Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war einmal eine alte Uhr, die war es müde, ewig ticktack zu machen. Sie war schon so kümmerlich, daß sie nur noch ganz heiser und undeutlich schlagen konnte, etwa so, wie ein alter Mann spricht, der keine Zähne mehr hat, und dabei rumpelte und schnurrte es so ungemein in ihrem Innern, daß man wohl merken konnte, wie sauer ihr das Ding wurde. Mir steckt was in den Rädern, sagte sie zu sich, es wird wohl auf Rheumatismus herauskommen.
Von Tag zu Tag ward sie müder und müder; zuletzt konnte sie nicht mehr mit.
»Die Zeit ist schneller als ich«, sagte sie, »was nützt es, daß ich ihr nachlaufe«, und damit stand sie still.
Sie ward zum Uhrendoktor geschickt. Dieser tappte mit spitzigen Gerätschaften in ihr herum und schaute mit großen Augengläsern in ihre innersten Eingeweide, schüttelte den Kopf und sagte dann zum Vater des kleinen Heini, dem die Uhr gehörte: »Da hilft nichts mehr, es ist Altersschwäche. Ich könnte wohl machen, daß sie noch eine Weile geht, allein es kann doch nie was Rechtes werden. Am besten ist, Sie kaufen sich eine neue.«
Dies geschah auch, und es kam eine sehr nobel und poliert aussehende Uhr ins Haus, die sich mit einem ausländischen Namen Regulator nannte und das Gefühl erweckte, als müßte sie unbedingt mit Herr angeredet werden. Sie sah beinahe so ernsthaft und würdevoll aus wie ein Geheimer Kanzleiregistrator, hatte einen pünktlichen Gang und eine so laute Stimme, daß man im ganzen Hause wissen konnte, wieviel es geschlagen hatte. Außerdem besaß sie eine so große Kraft in ihrem Innern, daß sie nur alle vierzehn Tage einmal aufgezogen zu werden brauchte, während die andere es niemals hatte vertragen können, wenn dies auch nur einen Tag versäumt wurde.
Die alte Uhr war aber eine sehr hübsche alte Uhr, und deshalb sagte die Mutter des kleinen Heini: »Nun, wenn sie auch alt und wackelig ist und nicht mehr geht, so putzt sie doch noch immer«, und somit behielt sie ihren Platz auf dem Silberschrank, wo sie immer gestanden hatte. Der Vater aber sagte: »Sie ist nun pensioniert und hat sich in den Ruhestand zurückgezogen, den sie ehrlich verdient hat. Sie war zugegen, als mein Vater geboren und als mein Großvater begraben ward, und hat mir die Stunde bezeichnet, in der ich mit deiner Mutter zum Traualtar ging. Sie gehört zur Familie.«
Als der kleine Heini dies gehört hatte und der Vater fortgegangen war, stand er eine Weile ganz nachdenklich vor der alten Uhr und betrachtete sie. Es war ihm noch nie vorher so aufgefallen, wie merkwürdig hübsch sie war. Der Oberteil, in dem sich die eigentliche Uhr befand, war von schwarzem Ebenholz und stand auf vier Säulen von durchscheinendem Alabaster, die wiederum auf einem schwarzen, mit blanken Messingornamenten verzierten Unterbau ruhten. Ganz obenauf saß ein vergoldeter Adler und zu beiden Seiten des Uhrgehäuses zwei ebenfalls golden schimmernde weibliche Gestalten, die auf trompetenartig gestalteten Flöten bliesen. Zwischen den Säulen war eine kleine Halle mit Wänden von Spiegelglas, und darin stand eine glänzende weibliche Figur, mit Helm und Panzer angetan, ausgerüstet mit einer brennenden Fackel, Schild und Speer. Sie stellte die römische Göttin Minerva vor. Der Perpendikel war wie ein Gesicht gestaltet, mit einem flammenden Strahlenkranze ringsumher, und bedeutete wohl gar die Sonne selbst. Je mehr Heini die alte Uhr betrachtete, desto mehr tat es ihm leid, daß sie so stumm und still war, und es kam ihm vor, als sei sie gestorben. Als er noch so stand und sie betrachtete, hörte er auf einmal, wie der Regulator, der an der Wand gegenüber hing, sagte: »Tick, tack, schnick, schnack, zick, zack, knick, knack!«, und dann schnurrte und klirrte es in ihm, es war gerade so, als ob er lache; es klang wirklich ganz boshaft. Und dann – war es nur die Erschütterung durch einen vorüberfahrenden Wagen oder hatte es eine andere Ursache – kam aus der alten Uhr ein wehmütiges, zitterndes Klingen, das dem kleinen Heini sehr beweglich und rührend vorkam.
Seitdem hatte er eine Liebe für die alte Uhr gefaßt und stand gern davor, um sie zu betrachten und allerlei Träumereien auszuspinnen, jedoch ein so sonderbares Benehmen des Regulators an der gegenüberliegenden Wand beobachtete er fürs erste nicht wieder.
Eines Tages aber bekamen die Eltern des kleinen Heini auf einige Zeit Besuch von Verwandten, und da die Wohnung nicht sehr groß war, so mußte er in der Stube, wo die Uhr stand, auf dem Sofa schlafen. Als er sich niedergelegt hatte, blieb er noch eine Weile wach, denn das laute Ticktack des Regulators war ihm ungewohnt und ließ ihn nicht schlafen. Während er so lag und auf den harten, gleichmäßig wiederkehrenden Pendelschlag horchte, da merkte er, wie sich dieser allmählich auf eine sonderbare Art verwandelte, und plötzlich hörte er wieder, wie er sagte: »Tick, tack, schnick, schnack, zick, zack, knick, knack!« Es schien, als ob dies dem Regulator große Befriedigung verursache, denn es lachte wieder ganz deutlich in ihm. Durch die alte Uhr aber ging wie damals ein leiser, wehmütiger Klageton. Als der kleine Heini nun auf den Pendelschlag lauschte und wartete, ob diese merkwürdige Erscheinung nicht wiederkehren wollte, überkam ihn die Müdigkeit, und er schlief ein.
Er erwachte wieder, weil der Regulator laut und dröhnend zwölf schlug, und ward alsbald von mächtiger Verwunderung ergriffen, denn das ganze Zimmer war von einem leuchtendhellen Schein erfüllt. Sollte das der Mond sein, der ein so starkes Licht verbreitete? Aber noch ehe er sich von der Ursache dieser Erscheinung unterrichtet hatte, ward seine Verwunderung noch vergrößert, denn er hörte plötzlich die alte Uhr in dem bekannten, heiseren Tone ebenfalls zwölf schlagen. Eben wollte er sich aufsetzen und sich nach ihr umsehen, als er eine seltsam goldglänzende Erscheinung vor seinem Bette bemerkte. Es war die Minerva von der alten Uhr, aber in der Größe eines erwachsenen Menschen. In der einen Hand trug sie den Speer, mit dem anderen Arme hielt sie den Schild und die Fackel. Sie verbeugte sich vor ihm und sprach: »Die alte Uhr läßt dich um eine Unterredung bitten.«
Der kleine Heini wollte schnell in seine Kleider fahren, allein mit Erstaunen bemerkte er, daß er seinen blausammetenen Sonntagsanzug bereits anhatte. Er stieg schnell aus dem Bett und sah nun, daß mit dem Zimmer eine merkwürdige Veränderung vorgegangen war. Es war anzusehen wie eine riesengroße, weite Halle, und an deren Ende stand die alte Uhr, aber ebenfalls mächtig gewachsen. Sie war anzusehen wie ein kleiner Palast, und das Licht, das Heini vorhin bemerkt hatte, ging von dem schwingenden Perpendikel aus, der wie die Sonne leuchtete und von den Spiegelwänden ringsum mächtig zurückgestrahlt ward.
Die goldglänzende Minerva ging panzerklirrend vor Heini her, und als sie näher kamen, bliesen die weiblichen Gestalten zu beiden Seiten des Uhrgehäuses mächtig in ihre Trompeten, und der Adler oben darauf schlug mit den Flügeln und drehte sich dreimal um sich selbst. Zu dem Unterbau führte eine Treppe hinauf, die Heini bis jetzt noch niemals bemerkt hatte. Sie schritten die Stufen empor und befanden sich nun in der offenen Halle mit den Spiegelwänden, wo zu ihren Häupten der Perpendikel strahlend hin und her schwankte. Auf einen Wink der Minerva tat sich jetzt der hintere Spiegel wie eine Flügeltür voneinander, und wo sonst weiter gar nichts als die Hinterwand gewesen war, bemerkte man nun eine Halle, in der ein ganz alter Mann mit eisgrauem Bart, den Kopf auf die Hand gestützt, traurig an einem Tische saß. Heini trat hinein, und dann schlossen sich die Türen wieder.
Der alte Mann hob müde sein Haupt empor, sah mit fast erloschenen Augen auf den Knaben hin und sprach mit schwacher Stimme: »Es freut mich, daß du kommst, ach, könntest du mir doch eine Erleichterung meiner Leiden bringen.«
Der kleine Heini wußte gar nicht, was er sagen sollte; er sah den Mann mit großen Augen verwundert an. Dieser aber fuhr fort: »Ich bin der Uhrenmann – die Uhr und ich, wir sind eins und dasselbe. Wir haben unsere Pflicht getan lange Jahre hindurch bei deinen Urgroßeltern, deinen Großeltern und zuletzt bei deinem Vater und deiner Mutter. Alle glücklichen und alle traurigen Stunden haben wir ihnen angezeigt, und nimmer sind wir ermüdet, solange uns nur ein wenig Kraft innewohnte. Jedoch auch Stahl und Metall sind vergänglich und fallen der alles vernichtenden Zeit zum Opfer. Unsere Glieder sind alt und zitterig geworden und unsere Stimme heiser und schwach. Was du dort siehst« – und er zeigte über sich, wo sich die alten, verrosteten Räder mühsam drehten – »was du dort siehst, ist nur das Scheinleben einer kurzen Geisterstunde. Dein Vater hat es gut gemeint und uns in den Ruhestand versetzt, allein er hat uns anderen Qualen hingegeben, die Tag für Tag wiederkehren. Er hat uns den neumodischen, polierten Nachfolger gegenübergehängt, der uns im Bewußtsein seiner brutalen Kraft täglich mit höhnischer Rede verspottet. Horch, schon beginnt er seinen schändlichen Gesang. Ach, das frißt ins Mark!«
Heini hörte, wie der Regulator draußen wieder begann: »Tick, tack, schnick, schnack, zick, zack, knick, knack!«
Ein wehmütiger Seufzer durchwehte die Halle, und der Alte fuhr fort: »Du verstehst nicht, was es heißt, ich will es dir erklären: Tick-tack-Machen, das ist die Hauptsache, alles übrige ist Schnickschnack und keinen Pfennig wert. Zick-zack geht's in der Welt, was oben war, kommt unten zu stehen, knick-knack, und mit dem alten Gerümpel ist es vorbei.
Das ließe sich noch ertragen, wenn es sich nicht täglich wiederholte, und wenn dies gemeine, höhnische Lachen, das hinterher folgt, nicht so tief ins Herz schnitte. Wir sind altes Gerümpel, das ist wahr, und wollen gern dahin, wohin wir gehören, in die Rumpelkammer, wo wir unter unseresgleichen sind und nicht ferner dem Spotte eines brutalen Emporkömmlings ausgesetzt, – und das ist der Dienst, den ich von dir verlange, – suche deinen Vater zu bewegen, daß wir in die Rumpelkammer kommen. Dort werden wir erst wahre Ruhe und Frieden finden.«
Der Alte schwieg ermattet und atmete schwer. Dann kam ein seltsames Leuchten in seine trüben Augen, er richtete sich ein wenig empor und fuhr fort: »Noch ein Mittel gibt es, allein ich habe wenig Hoffnung auf Erfüllung dieses höchsten Wunsches. Wenn dein Vater uns ein Werk machen lassen wollte, ein Werk, stärker noch wie das jenes polierten Elenden – ach, meine alten Glieder zittern vor Wonne bei diesem Gedanken. Aber das darf ich ja niemals zu hoffen wagen!«
Ermattet ließ der Alte den Kopf auf den Tisch sinken und schluchzte leise; dann schien er einzuschlafen. Zugleich ward es allmählich wieder dunkel in der Halle, das Geräusch des Uhrwerkes ward leiser und leiser, zuletzt durchschwebte nur noch ein sanfter Klageton die Luft, und dann war es ganz finster und still.
Der kleine Heini wachte am anderen Morgen zur gewohnten Zeit auf seinem Schlafsofa auf, richtete sich empor und schaute sich verwundert um, denn die wunderbaren Ereignisse der Nacht kamen ihm sofort wieder ins Gedächtnis. Allein in dem ganzen Zimmer war nichts Außergewöhnliches zu bemerken. Er kleidete sich schnell an, lief zu seinem Vater, erzählte ihm alles und flehte ihn an, der alten Uhr ein neues, schönes Werk machen zu lassen. Der Vater sah ihn ganz verwundert an, dann lachte er und sagte: »Junge, Junge, wie kommst du dazu, so verwirrtes Zeug zu träumen? Du hast mir gewiß wieder zuviel in den Märchenbüchern gelesen!«
Der kleine Heini behauptete aber steif und fest, es sei kein Traum gewesen, er habe alles ganz deutlich erlebt und gesehen, und erneuerte seine Bitte. Da ward der Vater ganz ärgerlich und sagte endlich: »Ich will von dieser Sache gar nichts mehr hören! Überdies ist das alte, wackelige, rumpelige Ding gar kein neues Werk mehr wert. Da ich aber sehe, daß du allerlei phantastische Allotria betreibst, so will ich dir drei hübsche Rechenaufgaben stellen, damit du auf andere Gedanken kommst.« Somit mußte Heini, obgleich Ferien waren, den ganzen Tag mit Rechnen zubringen, da die Aufgaben so knifflich und schwer waren, daß er am Abend erst damit fertig wurde. Am anderen Tage aber mußte er von vorne damit anfangen, denn alle drei Lösungen waren falsch, und da wünschte er, niemals etwas von seinem nächtlichen Abenteuer mitgeteilt zu haben.
Der zweite Wunsch des Uhrenmannes ging aber ohne Heinis Zutun in Erfüllung, denn als die vornehme Tante, die zum Besuch gekommen war, am anderen Tage die Uhr sah, sagte sie zu Heinis Mutter: »Aber Natalie, ich begreife nicht, wie du dies alte Monstrum auf deinem Silberschranke dulden kannst. Das Ding ist ja gänzlich aus der Mode und gehört in die Rumpelkammer! Ei, was habt ihr dort aber für einen prächtigen Regulator!«
Als sie dies sagte, konnte man deutlich hören, daß ein wohlgefälliges Schnurren aus dem Innern des also Gelobten kam und daß sein Pendelschlag noch einmal so eingebildet und hochnäsig klang als sonst.
Heinis Mutter aber glaubte der Tante aufs Wort, was sie sagte, weil sie so vornehm war und aus der Residenz kam, wo sie nur mit ganz echten Geheimrätinnen umging, und es also wissen mußte. So kam die Uhr denn noch am selben Tage in die Rumpelkammer, und an ihrer Stelle ward eine junge Dame aufgestellt, die die Tugend oder die Weisheit oder die Wissenschaft oder sonst irgend etwas Moralisches vorstellen sollte und durch und durch aus lauter Gips war.
Niemand bekümmerte sich fernerhin um die alte Uhr als Heini, der sie, selbst als er schon ein Primaner war und längst Heinrich genannt wurde, zuweilen in ihrer Verbannung unter dem alten Gerümpel aufsuchte, den Staub von ihr abwedelte und sie eine Weile betrachtete. Er hatte sich schon früher vorgenommen, sie einmal wieder zu Ehren zu bringen, und als er ein wohlbestallter Doktor war und sich eine Frau nahm, bat er sich die alte Uhr von seinen Eltern aus, ließ ihr ein neues, überaus vortreffliches Uhrwerk einsetzen und gab ihr den Ehrenplatz in seinem besten Zimmer. Dort ist sie noch heut und diesen Tag zu sehen. Es ist auch jetzt schon wieder ein kleiner Heini da, der sie ebenso verehrt wie einstmals sein Vater.
Der Regulator ist unterdes alt und klapperig geworden und hat seinen Platz einem jüngeren einräumen müssen. Er hängt jetzt in der Küche neben der Abwaschbank und geht falsch, daß es zum Erbarmen ist. Tick, tack, schnick, schnack, zick, zack, knick, knack!