon stieg er in den Zug. Im Coupé saß eine Italienerin, Frau Olzer, die schon zwanzig Jahre in München lebte; sie war lebhaft wie ein Springbrunnen, der in der Sonne glitzert; ihre roten Haare leuchteten wie Flammen. Wenn sie ernst blickte, waren ihre Augen wie verzehrt von Heimweh nach dem Süden.
Wie viel Italiener in München lebten! Fast eine italienische Stadt sei es. In sechzig Jahren sage man Monaco, nicht mehr München. Diese vielen italienischen Frauengesichter selbst unter den Einheimischen, alle mit großen Ohrringen; und in den Kirchen erst! Ganz wie in Italien beugen sie sich herab bis auf die Steinplatten. Und die vielen schwarzen Burschen in der Au drüben, mit ganz italienischen Augen! Ja, München wird bald Monaco heißen.
Dann erzählte sie von ihren beiden Söhnen: der eine, Konstantin, ein guter Maler, lief hinter jeder Ladnerin her; Alberto, der andere, saß still zu Hause und dichtete. Die Münchner Polizei gab auf ihn acht, der keiner Fliege etwas zu leid tat, weil er einmal bei dem Anarchisten Sontheimer gewesen war. Freilich, das war wichtiger, als einen Einbrecher oder Raubmörder zu entdecken. Die liefen am hellen Tage auf der Oktoberwiese herum und einer bat den Polizeikorporal sogar um Feuer für seine Zigarette. Einen betrunkenen Studenten erschossen zwei Polizisten, weil sie sich in Notwehr glaubten. Einen Studenten, der sich nicht mehr auf den Füßen halten konnte!
»Übrigens verdienen sie alle beide nichts. Es ist so schwer, durchzudringen.« –
Das konnte Elditt bestätigen.
Wie er damals zuerst nach München kam! Aus einem Dorfe voller Mittelalter und böser Zungen in eine prosaische, dünkelhafte, verhetzende Kleinstadt und dann nach München – ganz fremd, eingeschüchtert, wie auf einem trostlosen, unermeßlichen Ozean, der ihn in den Malstrom der Kunst hineinzog, in einen Höllenkreis gleich ihm Verdammter, die voller Sehnsucht ihre Hände nach dem fernen Ziel ausstreckten, die kämpften, schrien, tobten, beteten, fluchten, mit den Zähnen knirschten und weinend verzweifelten. Er sah ihre hochmütigen und doch unter dieser Maske trostlos blickenden Gesichter, ihre Hände, die vergebens an die Türen des Erfolgs pochten, das schreckliche Wort auf ihren Lippen:
»Wir werden es nie erreichen!«
Aber die gleiche Not brachte sie nicht näher, machte sie nur verbissener und neidischer, wie Galerensklaven, die an derselben Kette angeschmiedet sind.
Allmählich gewöhnte er sich an diese schreckliche, tiefe Einsamkeit, in der manchmal trügerische Hoffnungen aufblitzten und erloschen, ihm den Gipfel oben zeigten mit dem endlosen, schmerzvollen Weg hinauf, voll grauer Not und versteckter lautloser Verzweiflungen.
Ein lächerlicher Zufall brachte ihn dann in die Höhe: die Komposition eines Gedichtes des Prinzen Öttingen-Spielberg, der in München lebte. Dazwischen kamen wieder leere, mutlose Zeiten, wo er von einem Agenten zum andern ging, immer denselben Bescheid hörte:
»Es ist sehr schwer, heute bei dieser Konkurrenz sich durchzusetzen. Jeder muß so 50 000 Mk. zum Verpulvern haben, bis der Name gemacht ist. Und Deutschland überhaupt ist kein günstiger Boden für Konzerte . . .«
In dieser Zeit, wo Deutschland amerikanisch geworden war, von Militarismus, Chauvinismus und Geldmacherei vollauf in Atem gehalten, und wo man einen Künstler nur schätzte, wenn er jährlich eine viertel Million verdiente! . . .
Alles entschied dann ein großes Konzert im Münchner Kaimsaal, das ein junger belgischer Baron de la Hault zu Gunsten der in Courrières verunglückten französischen Bergarbeiter (der französische Botschafter war zugegen) arrangiert hatte.
Aber Erfolg und Ruhm kränzte nun eine Stirne, hinter der viel Müdigkeit und Gleichgültigkeit aufzuckte. Seine Fahrten über den Kontinent begannen, durch die ersten Konzertsäle und in die Prunkhallen der Residenzen. Der Fürst von Thurn und Taxis, reich wie ein Sultan der Märchen von 1001 Nacht und ein kunstbegeisterter Mäcen wie Cosimo von Medici, sein ferner Urahn, nahm die Widmung seines Hexentanzes an; die verwitwete Königin von Hannover, durch einen Banditenstreich Bismarcks ihres Thrones beraubt, hörte ihn oft in Bad Kissingen.
Frau Olzer sprach noch von Alberto und seinem Buche, das kein Verleger nehmen wollte, und daß ein Privatdozent Dr. Brettschneider bei ihr zur Miete wohne und mit Konstantin einen Skandal gehabt habe, weil dieser die Polen verteidigte.
»Brettschneider«? fragte Elditt. »Ein abscheulicher Name. Wer so heißt, muß notwendig ein unsympathischer Mensch oder ein Idiot sein. Merkwürdig übrigens, daß auf Patriot sich Idiot reimt. Er scheint ja alle Untugenden zu haben. Fehlt nur noch, daß er auch Reserveleutnant ist.«
Frau Olzer bejahte es lachend.
»Lassen Sie ihn ruhig ausziehen; am besten in einen deutschen Urwald, wo er sich Auerochsenhörner aufsetzen und jeden Tag einen Polen und Franzosen verspeisen kann.« –
Dumpf und gärend stieg der Haß gegen Dr. Brettschneider in ihm auf. Rein aus einer Gedankenabstraktion und aus dem Widerwillen gegen seinen barbarisch klingenden Namen.
Er haßte alles, was nach Patriotismus roch. So viel Barbarei, Bestialität und idiotische Sentimentalität nistete sich unter diesem Worte ein, das so harmlos klang und so überflüssig war im 20. Jahrhundert der drahtlosen Telegraphie. Zu dem Hasse gegen ihn wirkte aber auch eine hellseherische Ahnung mit, daß er noch mit ihm zusammentreffen werde. Vielleicht hatte sich Dr. Brettschneider schon in München gegen ihn feindlich gezeigt.
»Eine Cypresse!« jubelte jetzt Frau Olzer.
Es war in der Tat die erste. Still und feierlich stand sie am Wege; der schimmernde Zug der Alpen schwand hinter ihr. Die steil herabstürzenden Hügel glühten in der Mittagsonne in metallischem Glanze. Plötzlich, ohne zu wissen, warum, in spielerischer Laune, sagte Elditt:
»Ich liebe deswegen Italien so sehr, weil ich dort lebte, vor vielen Jahren, im 17. Jahrhundert.« – »Vielleicht,« fügte er schnell bei.
Er wollte von Frau Olzer keinen Vortrag über Seelenwanderung hören.
»Mein Alberto glaubt es auch,« sagte Frau Olzer, als verstünde es sich von selbst. »Er liebt auch diese Zeit und schreibt an einem Epos über den Philosophen Giordano Bruno, der gesagt hat, die hl. Dreifaltigkeit sei ein Gott mit drei Köpfen und Gott Vater sei schon so alt, daß er Moos im Barte habe. Sie haben ihn verbrannt, weil er ein Heide war.« –
»Ich weiß es,« murmelte Elditt, als sähe er den Holzstoß, die züngelnden Flammen und die schmalen, fanatisch zusammengekniffenen Lippen des Märtyrerantlitzes. Von Land zu Land hatten sie ihn gehetzt, aus Neapel nach Rom, nach Genf, Wittenberg, Helmstadt, Paris, London. Papisten, Calviner und Lutherische hatten sich brüderlich vereint gegen ihn, der die liebsten und geläufigsten Ideen des behäbigen geistigen Mittelstands mit flammendem Spott übergossen hatte: die Liebe, das Weib, die Vereinigung der Geschlechter, die Einbildung, daß unser winziger Planet der Mittelpunkt des Weltalls sei. Alles, alles hatte er wie mit fressenden Flammen überschüttet, dafür das Reich der alten Heidengötter gepriesen: Jupiter, die ewige Kraft, Pallas, die ordnende Vernunft, Dionysos, den Rausch der Poesie.« –
Er versank in Träumerei. Draußen war Nacht, die italienische Nacht, die einen dunkelblauen Mantel trägt. Er fühlte, daß er der ergebenste Anhänger des Philosophen gewesen wäre, wenn er damals gelebt hätte. Wie oft war er in der Münchener Glyptothek vor diesen sanften Griechengöttern gestanden, die von Waiblinger, Hölderlin und Schiller in flehenden Hymnen besungen worden waren. Hehr, wandellos, in stiller Größe standen sie; heute noch so wie vor dreitausend Jahren. Kein Opferrauch stieg mehr vor ihnen auf, seit das Christentum sich wie eine Schlammflut über die heidnische Erde ergossen hatte und der Schatten des nazarenischen Kreuzes auf die angstbebende Erde gefallen war. Dürrer, fanatischer Priestermund sprach das Anathem über sie, bannte sie in Einöden, wo sie vor Glockentönen zitterten und ein armes Schattenleben führten.
»Man kann zaubern, wenn man ein altes Heidenbild hat,« sagte Frau Olzer. »Sprengt man Weihwasser darüber, so krümmen sie sich und stöhnen, als ob sie lebendig wären.« –
Elditt stutzte. Maler Leipold hatte dasselbe gesagt. »Aber,« fügte Frau Olzer mit stolzer, italienischer Geberde hinzu, »nur in Italien haben sie diese Kraft, in dieser kristallreinen, klaren Luft. Stellt man sie in ein nordisches Museum, so sinken sie zusammen, wie die anderen Götzen aus Babylon oder Ägypten. Drum haben sie dort die traurigen Marmoraugen.« –
»Nein, sie starben nicht,« sagte Elditt träumerisch. »Sie trotzten der Verfolgung in düsteren, barbarischen Zeiten. Sie lebten fort, in Schutt begraben, erweckten sich Helfer, Lobredner, erwachten zu Halbleben. An Lebende klammerten sie sich, Vampyren gleich.«
Er erzählte von dem Zwerge des Barons, worüber Frau Olzer unbändig lachte. Elditt fühlte sich gekränkt, als hätte sie etwas angetastet, was aus dem Tiefschlaf der Seele sich an's Licht rang.
Schon winkten Genuas Felsen, Hörner und Silberlinien aus der Ferne; gleich einem aufgespannten Mantel ging es das steile Ufer bis zum blauen Meer hinab.
Die Tunnels enthüllten und verbargen abwechselnd die wundervolle Landschaft. Das endlose, blaue Meer rollte bis an den Bahnstreif, und den Meeresstrand entlang ragten die felsigen Höhen bald in borstenartigen, schmalen Fetzen, bald von riesigen Felsstücken bedeckt. Hinter den Leuchttürmen tauchten Dampfer auf; schon schwammen kleine Barken auf sie zu. Maultiere, in der Ferne klein wie Mäuse, zogen zweirädrige Lastwagen. Ein Dampfer tauchte auf, der auf eine Insel zu hielt; er stellte sich auf im Wogenkampfe und kehrte langsam um. Sonnenbeglänzte Segel schwankten auf und nieder, verschwanden plötzlich. Schiffssignale heulten, die Hafenketten rasselten, Masten taumelten in der schaumsprühenden See.
Genua war es. Elditt mietete sich in einem Hotel unweit des Palazzo Braschi ein, wo Verdi seinen Falstaff komponiert hatte. Er beschloß, hier ganz einsam zu leben, wanderte fast den ganzen Tag an der Küste.
Nietzsche, der kranke Titan, war auch hier gewesen und hatte seine Sehnsucht an die stillen Griechentempel anbranden lassen, freilich bei allem Fanatismus seiner schmerzlichen Weltentfremdung doch vorsichtig alles scheuend, was an die Grenzen des dem Philistertum noch Erträglichen streifte. Oft war der Philosoph am felsigen Ufer gelegen, hatte den Eidechsen zugeschaut und sich in die Seele des Meeres und seiner Wellen verkrochen, bis dieselbe unerklärliche Macht, welche den stolzen Despoten Nebukadnezar in den Staub zu den Tieren herabgebeugt hatte, auch ihn aus Zarathustras frostklarer Höhe in die trostlose Irrenzelle hinabstieß.
Elditt sah in dieser Einsamkeit fast keinen Menschen; nur manchmal begleitete ihn ein junger Student aus Cottbus, Klämbt, ein Monstrum an archäologischer Gelehrsamkeit, dem keine Ausgrabung fremd war seit den Zeiten der Renaissancepäpste. Er sprach viel von der Mumie einer ägyptischen Prinzessin, die noch aussah, wie von gestern. Er hatte sie photographiert, genau wie eine moderne Italienerin, die auf dem Corso spazieren fährt. »Es gibt keine Vergangenheit,« sagte er. »Alles ist Gegenwart.«
Eines Tags schlug Elditt wieder den Weg nach Spezia ein. Myrten, Lorbeer- und Feigenbäume kletterten die Felsen hinauf; Cypressen wiegten ihre Schatten hin und her. Ganz oben waren die Felswände von abenteuerlichen Zinnen gekrönt, in deren Spalten wie in cyklopischen Steinvasen knorrige, verzwergte Feigenbäume hingen und rote Oleander flammten.
Eine wilde Felsengruppe reizte ihn besonders; die oberste Spitze sah aus, wie mit dem Schwerte abgehackt, die andere hart und kahl, gleichsam erbleicht vor Zorn. Hier war Schweigen; das Schweigen des Geheimnisses. Nietzsche war hier mit seinem jungen Freunde Brenner gewesen; als dritte hatte sich die Idealistin Malvida eingedrängt, die hier mit dem Propheten des Übermenschen zusammen Probleme zu lösen gedachte, so gemütlich, wie Hochzeitsreisende im Hotel zusammen einen Pfirsich essen. –
Er mußte lächeln, während er langsam zum Meer hinabstieg. Dort, in den braunen, glatten Felsen, tummelten sich Knaben mit Leibern wie aus Bronce, warfen sich im Eifer des Spiels mit Kieselsteinen. Dann verschwanden sie nach der weißgrauen Gartenmauer, die sich endlos im Sonnenbrand mit ihren überhängenden Büschen hinzog.
Steiler, steiniger wurde der Weg, wie von ausgeglühter Lava. Schmerzlich einsam tauchten einige Inseln auf.
Plötzlich, fast elementar packte Elditt die Sehnsucht, sich mit irgend einem Wesen auszusprechen, gute Musik zu hören, in einem Museum eine künstlerische Offenbarung auf sich wirken zu lassen.
Elditt war nicht geschaffen, die Einsamkeit zu ertragen, weil sein Geist zu ahasverhaft und unruhig war, eine Beute seiner wechselnden Stimmungen.
Schon seit einer Stunde hatte er am Strande eine Gestalt herumklettern sehen, alt, seltsam und gebrechlich; sie tauchte auf, verschwand wieder. Fast unwirklich erschien sie Elditt, einer der unseligen Schatten, die Vergil am Gestade des Styx schildert. Einmal kam er ihr ganz nahe, als er an dem Tunneleingang vorüberkam; dann kletterte der Alte schräg die Felsen hinan.
Es war ein Deutscher, das sah Elditt; etwas Scheues, Melancholisches war in seinem Wesen. Über den häßlichen, michelangelesken Zügen leuchtete ein in Schmerz und Enttäuschungen errungener Seelenadel.
Elditt folgte ihm unauffällig. Große Granitfelsen türmten sich in sonderbaren Pyramiden, auf die das Moos wunderlichen Mosaik gezeichnet hatte; einige glichen Riesenfischen, bärtigen Seekrebsen.
Dort in einem Felsenwinkel hatte er ihn verschwinden sehen. Schnell ihm folgend, entdeckte er eine Art Felsenstube, ähnlich Capris Wassergrotte. Ein stiller, vom Grunde her smaragdgrün durchschillernder See versteckte sich unter Felsgruppen, knorrigem Gestrüpp; die Wellen kräuselten sich kaum, als wagten sie nicht, zu atmen. Am Eingang zur Grotte kletterte ein brauner Junge, der ein paar graue Ziegen weidete, ein kleiner Faun, der lebendig geworden war, oder Pan selbst. Elditt gab ihm einige Münzen.
»Gehen Sie nicht hinein!« warnte der Junge. »Ein verruchtes Götzenbild ist drinnen; meine Ziegen haben schlimme Kräuter gefressen, weil der Teufel in der Grotte alles Vieh verhext.«
Er deutete auf einen Fischer mit einem verschmitzten, öligen Gesicht, der sich am Strande herumtrieb.
»Pancrazio, der Fischer da unten, hat gesagt, daß er das Götzenbild drinnen zerschlagen will.« –
Aber schon war Elditt in die Höhle hinabgeklettert. Erschreckt flatterten wilde Tauben auf; einige Felsstücke fielen klatschend in den See.
Zwischen dem Geflecht und Gezack der Felsen bildeten die herabsickernden Wasserfäden phantastische Figuren wie Zwerge und wunderliche Tiergestalten, und dichtes Gestrüpp, das über das Wasser seine Zweige deckte, verwehrte jedem Eindringling den Zugang.
Elditt sprang von Felsen zu Felsen, kletterte an einem Feigenbaum hinauf und jetzt – ein staunender Ausruf entfuhr seinen Lippen – stand das Marmorbild, der böse Götze vor ihm: ungefähr in der Mitte der Grotte; bis weit über den Sockel von Jasmin umrankt.
Die Statue war überlebensgroß, aus weißem Marmor und in dem fahlen Zwitterlicht der Grotte hatte sie etwas Unwirkliches, als wäre sie aus einem Grabe hervorgekrochen: Jupiter in der Gestalt eines Adlers, der mit ausgebreiteten Schwingen den schönen Knaben Ganymedes in den Olymp entführt. Der schöne Ephebe klammert sich voll entzückter Hingabe an ihn und in seinen hellen Knabenaugen leuchtet schon die Herrlichkeit des olympischen Götterfestes, wo sie Nektar und Ambrosia trinken.
»Der alte Pan ist nicht tot,« murmelte Elditt, von Entzücken über dieses Kunstwerk überwältigt.
Fast erschrak er vor seinen eigenen Worten. Das Echo weckte seltsame, traumhafte Bilder, zitterte in den Felswölbungen nach wie ein verlöschender Akkord.
Von oben, durch unzählige Spalten fluteten die Sonnenstrahlen; flirrend und flimmernd warfen die Meereswogen das grün goldne Licht der Wellen herein zu einem phantastisch gemischten Akkord und in diesem Dämmerlichte war es, als höbe der Adler die Flügel, immer höher zu entschweben, als frohlockte der Knabe, der sich in der Umarmung des Gottes wußte.
Der Strauch Tuberosen, der sich am weißen Marmor hinaufrankte, hauchte verschwenderischen Duft; hoher Ginster und rotblühendes Gestrüpp flammten wie das leidenschaftliche Brandopfer eines Heiden und Schönheitsanbeters.
Der Knabe Ganymedes war von vollendeter Schönheit, die zu allen Sinnen sprach und sich über seine Glieder ausgoß wie ein Wasserfall silberner Harmonien. Halb Apollo, halb Parsival, der griechisch provençalische Gott, vereinigte er die maßvolle gehaltene Schönheit der Antike mit dem schwärmerischen Reize einer romantischen Epoche, die aus dem sehnsüchtig-schwärmerischen Aufschlage seiner großen, mandelförmigen Augen leuchtete. Der schwellende, halboffene Mund schien zu seufzen, als vermöchte er das Glück seiner Himmelfahrt nicht zu tragen, und über den strahlenförmigen Brauen, die über der griechischen Nase leicht zusammentraten, wölbte sich eine Stirne, die groß und edel, seinen Zügen etwas Geistiges verlieh. Der Adler mit seinen gespreizten Flügeln war in dämonischer, visionärer Art gesehen, ein Geistervogel; aber in der Art, wie er den Knaben emporhob, war viel spielerische Anmut, ein sonderbarer, feinfühliger Reiz, die Sehnsucht nach den Götterfesten da oben im Glanze der goldnen Tage und purpurnen Nächte.
War durch ein Wunder die Antike zum Leben erwacht? Dort hinter dem kleinen Feigenbaume, lugte da nicht ein ziegenfüßiger Pan hervor? Tönte nicht der Schall seiner süßen Flöte? Würde nicht aus diesen grünen Wellen eine Najade emportauchen, den schönen Knaben ins Wasser hinabzuziehen, wie einst den Hylas, den zarten Liebling des Herkules?
Ein Rausch der Schönheit überwältigte ihn. All das, was er bisher geträumt, gab Resonanz, und seine Seele jubelte auf: Hier war der Gott, den er anbetete, wie andere den Buddha oder Mohamed, und diesem Gott, das fühlte er, mußten alle anderen sich beugen.
Ihm war, als sollte er auf die Knie sinken; und in dieser schwärmerischen Stimmung, die Trauer dem höchsten Entzücken beimischte, brach er in Tränen aus.
Ein leichtes Geräusch ließ ihn auffahren. Hinter ihm stand der alte, graue, verwitterte Mann, den er auf den Felsen oben gesehen hatte, sonderbar verschüchtert, fast um Entschuldigung bittend; aber der Gesichtsausdruck des Alten hatte etwas Unheimliches, wie der eines Menschen, der viel Schmerzliches in sich hineinwürgt und vor der Welt verbirgt.
Er war ungefähr 60 Jahre alt, bartlos, wie ein Schauspieler; vielleicht war auch die jüdische Abstammung diskret in seinen Zügen angedeutet. Das Merkwürdigste aber waren seine Augen, die unendlich traurig schauten und etwas Totenstarres hatten.
Während er sprach, bemerkte Elditt auch die Falte, die vom Nasenflügel tief eingeschnitten zum Kinn lief, und die der Psychiater, obwohl sie sehr oft auch bei geistig Gesunden anzutreffen ist, die Narrenfalte nennt.
»Diese Statue habe ich hier aufstellen lassen. Mein Freund Olivier, ein junger belgischer Bildhauer, hat sie angefertigt. Ein Glück, daß niemand sich in diese Höhle hineinwagt; sonst hätte Dummheit und Fanatismus dieses Meisterwerk zerschlagen. Sie wittern das Antichristliche, Heidnische an der Statue; und wie kleine Kinder einen Wurm, den sie sehen, zertreten wollen, so zuckt es in ihren Fingern, diese armen Götter hier in Trümmer zu schlagen.« –
Während sie langsam die Grotte verließen, erzählte der Alte, wie er nach Genua kam. Dr. Artur Krongold war seit 12 Jahren in Italien; aus einer unermeßlich reichen Hamburger Patrizierfamilie. Seine Mutter stammte aus einem spanischen Hause, dessen Stammbaum zu einem der ersten jüdischen Geschlechter Spaniens hinaufführte. Einer ihrer Urahnen war Minister in Granada gewesen; dann hatten sie das schreckliche Martyrium der spanischen Inquisition erduldet. Im 17. Jahrhundert war Belcampo nach Texeira der reichste Mann Amsterdams gewesen. Texeira hatte die Gänge seines Hauses mit Goldplatten pflastern lassen und als Christine von Schweden, die Tochter Gustav Adolfs, nach Holland kam, stieg sie bei ihm ab. Auch Belcampo konnte ein palastartiges Haus sein eigen nennen. Der Vater Krongolds war Konsul. Krongold selbst studierte zuerst Chemie; durch eine Explosion verlor er zwei Finger seiner rechten Hand und lebte seit dieser Zeit bloß noch als Privatmann seinen künstlerischen Neigungen. Er hatte das unglückselige Talent, die vielen kleinen Nadelstiche des Lebens zu schmerzlichen Tragödien auszubilden. Als Junggeselle reiste er sehr viel und geriet bald in jenen Kult ästhetischer Feinschmeckerei, welche über dem Apollo von Belvedere das reale Leben vergißt.
»Vielleicht standen alle Wege zum Glück mir offen,« sagte er; »aber ich ging sie nicht. Das Glück winkte mir öfter, aber ich glaubte nicht daran. Ich war zu sehr Grübler; das Leben hat sonderbar mit mir gespielt – hat mich umhergeworfen, wie bei einem Maskenfest, wo die kleinen Kinder alte Masken in der Gosse herumziehen. Ich habe sogar den Künstlertraum geträumt, habe mich als Maler, Bildhauer und Musiker versucht; aber es war ein nutzloses Ringen. Ich war kein Genie, kein Sonntagskind. Jetzt bin ich ein vom Leben zermürbter alter Mann, ein dürrer Ölbaum, an den man die Axt legt. Wenn ich an all die Enttäuschungen denke, die ich durchmachte, an all die stillen, lautlosen Tragödien, zu denen ich lächeln mußte, um nicht auch noch Spott herauszufordern, so begreife ich Voltaires grimmigen Spott, wenn er die Welt und unser Dasein einen bösartigen Streich Gottes nennt. Jetzt sind meine Angehörigen alle gestorben; mein Weg wird immer einsamer, reicher an Gräbern und stillen Toten. Haben Sie in Florenz die basche gesehen, Wiesenhänge, die plötzlich in kraterartiges, ödes Geschiebe übergehen und inmitten des blühenden Landes wie eine Art Aussatz aussehen? – so ist meine Seele. – Mehr interessieren wird Sie mein Freund Olivier de Maisonpierre, ein junger Belgier, der diese Statue gemacht hat. Er war und ist noch das große Schicksal meines Lebens. Können Sie sich in die Seele eines alten Mannes hineinversetzen, der jahrelang sein ganzes Leben, seine Hoffnungen und Triumphe auf einen Menschen setzte und allmählich mit unbarmherziger Klarheit sehen muß, daß er sich getäuscht hat, daß der Mensch, in dem er einen Titanen, ein Genie sah, klein und alltäglich wird wie alle andern. Seit ich diese letzte große Hoffnung begraben habe, lebe ich bloß noch in Italien, fast das ganze Jahr hier in meiner Villa, froh, wenn ich keinen Menschen sehe.«
An den Trümmern eines alten Kastells vorbei gingen sie langsam zur Villa; eine kleine Allee würfelartig geschnittener Roßkastanien und üppige Gärten vornehmer Villen brachten Abwechslung in die Monotonie des felsigen Pfads. Eine Welle süßen Wohlgeruchs flog von den Rosenbeeten der Gärten über das violette Blütenmeer des Ibiscus, schwelgerische Weinranken und dunkle Feigenkuppeln.
Dr. Krongold blieb stehen, deutete auf das Meer, das am Rand des Horizonts tief und tiefer safrangelb schimmerte, während die Felsufer nur wie ein dunkler unregelmäßiger Streifen zwischen Himmel und Erde erschienen. Masten tauchten auf, deren Silhouetten schwarz auf dem safranfarbenen Wasser standen.
»Hier war ich oft mit dem jungen Olivier; ich machte ihn auf die malerischen Lichteffekte aufmerksam; aber merkwürdigerweise liebte er das Meer nicht. Er malte an einem Frauenkopfe, konnte sich aber nie genügen, und als er mich verließ, war das Bild noch nicht weiter.« –
Er hielt erschrocken inne. »Dort! – Sehen Sie! – Pastor Cucumus – mein ärgster Feind – gehen wir schnell den anderen Weg! –«
Ein noch junger Mann, mager, mit hastigen Bewegungen, kam von der Vigne her, die sich neben der Villa Krongolds hinzog.
»So oft er nur in die Nähe meiner Villa kommt, habe ich Unglück. Als ob er durch seinen Blick mir Böses anhexen könnte. Sie müssen sein Tartuffegesicht sehen, – die evangelischen Betschwestern der deutschen Kolonie schwärmen für den ›schönen Mann mit dem Johanneskopf‹. – Sie müssen diese Lippen sehen, die von Salbung triefen, diese hämischen, lauernden Lippen.
Ich bin gewiß Freigeist, aber mir ist doch der stupideste Katholizismus, weil er wenigstens poetisch ist, lieber als diese banausische, in kahlen, weißgetünchten Zellen sich ihrem Herrn Jesu anbiedernde Evangelisationsgesellschaft.
Neulich hat er gegen meine Ganymedbüste gepredigt; die venetianische Gräfin de Conti, die seit einigen Monaten hier lebt, hat mir Schauermärchen davon erzählt. Diese Heiden mit ihren Lastern, die in Verzweiflung und Dämonenkult, Selbstmord und Wahnsinn endeten – natürlich! Das ist das pfäffische Leiblied. Ich habe nun der Gräfin einen Kupferstich gezeigt, worauf Calvin abgebildet ist, wie er in Noyon wegen Sodomiterei mit kleinen Knaben vom Henker mit glühendem Eisen auf seine Schultern gebrandmarkt wird.«
»In welches Wespennest haben Sie gestochen!« rief Elditt mit komischem Entsetzen.
»Das ist Ehrensache,« sagte Dr. Krongold. »Ich gebe zu, daß ich selbst von seinem Fanatismus angesteckt bin. Dazu hat der Pfaffe noch den traurigen Mut, mir meine halbjüdische Abstammung vorzuwerfen. Aber sicher hat der ärmste, zerlumpteste polnische Jude mehr Seelenadel als dieser aus Sachsen davongejagte Hetzapostel. Übrigens habe ich diesen Kupferstich mit der Brandmarkung Calvins vervielfältigen lassen und in tausenden von Exemplaren in Genua und Umgebung verschickt.«
»Sie sind ja ein wahrer Antichrist!«
Beide lachten.
»Weil ich Heide bin, haßt er mich,« fuhr Krongold fort. »Mich und meine armen griechischen Heidengötter. Aber bis jetzt sind alle seine Pfeile an ihren göttlichen Marmorkörpern abgeprallt. Ich habe ihnen nämlich ein Asyl bereitet, ihnen in meiner Villa einen Tempel aufgetan. In einem großen Marmorsaal sind sie aufgestellt: Apollo, Dionysos, Orpheus, auch die schönsten Phantasiebilder großer Künstler, die schönen Jünglinge Botticellis und Bronzinos; denn auch dies sind Götter.
Nun hat Dr. Cucumus einen infamen Streich gegen mich geführt. Er sprengt in der Nachbarschaft meiner Villa aus, daß meine Götter Unglück brächten für Menschen und Vieh. Neulich schlich sich ein Bursche um meine Galerie herum und als ich nachsah, hatte er das große Fenster mit einem Steinwurf zertrümmert.
Einmal schickte er mir auch den Sindaco ins Haus; ich stopfte ihm den Mund mit einigen 5 Lirestücken. Eine Berlinerin, die meine Familie schon 20 Jahre kennt, war neulich in Genua. Als ich sie auf dem Molo traf, sah sie an mir vorbei. Ich bin hier vollständig verfehmt und geächtet. Nur zwei Diener hausen bei mir.« –
Sie standen am Gartentor. Elditt staunte über die Pracht der Rosen- und Narzissenbeete; die Rosen schlangen ihre blühenden Ranken um das Grau der Statuen, warfen Guirlanden von Statue zu Statue, wälzten sich über die Treppen und füllten die Terrassen. Sie warfen sich hinein in die Gipfel der Cypressen und Pinien, die sie in wahre Blütenpyramiden verwandelten.
Darüber wölbten sich die gigantischen Formen der Ölbäume, die groß und still dastanden wie eine sanfte Schafherde.
»Hier sehen Sie meine Villa, das Heim des Antichrists, wie Pastor Cucumus sagt. Wer sie betritt, schwört den alten Göttern zu und heftet an seine Schritte die Verwünschungen und den Haß dieser ganzen Gegend.«
»Ich finde es immer possierlich, von der Canaille und der Dummheit gehaßt zu werden,« lachte Elditt und folgte Dr. Krongold, der voranschritt.
Die Villa war der berühmten Villa Mills auf dem Palatino in Rom nachgebildet, im gotisierenden Stil, mit kleinen Türmen. Cypressen und Rosenhecken breiteten sich über das schimmernde, langsam zerbröckelnde Gemäuer und überließen es dem stillen Glanz seiner Träume.
Hier konnte Dr. Krongold seinen Träumen leben; das moderne Leben, geschwätzig, bunt, aber hohl und seelenarm brandete vorbei. Hier war ein Asyl für tote Götter und stille Menschen, die sich und die Welt verloren hatten.
Monatelang betrat niemand diese Schwelle; Dr. Krongold las auch keine Zeitung mehr, er lebte wie auf Meeresgrund, wie in einem verwunschenen Schlosse. Ein alter Diener erschien; mit einem grinsenden Lächeln öffnete er die Türe zum großen Empfangszimmer, das in gleichmäßig graugrünem Farbenton ähnlich dem stumpfen Schimmer der Olivenhaine gehalten war. Auf einem Marmortischchen, neben der Statue des Morpheus, lag ein Band Swinburne.
»Einer der letzten Heiden,« lächelte Krongold. »Als ob er zu Sophokles' Zeit gelebt hätte – dabei mußte er im Land der puritanischen Mucker, Boxer und weibervergötzenden Sonntagsheiligen zur Welt kommen. Ist dies nicht tragisch?«
Jetzt erschien Namir, ein wunderschöner junger Nubier, und brachte Goldorangen.
»Das ist ja selbst ein kleiner Gott,« staunte Elditt.
»Er ist jetzt vier Jahre bei mir; liebt mich fanatisch. In Triest habe ich ihn aufgelesen und als Diener aufgenommen. Als ich abreiste, schwamm er dem Dampfer nach. Das rührte mich so, daß ich ihn für immer als Diener annahm. In meinem vereinsamten Leben ist er mir viel. Oft ergötze ich mich an seinem kindlichen Geplauder und seiner wilden, knabenhaft heftigen Zuneigung. Dr. Cucumus in seiner christlichen Liebe findet natürlich auch dieses seelisch zarte Freundschaftsverhältnis anstößig und schlägt daraus Kapital, wobei er geschickt den Umstand benützt, daß ich als Weiberfeind verschrien bin. Feind bin ich ja nicht; aber ich bin zu der Erkenntnis gekommen, die am tiefsten den Gegensatz zwischen Christentum und Heidentum beleuchtet: Bei den alten Griechen war der Mann, der Ephebe, der Herrschende, der Vergötterte; heute im Zeichen der christlichen Kultur, welche die weiberhaften Eigenschaften auf den Thron hebt, ist es das Weib, die Ladnerin, die Prostituierte sogar. So werden Sie nun verstehen, daß ich nur männliche Büsten gesammelt habe, gleichsam als Protest gegen die herrschende Kultur, für welche das Weib das Ja und Amen des Universums ist. Auf meinen Reisen, die mich durch drei Weltteile führten, habe ich die schönsten Statuen und Bilder gesammelt; über alle Ausgrabungen von Schliemann an bis auf die allerneuesten bin ich auf dem Laufenden.«
Sie gingen jetzt über den Korridor hinaus auf den gepflasterten Marmorhof, auf dem eine Fontäne plätscherte.
Ein großer hallenartiger Bau, mit vorgebauten Säulen und Nischen, in denen allegorische Büsten standen, faßte in Hufeisenform den Hof ein. Große Olivenbäume breiteten ihre Äste wie segnend darüber.
Vor dem Portal stand eine steinerne Sphinx, auf den mit frischen Teerosen bestreuten türkischen Teppich niederschauend.
»Namir streut die Rosen; er weiß, daß ich mich darüber freue,« sagte Dr. Krongold. »Sehen Sie! Selbst in der Fontäne schwimmen Rosen! –«
Dann schlug er langsam und feierlich die schwersamtne Portière zurück.
»Erneuere dich, Glanz trunkner Zeiten! Steht auf, arme, entthronte Götter!« murmelte er wie ein tragisch geheiligtes Gebet.
In dem Saale mit seinen Nischen, Phönixpalmen, kostbaren Gesimsen und goldenen Lotoszieraten aus buddhistischen Tempeln waren in geschmackvoller Anordnung Gemälde, Skulpturen, Bildsäulen, kleine Bildchen, Silhouetten, selbst Photographien. Da war Orpheus, der von Melodien und Besessenheit zitternde Ephebe, Patroklus, der blonde Knabe des Achills, Lucifer, der gequälte, ob seines Stolzes und seiner Schönheit beneidete Widersacher Gottes, Antinous, schwelgend in verzückter, träumerischer Schwermut, da waren die Jünglingsgestalten des Mittelalters, der blondgelockte Fürstensohn Konradin und sein armer Freund, der lächelnd für ihn den Kopf auf's Schafot legte, Ernst von Schwaben ferner, dessen reine Schönheit die Gefahren des Magnetberges bezwang, Bronzinos florentinische Knaben und Jünglinge, von sphinxartiger Schönheit wie geängstigt. Die Träume Sodomas und Cellinis brannten in erlesenen Bildern wie eine Phantasie aus Dorian Gray.
Stolze bleiche Narzissen standen in langen Vasen wie Altarkerzen. Kostbares Öl brannte in antiken Dreifüßen.
Dr. Krongold zeigte auf eine Photographie eines etwa zwanzigjährigen Jünglings, die mit Blumen bekränzt auf einem altarartigen Aufsatz stand. Die seltene Wunderblüte der Aloe mit ihrem stachligen Blätterkranz breitete sich darüber wie das schmerzliche Mysterium einer phantastischen Passion.
Die Züge waren südländisch, von belebter Blässe, die dunkelschwarze Lockenfülle gab ihm etwas von einem antiken Gotte, aber einem Gotte, der alle Schmerzlichkeiten und Bitternisse des Lebens sah. Um die Lippen war ein starrer, fast harter Zug, der mit dem Auge korrespondierte, wie Quellen, die unter der Erde heimlich zusammenfließen.
»Mein junger Freund Olivier, der Bildhauer,« sagte Dr. Krongold. »Mein Schicksal, wie ich Ihnen schon gesagt habe. Der, der mich enttäuscht, meinem Leben den Inhalt genommen hat.«
Und Elditt in die Nische ziehend, erzählte er ihm die traurige Geschichte. Den stolzen, alles beherrschenden Übermenschen, den Renaissanceheros des 16. Jahrhunderts wollte er in ihm heranziehen, für ihn und seine Kunst leben, sein zweiter Vater sein, nachdem seine Eltern ihn verstoßen hatten.
»Aber er hat mich enttäuscht,« sagte er traurig, mit zitternder Stimme. »Jeder Mensch hat in seinem Leben Augenblicke gehabt, wo er vor einem Zauberschlosse stand und nur auf den goldenen Schlüssel wartete, es zu erschließen. Auch ich stand davor; aber es versank wieder in den Erdboden. Ich habe Olivier die dornenvolle Künstlerlaufbahn erleichtert; von seinen Eltern verstoßen, wäre er in Elend untergegangen, wenn ich ihm nicht unter fingiertem Namen und für fingierte Aufträge Geld geschickt hätte. In die Statue des Ganymedes hat er soviel Genie gelegt, aber es ist doch auch viel Gequältes darin. Sehen Sie dann sein Bild; in seinen Zügen ist so viel Verstand, Festigkeit, Klarheit, Elastizität und Grazie, wie sie die Franzosen so oft besitzen. Und doch dieser ängstliche Kleinmut in seinem Schaffen! Jetzt schwärmt er sogar für Wiertz, den Hintertreppenmaler, und die Souterrainpoesie der Satanisten. Eine Zeit lang lebte er in Paris; da war ich mit ihm zufrieden. Dann traf er in Venedig ein Weib, ungefähr nach seiner Schilderung die Proserpina von Jones, und jetzt fing er wieder an, den Frauenkopf zu malen, an dem er sich schon acht Jahre abquält, ohne ihn je zu vollenden. Ist es nicht tragisch? Er, den ich schon als den Napoleon der Malerei, als den Verteidiger der alten griechischen Götter sah! Er wird noch ganz in das Kleine, Alltägliche unserer anderen modernen Maler herabsinken. Nie mehr wird er die Schönheit selbst malen; immer nur dürftige Schatten des Schönen, die gequälten Träumen abgerungen sind. Er ist kein Draufgänger, kein Mann des Kampfes, wie Angelo und die Renaissancemenschen, kein Titane wie Carducci, der als Jüngling mit einem gezähmten Wolf in den Maremmen umherzog. Die Renaissancemenschen waren kalt, skrupellos, traten alles nieder, was sich ihnen entgegenstellte, faßten selbst den Teufel an den Hörnern und rissen sie ihm aus; in Glanz und prunkender Pracht stiegen sie empor, er aber steigt in die Niederungen des Alltags, grämt sich, weil seine Eltern ihn verstoßen haben.«
»Ich lese aber doch aus seinen Augen, daß Sie ihn zu hart beurteilen,« sagte Elditt. »Und im starken Kinn steckt viel Energie. Wo ist er jetzt?«
Dr. Krongold seufzte. »Er schreibt fast nicht mehr. Der letzte Brief kam aus Sizilien, wo er den Ätna bestieg. Überhaupt beunruhigt mich sein ahasverhaftes Herumreisen. Wie kann er sich da zu ernstem Schaffen konzentrieren! Ich wollte ihm schon kein Geld mehr schicken, wenn ich es nur übers Herz brächte. Aber ich liebe ihn trotz allem. Wie meinen Sohn, meinen verlorenen Sohn.«
Irgend etwas, das v. Seydewitz gesagt hatte, fiel Elditt ein.
»Ich glaube, daß der Geist der Antike, das gesteigerte Schönheitsgefühl, dieses leidenschaftliche Betonen ästhetischer Lustgefühle verhängnisvoll werden kann, im Leben sowohl wie in der Kunst,« sagte er vorsichtig.
Dr. Krongold stutzte.
»Wenn ich schuld wäre!« murmelte er. »Wenn ich es denken müßte! Oliviers Verhängnis ist ein Phantasiebild des Weibes, das er, – ich kann es mir nicht denken, wo – irgend in einer Vergangenheit aufgelesen hat und das er nun konstruieren will und immer wieder von neuem malt, immer wieder von neuem zerreißt.« –
Elditt nahm die angebotene Gastfreundschaft bei Dr. Krongold an. Er besuchte die Museen, spielte Geige, sammelte Muscheln und Seesterne am Strande, sah stundenlang dem wogenden Meere zu.
Oft ruderte er in den saphirblauen Golf hinaus, in dieses seidenartige Wasser.
Er merkte nicht, wie auf leisen Sohlen das Verhängnis heranschlich.
Einmal war die venetianische Gräfin in der Villa gewesen, auffallend gekleidet, ihr algerisches Windspiel an der Seite, hatte von einem venetianischen Museum geschwärmt, wo Lord Byron ›seine‹ Teresa gesehen habe und d'Annunzio stundenlang Eindrücke sammle.
Seit einigen Tagen war sie ausgeblieben, obwohl sie ihren Besuch angemeldet hatte; statt dessen kam eine kurze, fast unhöfliche Karte, wo vorsichtig auf Dr. Cucumus Bezug genommen war.
Elditt sah, wie Dr. Krongold darunter litt, wunderlicher und einsilbiger wurde.
Immer häufiger sprach er von Olivier de Maisonpierre. Als ob es sonst nichts auf der Welt gäbe. Im Seebad Scheveningen, wo der junge Maler impressionistische Strandbilder malte, hatte er ihn kennen gelernt. Viel Schuld gab er Lydia, der Schwester Oliviers, die ihm in jeder Beziehung unähnlich war. Hochgewachsen, mit einem kleinen, bräunlichen Gesichte unter dem Goldblond der Haare, fiel sie durch ihre merkwürdigen grünen Augen auf. Eine oberflächliche, unfruchtbare Erziehung in Paris hatte ihre Seele noch mehr eingeengt und auf ihre noch ganz mädchenhaften Züge den strengen, gelangweilten Ausdruck einer unzufriedenen, dürren Seele gebreitet. Eine müde Linie der Blasiertheit verunstaltete die feine Linie ihres Mundes. Die Baronin, mumifiziert in Adelsstolz und Bigotterie, verstand Olivier noch am meisten; aber als er sagte, er wolle Maler werden, erstarrte sie fast vor Schrecken.
Auch eine Mesalliance ihrer Tochter war ihr undenkbar. Und daß Olivier Künstler werden wollte, die entweder verrückt waren ober verhungerten oder beides zugleich und dem Publikum den Narren machen mußten, war fast noch schlimmer. Olivier, der aus einem der vornehmsten belgischen Adelsgeschlechter stammte, das sich auf Gottfried von Bouillon zurückführte!
Nein; es war undenkbar. Schon schwebte der elterliche Fluch über seinem Haupte, als er nach Paris ging, die Eltern mit der Versicherung beschwichtigte, daß er Jura studiere. Vielleicht war es für seine Entwicklung günstig, daß er nach Paris ging; denn die belgischen Maler, der süßliche Stevens, der verzerrte Khnoppf, und der dekadente Moreau hatten ihm wenig zu sagen. In Paris hungerte er, rang mit seinen Idealen, unterlag. Wie ein Schiffbrüchiger, den immer wieder die Welle zurückwirft.
»Ich sah es von der Ferne; konnte ihm nicht helfen; ich sah seine Hände sich nach der rettenden Klippe ausstrecken und die Woge warf ihn zurück . . .«
Dr. Krongold schwieg wie erschöpft. Die knochigen Finger der linken Hand, in welcher er den letzten Brief Oliviers hielt, falteten sich, ohne daß die Hand herabsank – ein schluchzender Ton klang auf – er weinte.
Namir trat ein, meldete einen Studenten, der sich für griechische Kunst interessierte. Er rühmte sich, den Dichter Carducci ausgepfiffen und mit einem Schlüssel geschlagen zu haben, weil er von der Königin Margherita eine Pension und eine Villa angenommen und sich von den republikanischen Ideen abgewandt hatte.
Elditt ging an den Strand, seltsam bewegt von dem, was er gesehen hatte. Schon brach die Dämmerung herein; die Cypressen hatten etwas Drohendes. Der Mondschein hing über den Ästen wie ein feuchtes schleppendes Gewand. Stern um Stern entglomm an dem fast meerblauen Himmel. Elditt hatte das fast körperliche Gefühl der Nacht. Es trieb ihn, das Bild des jungen Belgiers zu sehen, das Geheimnis Ganymeds zu ergründen, wie der Forscher eine Hieroglyphe entziffert.
Als er die Grotte betrat, schrak er mit einem lauten Aufschrei zurück.
Dr. Krongold hielt die Statue umklammert, richtete verzweifelte Anklagen gegen sie; dann war es stiller; das verwirrende Geflüster des Echos vermischte die Geräusche der fallenden Wassertropfen, und die trostlosen Selbstanklagen des alten Mannes.
»Ich habe ihn dem Leben entfremdet! Ich habe ihn vergiftet! Ich habe ihm den bunten Teppich der Schönheit unter die Füße gebreitet und lauter Fallgruben lauerten darunter. Ich erzog ihn zum Dienst der Heidengötter, und der kalte, listige Gott der Christen siegte, der rothaarige Galiläer.« –
Wilde, wahnwitzige Gotteslästerungen, die Anklagen eines Heiden, der an seinen Göttern verzweifelt und sie zerschlägt, wechselten mit leisem, trostlosem Weinen, das in ein hohes, schluchzendes Kichern überging.
Elditt rannte weg.
Das Schicksal des Alten erschütterte ihn. Gegen übermächtige, Jahrtausend alte Vorurteile hatte er gekämpft und war an einer lächerlichen Klippe zerschellt. Aus toten Augen hatte er tote Sonnen gesehen und sein Schicksal an einen jungen Künstler geknüpft, der an seiner Kunst verzweifelte.
Elditt rannte fort. Der Nachtwind trieb ruhelos die Bäume entlang; die Blätter raschelten tot und hart. Die Aloen, die blühenden Oleanderzweige reckten sich wie drohende Fäuste.
Am evangelischen Vereinshaus des Dr. Cucumus war noch Licht. Drinnen sangen sie noch; etwas Monotones, hinterhältig Schleppendes war in den Tönen des Psalms.
Vielleicht hielt nach Beendigung des Gesanges Pastor Cucumus eine Rede gegen Dr. Krongold und auch gegen ihn. Er hatte ihn schon gestern so eigentümlich fixiert.
Am nächsten Morgen war Dr. Krongold im Hause nicht zu finden. Auf dem Pulte seines Schlafzimmers lag ein Testament. Namir heulte und tobte in grenzenloser Verzweiflung.
Elditt lief mit ihm zur Grotte. Kaum konnte er dem jungen Nubier folgen, der wie ein behendes Tier über die Felsen kletterte. Das Meer brandete stärker als gewöhnlich; fiebernde Schauer lagen über den Wellen.
Keiner von den Fischern hatte den Alten gesehen.
Die Statue lag am Boden, in viele Stücke zerschlagen; der Strauch Tuberosen war umgerissen. In einer breiten Lache Bluts lag Dr. Krongold, wie auf einem Purpurteppich, starr ausgestreckt. Die Brust rann von Blut; die Hand sah unter den blutbespritzten Schwingen des Adlers hervor.
Merkwürdigerweise war das Haupt des Knaben Ganymed unversehrt; es lag da, starrte zur Decke empor.
Elditt nahm aus der Hand des Toten einen Brief: Olivier hatte aus Sizilien geschrieben: Daß er so mutlos und verzagt sei, weil sein letztes Bild von der Ausstellung zurückgewiesen worden sei.
Man sah, daß der Alte diese Stelle oft gelesen, mit seinen Tränen benetzt hatte.
Sie hatten die Leiche unter dem Marmorblocke hervorgezogen und Namir lag wie verzweifelt über dem Toten.
Erschüttert heftete Elditt seinen Blick auf den Kopf des Ganymedes. In seinen starren Zügen leuchtete grausame Gleichgültigkeit; das rote Sonnengold, das in breiten Streifen über den Marmor lief, hauchte ihm Leben ein und weckte einen Zug triumphierender Schadenfreude, den Triumph des dämonisch Starken, der den verzweifelnden Schwächling im Ringkampf überwältigt hatte . . .
Namir war von der Leiche seines Herrn nicht zu trennen. Er raufte seine Haare, schrie auf in einer Verzweiflung, die keine Grenzen kannte.
Fischer eilten herbei und brachten eine Tragbahre. Langsam bewegte sich der traurige Zug nach der Villa.
»Alle Heiden sterben so,« sagte der eine Fischer, ein wahrer Cyklope. Sein von der Sonne verbranntes, in der Farbe des Ziegelsteines glänzendes Gesicht hatte einen bösartig lauernden Zug. Wie er mit seinen knotigen Fingern das Blut aus der Stirne des Toten strich, krallten sich die Hände raubtierartig.
Elditt sah nach dem Meere, dessen Wellen wie in Zuckungen von Riesennerven aufschäumten, wie im Takte, unabänderlich. Ja, ebenso ewig und unerschütterlich war die menschliche Dummheit. Fiel ein Irrwahn zu Boden, so hängten sie dafür neue Torheiten an die alten Nägel.
Den Trägern unbemerkt, war ein Buch aus der Tasche des Toten zu Boden geglitten.
Elditt hob es auf, blätterte. Anfangs las er gleichgültig von Ausgrabungen alter Statuen, dann stutzte er. Wieder die alten Götter!
Wieder der Zauberspuk, von dem der Maler Leipold erzählt hatte!
Von einem schrecklichen Geheimbunde in Rom war die Rede, der den unschuldigen Namen Madre natura führte und etwa im Jahre 1450 in einer versteckten Höhle auf dem Palatino gegründet worden war. Noch während Papst Nicolaus V. regierte, der gelehrte Magister mit der spitzen Nase. Der begünstigte ja die Wissenschaften und die Künstler; hätte er aber geahnt, was die Mitglieder des Bundes wollten, so hätte er sie mit Feuer und Schwert ausgerottet. Unter dem harmlosen Deckmantel versteckten sich unheimliche, teuflische Dinge. Pomponatius Lätus war dabei, den sie zum Spott Pontiflex maximus nannten. Vor aller Augen hatte er in einer Kirche die goldenen Leuchter vom Altar weggenommen und an der Grabstätte eines berühmten Malers aufgestellt.
»Der ist dessen würdiger als der blasse Gekreuzigte!« hatte er ganz laut gesagt. Als sie ihm an's Leben wollten, schmeichelte er dem Papste und nannte ihn die Leuchte des Weltalls. Da war Platina, klug wie eine Schlange, der die Dichter des griechischen Altertums Götter nannte, Plato über Jesus stellte und seinen Schüler Alcaeus mit »Geliebter in Plato« anredete. Callimachus ferner, ausschweifend wie Heliogabalus, der in die seit 1433 wieder begangenen christlichen Grabstätten der Katakomben abscheuliche Verse hineinkritzelte. Er sagte ganz offen, er wolle lieber in den verklärten Heidenhimmel zu Sophokles, Phidias und Plato kommen als in den langweiligen Schlafsaal der Nonnen und christlichen Bußbrüder.
Heidnische Namen gaben sie sich; opferten den alten Götterbildern Honig und Salz. Wollüstige Schauspiele führten sie auf nach Art des Terenz und Plautus, daß selbst Männer sich schamrot das Gesicht bedeckten. Über den Bußprediger Fra Gabriel Barletta machten sie sich lustig, der vor Kummer über den neuen heidnischen Geist blasse Wangen bekam wie ein Gespenst. Sie sagten, er atme den Dunst brennenden nassen Strohs ein, um Bußfarbe zu bekommen; sogar die Kinder liefen ihm nach und sangen Spottlieder auf ihn. Am meisten freuten sich die Juden, die der einfältige Mönch mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte, weil sie seinem Kloster keine Abgaben zahlten.
Einen anderen Papst verspotteten sie, weil er dürr und fromm war und alle Künstler Heiden nannte, außerdem statt Wein Bier trank, wie er es in seiner holländischen Heimat gewöhnt gewesen war. In bitterem Hohn rieten sie ihm, alle Statuen zu Kalk einstampfen zu lassen.
Aber die kecken Freigeister kämpften einen ungleichen, schrecklichen Kampf.
Fast hätte sie schon der Schwärmer Stefan Porcaro, ihr Anhänger, in den Abgrund gezogen. Dieser wollte den großen Tribunen Cola Rienzi kopieren, der hundert Jahre vor ihm mit der Pracht eines römischen Kaisers, mit hundert Pagen, in Purpurgewänder und weiße Seide gehüllt, den Palatino herabstieg und sich »Diktator Italiens und Tribun des römischen Volks« nennen ließ.
An einem Februartag sollte der Marstall des päpstlichen Palastes angezündet und im Getümmel Papst Nicolaus V. ermordet werden, aber noch in letzter Stunde wurde der Plan verraten, Porcaro im Hause seiner Schwester entdeckt und im Hofe der Engelsburg gehenkt.
Noch ein anderes Ereignis machte damals den Papst stutzig. Auf einem Grundstück des Klosters St. Maria bei der Via Appia war eine in Balsam, Cedernöl und Terpentin wohl erhaltene antike Leiche gefunden worden.
Alles strömte vor die Tore, sie zu sehen; wie etwas Göttliches wurde sie verehrt. Der Papst aber ließ die Menge auseinander treiben und die Leiche heimlich bei der Porta Pinciana begraben.
Nun forschten sie nach den Quellen, aus denen dieser neue heidnische Geist strömte. Viele Mitglieder der Madre natura wurden entdeckt.
Den Pomponatius erwischten sie bei einem schlimmen Feste, wo ein schöner Knabe, den ein abtrünniger Mönch als Madonna mit einem Jesuskind im Arm gemalt hatte, zum Gott ausgerufen wurde. Der Knabe tanzte gerade und sie beteten zu ihm, als die päpstliche Polizei in ihr Versteck auf dem Palatino eindrang. Das schlimme Fest fand ein böses Ende. Alle, auch der Knabe, kamen in den Kerker, vor dem zwei steinerne Löwen standen. Viele retteten sich durch Bußtränen, Unterwürfigkeit und Schmeicheleien; Callimachus, zum Feuertod verurteilt, entkam nach Polen.
Der Bund in Rom war aufgelöst, der Geist aber lebte fort. Savonarola kämpfte vergebens gegen ihn. Dieser rasende Derwisch, eine Art verunglückter Gregor VII., mit den lutherhaften Allüren, wollte alle heidnische Kunst zerstören, zerstampfte mit seinen plumpen Füßen die schönsten Blüten der florentinischen Kunst.
Kostbarkeiten, Bücher, Schachbretter, Flöten, Harfen, Masken, Halsketten, Morgante- und Boccaccioausgaben, Würfel, Spielkarten, Gemälde ließ er durch Kinder zusammentragen und feierlich verbrennen. Aber er fühlte, daß er den Geist nicht verbrennen konnte; raste wie ein wildes Tier. Sein Fanatismus predigte ein Höllenmeer zusammen, dessen Flammen ganze Planetensysteme hätten zerstören können. Schließlich lachten die Florentiner über ihn, der sich selbst den Narren Gottes nannte, sangen Spottlieder auf ihn und die Dichter fingen an, den Papst Alexander VI. zu verherrlichen, dessen Laster wenigstens poetisch waren.
Eines Tages kamen alle Florentiner zur Einsicht, es sei besser, den Mönch Savonarola als ihre schönen Kunstgegenstände zu verbrennen und ließen ihn an einem hohen Galgen von den Flammen verzehren.
Dann kam Luther; zu dem alten Wahn ein neuer; abergläubisch, hexen- und teufelssüchtig, inquisitorisch und barbarisch wie der alte. Brutalität und Flegelhaftigkeit in Christo, vandalische Bilderstürmerei blühte jetzt.
Luther hatte selbst die »tugendhaften« Heiden, Aristoteles, Plato und Sophokles in den tiefsten Höllenpfuhl verdammt. Die Männer der Madre natura haßten ihn bald noch grimmiger als die päpstliche Religion.
Am Schlusse des Heftes hatte Dr. Krongold mit kritzlicher Schrift Notizen gemacht, die nicht zu entziffern waren. Öfter war Olivier's Name zu lesen.
Elditt dachte nach. Wenn es einen Gott gab, hatte er eine auserlesen feine Rache an Dr. Krongold geübt, so fein, daß sie ein Mensch nicht auszudenken vermochte. Und der Pastor Dr. Cucumus war nur sein plumpes Werkzeug gewesen.
Während sie im Nebenzimmer den Toten aufbahrten, mit Blumen fast zudeckten, faßte ihn tiefes Grauen vor diesem Hause und er beschloß, noch am nächsten Tage abzureisen.
Da fiel ihm das Testament des Toten ein; noch lag es offen auf dem Schreibtisch.
Olivier und er, Elditt, sollten das Vermögen von rund einer Million, je zur Hälfte haben. Namir und der alte Diener bekamen große Legate und durften zeitlebens in der Villa wohnen.
Ein böser Beisatz war hinzugefügt:
Die Leiche sollte verbrannt, die Asche unter Musikklängen im Meer versenkt werden.
Mit Schrecken fühlte Elditt, wie er jetzt schon hineingezogen war in die Flut des Hasses, die von dem Toten zum Pastor Cucumus gebrandet war. Nimmer würde der Pastor die Verbrennung der Leiche dulden; das fühlte er. Alle Hebel würde er gegen ihn in Bewegung setzen.
Elditt verbrachte eine schlaflose Nacht, irrte am Meere umher, dann schrieb er an Olivier einen Brief. Er wußte die Adresse nicht, nur den letzten Aufenthalt in Catania.
Er versuchte die schwierige Situation durch Diplomatie zu vereinfachen, ging zuerst zum katholischen Pfarrer. Der wurde nach einigen Weiterungen mit der Überweisung einer Summe für einen frommen Zweck abgefunden; eigentlich ging ihn auch der protestantische Tote nichts an. Dann kam der schwere Gang zum Pastor Cucumus. Schon der Singsang der Mädchen im Hofe mit ihren eintönigen, seelenlosen Stimmchen stieß ihn zurück. Er wollte umkehren; da kam schon Pastor Cucumus, lauernd und sehr reserviert. Vielleicht kannte er das Anliegen schon. Wäre Elditt ein besserer Menschenkenner gewesen, so hätte er aus dem ruhigen grimmigen Ernst des sonst so beweglichen Mannes die Erfolglosigkeit seiner Mission lesen können.
Aber der Pastor ließ ihn lange reden, hörte sphinxhaft still und starr beobachtend zu.
»Nein!« sagte er endlich. »Niemals werde ich die Feuerbestattung zugeben.« –
Als Elditt etwas einwenden wollte, schob er ihn fast zur Türe hinaus.
Dann, als reute ihn die kalte ruhige Art, mit der er ihn abgefertigt hatte, rief er ihm nach:
»Versuchen Sie nicht, den alten Sünder zu verbrennen. Ich werde den brennenden Scheiterhaufen auseinanderreißen lassen. Ich werde sorgen, daß ihn die Raben fressen, diesen alten widerwärtigen Sünder, diesen Sodomiten.« –
Den letzten Vorwurf hatte er zu Lebzeiten des Dr. Krongold noch nicht zu erheben gewagt.
Nun erst recht sollte die Verbrennung so feierlich wie möglich vor sich gehen; Elditt betrachtete es als eine Ehrensache.
Kostbares Holz wurde aus Genua besorgt; auch ein Trauerchor sollte singen.
Hier wußte der kleine Daniele Rat. Elditt hatte ihn am Hafen von Genua ganz zerlumpt und verhungert gefunden, und da er einen guten Charakter und Talent zur Musik verriet, ins Gartenhaus der Villa aufgenommen. Namir vertrug sich sehr gut mit dem Jungen, der klug und so dankbar war. Sein künstlerisches Talent zeigte sich, wenn er die Theaterstücke wiedergab, die er auf den kleinen Holzbühnen gesehen hatte, oder von den Greueltaten der Sarazenen erzählte, die vor 600 Jahren geschehen waren, aber in der Erinnerung der Genuesen so lebendig hafteten, als wäre es gestern gewesen.
Mit lebhaften Gestikulationen erzählte er, wie die Mohren die Fischerhütten überfallen und die armen Fischer in Brunnen gestürzt und Dornhecken darüber gewälzt hätten. Durch die drollige Art, wie er den Pastor Cucumus kopierte, brachte er Elditt und selbst Namir, der noch ganz trostlos war, zum Lachen.
Noch fehlten einige Fuhren Holz, da kam der Sohn des Fuhrmanns: der Vater dürfe nicht mehr fahren, sonst bekäme er kein Essen mehr beim Pastor.
Endlich fand sich ein anderer; Elditt legte selbst mit Hand an und begleitete die Fuhren.
Der Tag der Feuerbestattung nahte. Es war reinster Himmel am Nachmittag. Selbst von den benachbarten Inseln kamen Fischerboote gerudert, mit gespannten Segeln, die in allen Farben schillerten. Natürlich gaben sich auch alle Fremden der Kolonie ein Stelldichein.
Der Scheiterhaufen war unweit der Grotte aufgeschichtet, hart an einem in der Sonnenglut leuchtenden Felsen. Das Meer, das dunkelgrüne, lag still und verebbt.
In der feierlichen Stille der Natur schienen auch die Leidenschaften und Gehässigkeiten der Menschen noch zu schlafen.
Langsam bewegte sich der Zug vom Hause des Toten. Zwanzig, von Daniele auserlesene Knaben, schritten, Kränze in den Haaren, in griechischer Tracht, Sandalen an den Füßen und Cypressenzweige in den Händen, nach Art eines antiken Leichenbegängnisses. Daniele, der schönste unter den Knaben, trug die Fackel und stellte sich hart neben den Holzstoß, der mit stumpf violettem Heliotrop, weißen Narzissen und kostbaren Orchideen bekränzt war; ganz unten waren die Holzstämme weiß und rot angestrichen, der Farbe der Toten bei den alten Griechen.
Von silbernen Räucherpfannen wirbelten Rauchschwaden empor.
Elditt wollte eben Daniele zuwinken, der schon die Fackel dem Holzstoße näherte, als sich ein Fischer mit drohender Geberde vordrängte. Das Heiligenbild auf seinem spitzen Hute wirkte wie eine böse Drohung.
Aber schon hatte Daniele seine Fackel dem Cedernbalken genähert, der langsam Feuer fing. Der Lorbeer prasselte laut, nach der abergläubischen Meinung der Italiener eine gute Vorbedeutung.
Noch herrschte tiefes Schweigen, während schon die Flammen gierig zur Zinne des Scheiterhaufens hinleckten.
Ein alter Hirte, einen Ochsenstachel in der Hand, murrte laut, wurde aber von den Umstehenden zur Ruhe verwiesen.
Als der ganze Scheiterhaufen in einen roten Flammenmantel gehüllt war, begann Elditt seine Rede, zuerst aufgeregt und mit zitternder Stimme, dann laut und begeistert, mit mächtigen Gesten:
Er wolle diesmal nicht vom lieben Gott reden und von der Auferstehung des Fleisches am sogenannten jüngsten Tage. Das könne jeder mit seinem Glauben abmachen. Ob der Tote an einen persönlichen Gott geglaubt habe, wisse er nicht; aber vielleicht glaubten die am wenigsten an Gott, welche die höchste Meinung von ihm haben, das idealste Bild, wie Gott sein sollte. Der teure Entschlafene hatte ein zartes, überzartes Gemüt; er litt an dem Elend der Welt, das er täglich um sich sah, und indem er an der Güte Gottes zweifelte, der so viel Greuel zuläßt, entfernte er sich immer weiter von dem Kirchenglauben.
»Er, dessen Leben still und in behaglichem Reichtum hinfloß, litt am fremden Leide und so wurde sein Leben voll geheimer Stürme, Erschütterungen und tragischer Wunden. Wenn er seinem Nebenmenschen half, tat er es nicht, weil er hoffte, im Himmel einige Meter näher beim lieben Gott zu sitzen. Er war ein Anbeter der Schönheit; alles andere auf Erden, worüber sich die Menschen entzweien, war ihm eitel Dunst und Rauch. Er liebte Italien und wollte dort sterben, weil es das Land der Schönheit, der Künstler und der Dichterträume ist. Hätte er 2000 Jahre früher gelebt, wo der Schatten des Kreuzes noch nicht auf die zitternde Erde fiel, so wäre er glücklicher gewesen. Denn er liebte die Schönheit in bitteren Schmerzen und leidenschaftlichen Bekümmernissen wie die alten Griechen; keine trübe Sinnengier überwältigte ihn. Drum war es doppelt schlimm und unchristlich, daß ein Priester des Wortes Gottes dem Toten, der seinen Mund nicht mehr öffnen kann, um sich zu verteidigen, den empörenden Vorwurf einer heidnischen Verirrung ins Grab nachrief.« –
»Pastor Cucumus!« riefen einige.
Die Flammen des Scheiterhaufens loderten, glühend rot zum Himmel, die Knaben, unter Danieles Leitung, wollten eben den Gesang beginnen, als Lärm und wildes Getöse erscholl:
»Nieder mit dem heidnischen Greuel!«
Pastor Cucumus, von drei handfesten Krankenwärtern des evangelischen Hauses begleitet, drängte sich durch die Versammlung.
Er bestritt, den Dr. Krongold der Unsittlichkeit beschuldigt zu haben, geberdete sich wie ein Rasender. Seine Leidenschaft stachelte jetzt auch die anderen an. Der Hirte schwang seinen Ochsenstachel und zerrte einen brennenden Balken herab. Der Fischer mit dem Heiligenbild auf dem Hute zückte den Dolch und drängte sich nach Elditts Platz, da schrie Daniele laut: »Es ist der Ketzer – der Pastor!« Dies rettete Elditt.
»Der Ketzer! Der Ketzer!« riefen alle.
Der Tumult wuchs. Ein wahrer Cyklop mit einer Römerlocke auf der Stirne schwang ein brennendes Scheit und besann sich, ob er es nach Elditt oder dem Pastor werfen sollte. Einer von den Singknaben ward von einem herabfallenden Balken getroffen, erlitt aber zum Glück nur eine leichte Verletzung. In der allgemeinen Verwirrung hatten sich die Leute des Pastors unauffällig bis an den Scheiterhaufen vorgedrängt, rissen mit ihren Haken die brennenden Scheiter auseinander und versuchten sogar, den Leichnam herunterzuziehen.
Auch Weiber mischten sich ein, rissen kleine brennende Balken heraus und schwangen sie wie Feuerräder. Schon tönten laute Schreie: die Flammen zu löschen, als Daniele hinter Pastor Cucumus schlich und ihm mit einem Balken einen derben Schlag auf den Rücken versetzte.
»Seelenkäufer! Ketzer!« rief er.
Sofort wandte sich die Wut wieder gegen den Pastor.
Eine Frau schlug auf ihn ein, eine andere spie ihm ins Gesicht.
Zusammenbrechend, raffte der Pastor sich wieder auf und flüchtete über einen Steinhaufen nach der Grotte.
Elditt, rasend vor Zorn, rief ihm böse, in Haß und bitterer Wut ausgeglühte Worte nach. Er versuchte seine Rede fortzusetzen und in der Tat sammelte sich um ihn wieder ein kleiner Kreis der von Daniele Besänftigten.
»Früher verbrannten sie Lebendige; warum darf man jetzt nicht Tote verbrennen?«
Einige lachten, wiederholten es.
Aus der Ferne, in Sicherheit, hob der Pastor drohend die Faust, wie zum Fluche.
Die Stimmung war wieder ganz für Elditt, der mit geschicktem Übergange die Schönheit Italiens pries, die jetzt durch das lutherische Ketzerwesen verpestet werde.
Rasendes Bravo der Italiener setzte ein und eine Frau, die wie eine sehr schlampige Madonna della Sedia aussah, warf dem Pastor, der schon weit entfernt war, einen Stein nach.
Inzwischen war der Scheiterhaufen abgebrannt. Daniele mit den Knaben sang und eine Familie aus Wien gratulierte Elditt in so anständigen und vornehmen Gemeinplätzen, daß er es fast nicht ertragen konnte.
Daniele und Namir sammelten die Asche, die Elditt vorläufig in die Villa tragen ließ.
Langsam ordnete sich dann der Zug der Knaben zur Heimkehr. Die Zuschauer zerstreuten sich.
Über dem verkohlten Scheiterhaufen flatterte ein Falter unruhig hin und her und flog nach der Grotte zu. Gedankenvoll sah ihm Elditt nach. Vielleicht ein Quentchen der Seele des Toten. Von all dem Geist, der die Welt umfaßt hatte, der für Kunst geschwärmt, schmerzhaft gelitten hatte, nur dieser kleine, vom Wind verwehte Falter.
Und er malte sich diesen Gedanken in der Wollust der Selbstpeinigung aus. Wie lächerlich war doch der Gedanke der Seelenwanderung, durch welche seelische Demütigungen kroch er hindurch! Mit einer Heftigkeit, die vielleicht auch eine Folge seiner Abspannung und großen Aufregung war, überfiel ihn die Gewißheit, daß all das, was ihn seit München gequält hatte, all diese occulten und mystischen Dinge Hirngespinste und böse Träume seien.
Er haßte jetzt den Gedanken der Seelenwanderung; zertrat ihn wie böses Gewürm. Er verspottete sich selbst; eine fast krankhafte Lustigkeit überkam ihn; als sei er nicht Ary Elditt, sondern ein anderer, ein Engländer, ein Franzose, ein Russe, den er kannte.
Am nächsten Morgen wartete im Zimmer der Hirte Cosimo, eine Art Gemeindediener. In seinen knotigen Fingern hielt er einen dicken Stock; sein runzliges Gesicht verzog sich wie das spitze Maul einer Ratte, als er verlegen zu lächeln anfing. Dann kam er auf den Skandal bei der Feuerbestattung.
»Ja, an der Grotte. Schrecklich war's; und daß der kleine Daniele da war, so schlechte Dinge sehen mußte. Noch ein Kind ist er, nicht imstande, einem Lamm das Fell abzuziehen. Die Eltern sind so arm, wie ein Samenkorn auf glattem Felsen. Jetzt bekommt er Geld auf die Sparkasse. Die anderen wollen auch haben. Ich bin selbst ein halber Heide. Was der Pfarrer sagt, ist mir wie der Staub am Kirchenfenster, wenn die Sonne darauf scheint. Aber diese Villa ist verhext, gerade so wie das Bild in der Grotte. Jedesmal, wenn die Götzen im Saal rumoren, gibt es Schiffbruch an der Küste. Wir leiden alle darunter. Unser Vieh wird krank. Unsere Kinder sterben; der Knabe gestern ist fast von einem Balken zerschmettert worden. Selbst meine Tochter nimmt Ärgernis; die ist gewiß nicht fromm. In die Messe geht sie, wenn die Jüdinnen und die Ziegen hineingehen – alle 3 Jahre einmal. Aber das ist zu viel.
Alle Tage sagt sie's. Früh, mittags und abends. Casa del diavolo nennen sie die Villa. Die ganze Gegend kommt ins Unglück. Unter den Feigenbäumen wächst Gras, daß die Kühe krank werden. Wir wollten das Fest des Schutzheiligen feiern; die Trommeln, Raketen, Feuerräder, alles war vorbereitet; Sie haben alles gestört. Dort seht, mein Haus! Es ist in Trauer seit gestern.«
Er deutete nach einer Hütte mit zerfressenen Steinen und Wolfsmilch auf dem Gesims.
»Aber, beim hl. Pancrazio, das ist nicht recht. Ich bin kein mürber Teig (er streckte die Finger auseinander, als sollte er geknetet werden und klopfte mit dem Stock auf den Fußboden). Ich bin wie das Gericht, denke immer das Schlimmste. Sie sind gut, gut wie das Brot, das man ißt; aber was ist das alles? Das Gericht holt die Wahrheit heraus wie der Bader einen hohlen Zahn; man merkt es kaum.« –
Elditt mußte lächeln. Ohne Zweifel hatte es der Moralprediger, der dem Sindaco bei der letzten Wahl bei seinen Unterschleifen mittelst Urnen mit doppeltem Boden geholfen hatte, auf eine Erpressung abgesehen.
»Lieber Cosimo! Sie sind ein Dichter; Ihre Bilder sind kostbar; aber ich bin nicht die richtige Stelle, um dichterische Produkte zu verkaufen. Ich will Ihnen kein Honorar für Ihr Gedicht geben.« –
Damit schob er ihn zur Türe hinaus. Der ging mit stolzer Gleichgültigkeit, zog seinen Mantel um die Schultern, schritt durch den Garten mit der Haltung eines Marchese – erst draußen schüttete er eine Flut von Beschimpfungen aus, die Elditt erschreckte.
Noch immer wartete er auf einen Brief von Olivier, zählte die Maulbeerbäume des Wegs ab, den der Postbote kommen mußte. Endlich kam der Brief als unbestellbar zurück, ganz voll Adressen, die bald durchgestrichen, bald mit Rotstift nachdrücklich bezeichnet waren; die letzte Adresse war ein kleines Dorf am Ätna.
Eine tiefe Niedergeschlagenheit befiel ihn. Er spielte selten Violine; die Musik befriedigte ihn nicht, sie verwandelte alles in einen Gefühlsbrei, verflachte und zog die Gedanken ins Breite. Der Pastor hetzte die ganze deutsche Kolonie gegen ihn. Geklatsche, Verleumdung, hysterische Entrüstung und mufflige Ärgernisnahme arbeiteten sich in die Hände. Etwa 14 Tage nach der Bestattung Dr. Krongolds, gegen abend, sah Elditt einen rothaarigen Burschen mit heimtückischen Zügen an der Gartenmauer herumschleichen, beachtete ihn aber nicht weiter. Er war gerade beschäftigt, die Bilder Bronzinos anders zu stellen, als ein Stein zum Fenster hereinsauste und hart neben ihm niederfiel. Der Rahmen des Bildes von Bronzino splitterte ab; zum Glück blieb das Bild selbst unbeschädigt.
»Heide! Polnischer Jude!« schrie eine Stimme. Ohne Zweifel derselbe, der den Stein geworfen hatte.
Elditt eilte hinaus und erwischte den Burschen, der in einem Jasmingebüsch gestürzt war; im Verhör gestand er, daß er oben im Melanchthonhaus dazu angestiftet worden sei. Den Namen des Pastors Cucumus nannte er zwar nicht.
Aber es war seine Hand doch, die den Stein nach ihm geschleudert hatte.
Nun war seines Bleibens in Genua nicht länger mehr. Das fühlte er. Vielleicht fand er in Rom den jungen Belgier, dessen Statue so viel Unheil angerichtet hatte.
Er hatte eine interessante Reisegesellschaft: einen italienischen Journalisten in schwarzbraunem römischem Mantel, den runden Hut tief in der Stirne, die Nase wie der Erker eines Palazzo.
Pietro erzählte von dem alten Geschlechte, aus dem er stamme, ein Urahne war sogar Papst gewesen; der andere, ein Großonkel, hatte neben Garibaldi gefochten, als ihm das Pferd unter dem Leibe erschossen wurde. Es gab nichts, das er nicht im Vorbeigehen streifte; schließlich hielt er bei der Ganymedstatue still, von der ihm Elditt erzählte.
Er ließ sich die Photographie Oliviers zeigen.
Ja, das gebe es. Seltsame Träume und Seelenwanderungen; oft höre man davon. Nichts gehe auf der Welt verloren, auch nicht die Seelenkraft. Alle Menschen seien schon oft auf der Welt gewesen, hundertmal und öfter.
Madre natura? Ja; die habe es gegeben. Ein wahrer Satansbund, vom Teufel gestiftet. Zuerst in Rom. Die man erwischte, wurden mit glühenden Zangen gezwickt, an jeder Brücke zweimal, bis ganz Rom durchquert war. Dann waren sie tot. »Auch das gibt es, daß zwei Menschen früher zu gleicher Zeit gelebt haben und später, nach 100 oder 200 Jahren sich wieder auf der Welt treffen. Sie hassen sich oder lieben sich. Ein Mittelding gibt es nicht. Wahrscheinlich hat der Belgier damals mit Ihnen gelebt und Sie sehr lieb gehabt. Ich kenne das alles. Mein Schwager war bei der Ausgrabung der Ara pacis unter dem Palazzo Fiano dabei, als eine herrliche Statue aus dem Grundwasser gezogen wurde. Die sah ein junger Bursche und verliebte sich in die Statue. Nicht wegzubringen war er von ihr; nachts schlich er sich hin und erzählte immer von alten Zeiten und von Papst Leo X., als ob er da gelebt hätte. Ist dies nicht sonderbar? Boni, der das Forum ausgräbt, weiß nicht so tolle Dinge wie ich. Ich habe noch Stücke von der verhexten Statue; ganz billig für Sie. Mein Schwager hat den Rest dem Museo Forense geschenkt . . .«
Niemand in der französischen Kolonie kannte Olivier. Elditt irrte planlos in den Straßen.
Ist man einige Tage in Rom, so überkommt einen der Zauber der Stadt, daß man Ort, Zeit und Beruf vergißt, wie nach dem Genuß der Lotosfrucht bei den Lotophagen. Auch Elditt war in einer glücklichen Stimmung, die alle Ereignisse der letzten Wochen vergaß und mit den blauen italienischen Wolken ziellos, aber glücklich in den kleinen Freuden des Augenblicks schwelgte.
Am häufigsten trieb es ihn nach der Engelsburg, diesem Zwitterding von Kaserne und Nationaldenkmal.
Nirgends hatte er einen so herrlichen Blick auf den St. Petersplatz und die Kuppel des Domes als von der Terrasse der Engelsburg unter den ausgebreiteten Schwingen des bronzenen Engels.
Etwas Merkwürdiges begegnete ihm da:
Im dritten Stockwerk des alten Palastes neben dem Staatssekretariat, in einem der luftigsten Winkel des Vatikans, war der Sammler Don Giulio Massarenti gestorben. Elditt durfte sein kaum restauriertes kleines appartamento sehen. Drei durcheinandergehende Räume hatten früher eine einzige 16 Meter lange, 3 Meter breite Halle nach Art der Loggia Farnesina gebildet.
Elditt sah die Ausgrabung Schritt für Schritt vor sich gehen. Er betrachtete gerade die vier durch zierliche Nischen gegliederten Pilaster, welche die offenen Bogen trugen, als ein staunender Ausruf ertönte: Etwa einen halben Meter unter dem modernen Fußboden leuchtete einer jener herrlichen Belage von Majolikafließen, wie sie einst die Loggien Raffaels zierten, dieser wunderbar farbenprächtige Fußbodenbelag der Renaissance. Silvino, der Antiquar, der die Ausgrabung leitete, sagte triumphierend:
»Das hat noch niemand gesehen!«
»Ich habe es gesehen,« rief plötzlich Elditt.
Silvino protestierte in gekränktem Tone.
Elditt beharrte.
»Damals« hatte er es gesehen.
Während Silvino die Achseln zuckte, beugte er sich zu den Fließen herab, die in der Tat köstlich waren, im Stile der hispano-maurischen Azulejos, aber ohne Goldleisten; sogar die Motive des Alhambra-Fußbodens waren kunstvoll eingelegt. An den Wänden schimmerte die anmutige Pracht wohlerhaltener Grotesken: Götzenbilder, Heroen, Blumengewinde, Vögel mit Amoretten.
Elditt war wie in einem Zauberpalast, wo sich die Sinne verwirren. Ja, damals war er mit Olivier in Rom gewesen und sie hatten von Stefan Porcaro, Savonarola und der schrecklichen Madre natura gesprochen.
Doch als er wieder auf die Straße trat und die platte Alltäglichkeit sah, zweifelte er wieder und schob es seiner Einbildung zu, die von den seltsamen Erlebnissen der letzten Wochen zum Phantastischen hingelenkt worden war. Da war es ihm, als ginge, etwa 10 Schritte vor ihm, der Maler Leipold.
Aber das konnte ja nicht sein. Leipold wollte diesen Winter in München bleiben und vor wenigen Tagen erst hatte ihn einer seiner Freunde noch in München gesehen. Unmöglich war es indes nicht; Elditt beschleunigte seine Schritte, folgte ihm durch ein Gewirr von Gäßchen nach dem Palatino. Er wollte Leipold nicht anreden; das Ziel seines hastigen Gangs erfahren, war ihm wichtiger, denn alles, was Leipold tat, kam ihm interessant und bedeutungsvoll vor.
Elditt stutzte; da oben auf dem Palatino stand ja ein Abbild seiner Villa in Genua, die Villa Mills. Leipold hielt darauf zu.
Atemlos folgte ihm Elditt.
Die Villa Mills war bis vor kurzem ein Kloster gewesen, dessen Nonnen aber noch bleiben durften, bis die Zahl auf vier gesunken war.
Schnell schlupfte Elditt hinter Leipold durch die angelehnte Türe hinein.
Der Hof lag in düster drohender Schönheit da, von hohen Wänden gegen das Eindringen des Lichts geschützt: Wunderschöne Marmortreppen, feierliche Säulengänge, ringsum ein schlecht gepflastertes, vergrastes Viereck, aus dessen Mitte eine alte Zisterne aufragte.
Das schwere eiserne Gitter zum Garten stand offen; ein Bild des Verfalls von unsäglichem Zauber umfing ihn. Er schritt über einen großen Platz mit Rosen- und Lorbeerhecken und einzelnen hochragenden breitästigen Pinien, auf dem Boden lagen antike Fragmente, die Volute eines jonischen Capitäls von ungeheueren Dimensionen. Nur flüchtige Sekunden betrachtete Elditt die antiken Reste, und als er aufblickte, war Leipold verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.
Eben war er noch am Bassin gestanden, das mit klarem, blauem Wasser bis an den Rand gefüllt war.
Elditt eilte durch Lorbeergestrüpp in die von Zedern und Pinien beschattete Villa, die mit ihren Zacken und Türmen, den ausgebrochenen Fenstern und zertrümmerten Säulen einer Burg ähnlich sah. Klopfenden Herzens trat er durch die nur leise angelehnte Türe ein.
Totenstille war in dem dämmernden Raum; nur die anmutigen Grotesken der zierlichen Loggia verbreiteten einen Hauch des Lebens. Aber auch an ihnen wie an den Wänden, den Treppen, den kahlen Fußböden, den ausgebrochenen Marmorstufen nagte der Verfall. Hastig eilte er die Treppen hinauf, wo er ein Geräusch zu hören glaubte. Oben unter dem Dache der Villa war ein großer dämmernder Raum mit tiefgesenktem moosbewachsenem Boden. Scharen von Vögeln flogen erschreckt auf, als er den Laden aufstieß. Schlinggewächse hingen von der Dachröhre über das Fenster zu einem weiten, wüsten Fruchtgarten und auf eine steile Mauer, unter der die domus Augustana heute noch begraben liegt. »Hier war ich!« flüsterte Elditt. »Hierher flüchtete ich mich vor den Häschern der Madre natura und Olivier.« – Erschrocken hielt er inne. Hinter ihm knarrte ein Schritt, eine hohe, hagere Gestalt streckte mit düsterem Blick die Hand gegen ihn aus.
»Und hier wirst Du mit ihm sterben –« sagte sie mit heiserer Stimme, die etwas Geisterhaftes hatte.
Es war der Maler Leipold.
Fast schrie Elditt auf vor Grauen und starrte ihn an wie ein Gespenst. Dieser lächelte jetzt wieder. »Meiden Sie ihn!« sagte er; »gehen Sie nicht nach Sizilien! Ich weiß alles – er bringt Ihnen Unglück – ebenso wie seine Statue Ihnen und Dr. Krongold Unglück gebracht hat. – –«
Elditt stand wie versteinert. Dort unten sah man die Campagna di Roma mit den Mauern des Severus, dahinter ragten die düsteren massigen Caracalla-Thermen und in der Ferne das spitze Haupt der Cestius-Pyramide. Das gab ihm wieder das Gefühl der Wirklichkeit.
»Meiden Sie Olivier! Gehen Sie nicht nach Sizilien!« wiederholte Leipold.
Ehe Elditt um Erklärung bitten konnte, war er verschwunden. In diesem Augenblick kam auch der Kastellan, der über das Eindringen Elditts murrte und durch ein Trinkgeld besänftigt wurde.
Ob er Leipold kenne?
»Jedes Kind in Rom kennt ihn; viele sagen, daß man ihn zur selben Stunde und zur selben Minute an zwei verschiedenen Orten sieht.« –
*
Elditt war auf dem Ätna. Schon hatte er die angepflanzte Region verlassen und die Zone der Wälder erreicht. Er ritt unter einem Laubdach, über weites, stechend heißes Lavafeld, das in seinen gewaltsamen, wellenförmigen Formationen wie die Woge eines plötzlich inmitten eines Sturmes versteinerten Meeres erschien. Der Tritt des Maultiers klang auf der hart tönenden Lava wie auf Eisen; jetzt kam feiner, lautloser Sand, in dem das Tier bis ans Knie versank. Ein schmaler Fußweg zog sich am Abgrund.
»Langsamer!« rief eine helle Frauenstimme. »Wie schrecklich ist dieser Abgrund!«
Hinter ihm kam eine Reisegesellschaft, die sich mit ihren matten und störrischen Maultieren abquälte.
Die Dame, die Elditt merkwürdig bekannt vorkam, hatte zwei junge Engländer zu ihrer Beruhigung herbei zitiert.
Auch diese kannte Elditt; es waren Balkonnachbarn des Hotels. Weil Gladstone im Jahre 1838 hier oben gewesen war, fühlten auch sie sich im Gewissen verpflichtet, heraufzusteigen, nachdem sie seinen Reisebericht auswendig gelernt hatten.
Elditt begrüßte die Engländer, ward der jungen Dame vorgestellt, deren Augen von schimmerndem Meergrün mit merkwürdiger Beharrlichkeit an ihm hafteten. Er war verstimmt, daß sie in dieser grandiosen totgeweihten Einsamkeit, wo die Stimme der Natur und des Vulkans den Tod herausforderte, einen so banalen Ausruf nicht unterdrücken konnte.
Er erinnerte sich eines Gesprächs mit Dr. Krongold, der von einer Dame mit mädchenhaften Zügen, merkwürdig meergrünen Augen und strengem, spöttischem Ausdruck gesprochen hatte, von Lydia, der Schwester Oliviers. Kein Zweifel; sie war es.
»Ja, sie hieß de Maisonpierre,« bestätigten die jungen Engländer.
Diese wunderten sich ein wenig, daß er sie kannte.
Elditt sagte, er habe sie flüchtig in Brüssel gesehen, wo sie ja wohnte, und lenkte ab, indem er die einzig schöne Aussicht bewunderte, die Burg von Syrakus, die liparischen Inseln und die schwarze Pyramide des Strombolis bis hinab zur glitzernden See.
Lydia näherte sich ihnen wieder. Elditt sprach von belgischer Malerei.
Sie stutzte etwas, reagierte aber nicht. Nur ein leichtes Flimmern war in ihren Augen.
Er war ein Ausgestoßener; das merkte Elditt jetzt. Auch der Baron mischte sich jetzt ins Gespräch; er war klein, beweglich, mit leicht ergrautem Haar. Anatole France und General Boulanger hatten in seinem Salon verkehrt.
Die Baronin, dürr, mit harten Zügen, ganz wie Elditt sie sich vorgestellt hatte, sprach von dem Brunnen drunten an der alten Stadtmauer; dreiundsechzig Stufen führten hinab zu seinem Lavatrog und die zerklüfteten schwarzen Wände erhoben sich immer noch zehn Meter hoch über die Stadtmauer. Die Lavaflut hatte sich herangewälzt, alles mit schwarzem Siegel versiegelt und welches Wunder! – vor der Stadtmauer hart beim Kloster sich gegabelt. Ganz unversehrt blieb es. Das Bild der hl. Agatha hielt es auf. –
»Das Terrain lenkte eben ab – das war das ganze Wunder –,« sagte der Baron mit spöttischer Betonung und sich an Elditt wendend:
»Grade das Blinde, Elementare, Wahllos-Schonungslose, mit dem die Natur bei großen Katastrophen Groß und Klein, Gut und Böse, ganze Städte verwüstet – denken Sie z. B. an Lissabon oder Porto Rico! – gibt zu denken, ob wirklich ein unendlich liebender Gott das alles veranlassen kann. Ich bin Monist; Häckel, mein Freund, hat mir beim Kongreß die Hand gedrückt.« –
Das Letztere klang etwas unwahrscheinlich, da der Baron außer der Züchtung eines alten Adelstammbaumes keinerlei Verdienste um die Naturwissenschaften und fast noch geringere Kenntnisse darin hatte. Er sagte auch nicht, wo der Kongreß gewesen sei.
»Das Unglück führt zu Gott,« sagte die Baronin mit einer Gemütsbewegung, die von einer frischen Wunde aufzitterte. Sie dachte also doch an den Sohn . . .
»Schlimm genug, daß Gott seine Geschöpfe erst ins Unglück stürzen muß, um sie zu seinem Dienste zu erziehen.« –
Diese Verbissenheit in seiner Rede, die leidenschaftliche Geste gab Elditt die Gewißheit, daß er der Unversöhnlichere sei.
Lydia sagte: »Dr. Brettschneider kann Häckel nicht leiden. Religiöse Freigeisterei führt immer auch zur Revolution.«
»Brettschneider?« lächelte Elditt. Fast hatte er es erwartet. Das Netz mußte sich langsam zusammenziehen. Er murmelte leise noch einmal den Namen, der ihm jetzt wieder, in verhängnisvollerer Nähe, entgegentrat. Wie böse Tiere, wie einen wirren Ballen ekler Fledermäuse sah er die Buchstaben herumwirbeln.
»Kennen Sie ihn?« fragte Lydia.
»Ich habe von ihm gehört. Eigentlich etwas Komisches. In München zankte er sich mit einem jungen Schriftsteller und jetzt in Monreale haben zwei Münchner Maler seinen Weg gekreuzt. Es scheint, daß die Künstler und Literaten ihm verhängnisvoll sind. Eine sehr komische Szene soll es gewesen sein.«
»Es wird sehr viel geklatscht,« sagte Lydia; »und schließlich sind Künstler nicht – nicht ganz –«
Sie hielt inne, Elditt von der Seite anschauend.
Dieser erzählte nun, daß in Monreale wegen der Briganten auf Schritt und Tritt Bersaglieriposten ständen und Brettschneider in seiner aufgeregten Phantasie zwei Maler mit großen Schlapphüten für Räuber gehalten habe. Weidlich lustig hätten sich die Schelme über ihn gemacht.
Die beiden Engländer spitzten die Ohren; die würden es überallhin weitertragen.
»Maler!« sagte der Baron verächtlich. »Kein Wunder; hier hört man nichts als von Briganten und Entführungen und Räuberhöhlen.«
»Als richtiger Teutone und Reserveleutnant hätte er, statt um Gnade zu bitten, sie in die Pfanne hauen sollen –« sagte Elditt gereizt.
»Es wäre nicht schade gewesen,« sagte der Baron in schneidendem Tone.
Lydia nahm sich vor, nach dem Abenteuer im Hotel zu forschen.
»Es ist zu schwül,« sagt die Baronin. »Kehren wir um!« Weit und breit war nicht die Spur eines Wölkchens. Das konstatierten auch die Engländer, welche Brettschneiders Abenteuer mit innerlichem Behagen gehört hatten. Das Gespräch stockte in der drückenden, von einschläferndem Rosenduft geschwängerten Luft. Das Läuten eines Glöckchens schwang sich mit dünnem Schall durch die heiße Luft empor.
»Sie haben in Belgien schönes Geläute,« sagte Elditt und plötzlich – etwas Dämonisches zwang ihn, es zu sagen –: »Ich habe von einem Maler de Maisonpierre gehört – es ist derselbe Name.« –
Die Bombe hatte eingeschlagen.
Aber Lydia zuckte nicht mit der Wimper.
»Es gibt viele Maler,« sagte sie. »Wie Sand am Meer.« –
»Ich liebe die Maler nicht,« sagte der Baron mit harter Stimme. »In München habe ich sie gesehen mit ihren langen Haaren, wie sie dem lieben Herrgott den Tag wegstehlen.« –
Elditt scherzte: »Ich dachte, Sie seien Monist, der an Gott nicht glaubt.« –
»Wie Catania hier zu Füßen liegt!« sagte die Baronin, leicht angeärgert; dann kroch ein müder, leidender Zug über ihr Gesicht.
Die Stadt schimmerte in helleuchtendem, fast karmesinrotem Glanz. Höhe um Höhe wuchs in den stillen Äther empor, in einer eigentümlich flackernden Bewegung. Phantastische Vorgebirge streckten sich in die See, die brandend an ihnen fraß. Blöcke schichteten sich zu Bergen.
Ein Madonnenbild stand mit dem Ausdruck lieblicher Hilflosigkeit am Wege.
Die Baronin wandte sich zu Elditt:
»Ich habe vorhin von der Lava gesprochen, die vor dem Kloster zurückwich. Ein Ungläubiger wird ja darüber spotten. Aber ich bin gläubig; das Elend ist zu groß. Alle Philosophie ist eitel.« Ihre Stimme wurde hart. »Sie verdirbt junge Seelen, wirft sie aus dem Geleise. Sie ist wie Seelenmord, schlimmer als die Pest. Die Philosophie entfremdet die Eltern den Kindern.« –
Elditt horchte auf.
Der junge Engländer hielt triumphierend einen Lavabrocken in die Höhe, der wie ein Fisch aussah.
Die Baronin sprach von irgend etwas anderem.
Vor dem Hotel verabschiedeten sie sich. Die Maisonpierres wohnten weiter unten bei der Piazza Stesicorea in der Nähe des Eingangs zu den Ruinen des alten Amphitheaters.
Elditt, so nahe am Ziele, war ärgerlich, Oliviers Adresse nicht erfahren zu haben. Aber er fühlte, daß seine Wege zu ihm führten. Langsam ging er zu dem Lavabrunnen, den vor vielen Jahren ein Principe durch die Lavadecke hatte bohren lassen. Oben am Rand war eine Balustrade; an diese gelehnt konnte er gefahrlos die zerklüfteten schwarzen Wände hinab bis auf den Grund des Kraters schauen, zu dem auch eine vielfach gewundene Treppe hinabführte. Die Quelle mit ihrem blinkenden Wasser sprudelte aus mehreren Röhren so reichlich, daß ihr Abfluß den ungeheuren Lavatrog bis an den Rand füllte.
Als er eben wieder hinaufsteigen wollte, hörte er einen Schrei. Eine junge Dame, schlank und zierlich wie eine Puppe, wäre fast ausgeglitten; er fing sie auf. Sie dankte mit vehementer Liebenswürdigkeit.
Es war die bekannte Nackttänzerin Villon aus Brüssel, die vor acht Tagen in Rom, allerdings ohne besonderen Erfolg, gastiert hatte.
Elditt wunderte sich über den Kontrast ihrer zierlichen Gestalt mit dem monstreusen Ruf ihrer Tanzdarbietungen.
Sie promenierten dann in Catania; an der Kathedrale vorbei, wo Kirchentürhabitués ihre Hände ausstreckten. Die Villon erzählte von ihrer lächerlich armen Herkunft und wie sie jetzt gefeiert werde. Namentlich mit ihrem Bienentanze.
Alle Jünglingsvereine christlicher Färbung hätten sie in Acht und Bann getan.
Es stellte sich heraus, daß die Villon im selben Hotel wie Elditt wohnte.
Sie lud ihn sehr angelegentlich zu einem Spaziergang ans Meer für den nächsten Tag ein.
Elditt war im Halbschlummer auf seinem Hotelzimmer. Das Fenster stand offen, ließ die Sonnenglut herein. Die schweren Blütendolden eines Ölbaumes, der seine Zweige fast ins Zimmer streckte, dufteten betäubend.
Ein Geräusch weckte ihn. Er sah zum Fenster hinaus, den mit Oliven- und Mandelbäumen bedeckten Abhang hinab zum Meere. Eine Nachtigall schlug in den Granatbüschen.
Eine zornige Stimme kreischte auf – die Tänzerin. »Kommen Sie, um mich zu beschimpfen?«
Eine hohe, zornzitternde Stimme antwortete; aber Elditt verstand die Worte nicht.
Hier in Sizilien waren die Menschen wie die Berge; gleich standen sie in Flammen.
»Sie haben ihn auf dem Gewissen! – Sie haben ihn verdorben!« – Ja; es war Lydias Stimme. – »Einen Neunzehnjährigen, pfui! Sie haben Geschenke von ihm genommen, obwohl Sie wußten, daß sein Taschengeld dazu nicht reichte. – Sie haben sich von ihm spazieren fahren lassen.« –
»Mit 19 Jahren ist man kein Heiliger mehr – Olivier war wie die anderen auch – ich habe ihn nie eingeladen, zu mir zu kommen. – Und er hat mich nie geliebt, immer nur seine Kunst. Ich habe ihm von der Malerei abgeraten.« –
»Sie sind ja sehr genau orientiert über ihn. Übrigens lügen Sie, beschönigen Sie. Sie haben ihn auf dem Gewissen. Wissen Sie, daß sein Vater ihn verstoßen hat?«
Ihre Stimme ging in zorniges Weinen über. »Jetzt noch korrespondieren Sie mit ihm – hier, dieser Brief aus den Pyrenäen! – Sie Heuchlerin! – Sie haben ihn auch bei dem Violinvirtuosen lächerlich gemacht – Satanina! –«
Die Tänzerin bestritt lebhaft – dann war es still – ein heftiges Zuschlagen der Türe und zorniges Auf- und Abschreiten der Tänzerin, die sich nicht beruhigen konnte.
Olivier war also in den Pyrenäen, das wußte Elditt jetzt; vorausgesetzt, daß das mit dem Briefe stimmte.
Lydia stand noch unten bei dem schlanken Cypressenbaum, an dem Rosen emporkletterten und sah mit haßerfülltem Blick nach dem Hotel zurück.
Elditt beschloß, die Villon auszuforschen.
Er stand vor ihrem Hotelzimmer, bog den Finger, um zu klopfen, zog sich zurück.
Unschlüssig ging er in den Hotelgarten hinab, verirrte sich fast in dieser üppigen halbwilden, mit Orangen, Citronen und Granatäpfeln bestandenen Fruchtbarkeit, in die hohes Gras hineinwuchs.
Da sah er die Villon an der Fontäne stehen. Lächelnd kam sie auf ihn zu. Ob er den tollen Zank gehört habe? Eine einfältige, adelsstolze Belgierin habe sich ereifert – wegen eines – ihres Bruders. –
Er sah sie langsam, prüfend an.
»Wegen Oliviers?«
»Sie kennen ihn?«
»Von München her« – log Elditt. »Ganz oberflächlich. Nur vom Hörensagen. Daß er ein sehr begabter Künstler sei.«
»Das ist er; sein Unglück ist nur, daß ihn die Familie nicht versteht. Er paßt hinein wie eine Nachtigall unter Raben.«
»Seine Mutter leidet an ihm, das kann man fühlen.« –
»Sie beobachten sehr genau,« sagte die Villon. »Für gewöhnlich ist sie undurchdringlich wie eine eiserne Maske. Auch sie würde Olivier nie mehr zu Hause dulden.« –
»Zum Glück hat er Gönner und namentlich jetzt ist er aller Sorgen um seine Existenz enthoben.« –
Die Tänzerin horchte hoch auf.
»Hat er einen Gönner gefunden? Wer ist es?«
Die Freibeuterseele der Courtisane regte sich in ihr.
»Man spricht davon, daß er ein großes Vermögen geerbt habe.« –
»Von wem?« forschte die Villon, ungeduldig mit dem kleinen Fuße aufstampfend.
»O! wenn ich dies wüßte. Jedenfalls von einem Verehrer seiner Kunst.« –
»Dann müssen Sie doch seinen Namen wissen,« rief sie, fast weinend vor Zorn und ungeduldiger Neugier.
»Selbst auf der Folter könnte ich ihn nicht sagen.« –
Sie wandte sich schmollend ab.
Elditt versuchte von gleichgültigen Dingen zu sprechen; er fühlte, wie das Gespräch durch seine Ungeschicklichkeit eine ihm unvorteilhafte Wendung genommen hatte.
Die Villon sah nach dem Ätna. Die Luft war so heiß und durchsichtig, daß man die vertikalen Schneestreifen rings um den Bergkegel unterscheiden konnte.
»O! Sehen Sie diese dichten Feuersäulen – ganz rot lodern sie.« – Sie beachtete es gar nicht.
»Sie interessieren sich für Olivier. Warum?« fragte sie mit verletzender Schärfe, hartnäckig-bestimmt.
»Ich interessiere mich für alle Künstler, da ich es selbst ein wenig bin. – Übrigens werde ich den Namen des Mäcens zu erfahren suchen.« –
»Ist es vielleicht der alte Jude?«
»Wen meinen Sie?«
»Dr. Krongold; es sähe ihm gleich.«
Sie sah verächtlich drein; als habe sie einen bitteren Geschmack im Munde, verzogen sich ihre Lippen.
»Ich sagte Ihnen, daß ich den Namen nicht erfuhr. Wenn Sie mir sagen, wo Olivier sich jetzt aufhält, kann ich ihm alles schreiben, was ich gehört habe.« –
»Das dürfen Sie auch mir sagen. So viel kann ich Ihnen ja verraten, daß er in den Pyrenäen ist – vielleicht ist er tot.« –
Es war eine Falle, die sie ihm stellte.
»Tot!« rief Elditt unbeherrscht aus. »Tot!«
Ganz erstaunt sah die Tänzerin ihn an; dann in einer Art Hellseherei alles durchschauend, rief sie, von grenzenlosem Zorn gepackt:
»Sie haben Komödie mit mir gespielt – da unten am Brunnen schon.« Sie zitterte vor Zorn; ihre Lippen waren bleich. »Sie haben mich belogen. Entweder sind Sie von Lydia geschickt – oder – Aber Sie werden nie seine Adresse erfahren. Nie. Sie sind ja telepathisch, wie Sie sagen. Gut! Suchen Sie ihn dann! Suchen Sie ihn in den Pyrenäen! Mit Telepathie finden Sie ihn sicher. Suchen Sie! Gehen Sie! Auf der Stelle verlassen Sie mich!«
Sie stampfte vor Zorn mit dem Fuße; oben aus dem Fenster sahen die Engländer, starr vor Neugierde, herab.
Noch am selben Tage reiste Elditt ab.
*
Schon längst wollte Elditt Spanien, die Pyrenäen sehen: das Land der gotischen Kathedralen mit den Teufelsfratzen, die Gebirge mit den verzauberten Burgen, den sprechenden Madonnenbildern, den in den Wolken hängenden Städten und den schlafenden Häusern.
Jetzt stimmte es auch zu seinem in alle Feuer der Friedlosigkeit und Beängstigung hineingepeitschten Seelenzustand.
In Rom hatte er eine Spur gefunden, die nach Lyon führte. Er besah sich diese geräuschvolle Stadt, sah die kolossalen Steindenkmäler, die Knochenreste der römischen Riesenleiche. An Arles reiste er vorbei; viel Vergangenheit schwebte über dieser melancholischen, mit grauen Ölbäumen betupften Ebene. Es war wie eine altgriechische Stadt, wo man heute noch die Olive und die kleine singende Cicade liebt und die Stierkämpfe verabscheut, wo auf grünen Wiesen die Jünglinge in langsamen, antiken Bewegungen ganz allein die Farandole tanzen. Dort kann man noch homerische Gestalten sehen, klassisch-schöne Jünglinge, die Polyklet und Lysipp begeistern würden; lebendige Statuen, die Auferstehung der Antike im Fleische.
Alles, von den antiken Kunstresten an bis zu den Wettkämpfen der Jünglinge, die mit so frei-natürlichem Anstand einherschritten, war eigenartig und fremd. Selbst kahle Felswände wirkten groß, als Bühnenhintergrund eines römischen Theaters gedacht.
Die Natur, die Pflanzen, die Bäume wuchsen ein individuelles, riesenhaftes Leben.
Elditt staunte über Dornhecken, hoch wie Bäume, haushohes Schilf, Cypressen, die sich wie kämpfende Heroen aufreckten.
Und wie seltsam! Eine Platane beschattete die Säule eines antiken Amphitheaters. Ein Ungetüm, wie es nur in der Provence zu sehen ist. Ein wahrer Gigant von Baum, die Wipfel eine Welt für sich, die Äste wie Riesen, ein Hochwald in einem einzigen Stamm. Das war ein gutes Asyl!«
Der Gedanke zuckte in Elditt auf, ohne daß er sich Rechenschaft geben konnte, wie.
Er und Olivier hatten damals, als die Madre natura noch war, auf der Flucht sich in ihren Zweigen versteckt. Gerührt betrachtete er den wundervoll grünsilbernen Stamm.
Und im nächsten Augenblicke lächelte er darüber. Wenn er Olivier fand, konnte ihm der vielleicht das Rätsel lösen.
Elditt blieb einige Tage in Arles; der blaue sonnige Himmel, die sympathischen Menschen heiterten ihn auf. Er komponierte, gab ein Konzert in Arles, studierte Mistral und die provençalische Dichtkunst, in der griechischer Geist am lebendigsten und reinsten aufgelebt ist. Orange, der große Widersager Bayreuths, warf seine Schatten auf ihn und er fühlte einen Widerwillen in sich aufsteigen gegen Wagner und seine Musik, diese Notre dame in Tönen mit ihren nervösen Teufelsfratzen und kranken Engeln, diese blutrünstige, mondscheinkalte Musik der Eddamärchen.
Dann sah er Biscaya, wo die Brücken wie Regenbogen in der Luft schwebten. Er wanderte durch ein melancholisches, unbewegliches Steinmeer, das hie und da von weißen Klostermauern durchfurcht war, an weißen Steinbrüchen und seltsamen Felsklötzen vorbei, die vom Wasser zerfressen waren.
Prächtig gezäumte Maultiere zogen stolz und sorgsam an Abgründen hin. Ihre Federbüsche glichen weißen Segeln über den Wellen.
Da und dort hörte Elditt von einem Maler Olivier. Auch oben auf der Bergfeste war er gewesen, wo die letzten Albigenser vertilgt wurden.
Elditt stieg hinauf zu den Blöcken der Steinriesen, aus denen das schwarze Schindeldach einer Sennhütte hersah. Sie klebte an den rauhen Steinwänden; ein knorriger Eichbaum schien ihren Fall aufzuhalten. Im Innern war Heu aufgeschichtet. Eine Steineiche, mit Ästen wie die Mähne eines versteinerten Ungeheuers, sah herein.
Die Hütte stand unbewohnt, wie es schien; ganz primitiv. Ein Stein diente als Schemel; ein hölzerner, von Schmutz starrender Tisch, war halb zerbrochen.
Der klagende Schrei eines Lämmergeiers schrillte.
Elditt zündete einen Kienspan an und leuchtete in eine Nische.
Da lag eine Papierrolle. Er entfaltete sie hastig; seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen: Skizzen, Fetzen, Bleistiftzeichnungen, immer ein und dasselbe: ein halbvollendeter Frauenkopf von südländischem Typus mit weichlichen, spöttischen Zügen.
Sie trug eine altitalienische Tracht, die so viel dunkle Feierlichkeit und gebieterische Vornehmheit hatte; vielleicht auch lodernde Sinnlichkeit. Ihre Lippen, die erst halb ausgeführt waren, kräuselten sich spöttisch; es war, als öffneten sich die stolzen, sprechenden Augen, als irrten sie suchend in einer ihnen fremden Welt. Sie hielt den Kopf schräg geneigt; das starke Kinn sprach von Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit.
»Wann hast du gelebt und wer bist du?« rief Elditt. »Bist du auch ein unglückbringendes Idol wie die Ganymedbüste in der Grotte am genuesischen Meere? Sag es mir! Warum kann Olivier dich nie vollenden?«
Es klang wie eine feierliche Beschwörung.
Aber niemand antwortete. In der Totenstille hörte Elditt das leise, feine Rauschen der Blätter.
Da tauchte ein Schatten auf, als verdunkelte eine Gestalt die Türöffnung. –
Elditt stieß einen Schrei aus, sprang zurück – aber niemand näherte sich.
Es war nur eine Sinnestäuschung gewesen, der Schatten der Steineiche da draußen; und der Wind sauste jetzt stärker vorbei.
Elditt vertiefte sich in die Zeichnungen, sah das quälende Ringen des Künstlers und ein hoffnungsloses Ermatten. Irgend einen Zug hatte er hineinlegen wollen und die zitternde Hand war matt niedergesunken. Aber immer wieder von neuem hatte er den Kampf begonnen, zäh, mit der fixen Idee eines Wahnsinnigen. Jetzt fand Elditt auch Bleistiftnotizen: sie betrafen einen vlämischen Bildhauer, Jérôme Duquesnoy, der 1654 gestorben war. Elditt hatte schon von seinem schrecklichen Schicksal gelesen, das fast das Andenken seiner großen Kunst verdunkelte. Auf offenem Marktplatz hatten sie ihn in Gent verbrannt und der fanatische Pöbel hatte in die Hände geklatscht, als die Flammen emporloderten. Dann kam oft der Name Olympia Mancini in den Aufzeichnungen vor. Alles war aber so unleserlich, daß kaum ein Zusammenhang zu finden war.
Immerhin war Elditt überzeugt, daß das Frauenbild die Züge jener dämonischen Olympia Mancini, der Freundin Duquesnoys, darstellte.
Wunder über Wunder, Rätsel über Rätsel wirbelten vor ihm; kaum konnte er die Fülle dieser ihn umflatternden Phantasien fassen. Der Kopf schmerzte ihm.
Ein Schmuggler kam den Berg heraufgestiegen und trat in die Hütte. Vor drei Jahren hatte er in einem eisig kalten Winter, während er sich hoch oben im Schnee vor den Grenzjägern versteckte, die beiden Füße erfroren, und mußte nun an Krücken gehen. In der Hütte da oben fristete er ein armseliges Leben.
»Der Maler? Ja; der ist hier oben gewesen. Ist nach Tarbesan hinab. Hier oben hat er den ganzen Tag gemalt. – Immer ein altes italienisches Frauenbild – einen richtigen Teufel –« setzte er sehr überzeugt hinzu.
Ungeduldig eilte Elditt nach Tarbesan hinunter, an herrlichen Maisfeldern vorbei, während Glockengeläute aus den Dörfern scholl, die amphitheatralisch an den Berghängen klebten. Silberne Wolken schwebten über den Felshörnern.
Elditt rastete bei einem jungen Hirten, der aus einem Stückchen Holz mit dem Federmesser eine Heiligenfigur schnitzte. Er hatte auch von Olivier gehört.
Aber der mußte schon weiter sein als in Tarbesan, meinte er.
Alle verstanden sie hier in dieser Gegend, die selbst finster und trostlos war, wenn man von Bitternissen der Seele und dunklen Schicksalen sprach. Sie sprachen wenig; ihr Lächeln war seltsam wie die Lichtungen in diesen Felstälern, die besät waren mit zauberrüchigen Blumen, dem greiffüßigen Nieswurz und häßlichgelben Sträuchern.
Der Fußweg nach Tarbesan schwebte gleichsam über dem linken Ufer der Gare, deren kristallklares Wasser die Felsen hinabsprudelte; kleine Kinder liefen am Ufer umher und verkauften mit listiger Beredsamkeit glänzend geschliffene Kieselsteine.
Statt Oliviers traf er in Tarbesan einen Kunstschriftsteller Horace Neys aus dem Haag, ein Holländer mit ganz südländischem Typus; vielleicht von den Zeiten der Spanier her.
»Olivier? Der ist hier gewesen. Erst gestern – machte Studien zu einem Frauenkopfe – sprach von Seelenwanderung und einem belgischen Maler und Bildhauer Duquesnoy – jetzt wird er irgendwo bei St. Sauveur sein.« –
Ruhelos setzte er seine Wanderung fort. Ein Meer von Hütten tauchte auf, Schattierungen ferner Gebirge mit ihrem wunderbar feingemeißelten Zug.
In diesem Chaos von Hütten und malerischen Verstecken ihn zu finden, verzweifelte er fast. Der Weg wurde schwieriger, führte über eingerissene Wasserrinnen und Schluchten, wo er von Fels zu Fels springen und über Steingeröll hinabgleiten mußte.
Todmüde lagerte er sich auf einem Wiesenhang, der nach St. Sauveur hinabschaute. Eine Ziegenherde lief erschreckt auseinander; der Hirte kam und bot ihm mit freundlichem Gruße einen Trunk Milch.
Elditt ruhte behaglich, während das Gebirgspanorama sich vor ihm entrollte. Drunten lag ein kleines Kapellchen, ganz verlassen. Er dachte an den Baron v. Seydewitz und sein verschüchtertes Jesuskind, das ihm damals so sonderbar vorgekommen war –, da hörte er ein Geschrei und zorniges Toben. Von der Waldkapelle her lief ein Hirte mit drohender Geberde.
Elditt eilte den Abhang hinab – in der Schlucht war ein Knäuel streitender Menschen. Aufs Geradewohl schoß er seinen Revolver ab und im Augenblick entwirrten sich die Streitenden.
Elditt sah etwa zehn Gebirgsbewohner, Hirten und Schmuggler, um ein Bild stehen, das halb zerfetzt war.
»Olivier!« schrie Elditt. »Ich komme zu Hilfe!«
Zum zweiten Male schoß er den Revolver ab, als er sich schon auf etwa hundert Schritte genähert hatte.
Bis er an Ort und Stelle kam, stand nur noch ein alter Hirte da, der nicht so schnell hatte davonlaufen können und nun den Unschuldigen spielte.
Olivier lag, aus einer Stirnwunde blutend, am Boden.
Elditt beugte sich über das bleiche, von schwarzen Locken beschattete Antlitz und wusch die Wunde mit Wasser aus.
»Er hat eine Hexe gemalt – drum wollten sie ihn erschlagen,« sagte der Hirte. »Ich wollte ihm helfen, aber sie fielen über ihn her wie die Hornissen, wenn sie wild sind.« –
Elditt entlohnte ihn und schickte ihn fort, als Olivier die Augen aufschlug.
»Du bist's,« flüsterte er. »Ich dachte es, daß du kommen würdest.« –
Gerührt küßte ihn Elditt auf die Stirne.
Olivier erholte sich bald; die Wunde an der Wange war ganz ungefährlich.
»Du warst der Retter in der Not. Ein ganzer Bienenschwarm von Menschen, über einen Einzigen herfallend – ich danke dir von Herzen, du hast mir das Leben gerettet.« –
Seine Stimme, hell, wie von einer Glocke, bebte in Rührung.
»Wir müssen schnell aus diesem verfluchten Lande kommen,« sagte Elditt. »Auch ich habe den Aberglauben und die Verhetzung kennen gelernt.« –
Langsam schritten sie den Berg hinab nach St. Sauveur, nachdem Olivier die Fetzen seines Bildes an sich genommen hatte.
In seinem Gange war eine lässige Vornehmheit, eine Art Morbidezza, wie sie absterbenden Geschlechtern eigen ist.
Elditt erzählte von Genua und Dr. Krongold.
»Hätte ich dies geahnt,« sagte Olivier. Er war starr vor Staunen und Rührung.
»Du mußt so schnell wie möglich von hier fort,« sagte Elditt. »Diese Gegend ist Gift für dich. Du mußt all das Kranke, Ungesunde abschütteln und zertreten wie einen giftigen Skorpion. Auch diesen Duquesnoy mußt du dir aus dem Kopfe schlagen.«
Hastig bejahte Olivier.
»Ich will alles tun, was du sagst, alles. Aber woher weißt du von Duquesnoy?«
Elditt lächelte.
»Man darf in Sennhütten bei diesem abergläubischen Volk keine Skizzen und Kunstnotizen liegen lassen.«
»Du warst oben?«
»Ich suchte dich in der Hütte.« –
Olivier sah ihn zärtlich an.
»Sage mir, was ich tun soll!« sagte er dann, hilflos und vertrauensvoll wie ein Kind.
»Wir reisen zusammen nach Italien.« –
»Und ich darf bei dir bleiben?« – Olivier war ganz blaß geworden; er zitterte vor innerer Bewegung, als hinge sein Leben von der Antwort ab.
»Wenn du mir folgst und deine Ideen von dem alten Bildhauer Duquesnoy und dem komischen italienischen Weibe dir ganz und gar aus dem Kopf schlägst.« –
»Das will ich gerne,« sagte Olivier. Ganz feierlich wie ein Schwur klang es.
Sie reisten von St. Sauveur ab; fuhren mit dem Wagen nach der nächsten Bahnstation.
»Erzähle mir von der Ganymedstatue und Duquesnoy!« bat Elditt.
»Da muß ich dir zuerst von meiner Geburtsstadt Brügge erzählen. Du hast wohl gehört, daß man Brügge die tote Stadt nennt. Du denkst an düstere, stygische Grachten, verwilderte Wassergärten, die in grauen Flören versinken, an stille, weihrauchduftende Hallen, weltabgeschiedene Nonnenhäuser und mystische Schwäne.
Nun, in einigen Gassen hat man diese stillen Wasser, diese Schatten von Schatten, und draußen vor der Stadt diese einsamen Windmühlen auf traurigen Sandhügeln. Aber Brügge kann auch ganz anders dreinsehen. Der uralte Beffroi, der Hallenturm auf dem Marktplatz, spielt den Donauwalzer mit seinem Glockenspiel und wenn du auf dem großen Stadtplatz stehst, staunst du über die wahrhaft italienische Renaissancepracht der Gebäude; diese flandrischen Spitzenmuster in Stein, diese Reliefs, dieses steinerne Geflecht und Rankenwerk, Filigranarbeit, wie man sie nicht wieder sieht, außer in Venedig. Da gibt es Portale mit Miniaturen wie Reliquienschreine, Prunkhallen genau wie der Palazzo Vecchio in Florenz und dazu, ganz heroisch und gepanzert, dieser ungeheure, kraftvoll gereckte Turm voll Hybris.
Ich verlebte meine ersten Jugendjahre da. Schon als Kind war ich still; meinen Mitschülern fielen meine ernsten traurigen Augen auf. Lydia, meine Schwester, war oberflächlich und altklug. Nicht einmal an Märchen glaubte sie. Ich war von Sehnsucht verzehrt, irgendwo mich anzuklammern, wenn es in der Gegenwart nicht sein konnte, in der Vergangenheit. Wie oft schlich ich durch das Spitzbogenportal in den Beguinenhof zu den stummen Zellenhäusern, die so traurig auf den wüsten, verwahrlosten Grashof hinausschauten! Nichts regte sich; niemand sprach zu mir. Stundenlang saß ich so da in dem Hofe, ganz in die Ecke gekauert, bei dem Brunnen mit den geschnörkelten Figuren.
Eines Tages erlebte ich das Seltsame, das ich sehnsüchtig erwartet hatte.
Ich war wieder im Beguinenhof. Eine Zelle mit putzigen Scheiben war mir ganz besonders lieb; Spinnen, die Antiquare der Tierwelt, zogen ihre langen Netze darüber; aber wenn die Sonne darauf fiel, glitzerten sie und da merkte ich, daß sie noch Leben hatten. Unaufhörlich starrte ich nach diesem Fenster, wartete, ob eine Hand sich ausstreckte, es zu öffnen und eine alte Nonne heraussah . . . Diesmal stand es leicht offen, was sonst nie der Fall war.
Zitternd vor Aufregung schlich ich hin, öffnete es ganz leise und behutsam; da fand ich ein Buch auf dem Gesims liegen. Wie eine Botschaft aus einer unbekannten Welt erschien es mir; hastig nahm ich es an mich.
Brennend vor Neugier schlich ich in mein Versteck, um es zu lesen: es handelte von vlämischen und italienischen Künstlern, von Rubens, Rembrandt und den vielen großen unsterblichen Namen.
Aber auch kleine, verschollene fand ich, welche das gelbliche verschossene Papier noch liebevoll festhielt: Einen, der malte Häuser, die wie Ungetüme mit Krallen aussahen, ein anderer nur tanzende Bauern in Dorfschenken, und dann einer, der wie ein Ungeheuer geschildert wurde, dessen Name man nicht aussprechen dürfe: es war Jérôme Duquesnoy, 1612 bis 1654 lebte er, in der Zeit der Gegenrenaissance, der Humanistenverfolgung. Damals, als die katholischen und protestantischen Inquisitionen, Hexenprozesse und Ketzerverbrennungen blühten, wo zuerst der Staatsgedanke mit der Knechtung des Individuums sein Haupt erhob, wo die Puritaner mit kannibalischem Behagen kostbarste Kunstschätze zerstörten, Reliquienschreine, Altäre, Gemälde, Schnitzereien, Glocken, Chorstühle zerhackten, verbrannten, einschmolzen.«
»Und was war mit Duquesnoy?« fragte Elditt atemlos.
»Sie verbrannten ihn in Gent auf offenem Marktplatz, 1654 am 24. Oktober, weil er – doch ich kann dir dies nicht mit einem Worte sagen. Im Konversationslexikon kannst du das Wort Sodomiterei lesen. Würde es Raubmord heißen, so würde man es lieber drucken. Das fromme Herdersche Lexikon nennt den Namen des Künstlers überhaupt nicht, wohl aber seinen künstlerisch viel weniger bedeutenden Bruder, der fromme Madonnen malte. Genau genommen müßte es ja auch Angelo, Cellini, Leonardo und Sodoma totschweigen.
Kurz darauf las ich Eekhouds Verteidigung des Duquesnoy und begriff alles. Zu jener Zeit nämlich wurde Ketzerei, Heidentum, Hexerei und Sodomiterei für identisch gehalten und mit summarischer Justiz auf dem Scheiterhaufen gebüßt. Bis 1789 war es so. Duquesnoy war ein freier Künstler, der in Italien griechischen Schönheitskult eingesogen hatte und in Gent in der Kathedrale, wo er das Grabmal eines Bischofs meißelte, mit seinen zwei Jünglingsmodellen eine freie heidnische Szene gespielt hatte. So nach Art der atellanischen Späße, als ihn die Wonne des Schöpfergenius überwältigte. Küsse waren es, brennende Blumen, auf dem Strauch einer fremden, verpönten Liebe gewachsen. Es war keine Unsittlichkeit, nur die freie, wilde Blüte freien Heidentums. Aber es spielte sich in der Kirche ab! Sich nun den puritanischen, von Calvin und Knox verpesteten Geist der damaligen Niederlande zu denken, diese Entrüstung der Bürger, dieses Wutgeschrei, dieses Geheul, diesen pharisäischen Entrüstungssturm der dummen Masse vom niedersten Mann an bis zu den Behörden und dem Statthalter hinauf, der unter den Rasenden der bornierteste Fanatiker war. Ohne Gnade führten sie ihn zum Brandpfahl; der Statthalter äußerte auf das Gnadengesuch seiner Freunde aus Italien, Frankreich und aller Welt, daß dieser Tod noch zu gelind sei.
Der Pöbel heulte, schrie, johlte vor seinem Gefängnisse, konnte die Hinrichtung nicht erwarten. Als er auf dem Armsünderkarren saß, spien sie ihn an, schlugen ihn mit Stöcken und Fäusten, traten ihn mit Füßen. Ähnliches haben sich die hochchristlichen Engländer des 19. Jahrhunderts mit Oscar Wilde geleistet. Die Frauen – diese haßten ihn ganz besonders, weil ihr Geschlecht sich durch seine Huldigung an das männliche Geschlecht gekränkt fühlte –, hoben drohend die Faust; vornehme Damen trugen Reisig und Stroh zum Scheiterhaufen, ganz trockenes, daß es keinen Rauch gäbe und er länger leide.
Und Duquesnoy war einer der größten Künstler aller Zeiten.«
»Immer wieder,« fuhr Olivier fort, »las ich das Buch, das ich im Beguinenhof gefunden hatte; schließlich bloß noch das über Duquesnoy. Er war ein Belgier, hatte aber seinen Künstlerruhm in Italien erworben. Der spanische König ehrte ihn hoch; die ersten Künstler Europas erkannten sein Genie an. Eine außerordentliche Leidenschaftlichkeit, Energie und doch süße Weichheit ist in seinen Bildern und die Komposition ist von einer Größe und Erhabenheit wie bei der Antike. Lange Jahre lebte er glücklich in Italien; da rief ihn eine Erbschaftsangelegenheit in seine Heimat. Düstere Ahnungen, erzählt Eekhoud, überfielen ihn. Ihm war, als reise er aus dem warmen, farbendurchglühten Schönheitslande in den eiskalten, von bösartigen Dämonen bevölkerten Tartarus. Und so erreichte ihn sein Geschick. Schon im fünften Monat seines Aufenthalts in den Niederlanden, über die der Pesthauch Calvins geweht und Kunst, Theater und Musik als teuflische Lust verpönt hatte.
Ganz tief versenkte ich mich in seine Geschichte; fast jedes Wort wußte ich auswendig. Sah ich ein Feuer, so dachte ich an die Flammen, die den Unglücklichen verzehrt hatten. Sah ich ein idiotisches Spießbürgergesicht, so fielen mir seine barbarischen Henker ein. Überall fand ich Analogien für das Jahr 1654 und sein unglückseliges Opfer.
Diese Leidenschaft wurde mir verhängnisvoll.
In Brügge gibt es eine Kapelle des hl. Bluts, die während der Revolution verödet, jetzt mit Prunk überladen ist. Sie hat große, interessante Türme und das Treppenhaus, das oben zum Betsaal führt, ist in prächtiger Spätgotik mit flachen Spitzbogen. Die Kapelle führt ihren Namen von der frommen Tat eines alten Raubgrafen, der vor Jahrhunderten aus Palästina einige Blutstropfen Christi mitbrachte. In der Kapelle, auf einem Seitenaltar, der die Form eines Doppelkatheders hat, werden sie, in kostbares Kristall eingeschlossen, aufbewahrt und jeden Freitag zum Kusse ausgestellt. Alljährlich am 3. Mai findet eine feierliche Prozession statt, wo die Beteiligten allerlei Bußgeräte, Schleppkreuze, lange Eisenstangen, Marterwerkzeuge, Fahnen und Bilder tragen. Wie ich sie so daher kommen sah, mit dummfrommen, schiefgeneigten Gesichtern, übermannte mich der Zorn; ich warf mit einem Stein nach einem Fahnenträger, der besonders widerwärtig aussah und traf das hölzerne Kreuz seines Nachbarn. Ein großer Tumult entstand; meine Eltern wurden in Mitleidenschaft gezogen und ich hatte große Mühe, mich zu verteidigen.
Seit dieser Zeit ging ich selten zur Kirche und empfand heftige Abneigung gegen das Christentum. An einem Augusttage war's, da zog es mich fast unwiderstehlich in die Notre Dame, die schönste Kirche Brügges; fast verlassen war sie. Nur durch die farbenprächtigen Fenster fluteten Sonnenstrahlen wie lebendige Wesen. Auf dem Altar stand ein Wunderwerk Angelos, – die Madonna mit dem Kinde – wie durch ein Wunder hierher zu den Barbaren verschlagen. Reiche belgische Kaufleute aus jener Zeit, wo der minnewater Brügges noch ein Welthandelsplatz war, hatten das Bild von dem großen Meister bestellt und der hatte sein ganzes Genie in die süßen, zärtlichen Gestalten ergossen.
Der Geist der Vergangenheit überflutete mich; ich war wieder in Italien, wo damals Duquesnoy malte; ich sah die Statuen, Gemälde, Dome, Museen, und die alten Schätze, die lebendig begraben an die Erde pochten.
Eine schrankenlose Sehnsucht überwältigte mich. Nein! Niemals würde ich Diplomat werden wie meine Eltern wollten. Nur Maler; Werke schaffen wollte ich wie Duqnesnoy, sein Andenken retten. Ich starrte Eyks Madonnenbild an. Es war, als winkte mir jemand zu. Der hl. Georg stand da, ganz ephebenhaft, heidnisch, mit lächelnden, süßen Lippen. Lächelte er mir zu?
Damals flossen Duquesnoy und der hl. Georg zu einer fast religiösen Vorstellung von ehrfürchtiger Scheu, Bewunderung und Mitleid zusammen. Beklemmend war es, drückend wie ein Albtraum.
Meine Schwester zankte mich, weil ich so lang in der Kirche geblieben war.
Ich kostete die ganze Tragik eines von seiner Umgebung nicht Verstandenen durch. Fliehen zu können! Weit weg! Bis ans Ende der Welt, dahin, wo das letzte Land in den Abgrund ragt! Nach Italien! Irgend wohin!
Ich fing an, Brügge zu hassen, meine Umgebung, mich selbst. Oft versuchte ich, mich Lydia zu nähern. Sie war oberflächlich, klimperte am Klavier und klatschte mit ihren Freundinnen. Immer zeigte sie eine unzufriedene und verächtliche Haltung. Ich bemühte mich, in ihrer Seele einen Widerhall zu wecken, aber nichts vibrierte darin. Meine Reden irritierten, ärgerten sie. Sie zuckte wie angewidert die Achseln und erwiderte meist kein Wort.
Immer wieder sprach ich ihr von meiner Kunst, errichtete vor ihr die Tempel meiner Träume, malte ihr die unbeschreibliche italienische Natur, in der alles göttlich ist: die Bäume, die Quellen, die Tempelhallen. Sie schwieg hartnäckig und streng.
Nun kaufte ich mir heimlich Farben und malte; ich mußte dabei Versteckens spielen vor meinen Eltern und vor Lydia.
Ich wäre verzweifelt, wenn nicht ein neues, sonderbares Ergebnis in mein trostloses Alltagsleben gefallen wäre.
In einer Broschüre des historischen Vereins von Brügge las ich, daß Duquesnoy in Brügge gewohnt hatte, wenngleich nur wenige Jahre.
Das Haus Duquesnoys stand in einer schmalen Gasse mit altmodischen, von der Zeit vergessenen Häusern. Es war klein, grau verstaubt; auf dem Fenstergesimse des Parterres wuchs Gras, auf dem gieblichen Dache knarrte ein Wetterhahn.
Ein Antiquar wohnte darin, ein uralter, unermeßlich gelehrter Mann, der ein ganzes Stockwerk voll Bücher, Kupferstiche und Handschriften aufgespeichert hielt. Er hütete diese Schätze wie ein Argus und ließ sie selten in Augenschein nehmen; meist saß er mit einer Lupe und kritzelte seine Notizen. Als ich ihn besuchte, war er schon sehr gebrechlich und gelb wie eine Mumie, in seinen Lehnstuhl zurückgelehnt.
Aber sein Gedächtnis war noch wie von jeher; ganz erstaunlich. Ich sprach von Duquesnoy; er wußte jede Kleinigkeit.
›Ja; in diesem Hause hat er gewohnt. Er malte eine junge Italienerin, die Tochter eines Kapellmeisters. Eine üppige, heidnische, freche Person war sie; ihre Schuhe schmierte sie mit dem hl. Öl und badete sich in Rotwein, den sie dann den Armen zum Trinken gab. Oftmals wollte die Behörde Hand an sie legen, weil sie eine gotteslästerliche Zunge hatte; aber sie war schlau und als sie den Duquesnoy in Gent verbrannten, log sie so geschickt und weinte so barmherzig, daß man sie laufen ließ.‹
›Wollt Ihr sie sehen?‹ fragte mich der Antiquar.
Zitternd vor Neugier bejahte ich.
Er erhob sich ächzend und ging mir durch schmale, mit Büchern vollgepfropfte Zimmer voran. Dann deutete er auf einen grauen Fleck an der Wand.
So erschien mir nämlich das Bild zuerst. Die Zeit und die Verwahrlosung hatte mit giftiger Hand darüber gestrichen, den Glanz der Augen mit Verwesungsflecken gefärbt, nur die Seele übrig gelassen, diese hochmütige, dämonische Seele.
Er hielt das Licht nahe an's Bild, so daß ich die Farbenreste genau sehen konnte: das Auge war stolz, gebieterisch, der Mund etwas üppig schlaff und müde, von spöttischer, trauriger Schönheit. –
›Duquesnoy konnte das Bild nicht vollenden,‹ fuhr der Alte fort, ›er wollte in ihr den Geist des Heidentums malen, der zu Boden getreten, dennoch siegreich ist, gemartert und gehetzt, dennoch triumphiert; aber er konnte das Bild nicht vollenden. In Gent errichteten sie dem Lobredner der Heiden den Scheiterhaufen. –‹
Bei diesen Worten klirrte der Wind an die Scheiben; es raschelte im Korridor. Ein Windstoß, der zum Fenster hereinblies, löschte das Licht.
Entsetzt fuhr ich zurück. Der Alte zündete lächelnd das Licht wieder an.
›Wären wir in einem anderen Zimmer gewesen und hätten wir von etwas anderem gesprochen, so wäre das Licht nicht erloschen. Gehen wir wieder zurück!‹ murmelte er mit seltsamer Stimme.
In der Tat brannte jetzt die Flamme ruhig; man hörte den Holzwurm pochen, so still war es. Wie ein Wunder schien es mir. –
Eines Tags war der Alte gestorben und hatte mir das Bild Duquesnoys vermacht.
Ich hing es in meinem Schlafzimmer auf. Am selben Tage – ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre – hörte ich etwas an meinem Bette vorüberhuschen, ganz seltsam; ich schlief ein, da ich glaubte, eine Maus sei vorübergelaufen. Dies wiederholte sich.
Auch meine Schwester hörte öfter leise Tritte, wie wenn eine Frau auf den Sohlen schliche.
Es ging gegen Weihnachten; ich vermochte mich nicht auf das Fest zu freuen, gedachte der vielen Armen, die draußen froren, sah die verdrossenen kalten Mienen meiner Eltern und den starren Spott Lydias.
Die Lampe hatte ich ausgelöscht; der Vollmond schien hell durch das große Fenster herein, dessen Scheiben einen leichten Eisanflug zeigten. Ich hatte die Augen geschlossen – eine geraume Weile.
›Olvier!‹ klang es durch die Stille. ›Male mich! Ich bin bei dir, habe dich lieb. –‹
Eine weiche Frauenstimme war's. Ich öffnete die Augen. Und da sah ich in ein blasses, stolzes Antlitz, in ihr Bild, das lebendig geworden war. Es war so hell im Zimmer, wie es nur sein kann, wenn der Vollmond scheint. Ganz genau sah ich, wie die Gestalt sich zu mir herabbeugte; ich spürte, wie der grünliche Seidenstoff meine Hand streifte; und ich erinnere mich, daß ich sie ohne die geringste Furcht anschaute. Dann verschwand sie hinter den Gardinen. Ich sprang aus dem Bette, sah mich im Zimmer um; niemand war da. Auch die Türe hatte ich nicht gehen hören.«
»Du meinst also, es sei die alte Italienerin, die schlimme Freundin Duquesnoys gewesen?« fragte Elditt.
»Niemand anders als sie.« –
»Aber könnte es nicht eine Einbildung, eine Halluzination gewesen sein?«
»Wenn Du mir befiehlst, eine Halluzination anzunehmen, will ich es tun; aber ich müßte da bei offenen Augen geträumt haben.« –
Während der Eisenbahnfahrt erzählte Olivier seine weiteren Schicksale. Die Eltern kamen nach Brüssel. Olivier besuchte die Museen, lernte den Maler Wiertz hassen, den er zuerst angebetet hatte. Das Bild des Lebendigbegrabenen machte ihn fast krank vor Schrecken. Seine überquellende Phantasie dachte sich leicht in das Geschaute hinein. Damals lernte er im Seebad Scheveningen den Dr. Krongold kennen. Er erzählte Interessantes von ihm.
»Ein wütender Antimilitarist war er. Er nannte den Militarismus und den Krieg die Pest aller Völker, ließ heimlich aufreizende Broschüren in den Kasernen verteilen und freute sich rasend, als er von den ersten antimilitaristischen Demonstrationen in den französischen Kasernen hörte. Die Deutschen nannte er das dümmste aller Völker und bedauerte lebhaft, daß der siebziger Krieg, den Bismärckische Hinterlist angezettelt hatte, nicht zu Gunsten der Franzosen entschieden worden war.«
»Dasselbe meint Nietzsche auch,« warf Elditt ein.
»Wir gingen,« fuhr Olivier fort, »an holländischen Soldaten vorbei. Dr. Krongold ergrimmte.
›So haut Euren Sergeanten doch die Schädel ein!‹ rief er ganz laut den Soldaten zu. Zum Glück sprach er französisch, das nur einige Umstehende verstanden. Diese lachten und sahen uns lange nach. ›Ein Staat, der Kasernen hat, ist so schlimm wie ein afrikanischer Negerstamm mit Menschenfresserei,‹ das sagte er mehr wie hundertmal.
Sein Fanatismus war maßlos. Hatte er das Thema Krieg absolviert, so schimpfte er auf die Weiber und spottete über die Vereinigung der Geschlechter. Die Venus von Milo nannte er ein brünstiges Gorillaweibchen, die Familie verglich er mit einer Hundshütte, die voll junger Hunde ist und übel riecht. Als echter Schopenhauerianer schwärmte er für die Idee, daß die Welt unterginge. Schade wär es nur für Angelo's Büsten und Beethoven's Symphonien.
Natürlich entsetzte sich mein Vater über den Umgang mit diesem Manne; Lydia nannte mich den Schandfleck der Familie.
Schließlich einigten sie sich, daß ich die Universität in Paris besuchen solle. Ich hatte mir jedoch fest vorgenommen, kein einziges Kolleg zu besuchen und Malerei zu studieren. Mein Vater, der als Monist auf die Urzelle schwor, sonst aber ein Despot war, wenn es galt, niederzudrücken, was seinen Plänen widerstrebte, drohte mit Enterbung, wenn ich in Paris nicht fleißig Jura studierte. Heimlich hatte er zwei Vettern aufgestellt, mich dort zu überwachen. In Paris fand ich nicht, was ich suchte. Vielleicht, weil ich Unmenschliches, Unmögliches erwartet hatte. Ich ward mutlos, verzagt; mir sanken die Flügel. Böcklin hatte damals in Paris aus einem Kessel mit angeschmiedetem Löffel Kutteln zu 2 cents gegessen und dies vier Monate lang ausgehalten, war dann zu Glanz und Ruhm emporgestiegen. Aber zu diesen Gewaltnaturen gehörte ich nicht.
Böcklin stammte überdies von starknervigen schweizer Bauern und ich von dekadenten belgischen Adeligen.
Ich versank in Mutlosigkeit, meine Eltern verstießen mich. Auf alle meine Briefe antworteten sie mir nicht mehr. Geld schickten sie; merkwürdiger Weise kam es immer aus anderen Städten als Brüssel, wo sie wohnten.«
Elditt lächelte: »Vielleicht hat es Dr. Krongold geschickt.« –
Olivier sah starr vor sich hin.
»Es wäre möglich,« sagte er leise. »Ich wäre also verhungert und meine Eltern hätten nicht die Hand gerührt. Von Paris ging ich nach der Schweiz, verkehrte mit einem jungen Genfer Künstler. Oft streifte ich in Wildnissen, wie sie Segantini träumte. Diese Klarheit der Luft! Diese Schneeberge, weiß und glatt und faltenlos! Matten und Felsen schlummerten unter der dichten Decke, eine versunkene Welt.«
»Ich hasse eigentlich den Schnee,« sagte Elditt.
»Seit ich jenes merkwürdige Bild sah, hasse ich ihn auch. Es war in den Alpen. Ich sah ganz oben in der Höhe ein gelbes fahles Licht. Im Leben der Seele gibt es Augenblicke, wo sie, wie aus einem Tiefschlaf erwachend, einen seltenen Gegenstand sieht und von sonderbaren Erinnerungen überwältigt wird, einen Vorgang wieder erkennt, der höchstens in ihren Träumen Wirklichkeit gehabt haben mag. Der Mond schien. In seinem Licht stieg das Wolkenmeer auf, in dieser irdischen Einsamkeit. Dann flatterte etwas empor, wie ein Hauch, dort oben von dem Bergsee. Jetzt zog eine Wolkenwand über den Mond hin. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich vor langer, undenkbarer Zeit dies einmal gesehen hatte, vielleicht in Italien.
Genau so, wie jetzt die Wolke den Mond verlöschte, mit diesen hastigen menschenähnlichen Bewegungen. Und seltsam! Ein anderes Bild verknüpfte sich damit: Viele Menschen waren in einem dunklen Saale versammelt, Wachen standen an den Türen; Pechfackeln brannten an den Wänden in Ringen. Die Männer tobten, schrien, lästerten; plötzlich erloschen die Fackeln. Ein angstvoller Ruf erscholl: ›Wir sind verraten!‹ Und in panischem Entsetzen suchten sie in finsteren Gängen einen Schlupfwinkel zu erreichen.« –
»Madre natura!« flüsterte Elditt, der mit Schrecken sah, wie tief Olivier in diesem mystischen Gewebe von Seelenwanderung und okkultem Zauber verstrickt war.
»Du mußt mir versprechen, nie mehr davon zu erzählen; hörst Du, Olivier?« sagte er wie beschwörend.
»Seit ich Dich kenne, glaube ich es auch nicht mehr. Ich will ganz Dir folgen, und was Du sagst, wird für mich gut sein.« –
»Die Ganymedstatue ist zertrümmert; damit bist du doch einverstanden?« fragte Elditt.
»Ganz zerstört? Nun dann um so besser« – sagte Olivier. »Sie brachte allen Unglück, die sich ihr näherten. Du wirst ja staunen, wenn ich Dir den Zusammenhang erkläre. Wieder ist Duquesnoy dabei. Auch er schuf einen Ganymed; der blieb in Gent, als er dort verbrannt worden war. Allen war die Statue unheimlich. Ein Freund des Künstlers stellte sie in seinem Saale auf. Einige Wochen darauf starb er. Sein Sohn wollte sie reinigen, da fiel er vom Stuhl herab und brach das Genick. Das Heidenbild hatte sich an der Stadt rächen wollen, die seine heidnischen Ideale haßte und seinen Lobredner verbrannt hatte.«
»Ist dies wahr?« stammelte Elditt.
»Du kannst es bei Eekhoud lesen in Dr. Magnus Hirschfeld's Jahrbüchern.«
»Und dann?«
»Ich weiß nicht, was dann mit der Büste geschah. Jedenfalls ging sie bei der großen Uranierverfolgung zu Anfang des 18. Jahrhunderts zu Grunde.«
»Uranierverfolgung? Ich habe nie davon gehört.« –
»Womöglich etwas noch Greulicheres als die Verbrennung Duquesnoys. Sie dehnte sich zwei Jahre lang über ganz Holland aus. Calvinische Prediger haben sie angezettelt. Damals war in Holland Mißwachs, Hagel, Ungewitter, Überschwemmung. Die Pastoren stiegen auf die Kanzeln und fragten: ›Warum züchtigt uns die Hand des Herrn, wie weiland die Philister das Volk Israel?‹ Sie wußten ganz genau die Ursache des göttlichen Zorns: weil homosexuelle Männer, wie auf der ganzen Welt, so auch in Holland lebten. Das Unglaubliche geschah: Unter Trompetenschall ward verkündet: ›Wer einen Sodomiter anzeigt, bekommt die Hälfte seines Vermögens, die andere Hälfte nimmt der Staat.‹ Nun wüteten zwei Jahre lang über ganz Holland Schrecken, die alle Greuel der Hexenprozesse und Inquisitionen in den Schatten stellten. Mehrere tausend Männer, Jünglinge und Greise wurden eingeäschert, mit wilden Katzen in Säcke eingenäht und in's Meer versenkt; die Akten sind noch vorhanden.
Und alles geschah wenige Jahre, bevor Goethe geboren wurde. Auch ein sechzehnjähriger Knabe ward damals zum Feuertod verurteilt. Gefragt, ob er noch etwas zu sagen habe, erklärte der Arme: ›Calvin hat dasselbe getan wie ich. Und mich wird Gott rächen.‹
Für diese gotteslästerliche Antwort, heißt es im Akt, wurde er vor dem Flammentod mit glühenden Zangen gezwickt.
Damals wurde auch Duquesnoy's Statue vernichtet; vielleicht hätten sie noch seine Asche verbrannt, wenn sie noch da gewesen wäre. Gott und die Dummheit der Menschen hatten sich gegen sie verschworen. Ich aber, aus Trotz, habe sie wieder neu erstehen lassen, als Symbol der Jünglingsliebe, die den Menschen mit Adlerflügeln zu den Idealen emporhebt.« –
*
Elditt und Olivier waren seit einigen Tagen in Genua.
»Du mußt mir das Buch über Duquesuoy geben, ich will es verbrennen.« –
Olivier zögerte.
»Gib mir das Buch! Ich kann es nicht mit ansehen, wie dein reiches Talent, dein prächtiges Wesen durch diese abscheulichen Gespenster der Vergangenheit vernichtet wird. Du schaffst nichts, quälst dich immer bloß mit dem widerwärtigen Kopf dieser Italienerin. Du wirst zu Grunde gehen und dann bildest Du Dir vielleicht ein, etwas Tragisches à la Duquesnoy zu erleben.« –
»Scheiterhaufen gibt es heute nicht mehr,« sagte Olivier; »dafür hetzt der Pöbel die Sondermenschen, die nicht zu ihm halten, auf andere Weise in den Tod. So ging es ja unserm armen Dr. Krongold.« –
»Dr. Krongold war überspannt,« sagte Elditt. Für ihn bestand nicht der geringste Grund, sich das Leben zu nehmen. Er wollte aus Dir einen Napoleon der Malerei machen, war aber selbst ein Schwächling.« –
Sie kamen vom Kaffeehaus, gingen in der samtweichen Nacht, die ihr blaues Mondlicht auf das Pflaster gleiten ließ.
Olivier klagte, daß er keine Stimmung habe und nichts schaffen könne.
Elditt redete in herbem, vorwurfsvollem Tone auf ihn ein, von heimlichem Mitleid verzehrt.
»Ich habe gehört, daß die Slaven an den Vampyr glauben, einen Toten, der nicht ganz stirbt und sich in die Lebendigen einsaugt. Dein Vampyr ist der unglückselige belgische Maler. Es gibt ein Mittel, den Vampyr zu töten, daß er nie mehr sein Grab verlassen kann: Man sticht ihm einen Pfahl in den Leib, dann stirbt er.«
»Was willst Du damit sagen?«
»Du mußt mir das Buch geben, damit ich es verbrennen kann.« –
»Was nützt die Asche des Buches, wenn der Gedanke nicht stirbt.« –
Elditt fühlte, wie recht Olivier hatte. Es nützt nichts mehr, das Buch zu verbrennen; er sprach auch nicht mehr davon. Jetzt bestand Olivier darauf, die Grotte zu sehen. Elditt weigerte sich, sie ihm zu zeigen.
»Nein.« Eher würde er sie vom Geistlichen mit Weihrauch ausräuchern lassen.
Als Olivier darauf beharrte und Daniele nach dem Wege fragte, reiste Elditt ab. Beim Abschied weinte er.
Elditt machte jetzt eine Tournée durch die Schweiz und Österreich mit einem Erfolg, der alle früheren übertraf. Er spielte seinen Hexentanz wieder, in dessen Umarbeitung er alles hineingeheimnist hatte, was er seit der Unterhaltung mit Baron v. Seydewitz erlebt hatte, all den Albdruck der Seelenwanderung und den okkulten Spuk.
Die Zeitungen waren zuerst etwas befremdet, dann geizten sie nicht mit glänzender Anerkennung.
In Wien traf er den Komponisten Camillo Horn, dessen neue Symphonie Furore machte. Lydia war jetzt Frau Dr. Brettschneider geworden und ging mit ihrem Gatten täglich zur Bibliothek. Aus tausend ziemlich belanglosen Büchern sollte ein tausend und eintes ebenso belangloses zusammengeschrieben werden und zwar über die polnische Frage.
Dr. Brettschneider, der in Catania vor zwei harmlosen Münchener Malern das Hasenpanier ergriffen hatte und nach einer dunklen Sage in der polnischen Grenzstadt Thorn von einem polnischen Arzte Szyglowski geohrfeigt worden war, weil er in einem offenen Lokale zusammen mit einem deutsch-evangelischen halbblinden Sänger und Zeitungskritiker lästerlich auf die Polen geschimpft hatte, wollte nun mit den Polen, dem gehetzten Volke der Märtyrer, Abrechnung halten. Neuerdings blies Dr. Brettschneider auch in die Los von Rom-Trompete. Immer aber kam er auf die Polen zurück.
Er versuchte sogar in Wien eine Brandrede zu halten, bekam aber keinen Saal außer ein ganz übel verrufenes antisemitisches Lokal, dessen Besitzer nahe daran war, unter Polizeiaufsicht zu kommen. Dort, in einem verräucherten, mit Bismarckbüsten und anderen Widerlichkeiten verunzierten Saale konnte er vor antisemitischen Radaubrüdern, Dienstmännern und bankrotten Gastwirten über die Polen schimpfen und am Schlusse den Indianergesang der Wacht am Rhein anstimmen lassen; auch einige Juden wurden verspeist.
Elditt begegnete Lydia auf dem Prater. Sie plauderte mit einem bekannten antisemitischen Abgeordneten, machte wahrscheinlich Propaganda für das Buch ihres Mannes, der sich einen preußischen Orden erhoffte.
Als sie Elditt erblickten, stießen sie sich an und schauten höhnisch fragend nach. Das war so deutsch-christliche Art.
Elditt ging nach dem Gremiumsaal in den Vortrag des Magnetopathen Dr. Schabenberger über Seelenwanderung.
Der sehr sympathische alte Herr mit seinem großen grauen Barte sprach langsam, ernst, sehr sachlich, vor etwa 200 Zuhörern. Schon Goethe habe gesagt, daß besonders feinfühlige Menschen irgend einmal inne werden, daß sie schon einmal da waren. Ein junger theosophischer Gelehrter in London habe sogar eine kleine Seele flattern sehen, dünn wie ein winziges Rauchwölkchen. Alle 300 Jahre komme man wieder; immer in einer besseren Form, nie in einer schlechteren; aber auch nie früher als in 300 Jahren.
Was man im früheren Dasein Gutes getan habe, werde dem späteren Dasein zugerechnet; so z. B. komme ein Mann, der vor 300 Jahren Menschenfresser in Afrika gewesen sei, nach dieser Zeit in Europa als Philanthrop auf die Welt.
Dann führte er Beispiele an: Kardinal Mazarin fürchtete sich vor Rosen, ganz einfach, weil er vor 600 Jahren beim Einfall der Sarazenen an der italienischen Küste unter Dornen zu Tode gemartert worden war. Katharina von Medici entsetzte sich vor Katzen; ganz einfach, weil sie in einem früheren Dasein, vielleicht in der Wüste Sahara, von einem Löwen aufgefressen worden war.
Elditt mußte auflachen. Waren dies nicht Dogmen, ebenso schwer eingänglich wie die Dreifaltigkeit oder die Erbsünde? Warum waren es gerade 300, nicht 500 Jahre?
Wie damals überkam ihn ein Haß gegen all diese Ideen, die er seit der Unterhaltung mit v. Seydewitz bei sich gehätschelt und großgezogen hatte.
Während er nach München reiste, kam er von dem Gedanken nicht los, den Pater Expeditus im St. Anna-Kloster aufzusuchen, ihn um Rat zu fragen und, wenn es sein mußte, wieder katholisch zu werden, wie der alte zitternde Sünder Verlaine, der nachts in die Kapellen schlich und seinen Kopf an die Steinplatten stieß in der Wut des Bußkrampfes.
Mit rasendem Ingrimm verwünschte er all diese okkulten Vorspiegelungen, die er sich als irgend ein teufelartiges Wesen dachte. Diesen Teufel wollte er erwürgen, zerschmettern, zertreten. Er schwelgte in dem Gedanken, welche Todesart er für ihn aussinnen wollte.
Er fühlte sich glücklich in seiner Rolle, ein Führer und Mentor Oliviers zu sein.
Er hatte Olivier geliebt, liebte ihn noch, mit seiner Seele, nicht in der vollen Lebenswirklichkeit, sondern vielleicht auch in der Phantasie eines zweiten früheren Lebens, in der Künstlerphantasie.
Jetzt stand er vor Pater Expeditus Schmidt, dem Kunstkritiker und Psychologen, der in seiner ruhigen Klosterzelle alle Satanismen zu Boden schlug, wenn er nur so geruhig und gottesfreudig sein Schnupftuch zog und in seinem sächsischen Dialekt von der Liebe Gottes sprach.
»Ja; das war Sünde gegen den hl. Geist, das Unheimlichste des Unheimlichen, gebannt in die schillernde, gleißende Verführung der Kunst. Sie standen vor einem Abgrund.
Was hat Olivier mit Duquesnoy? In Italien wäre Duquesnoy dies nie passiert; was calvinische Geistliche taten, geht mich nichts an. Überlassen Sie diese Frage ganz der fachkundigen Hand des großen Gelehrten Dr. Magnus Hirschfeld in Berlin, dessen philanthropische Tätigkeit zur Aufhebung eines unglückseligen Paragraphen jeder fühlende Mensch aufs höchste anerkennen muß. Die Weltgeschichte ist voll Greuel, rühren Sie diese nicht wieder auf! Gerade durch Ihr Darandenken werden die armen Schatten wieder aufgescheucht, wie die zwitschernden Seelen Homers, und müssen vielleicht in der Erinnerung aufs neue leiden. Lassen Sie die Seelen ruhen! Vergessen Sie! Beten Sie! Meinethalben die Gedichte des hl. Franziskus! Ich war früher sächsischer Offizier, schwärmte für Theater, für Ibsen, Wilde und jetzt bin ich im Kloster festgenagelt. Bin auch ganz glücklich; schreibe, redigiere, kritisiere. Warum soll man sich nicht glücklich fühlen? Ist dies eine Schande? Warum auf so gefährlichem Pfade mit den extremsten Dingen spielen? Sie schaffen sich selbst Leiden und freuen sich dessen wie die Seelen Dante's, die Leiden sagen und Freuden meinen.« –
Es war sehr richtig, nur zu wahr; zu einleuchtend und zu klar, als daß er es hätte annehmen können.
Die gläubigen Menschen, die stark im Glauben waren, denen gerieten alle Dinge zum Heile. Sie konnten mit einem Heuwagen durch ein Nadelöhr, waren ruhig und zufrieden, innerlich gewärmt wie von einer Wärmflasche.
Nichts schlug sie zu Boden; sie blieben immer im Gleichgewicht.
Er erinnerte sich an die Komposition des Prinz Öttingen-Spielberg'schen Gedichts. Es war ein einfaches Marienlied; so viel Ruhe, Klarheit und Friede war darin.
Oder die alten Bilder in der Pinakothek, die voll frommer Einfalt und Ruhe sind und keinen Zweifel kennen, keine innere Unrast.
Tief fühlte er das, was in ihm widerstrebte.
Mehr als je erkannte er, daß sein innerer Zwiespalt, dieses Dutzend Religionen und Weltanschauungen, die er mit sich herumtrug, an seinem sophistisch schillernden Elend schuld war. Und als letzte große Rettung tauchte etwas Seltsames auf: In Würzburg hatte er Baron v. Manstein kennen gelernt, der war mit seiner Frau zum Judentum übergetreten, war sehr fromm, tat den Armen Gutes und hatte diese vornehm gelassene Art, die man bei frommen Juden nicht selten findet. Der hatte ihm viel Schönes vom Judentum erzählt und ihm ein Buch mit jüdischen Gebeten und Sprüchen der Talmudisten gegeben. So viel schöne Menschlichkeit war darin, so viel Antike, so viel Vornehmheit. Seitdem erschien ihm der häßlichste Jude immer noch wie ein begnadetes Wesen. Auch nicht so viel Sündengewinsel und Gekrieche vor Gott hatten sie! Ihre Gebete waren stolz und groß und durchdrangen die Wolken; und wenn sie von ihrer Verstoßung klagten, hatten sie große, rührende, tragische Augen. Keinen Seelenfang trieben sie, lästerten nicht die anderen Bekenntnisse, und in dem großen Garten ihres Gottes sah man keine Abgründe, die zur Hölle hinabführten wie bei den Christen.
Als er am Münchener Bahnhof nach Genua einstieg, stand Olivier vor ihm. Sie umarmten sich; alles war vergessen, alles verziehen, was zu verzeihen war.
Olivier gestand, daß er ihm heimlich nachgereist sei. Um Elditt eine Freude zu machen, suchte er selbst den katholischen Pfarrer in Genua auf, um ihn zu bitten, in der Grotte den feierlichen Exorzismus vorzunehmen.
Nach einigem Hin und Her erklärte dieser, daß ein Fall des Exorzismus sicher nicht vorliege, daß er aber die Befugnis habe, die Grotte zu segnen.
Dies geschah auch in Gegenwart Oliviers und Elditts.
Die wenigen Marmorsplitter, welche der Fanatismus der Bevölkerung übriggelassen hatte, trug Elditt feierlich ans Meer und versenkte sie darin.
Olivier bestellte sogar eine Franziskusbüste, um damit das Pantheon Dr. Krongold zu exorzieren; parfümierten Katholizismus nannte er es und lächelte dazu. Er fühlte, daß er Heide war und es blieb.
»Nun habe ich alles getan, was du willst.« –
»Nein; ich will noch das Buch Duquesnoys verbrennen –« sagte Elditt mehr im Scherze.
Sofort brachte es ihm Olivier.
»Ich werde dich heilen,« sagte er. »Selbst gegen deinen Willen.« Fanatismus flammte in seinen Augen auf.
Er nahm eine Nadel, durchbohrte den Namen mit unzähligen Stichen, immer und immer wieder, bis das Buch fast zerfetzt war, dann hielt er es an das flammende Kerzenlicht.
»Wirst du ihn loslassen?« rief er. »Wirst du ihn loslassen?«
Alles wendete sich zum Bessern. Es schien wenigstens so. Vernunft und Lebenslust gewannen bei Olivier den Sieg über die Dämonen, die sich seiner bemächtigt hatten. Er war gewöhnt, täglich an das Meer zu gehen, das Röcheln der Wogen zu hören, die Wellen herbeieilen zu sehen, wie die wallenden Mähnen weißer Rosse. Auf einem Spaziergange entdeckte er am Rand eines Abgrundes die Trümmer eines alten Turmes. Auf dem kleinen Platze davor streckte er sich aus und ließ sich von der Sonne bescheinen. Eine alte Cisterne war in der Nähe, an deren Rande Eidechsen schillerten. Er sah den Schiffen in der Ferne zu, zählte die Barken der Fischer, deren Schenken er oft besuchte, um ihren Saltarellatänzen zuzuschauen. Beim Umherschweifen zwischen Felsen und Wäldern entdeckte er eine große Schlange; mit dem Stocke erschlug er sie.
Fast freute es ihn mehr, als ein wohlgelungenes Bild. Es war rührend, wenn er Elditt fragte, ob er auch ganz mit ihm zufrieden sei.
Der konnte nicht anders, als es aus vollem Herzen zu bejahen.
Olivier zwang sich sogar, einen hl. Franziskus zu malen, wie er den Fischen predigt, und immer wieder bat er Elditt um Verzeihung, daß er damals so hartnäckig darauf bestanden habe, die Grotte zu sehen.
Eine tiefe Neigung war in ihren Seelen aufgekeimt, ohne daß sie es vielleicht wußten.
Elditt und Olivier pflückten gerade im Garten Orangen und goldgelbe Citronen; Namir jauchzte, wenn er im Sprung eine bläuliche Feige oder einen berstenden roten Granatapfel erhaschte, da brachte der Postbote ein Telegramm aus Wien.
Die Mutter Oliviers, gerade zu Besuch bei ihrem Schwiegersohn Dr. Brettschneider, war sehr schwer erkrankt. Olivier sollte kommen. Elditt wollte mit ihm reisen; auch Olivier wünschte es. Als sie in Wien ankamen, war der Zustand hoffnungslos, das Leben nur noch nach Stunden bemessen.
Sie erkannte ihren Sohne nicht mehr; aber in ihren Fieberreden war der Name oft vorgekommen, so sagte die Krankenschwester.
Der Baron, ganz verzweifelt, führte ihn noch einmal zu der Leiche:
»Sieh sie an!« sagte er hart; »du bist zum großen Teil daran schuld.«
Da floh Olivier aus dem Hause des Todes, an Gott und den Menschen verzweifelnd.
Weinend fiel er Elditt um den Hals, sein Körper zitterte vor Schluchzen; nicht zu stillen war sein Weinen.
»Sie haben mich verstoßen!« rief er. »Am Totenbett der Mutter! Sie haben mich verstoßen!«
Und in einer rasenden Verzweiflung, die ihm die Herrschaft über seine Sinne raubte, riß er Ary an seine Brust:
»Bleib du wenigstens bei mir! Bleib du bei mir! Ich bin ja so unglücklich!«
Er küßte ihn auf Mund und Stirne, preßte ihn an sich, daß ihm fast der Atem verging.
Als sie abreisten, erfuhr Elditt von einem Freunde, daß Dr. Brettschneider, dessen Buch über die polnische Frage inzwischen fertig geworden war, über ihn ganz unqualifizierbare Dinge erzählt habe.
Auch in Genua wollten sie nicht länger bleiben. Pastor Cucumus hetzte jetzt sogar gegen Namir. Mehrere Geschäftsleute weigerten sich, etwas für die casa del diavolo zu liefern.
Nach Rom fuhren sie, der gefallenen Stadt, der Stadt der zerstörten Ideale und toten Hoffnungen.
Schatten, Larven, dunkle Drohungen flatterten über ihnen, die wie zwei Schiffbrüchige sich aneinander klammerten, und von einem dunklen, unentrinnbaren Fluche zu Boden geschmettert, fast nicht mehr zu hoffen wagten. Ausgestoßen waren sie aus dem Leben, wie ein Stein, der nachts vom Gemäuer lautlos in's Wasser fällt.
Wie die letzten in einer vom Fieber verwüsteten Stadt waren sie, wie Gespenster in leeren Gassen, die kein lebendes Echo mehr gaben.
»Das Hohe, das ich träumte, ich wollte es fassen, aber es zerflatterte wie ein Traumbild,« sagte Olivier müde und verzweifelt – »das verfluchte Götzenbild Duquesnoys, diese Courtisane, in deren Züge ich den Geist der Antike hineinmalen wollte, war ein Phantom, das mich geäfft hat – ein Abgrund in mir ruft dem andern zu.« –
Sie saßen im Coupé. Draußen flogen silbrige Olivenbäume vorbei und Schafherden, die in ihrem Schatten lagen. »Sieh da! Ein Granatapfelbaum,« sagte Elditt. »Die Liebenden vermählt er dem Tode. Du wirst bei mir bleiben; für immer. Wir werden umherirren, von Land zu Land geschleudert, wie Wassertropfen von Klippe zu Klippe, aber das Schicksal wird uns nicht trennen können, es müßte denn unsere verkrampften Finger auseinanderbrechen. Du, Olivier, warst mir das Hohe, das Reine, das Edle, das lächelnd über Abgründe schritt und mich, den Irrenden, führte, während ich glaubte, dein Mentor zu sein.« –
Draußen flimmerte die Campagna di Roma in dem Geflecht der Ginsterbüsche und dem glitzernden Grau der Wachttürme, die von dunklen Cypressen umstanden waren. Der melancholische Hornruf eines Hirten tönte zum Coupéfenster herein, löste die ganze Landschaft in eine sanfte Totenklage auf. Die Töne verwirrten Elditt, entfachten einen Sturm von Leidenschaft, der sich einer wollüstigen Melancholie vereinte; er fiel Olivier zu Füßen, bedeckte schwärmerisch hingerissen seine Knie mit Küssen, während heiße Tränen über seine Wangen rollten:
»Armer Freund!« rief er. »Du Edelster! Du Bester!«
Ein leises Geräusch ließ ihn auffahren.
Erschrocken sahen sie nach dem Fenster. In diesem Augenblick war es, als ob der Vorhang des Coupéfensters sich leise wieder an den früheren Platz zurück bewegt hätte.
»Mag die Welt es sehen!« sagte Olivier tapfer und mit stolzem Lächeln.
»O! ich habe keinen Mut zu leben mehr!« stöhnte jetzt Elditt, von jähem Stimmungswechsel überfallen.
In Rom stieg Elditt in demselben Hotel ab, das er damals bewohnt hatte. Es hatte einen wundervollen maurischen Balkon aus antikem Marmor, ausgemalte Plafonds und Marmorboden. Man sah den blühenden Ginster des Palatins und die Villa Mills. Im Garten standen blasse Marmorbilder auf hohen Sockeln, viele bis zum Leib unter Blüten begraben. Nachtigallen schlugen hier den ganzen Tag über. Auf einem Bett von Narzissen und Krokus lag ein schlafender Faun.
»Frau Konsul Meyer aus Herrsching bei München wohnt in der Villa drüben,« sagte der Portier mit einem widerwärtigen Lächeln. »Sie fuhr mit den Herrschaften hierher« . . .
Elditt und Olivier sahen sich an. Vielleicht war sie's, die am Coupéfenster gelauscht hatte. Elditt hat lächerliche Dinge über sie gehört. Sie spielte sich als Mäcenatin junger Künstler auf und lud sie in ihre Villa; niemand aber hielt es länger als zwei Tage dort aus. Bei ihrem unglaublichen Geize war die Bewirtung so gering, daß die armen Bohémiens, denen die Schloßfrau von ihrer seelischen Vereinsamung vordeklamierte, über Hals und Kopf wieder nach München zurückeilten.
»Hat sie wieder einen Seelenfreund gefunden, den sie protegiert?« sagte Elditt ganz ruhig, ohne den Mann weiter eines Blicks zu würdigen. Nicht mehr davon zu sprechen, war das Beste.
»Sieh da den Palatino!« rief Olivier. »Man sieht vom Balkon aus die Villa Mills. Wie schön hast du hier alles ausgewählt! Es ist wie in Genua, und hier der scharlachrote Mohn an der Via nova.« –
Dicht besetzt war sie bis an die letzten Ausläufer mit federleichten lila Trachelien, dunklem Mohn und Venushaar von dunkelviolettem Hauch, dessen Blüten schwer und seltsam nach allen Seiten winkten.
In der neuen Umgebung lebten sie wieder auf; auch Olivier, der während der Eisenbahnfahrt öfter gehustet hatte. Er ging am liebsten, allein oder mit Elditt, nach der Tiberinsel spazieren, gegenüber Trastevere am Rundbau des zierlichen Vestatempels, da, wo das Kirchlein der Santa Maria Egiciaca war.
Hier stand er lange, die alte Römerbrücke anstaunend, die seit 180 n. Chr. allen Wasserfluten getrotzt hatte. Das groteske weiße Riesengesicht der Bocca della Verità erweckte ihm naive Erinnerungen aus grauer Zeit: Wenn ein Meineidiger den Finger hineinhielt, konnte er ihn nicht mehr herausziehen. In den Trödlerbuden beim alten Marzellustheater kramte er nach vergilbten Folianten.
Ary Elditt gab mehrere Konzerte in Rom und erregte namentlich durch sein Paganinispiel den Enthusiasmus der Zuhörer; Olivier, der alle Skizzen der jungen Römerin verbrannt hatte, malte noch am hl. Franziskus.
Als er eben an den Fischen änderte, die ihm nie aufmerksam genug der Predigt des mystischen Gottesnarren zuhörten, klopfte es und Namir warf sich ihm zu Füßen.
Er hatte es vor Einsamkeit und Sehnsucht in Genua nicht mehr aushalten können.
Wie der geringste Bettler wollte er sein, wenn er nur bleiben durfte.
Natürlich erlaubte ihm's Olivier.
Der Junge wollte Geige lernen, wagte jedoch nicht, Ary Elditt um Unterricht zu bitten. Dieser folgte ihm einmal heimlich, als er von Hause wegschlich und sah ihn in ein kleines Haus bei der Vigne Macao hineinschlüpfen.
Ein Geigenbauer Sennewald wohnte hier; noch jung, aber in Rom schon sehr beachtet. Ary hatte gehört, daß seine Geigen an Süßigkeit und Stärke des Tons denen des weltberühmten Stradivarius gleichkämen. Auch hier war eine Art Seelenwanderung.
Er ging hinauf; verlangte Sennewald zu sprechen, und sah, wie Namir sich ängstlich im Dunkel des Korridors versteckte. Elditt beruhigte ihn und versprach, ihm selbst Violinunterricht zu geben.
Sennewald zeigte eine jüngst vollendete Geige, von seltenem Wohlklang, die Elditt im nächsten Konzert zu spielen versprach.
Der Geigenbauer kannte zufällig auch Frau Konsul Meyer, weil der Konsul, gleichfalls ein Kölner, eine Geige bei ihm bestellt hatte. Ängstlich diskret deutete er an, daß Meyers böse Gerüchte über ihn und Olivier ausstreuten.
Verstimmt eilte Ary Elditt nach Hause, ganz erfüllt von der Trostlosigkeit des Verhängnisses, das ihm nachkroch auf Schritt und Tritt, wie eine böse Schlange.
Als er heimkam, fand er Olivier in Tränen.
»Die schreckliche Person drüben hat uns verklatscht. – Meine Schwester ist hier und Dr. Brettschneider.« –
»Möge der Teufel ihn verschlucken!« rief Elditt. »Er vertreibt uns auch aus Rom. Fehlt noch Pastor Cucumus! . . .«
»Sie haben mich beschimpft« – schluchzte Olivier. Tränen erstickten seine Stimme.
Elditt raste; rief Schimpfworte hinüber nach ihrer Villa, die wegen der Entfernung niemand hören konnte.
Dann eilte er fort.
»Sei klug! Fang keinen Skandal an!« flehte Olivier, der sein jähzorniges Wesen kannte.
Er lehnte am Fenster, unverwandt nach der Villa starrend, von der so viel Böses ausgegangen war. Niemand war am Fenster zu sehen. Der von Säulenhallen umschlossene Hof glich einer Blumenwildnis; mutwillige Rosen kletterten bis zum Dache hinauf, schlangen sich um Amoretten, – da – kam aus dem Lorbeergebüsch eine Mänade hervor, in phantastische Schleier gehüllt. Sie schritt langsam an den Myrten vorbei auf eine freie Wiese, an deren Rand hohe Palmen standen.
Ein junger Maler, wie ein Faun, ein Tambourin in der Hand, hatte sich neben sie gestellt.
»Der Protégé,« hörte Olivier den Portier spöttisch rufen.
In der Tat! Die Dame, welche die unglaubliche Geschmacklosigkeit besaß, als Mänade zu tanzen, war Frau Konsul.
Sie hatte den Oberkörper und Kopf weit zurückgeworfen, ihre schwarzen Haare flatterten; hoch über sich in einer Haltung, wie man sie aus den Abbildungen spanischer Tänzerinnen in den illustrierten Beilagen kennt, hielt sie eine kleine Pauke mit rasselnden Schellen. Der Maler sprang um sie herum in tollen Sprüngen. Immer toller, bacchantischer wurde der Tanz.
»Hoffentlich bekommt er ein ausreichendes Mittagessen dafür,« rief der Portier ganz laut hinüber.
Vielleicht hatte sie's gehört.
Sie hielt inne, warf einen bösen Blick herüber. Dann erkannte sie Olivier, der auf den Balkon getreten war.
Sie flüsterte dem Maler etwas zu, und dieser, getreu seiner Rolle als Protégé, rief etwas herüber: Olivier verstand es, zuckte zusammen, wie von einem Schlage getroffen. Seine Lippen zitterten, er stand da, ganz erstarrt, als könnte er's nicht fassen.
Die drüben waren schon in der Villa verschwunden; Olivier stand immer noch auf dem Balkon.
Der Himmel hatte sich schwarz überzogen; ein fahler, schwefelgelber Schein flatterte am Himmel, etwas Flammendes, das losbrechen wollte. Es regnete in Strömen. Ein Donnerschlag prasselte nieder; in den Flammen des Blitzes glichen die Olivenbäume brennenden Fackeln.
Olivier stand noch immer auf dem Balkon; triefend vom Regen. Drüben an der Villa glaubte er höhnische Blicke zu sehen, die zu ihm herüber sahen.
Eine grenzenlose bange Verzweiflung überfiel ihn, die keine Grenzen kannte. Unentrinnbar war das Verhängnis, das ihn und seinen Freund verfolgte.
Auf seinen Lippen, die trocken und brennend waren, stand rötlicher Schaum; und als er es mit dem Taschentuch wegwischen wollte, war es voller Blut.
Er eilte in's Zimmer, reinigte sich mit dem Schwamme von den Blutflecken – da kam Ary zurück.
Er sah die Blutflecken auf dem Boden, welche Olivier in der Eile nicht hatte wegwischen können.
»Du standest im Regen, Olivier?« sagte er mit müder, fremder Stimme, und sah ihn forschend an, der sich nur mit größter Anstrengung aufrecht erhielt.
Draußen hatte der Regen jetzt nachgelassen; von den Blättern rieselten noch die Perlenströme, von den Pinien fielen schwere Tropfen. Die Palmblätter klebten am nassen Grase; weiße Jasminblüten, die das Gewitter herabgeschlagen hatte, lagen am Boden.
»Es ist nichts,« versuchte Olivier zu lächeln. Namir kam herein, versuchte zu scherzen, obwohl er dem Weinen näher war.
»Die Frau Konsul da drüben hat ein Rendezvous gehabt in der Allee der Villa Cenci bei der Statue der Carolina Bonaparte. Aber der Bildhauer ist nicht gekommen.«
Müde und fremd glitten die Worte an ihnen vorbei; mit gesenktem Haupte schlich der arme Namir hinaus.
Olivier hatte starkes Fieber. Das liebe Antlitz schien müder und müder zu werden, wie er so in den Kissen lag.
Ary hielt ihn in seinen Armen wie ein kleines Kind, wenn die Fieberschauer ihn schüttelten.
Da schlang Olivier mit einem Male seine mageren weißen Arme um seinen Hals und streifte mit seinen Lippen die Wangen Elditts:
»Es ist gut so, daß ich krank bin.« Fast flüsternd kam es von seinen Lippen. »Du wirst später ganz glücklich werden – ohne mich.« –
In jäher Leidenschaft, rasend vor Schmerz, rief er:
»Nein! Nimmer mehr! Es ist unmöglich – ich werde mit Dir immer sein – und ohne Dich –« und fast flehentlich sagte er, während er seine Wangen streichelte: »Wenn Du wieder gesund bist, wollen wir ein neues Leben beginnen. Bis jetzt war Dein armes, schuldloses Dasein voll Qual, Ängste, Verfolgung, voll bitteren Ringens um die Kunst – wie ein kleiner Vogel im Sturmwind warst Du – aber ich werde Dir glücklichere Tage bereiten, wenn Du wieder gesund bist.« –
Eine übermütig jubelnde Musik, vielleicht eine Polonaise von Chopin, drang zum Fenster herein. Drüben in der Villa spielte jemand.
Elditt hielt Oliviers Hand, die von matter bläulicher Glut in diaphaner Farbe durchschillert war.
Eine Träne stahl sich von seiner Wange.
»Laß eine Krankenschwester kommen,« bat Olivier.
Das Klavierspiel war jetzt verstummt; ein klagendes Glöckchen schlug ganz leise aus der Ferne.
Am Abend kam die Schwester. Sie stammte aus der Schweiz, war früher eine bekannte Schriftstellerin gewesen, die Tochter des berühmten Blumenmalers Stauffacher in St. Gallen. Zum Katholizismus konvertiert, suchte sie für ihre schwärmerische Seele, die für Poesie und Musik geglüht hatte, den Frieden in stiller Klosterzelle vor dem blassen Bilde des Gekreuzigten.
Ohne Unterlaß flötete draußen die Nachtigall; nicht mehr so laut wie sonst, wie durch einen Vorhang.
Die Krankenschwester sah einem Nachtfalter nach, der zum offenen Fenster hereingeflattert war, sich auf Oliviers Photographie setzte; die dunklen Samtflügel, halbgeschlossen, zitterten leicht. Hastig schlug er sie auseinander, erhob sich, umflatterte Oliviers Hand, streifte sie leise und flog dicht über Elditts Stirne der Palme zu, die am Fenster stand. Auch Elditt hatte es gesehen.
»Morgen wird es besser werden,« sagte er leise. Die Krankenschwester nickte; wie eine blasse Blume sah sie aus.
Tiefes Schweigen war im Zimmer. Man hörte das Flügelschlagen schlaftrunkener Vögel in den Ästen des Parks. Die Nacht war warm und still mit Herbstesahnung. Eine Sternschnuppe strich hie und da über den Himmel; die Fontäne drunten plätscherte wie mit menschlicher Stimme. Der Mondschein übergoß die schwarzen Riesenmauern des Palatins mit leisem Schimmer, zeichnete blaue Lichter hinein, warf eine irre, gelbliche Glut in das Zimmer, die alles in unirdischen Glanz tauchte. Olivier lag jetzt still in den Kissen; ein seltsames Siegel war auf seine bleiche Stirne gedrückt.
Eine so tiefe Beruhigung war über Elditt gekommen. Er wußte nicht, woher; aber sie war groß und stark in ihm.
Dem Schicksal trotzen, dem Freunde die Treue wahren, mit ihm zusammen die feindlichen Mächte herausfordern, das war doch das Höchste. Er wollte allem entgegensehen, was kommen konnte.
Olivier fuhr unruhig auf, begann zu phantasieren: fremde, unwirkliche Dinge waren es, die an tote Gestade anbrandeten. Dann tauchte Elditts Name auf, immer wieder sein Name; Krongold, Madre natura, Duquesnoy flatterten herum.
Elditt stürzte in sein Zimmer, warf sich aufs Bett, vergrub seinen Kopf in die Kissen, um sein lautes Schluchzen zu ersticken.
Fräulein Stauffacher hatte Dr. Ezekiel rufen lassen, einen sehr tüchtigen Arzt. Er blieb lange, sprach öfter mit der Schwester und beim Weggehen sah es aus, als ob er große Hoffnung hätte.
Olivier begann jetzt wieder zu phantasieren, von Flammen, gespenstischen Frauenbildern und dem Pastor, der ihm an's Leben wollte; er schrie laut auf.
Elditt unerträglich gemartert, stürzte fort. Eine Hoffnung blitzte vor ihm auf: Maler Leipold sollte ihn heilen. Zum Glück wußte er sein Atelier. Er lief nach der Via di quattro Fontane, an der Moses-Fontäne vorbei zur Piazza Termini, verirrte sich zwischen den vielen Bänken und kam bei den uralten Mauern der Diokletiansthermen mit ihren Höhlen und Wölbungen heraus, in die sich Remisen der Fiaker und Stallungen eingenistet hatten.
Mit Mühe fand er rechts in diesem Winkel eine Treppe, die an der Osteria eines Wirts vorbei zum oberen Stockwerk der Thermen hinaufführte. Noch lärmten hier beim Weine Kärrner und Kutscher und einige Soldaten.
Er fragte nach Leipold. Sie deuteten nach der mit kleinen Steinen cordonatenartig gepflasterten Treppe, die mit Marmorbruchstücken und antiken Resten bestreut war.
Ein großes Fenster, aus kleinen runden Scheiben mittelalterlich zusammengesetzt, blinkte im bläulichen Mondlicht. Elditt pochte an der Türe; niemand antwortete. Er schlug mit den Fäusten, der Riegel gab nach. Das Atelier war ein Durcheinander wie eine Phantasie Hoffmanns und der orientalischen Märchen, eine riesige Höhle mit nackten, grauen Wänden, wie sie die Zerstörung durch die Jahrhunderte, durch Erdbeben und Kriege in den Resten der alten Thermen hinterlassen hatte.
Elditt rief Leipolds Namen; niemand antwortete. Ein gelbliches Licht flatterte auf einem halbzerbrochenen Marmorgesims neben dem von Karyatiden getragenen Kamine; von einem mächtigen alten Kronleuchter aus Messing leuchtete ein winziges Lichtchen mit erlöschendem Leben.
»Leipold!« rief Elditt wie verzweifelt.
Da sah er einen Brief auf dem Marmorgesims beim Kamin liegen; öffnete ihn hastig, nachdem er seine Adresse gelesen hatte.
Er enthielt nur wenige Worte:
Ohne Hoffnung, ganz außer sich stürzte er fort. Der Kranke war wieder ruhig, als er kam, aber seine Stirne glühte wie Feuer.
Elditt bat die Schwester hinauszugehen, da er allein mit ihm sein wollte. Keine Hoffnung war mehr, das fühlte er.
Niedergeworfen rief er Gott, die Heiligen, alle Götternamen, die ihm einfielen.
Dann zündete er langsam zwei hohe Kerzen an; die sollten seiner fliehenden Seele nachleuchten durch die dunklen, schrecklichen Pfade der Ewigkeit.
»Olivier!« rief er. »Sterbender Gott!«
Er wuße selbst nicht, warum er so gerufen hatte.
Aber Götter haben nicht diese Blässe des Todes, sterben nicht so qualvoll.
Ein Lächeln kroch auf Oliviers blasse Lippen, dann erstarrte es wieder.
Die Nachtigall draußen schluchzte laut und seufzend; die Narzisse im Blumenstrauß, den er ihm gestern ans Bett gestellt hatte, ließ traurig ihr Köpfchen hängen.
Langsam kam der Morgen, heiß, ohne Wolken; träg schlichen die Stunden.
Es war gebaut, das weiße Haus der Ewigkeit, in das man auf leisen Sohlen mit gesenktem Haupte eintritt. – Oliviers Gedanken waren schon dahin vorausgeeilt.
»Stirb nicht! Sei Gott! Du sollst nicht sterben!« rief Ary verzweifelt; sein Körper zitterte vor Schluchzen. Dann sah er ihn lange an, beugte sich über ihn, als wollte er seine Seele trinken.
Schon hatte der Tod ihm das Marmorsiegel aufgedrückt. Die Nase trat stärker hervor, das große dunkle Auge leuchtete seltsam, während er in einer Art mystischer Andacht nach Elditt starrte.
»Rede mir von Sophokles und vom Hain des Friedens!« sagte er plötzlich, ganz laut, mit klarer Stimme.
Ganz in Tränen aufgelöst zitierte Elditt die herrlichen Verse des Eumenidenhains, hielt ihm ein Bild der Akropolis vor die müden Augen. Er dankte mit herzzerreißendem Lächeln Schwester Stauffacher, die hereingetreten war, sprach vom blauen Meere und dem Hymettosberge.
Olivier lächelte nicht mehr; die Blässe des Todes lag auf den starren Zügen. Die Krankenschwester kniete am Boden, murmelte Gebete, sprach von Christus, der uns alle erlöst habe zum ewigen Leben.
Ein wahnsinniger Grimm stieg in Elditt auf. Wie ein wildes Tier heulte er.
»Nein! Niemand hat er erlöst! Und ihn, den Herrlichen, den Einzigen, meinen süßen Freund haben seine Pfaffen in den Tod gehetzt! Sprechen Sie nicht mehr den fürchterlichen Namen aus! Er hat uns in den Abgrund gestoßen! Sehen Sie ihn an, den blassen, lieben Freund! Sehen Sie, wie er sich in Krämpfen windet! Hat ihn Ihr Christus erlöst? Nein. In den Tod gehetzt hat er ihn, weil er ein Heide war, nicht zu ihm betete. Schweigen Sie von Ihrem fürchterlichen Gotte!«
Schwester Stauffacher bekreuzte sich, ging langsam hinaus, eine Arznei zu bereiten.
Im Zimmer war schon der Tod.
»Ich will nicht mehr leben ohne Dich! Ich kann nicht!« stöhnte Elditt. »Hörst Du, Olivier? Ich will nicht leben ohne Dich.«
Irre Begeisterung leuchtete in seinen Augen.
Wohl hundertmal wiederholte er es. Immer mit demselben, verzückten Tone, der etwas Schauriges hatte.
Gegen 11 Uhr vormittags war Olivier ganz still geworden; dann öffnete er die Lippen, von denen es leise, wie singend kam:
»Ich sehe Licht! Reiches, strahlendes Licht! O diese strahlenden Blumen!«
Träumerischer Friede lag auf den Lippen, die Hände waren in seliger Andacht gefaltet. Gerade um Mittag, als draußen die Glocken verklangen und die Sonne über der Villa Mills stand, ging der letzte Atmenzug durch seinen Körper.
Das Mysterium des Todes breitete sich im Zimmer aus. Ein Schatten fiel auf die Apollostatue neben dem Bette.
Elditt ging langsam auf sie zu, und nach Art der Heiden, die ihre Götter züchtigen, weil sie ihnen nicht geholfen haben, schlug er mit der geballten Faust nach ihr.
Sie lächelte nur, stand unversehrt.
In rasendem Grimme schlug Elditt nach ihrem Gesicht; Blut quoll von seiner Hand, färbte den weißen Marmor.
Er schlug immer von neuem, dann von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, benetzte er sein Taschentuch mit dem herausquellenden Blute und strich kleine Tropfen auf die Stirne des Toten. –
»Dies sei das Zeichen, daß ich mit Dir sterben will,« murmelte er und vergrößerte die Wunde durch einen Schnitt seines Messers.
Fast zusammenbrechend, erschöpft von dem Blutverlust, schleppte er sich zur Türe und verriegelte sie. Mit wollüstiger Freude sah er, wie das Blut unaufhaltsam aus den geöffneten Adern quoll. Wie ein dünner, roter Faden schlängelte es sich am Fußboden, ward größer, glich einer phantastischen Schlange.
Er sah zu, als wenn es etwas Fremdes wäre, das ihn nichts anginge. Entlegene, längst vergessene Dinge tauchten vor ihm auf und verschwanden. Sie pochten an der Türe.
»Madre natura !« schrie er, von irgend einer Halluzination überwältigt. »Sie wollen mich zum Scheiterhaufen holen. Aber ich werde ihnen zum Trotz jetzt sterben!«
Neue Kraft war in ihm; die Häscher der Inquisition sollten ihn nicht lebendig greifen.
Mit schnellem, scharfen Schnitte öffnete er auch die Pulsader der linken Hand . . .
»Sie wollen uns nicht sterben lassen,« stöhnte er. »Sie wollen uns für den Scheiterhaufen aufsparen.« –
Seine Sinne verwirrten sich; er sank quer über Oliviers Leiche. Das rieselnde Blut besudelte die weiße Bettdecke.
Mit Fäusten schlugen sie an die Türe, die jetzt krachend hereinfiel.
»Rettet ihn!« rief die Krankenschwester. Aber es war zu spät.
Der Portier zog Elditts Leiche vom Bette weg und sah sich im Zimmer um, als wollte er Inventar aufnehmen.
Die Krankenschwester sank auf die Knie und murmelte Gebete.
Ein Falter flatterte herein, setzte sich einen Moment auf die blutbefleckte Statue und flog hastig davon.
Da erschien eine große, schwarze Dame unter der Türe, einen hastigen, mißtrauischen Blick auf die Hoteldienerschaft werfend, die sich im Zimmer versammelt hatte, und wies sie mit einer Handbewegung hinaus.
Während sie eine widerwillige Träne abwischte, gab sie der Krankenschwester ihre Karte:
Lydia de Maisonpierre.
Die Testamentsangelegenheit noch von Dr. Krongold müsse geordnet werden; sie fragte sehr interessiert, wo Olivier seine Papiere aufbewahrt habe.
Frau Konsul Meyer war indessen herübergeeilt und begann lärmend zu kondolieren.
»Schade, daß er so sonderbar war. Er wäre sonst ein großer Künstler geworden.« –