Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Bande Kaff

Gegen sechs Uhr morgens stand die Sonne stets in einem langen Streifen an der rechten Wand jenes Zimmers, das Kaff fünf Minuten, nachdem es frei geworden war, vom Portier mit der Begründung sich erbat, er habe es bereits dreimal bewohnt und schätze es wegen seiner ruhigen Lage. Er schätzte es nicht deswegen, sondern wegen des langen Streifens Sonne, dessen Verwertung ein sterbender Kumpan aus Dankbarkeit ihm vermacht hatte.

Am folgenden Morgen, als gegen sechs Uhr seine Taschen-Weckuhr schnurrte, sprang Kaff aus dem Bett, ergriff den großen länglichen Handspiegel, den er am Abend vorher in Spiegelschrift mit Buchstaben bemalt hatte, hielt ihn in den Sonnenstreifen und dirigierte den Widerschein vorsichtig durch das offene Fenster auf die Decke des gegenüber, eine Etage höher, befindlichen Zimmers, woselbst Anny, die gleichfalls sich hatte wecken lassen, in nur wenig verschwommenen Buchstaben den Satz las: »Delaro arbeitet schon, sei um elf Café Dauphin.«

Anny sah verabredetermaßen nach dem Wetter und hüpfte hierauf ins Bett zurück, neugierig nach der Decke blickend, auf der nach wenigen Minuten die Worte erschienen: »Sei pünktlich!«

Anny war es. Und da sie Delaro schon von der Straße aus hatte sitzen sehen, betrat sie so das Café, daß sie ihm den Rücken zuwandte und ihn erst zu erblicken schien, als sie ihm bereits am Nebentisch gegenübersaß. Delaro rauchte vergnügt, während das eine Auge für alle Fälle über den Rand der Zeitung hinausging.

Anny, dies unter dem breiten Hutrand hervor beobachtend, hielt es daraufhin für vorteilhaft, Delaros Aufmerksamkeit dadurch zu erregen, daß sie ein leeres Cachet aus ihrem Handtäschchen nahm und mit übertriebenen Vorkehrungen, dabei nicht gesehen zu werden, schluckte.

Delaro sah es. Da der Fall, dessentwegen er von Southampton nach London gekommen war (die Aufspürung des Falschmünzers Kaff und seiner Bande), ihm für den Augenblick nichts zu tun gab, zögerte er nicht, die Dame näher zu besichtigen. Nachdem er, vorbedachterweise allerlei Zeitungen suchend, mehrmals an Annys Tisch vorübergewechselt war, ließ er wie versehentlich ein Journal neben ihr zu Boden fallen und entschuldigte sich unaufhörlich.

Anny, sehr ergötzt, daß es ihr gelungen war, summte die ersten Takte des New-Yorker Chansons »I can't love ...« und lächelte dämonisch.

Delaro setzte sich deshalb, als geschähe es vor Verwirrung, ihr gegenüber an den Tisch. »Sie kommen aus New-York?«

Anny sah traurig über ihn hinweg. »Geben Sie mir zwei Zigaretten!«

»Zwei ...?«

Anny blickte, noch trauriger, auf den Tisch.

Delaro hielt ihr sein Etui hin.

Nachdem Anny sich bedient hatte, erläuterte sie: »Eine für die Schnauze, die andere für meinen Kerl.«

Delaro behielt seine seriöse Miene bei. »Sie nehmen Morphium?«

»Wer zuerst schweigt, schweigt am besten.«

»Sie scheinen nicht zu viel zu tun zu haben.«

»Tätigkeit ist aller Laster Anfang.«

Delaro, kaum lächelnd, entzündete sich eine Zigarette.

Anny hüstelte. »Ich bin sicher, daß Sie mich für so verausgabt halten, ich könnte glauben, Sie wären mit der Anlage geboren, die Zigarette so zwischen den Lippen zu drehen, wie Sie es tun.«

Delaro ärgerte sich nun doch und vergriff sich deshalb. »Ich gehe nur mit Weibern, die mir gut stehen.«

»Also ein Einsamer.«

Delaro mußte lachen. »Heben wir doch unsere Raketen für den Ernstfall auf. Unter uns wäre es angezeigter, offener zu sein.«

»Unter uns?« Anny holte abermals ein Cachet hervor. »Lügen wir also deutlicher.«

»Unverbesserlich!«

»Beeilen Sie sich! Die Situation geht zu Ende.«

Delaro, schnell auf seine Armbanduhr blickend, schlug ihr vor, mit ihm in den Regents Park zu fahren und dann bei ›Frascati‹ in der Oxford Street zu lunchen.

»Ist das das Lokal mit der roten Ziegelfassade?«

Delaro nickte und erhob sich ...

Als sie die Drehtür des Cafés passierten, streifte Anny die Wade des knapp vor ihr eintretenden Kaff, der die Mütze schief in die Stirn gedrückt trug und um den linken Arm einen falschen Verband.

Sobald sie mit Delaro in einem weich dahinrollenden Cab saß, äußerte sie deshalb, es vorzuziehen, in ›Oddeninos Imperial‹ zu lunchen; das sei zudem näher dem Regents Park.

Nach zwei Stunden, während welcher Delaro endgültig sich davon überzeugt hatte, eine geistreichelnde, aber harmlose Amerikanerin vor sich zu haben, die aus unglücklicher Liebe ein Opfer jener schrecklichen Drogue geworden war, saßen sie in ›Oddeninos Imperial‹ einander gegenüber.

Zwei Tische hinter ihnen saß Kaff, mit falschem Schnurrbart, einem Toupet und in einem eleganten Cutaway.

Ein Viertelstunde nach dem Dessert verabschiedete sich Delaro, dem Kaff unauffällig auf die Straße folgte, wo er sah, wie Delaro dicht neben einer Gruppe von zwei Männern und drei Frauen, die durchwegs schwarz gekleidet waren, stehenblieb, als müsse er sich orientieren, in Wirklichkeit aber, um aus dem Gespräch der fünf Geheimagenten den erwarteten Bericht entgegenzunehmen.

Kaff kehrte in das Lokal zurück, um seinen angeblich vergessenen Spazierstock zu suchen: das Zeichen für Anny, daß er in sein Hotel sich begebe. Dort erschien nach einer halben Stunde ein Kommissionär, der ihm einen Brief übergab, in welchem ein Stück Zeitungspapier sich befand: das Zeichen für Kaff, daß es noch nicht so weit sei ...

Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr hielt Kaff den großen Handspiegel in den Sonnenstreifen.

Anny in ihrem Zimmer las: »Delaro arbeitet Hochdruck, Eile tut not.« Sofort lief sie zum Fenster und sah nach dem Wetter; diesmal aber mit der Variation, die rechte Hand über die Augen zu halten: das Zeichen für Kaff, daß sie es für diesen Abend versuchen werde.

Eine Stunde später telefonierte sie dem Portier des Hotel Atlantic, er möge sie mit Mister Delaro verbinden.

»Ah, Sie ... Anny?« Delaros Stimme war nicht nur morgendlich frisch, sondern auch die eines Mannes, der soeben ein vorzügliches Geschäft gemacht hat. »So früh schon auf? Nun, wie gehts?«

»Haben Sie wirklich erst übermorgen Zeit für mich?« zwitscherte Anny gekränkt in den Apparat.

»Liebe, ich sagte Ihnen doch, daß ich ...«

»Sie essen zu wenig. Deshalb haben Sie keine Gefühle.«

»Vielleicht haben Sie recht Aber ich habe eine ganze Reihe sehr wichtiger Sachen zu erledigen, die kei ...«

»Gestern sagten Sie, es wäre nur eine.«

Delaro, der es nicht gesagt hatte, ließ sich, unsicher geworden, Lügen strafen. »Sie passen ja gefährlich auf.«

»Habe ich eine Schmutzkonkurrentin?«

»Für einen so billigen Herrn halten Sie mich?«

»Nein. Aber die Londoner Damen nicht für sehr teuer.«

»Sie haben eine wunderbare Schnauze.«

»Und, ich schwöre es Ihnen, keinen Kerl.«

»Daran habe ich niemals geglaubt.«

»Ich wußte es. Halten Sie die Bewegung der Erde um die Sonne für inkorrekt?«

»– ? –«

»Nun?«

»Ich warte auf die Pointe.«

»Sie irren. Ich wollte damit nur sagen, daß Sie diese Bewegung, zu der Sie im Großen und Ganzen gezwungen sind, auch im Kleinen und Halben mitmachen sollten, sofern Sie nicht ...«

»Dieser Verdacht, Sie seltenes Nachtgestirn, kann mich nicht treffen, denn ... Eine Sekunde, bitte ...«

Anny nahm augenblicks den zweiten Hörer, setzte sich geräuschlos, hörte auf zu atmen und lauschte angestrengt. Nach einigen Sekunden näherten sich undeutliche Stimmen Delaros Apparat. Aber erst nach etwa drei Minuten vermochte Anny folgende Satzfetzen aufzufangen: »... war es nicht im Chronicle, Pitts ... Man muß, wenn es klappen soll, in der Fenchurch Street ... Im Osten. Dann aber hat es keinen Zweck, die Leute, die doch ... von South Kensington bis ...« Neuerliches Stimmengewirr. Dann: »... vielleicht auch zwecklos, Pitts ... Ich bin dafür, es doch so zu machen, daß wir sofort ...« Die Stimmen entfernten sich.

»Anny?« rief Delaro endlich ungeduldig. »Anny, halloh!«

Anny machte ein Geräusch, als ergriffe sie erst jetzt wieder den Hörer. »Halloh, Delaro? Halloh! Ah, Sie vermuten wohl, daß ich so wenig Zeit habe wie Sie.«

»Wieso.«

»Nur Leute, die keine Zeit haben, warten lange.«

»Ebenso wahr wie rar. Doch ich kann Sie entschädigen. Ich habe heute Zeit für Sie.«

»Meinen Glückwunsch!«

»Unverschämt!«

»Such is life!«

»Aber entzückend.«

»Also heute abend. Um acht.«

»Bei Frascati, wie vereinbart.«

»Good bye.« Anny hängte den Hörer ein ...

Kaff befand sich noch in seinem Zimmer, als er ans Telefon gerufen wurde, wo ihm der Kassier eines Cinéma-Theaters mitteilte, Mrs. Plinghton sei leider immer noch krank und lasse ihn herzlich grüßen. Kaff wußte nun, daß Anny es erreicht hatte.

Nur für diesen Fall hatten sie eine direkte Verbindung vorgesehen, die an Vorsicht und Durchtriebenheit nichts zu wünschen übrig ließ: Kaff rief vom Wartezimmer eines Zahnarztes in der Parlament Street aus um drei Uhr nachmittags, auf die Sekunde genau, die Wohnung eines Zahnarztes auf dem Haymarket an und bat darum, Miß Flower, die im Wartezimmer sei, an den Apparat zu rufen.

»Miß Flower selbst?«

»Ja. Mister Pringgs?«

»Ja, selbst. Was hat man Ihnen mitgeteilt?«

»Daß der Laden in der Fenchurch Street schon vermietet ist. Man muß sofort einen andern suchen.«

»So. Das ist unangenehm. Auf jeden Fall aber ist es besser, wenn Sie heute abend zwei Stunden warten, damit ich mich melden kann.«

»All right.«

Kaff verließ das Wartezimmer unter dem Vorwand, einen wichtigen Gang erledigen zu müssen.

Anny tat desgleichen ...

Als sie abends in großer Toilette bei ›Frascati‹ erschien, erwartete Delaro sie bereits im Vestibül, war aufgeräumter noch als am Morgen und hatte diesmal so vorzüglichen Appetit, daß es Anny nicht immer schwerfiel, das Diner bis gegen zehn Uhr hinauszuziehen. Zu dieser Zeit wurde Delaro ans Telefon gerufen, wo man ihn mit verstellter Stimme bestürmte, sofort nach Fenchurch Street zu fahren; Kaff sei, als Arbeiter verkleidet, dort aufgetaucht, in der Wohnung sei Licht, man höre Tumult etc.

Delaro hatte die unbekannte Stimme zwar Verdacht erregt, der Umstand aber, daß sie ihn ›Pitts‹ genannt hatte, ließ ihn annehmen, daß die Aufregung Powells Stimme (denn nur diese konnte es sein) verändert haben mochte.

Delaro bat um Entschuldigungen, Annys Hand ergreifend; er würde in einer halben Stunde zurück sein.

Anny aber bestand darauf, mitfahren zu dürfen.

Unterwegs wurde Delaro, eben als er mit beiden Händen Annys Kopf nahm, um sie zu küssen, blitzschnell von ihr gefesselt. Ihn zu knebeln unterließ sie, um ihn, freilich mit vorgehaltenem Browning ausfragen zu können: »In welcher Angelegenheit sind Sie in London?«

Delaro, der seine Lage nicht unterschätzte, hielt es für das Vorsichtigste, falsch die Wahrheit zu sagen: »Um Casallo zu finden.«

»Kaffs Komplizen?« Anny kicherte höhnisch.

»Warum nicht lieber ihn selber?«

Delaros Brauen zuckten zornig. »Wer hat mir telefoniert?«

Anny wackelte mit dem Browning, ihn kurz gegen den Chauffeur richtend. »Der!«

»Wer!«

»Der am Volant – Kaff.«

»Ah!« Delaro machte sichtlich eine furchtbare Anstrengung, um seine Ruhe zu bewahren. »Ich weiß, daß ich Ihnen ausgeliefert bin. Geist wie dem Ihren bin ich unter Verbrechern noch nie begegnet. Das entschuldigt meinen Hereinfall ein wenig. Ich verspreche Ihnen, die ganze Falschmünzer-Affäre durch ein Machtwort niederzuschlagen, wenn Ihre Bande Europa verläßt.«

»Er stellt Bedingungen!« Anny stieß mitleidig den Atem aus. »Er verspricht! Sie scheinen vor Angst zu vertrotteln.« Sie hielt die Waffe näher an seine Stirn, da sie den unklaren Eindruck gehabt hatte, als hätte er versucht, sich zu bewegen.

»In meinem Portefeuille in der linken Brusttasche befinden sich siebenhundert Pfund.« Delaro dachte so rasend nach, daß er erbleichte. »Außerdem unterschreibe ich für das Zehnfache.«.

»Er deliriert«, sagte Anny trocken. »Halten Sie mich wirklich für so dumm? Dann würde ich mich allerdings nicht mehr darüber wundern, daß Sie mich nicht überwachen ließen.«

»Selbst wenn es geschehen wäre, hätte es wohl nichts verhindert. Wenn Menschen Ihres Kopfs Verbrecher werden, entwickeln sie eine tolle Phantasie und arbeiten viele Jahre hindurch gänzlich ungestört. Bis einmal ein Zufall, der immer kommt, ein wichtiges Detail lüftet und dadurch bald auch das ganze System.« Delaro hoffte, halb bereits sich aufgebend, ihr doch noch zu schmeicheln.

Anny jubilierte innerlich, diesen Gegner vor dem Schuß zu haben. »Schlucken Sie das!« Sie hielt ihm ein Cachet hin, das eine Dosis Morphium enthielt, die genügt hätte, ein Pferd zu töten.

Im selben Augenblick hob Delaro die Fäuste, um ihr die Stahlfassung der Handschellen auf den Kopf zu schlagen.

Anny schoß. Und sah sofort, daß es nur ein harter Streifschuß war, der den Schläfenknochen weggerissen hatte. Das Hirn lag in der Breite eines Fingers bloß. Der Schmerz mußte ungeheuerlich sein. »Schlucken Sie das!« befahl sie herrisch, wütend darüber, daneben geschossen zu haben.

Delaro, vor Schmerz fast ohnmächtig, aber doch noch so weit bei Bewußtsein, um zu wissen, daß er verloren sei, öffnete die Lippen und verschluckte das Gift.

Drei Sekunden später schoß Anny noch einmal. Die Kugel drang neben der Nase schief nach oben ins Gehirn. Delaro war sofort tot ...

Der Mord hatte sich im dichtesten Straßengewühl ereignet, so daß die Detonationen selbst von Kaff nicht gehört worden waren.

Nachdem Anny durch das Hörrohr mit Kaff sich verständigt hatte, hielt das Auto bald darauf vor einem kleinen Restaurant, das Anny nur betrat, um es nach wenigen Minuten wieder zu verlassen.

Kaff, der weitergefahren war, hielt vor einer kleinen Bar, stieg aus, trank einen Likör, trat auf die Straße, dann in einen Laden und ließ schließlich das Auto im Stich.

Am nächsten Morgen erwachte er, durch die Weckuhr bereits daran gewöhnt, von selber gegen sechs Uhr. Aber der Sonnenstreifen fehlte. Der Himmel war bleigrau. Kaff sah aus dem Fenster.

Gegenüber, eine Etage höher, lehnte Anny am Fenster und lachte, als sie ihn erblickte. »How do you do, Mister Pringgs?«

»Thank you, very well, Miß Flower.«


 << zurück weiter >>