Johann Gottfried Seume
Obolen
Johann Gottfried Seume

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Bruchstück einer Predigt, gehalten in Knauthain.

– – – – Unserm Gedächtnisse stellen sich die Jahre unserer Kindheit mit doppeltem Vergnügen dar. Gedenken wir nicht der Stunde mit neuer Freude, wo wir als Knaben lernbegierig in die Schule wandelten und da die ersten Grundsätze der Rechtschaffenheit, der Religion und der christlichen Wahrheiten hörten? Jede Stufe des Lebens bringt mit jeder Veränderung des Jahres dem Tugendhaften nur Gelegenheit, sich zu freuen und die Vaterliebe seines Schöpfers zu preisen. Das Spiel des Knaben und die ernstvolle Versammlung der Alten sind gleich große Wohlthaten für beide. Der blumenreiche Frühling und der beeiste Winter laden Jünglinge und Greise, jeden zu ihren besondern Geschenken ein, und Sommer und Herbst, mit Früchten und Segen beladen, rufen mit lauter Stimme zu ihrem Vorrath. Arbeit ist Wohlthat, und Schweiß ist Segen, und unglücklich und bedauernswürdig wäre Der, welcher wünschen könnte, ohne Geschäfte zu sein. Ihn würden gesunde Speisen ekeln, und die balsamische Ruhe würde von seinen Augenlidern entfliehen. Wenn des Landmanns nerviger Arm die Mühe des Tages besiegt, wenn seine Arbeit verrichtet, sein Werk vollendet ist und seine Erholungsstunde sich nahet, fühlt gewiß kein Fürst im Palaste so angenehm, so süß, was Ruhe und Schlummer ist, als er auf seiner Rasenbank. Dann genießet er sein ländliches Mahl mit mehr Heiterkeit und Geschmack als Jener seine herrlichen, köstlichen Gerichte und fremden Getränke. Ein Jeder frage in seiner Lage seine Seele und sein Gewissen: waren nicht der Freuden viel, unendlich viel, die er in jedem Zeitpunkte seines Lebens genossen? Und ein Jeder wird freiwillig gestehen: »Deine Gnade reicht, so weit der Himmel ist, und Deine Barmherzigkeit, soweit die Wolken gehen.« Und diese Wohlthaten, diese Freuden, waren sie unser? War's unsere eigene Macht, die sie uns verschaffte? Waren sie unser Verdienst? Oder hatten wir selbst nur die Kraft, die Fähigkeit, sie zu schmecken und zu empfinden? Kühner, verwegener Gedanke eines Menschen, der Erde und Staub und ein Wurm vor dem Schöpfer ist! Gottes Hand überschüttet uns mit Gütern wie mit einem Strom; seine Milde streute über unsre Fluren Segen und Wohlthat; sie gab uns Stärke, diese Geschenke als Geschenke zu genießen; sie schuf uns alle Vortheile des geselligen Lebens, die Glückseligkeit der Freundschaft und jeder angenehmen Verbindung. Durch sie leben und weben und sind wir; und wo ist der Undankbare, den dieses nicht mit frohem Entzücken erfüllen, nicht zu einer lebhaften, gerührten Ergebung zu Gott, zu einer tiefen Erkenntlichkeit gegen die belebende Güte des Allvaters auffordern sollte? Meine Freunde, laßt uns das genossene Glück durch die wiederholte dankbare Erinnerung noch einmal genießen! Laßt uns in herrlichen Lobgesängen die Größe des Gebers, seine Erhabenheit, seine Gnade und Vorsehung preisen und fest hoffen, daß Der, dessen Zärtlichkeit für seine Kinder bisher die Pfade unsers Lebens hoch, liebreich mit Blumen bestreute, auch in Zukunft Freuden die Fülle und reiche Güter in seinem Schooß für uns haben werde! Dies ist unsere Pflicht, dies ist unser Vortheil. Aber nicht immer schien die Sonne, nicht immer wandelten wir im Frühlinge, und nicht immer schwebten Ruhe und Zufriedenheit und stille Glückseligkeit um unser Haupt. Oft thürmte sich ein Wetter um unsern Scheitel und drohte einen fürchterlichen Ausbruch. Wir standen voll Angst und banger Erwartung; niedergeschlagen und muthlos sah unser Blick, nach Rettung gerichtet. Trauer und Betrübniß bemächtigte sich unserer Seele. Die Hand des Schicksals lag schwer auf uns, und fast erlag unser zagendes Herz unter seiner harten Last, fast erdrückte uns die Schwere. Ein Strahl der Hoffnung hielt uns noch aufrecht; nur noch das anhaltende Vertrauen auf die Vorsehung und ihre weise Schickung schützte uns vor Murren und Verzweiflung. Unsere Augen sahen keine Aussicht, unsere Klugheit keine Mittel, unsere Sündhaftigkeit keine Stütze. Wir glaubten verloren zu sein, als nach Furcht und Beben, gleich der Morgenröte nach einer Gewitternacht, der Vorsicht Wege sich öffneten. Wer von uns hat nicht schon sein Theil Leiden getragen? Diesen warf eine harte Krankheit auf sein Lager; er seufzte trostlos nach Arznei und Rettung; kraftlos hingen seine matten Glieder wie eine Last an seinem Körper; langwieriger Schmerz schlich sich durch seine innersten Adern; Todtenblässe umzog sein Antlitz, und das Grab öffnete schon seinen gierigen Schlund, seine gehoffte Beute zu verzehren. Da kam die Hand des Herrn und heilete den Geschlagenen, zog ihn zurück aus den Armen des Todes. Jenen drückte der Mangel, und Armuth hatte sich um seine zerfallene Hütte gelagert, Hunger und Blöße schienen ihm und seiner Familie zu drohen; aber die Huld des ewigen Erbarmers schüttete aus ihrem Reichthum Segen und Sättigung über ihn und machte ihn froh, da seine Seele nicht hoffte. Diesen verfolgten seine Feinde und suchten mit Macht und Unterdrückung, mit List und Ränken ihn zu Boden zu stoßen; aber Gottes Rechte hielt ihn fest, stellte ihn wie auf einen Fels und schützte seine Unschuld zum Spott seiner Verfolger. Wer von uns mußte nicht bei mannichfaltigen Fällen bekennen: »Herr, Deine Hand errettete mein Leben,« und dann ausrufen: »darum danket Dir meine Seele«? Gott bleibt immer Vater, gleich gütig und weise, wenn er seine Kinder erfreut, und wenn er sie durch die Proben der Leiden prüft. Er weiß unser Bestes und wünscht unser Glück, und mit Gelassenheit müssen wir uns unter seinen Willen beugen und ihn dankbar verehren. Aber waren nicht viele Leiden, viele Trübsale eine unfehlbare Folge unserer Fehler und unserer Unachtsamkeit? Stürzten nicht oft Leichtsinn und Leidenschaft uns in Umstände, die die gefährlichsten Wirkungen für unser ganzes Glück haben konnten? Manche, sehr Viele wird ihr Gewissen zwingen, ein ähnliches Bekenntniß abzulegen. Waren dies nicht Leiden, die wir verdient hatten? Wenn es also unsere Pflicht ist, der Vorsicht den reinsten Dank zu opfern, die uns aus dieser Angst befreite, so ist es auch unsere Pflicht, unser jetziges Verhalten genau zu untersuchen, von vergangenen Fehlern Klugheit und von ehemaliger Thorheit Weisheit zu lernen, die uns fähig machen, künftige Irrwege zu vermeiden und vielen Gefahren, die dieselbe begleiten, zu entgehen. Wenn wir aber das Schicksal verflossener Tage mit dankbarer Segnung der Seele wieder darstellen; wenn wir darin allezeit die Weisheit entdecken; wenn wir bei jeder Gelegenheit bekennen müssen, der Herr hat Alles wohl gemacht: so wird uns diese Betrachtung zu einem desto festern Vertrauen auf die Zukunft erheben und uns der Ungewißheit unsers Glücks oder Unglücks mit ruhigem Herzen entgegensehen lassen. Der Gott, denkt dann der Geist, der die Tage des Menschen nach seinem Wohlgefallen abzählt, dessen Hand mich bisher beständig die besten Wege nach seiner Weisheit geführt hat, der mein Vater noch war, auch wenn ich fehlte, der mich zurückzog, wenn der Betrug meiner Leidenschaft mich tief auf die Pfade des Irrthums geführt hatte, der Gott wird auch ferner mit seiner Weisheit mein Loos mir bestimmen und als Vater für das Glück seines Kindes sorgen. – Und mit welcher Empfindung stehe ich heute hier an dieser heiligen Stelle, vor der Versammlung des Herrn, vor dem Angesicht seiner Majestät! Meine Gefühle drängen sich in diesem Augenblicke zusammen und füllen meine Seele mit gerührtem Dank. Meine Kindheit, meine Knabenjahre, meine grüne Jugend, jeder Auftritt derselben schwebt mit neuer, lebhafter Erinnerung vor meinem Geiste. Jenes Schulhaus, wo ich die ersten Begriffe von Tugend und Religion hörte und anfing, mich zum künftigen Menschen und Christen zu bilden; jenes Chor, wo meine schwache Zunge mit in die Lobgesänge der Gemeine, dem Herrn ein angenehmes Opfer, stammelte; diese Stelle, auf welcher ich als Knabe die eingesammelten Lehren in öffentlichen Prüfungen bekannte, von der aus reiner Quelle der Offenbarung heilsame Schätze in mein junges Herz sich ergossen; jener Altar, an dem ich den Bund der Bruderliebe schwor; die ganze Gegend, wo meine Jugend in unschuldigen Freuden hinschwand; Alles, Alles, die ganze Vergangenheit steht vor mir und fordert mich auf, mit dankdurchdrungener Seele das Bekenntniß zu thun: Herr, Deine Wohlthaten sind ohne Maß. Dieser Ort ist mir heilig, diese Versammlung ehrwürdig. Ich sehe hier die Gefährten meiner frühesten Jahre, meine ersten Schulfreunde, die ganze Gemeine, vor der ich als Knabe stand, die Lehrer meiner Jugend, und auch ihn, den großmüthigen Menschenfreund, von dessen Güte Viele, von dessen Gnade besonders auch ich die ersten Aufmunterungen eines jugendlichen Fleißes erhalten habe, dessen wohlthätige, dessen edelmüthige Theilnehmung meinem Loose eine Wendung gab, die mich der angenehmsten Zukunft entgegensehen ließ. Freude, Ehrfurcht und Dankbarkeit durchströmen heute feierlich meine Brust und erheben sie zum Throne des Allmächtigen. Vereiniget Euern Dank mit dem meinigen, meine Theuren, und singt Lob dem Höchsten, dessen allweise und unveränderte Regierung die Begebenheiten der Welt und eines jeden ihrer Bürger ordnet und lenket, der mit tausendfältigem Segen das Leben seiner geliebten Kinder beglückt, und der auch dann noch Wohlthäter ist, wenn die Rathschlüsse seiner Allwissenheit erfordern, sie durch Widerwärtigkeiten und Leiden zu prüfen! Vereiniget Euer Lob, Euer Gebet mit dem meinigen!

O Gott, vor dem sich Erd' und Himmel beugt,
Dem sich in seiner Majestät
Der Cherub mit verdecktem Antlitz neigt
Und tief anbetend vor Dir steht,
O Gott, auch wir Geschöpfe Deiner Hand,
Von Staube, Staub vor Dir, ein Nichts,
Sehn hoffnungsvoll nach unserm Vaterland,
Nach Deinen Wohnungen des Lichts.
Du wiegst nach Deiner Weisheit festem Rath
Das Schicksal Deiner Kinder ab
Und blickst auf sie, o Vater, früh und spat
Voll Treu' und Zärtlichkeit herab.
Laß uns den weisen Schlüssen Deiner Huld
Voll Gottergebenheit vertraun,
Im Glück mit Dank, im Unglück mit Geduld
Und mit Anbetung auf Dich schaun!

Amen!


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