Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
81 Mein Freund Johannes hatte mich zu einer Pfirsich-Bowle eingeladen und da er zu den wenigen Menschen gehört, welche das Geheimniss der Bereitung eines solchen Getränkes ergründet haben, so schien es mir nicht übel, dieser Einladung Folge zu leisten. Das Geheimniss selber, wie ich bei dieser Gelegenheit verrathen will, hat etwas verblüffend Einfaches, denn es besteht nur darin, dass man guten Wein nimmt, ja sogar eine Flasche fünfundsechziger Rauenthaler kann ohne Schaden hinzugegossen werden. Solches Verfahren ist aber den meisten Menschen viel zu einfach und sie verschwenden Zeit, Mühe, Arbeitskraft und Erfindungstalent, um aus der verdünnten Schwefelsäure des sogenannten Bowlenweines etwas Trinkbares herzustellen, 82 müssen das aussichtslose Unternehmen aber stets mit brummendem Kopfe bereuen.
Soweit war also die Sache ganz gut, und doch lagen die Verhältnisse nicht so einfach, wie man hätte wünschen können, denn mein Freund Johannes und ich sassen sechs Stunden weit auseinander in zwei verschiedenen Badeorten der Ostseeküste, getrennt durch einen Strom, eine grosse Strandwiese und einen Wald von bedeutender Ausdehnung, und da der Strom keine Fähre besass, so gab es keinerlei Wagenverbindung zwischen diesen Orten, als auf einem ungeheuren Umwege über die zwei Meilen weiter im Binnenlande gelegene Handelsstadt. Da ich in Folge dessen ganz auf meine natürlichen Fortbewegungsmittel angewiesen war, so liess ich mich, um rechtzeitig bei meinem Freunde Johannes einzutreffen, gegen ein Uhr Mittags über den Strom setzen und hatte nun eine sechsstündige Wanderung vor mir, welche ich genau in der Mitte, wo man bei einem Forstwärter eine kleine 83 Erfrischung erhalten konnte, zu unterbrechen gedachte. Der Tag war heiss und sehr schwül und hinter meinem Rücken im Westen war allerlei wunderliches weisses Wolkengebirge aufgethürmt. Dazu wehte kein Lüftchen, die See war glatt wie ein Spiegel und verlor sich in weisslichem Sonnendunst und der vor mir liegende Wald, den ich auf flacher unbeschützter Wiesenfläche etwa in anderthalb Stunden erreichen konnte, war ebenfalls in dunstige Schleier gehüllt. Auf dieser weiten schattenlosen Fläche war ich mit einer grausamen und rücksichtslosen Sonne ganz allein und sie versuchte alle ihre Künste an mir. Da ich aber wusste, dass es gegen solche Behandlung kein Mittel giebt als Nichtbeachtung, so destillirte ich mit der Geduld eines Mühlenesels unverdrossen vorwärts und gelangte endlich an den Wald, aus dessen Schatten es mich wie wundervolle Kühle anhauchte, obwohl auch dort eigentlich nichts als Schwüle war.
Bevor ich unter diesem Meere von 84 Wipfeln die Aussicht verlor, blickte ich mich noch einmal um. Das Wolkengebirge im Westen hatte sich höher gethürmt und an seinem Grunde eine finstere Färbung angenommen, eine merkwürdige lauersame Stimmung lag in der Luft und entfernte Geräusche waren mit sonderbarer Deutlichkeit zu hören.
Als hätte es auf mich gewartet, fiel sofort als ich in den Wald eintrat, ein grosses Geleite von Fliegen über mich her, darunter die tückische blutsaugende Blindfliege. Sie verliessen mich nicht wieder und wurden sie müde von dem ewigen Schwärmen, so ruhten sie so lange auf meinem Rücken, bis sie wieder zu Kräften gekommen waren. Zuweilen erschien mit sonorem Tone eine grosse Pferdebremse, untersuchte mich kreisend von allen Seiten auf meine Essbarkeit und zog, wenn sie fand, dass ich ungeniessbar war, mit unwilligem Brummen wieder davon. Ausser diesem ewigen Gesumme der Fliegen war der Wald still, kein Blatt regte sich und 85 kein Vogel sang, nur in der Ferne liess ein Pirol unablässig seinen flötenden Ruf erschallen. Es klang mir immer wie: »Hier ist's kühl! o! Hier ist's kühl! o!« aber ich wusste, der Vogel log.
Nachdem ich wohl eine Stunde in diesem Walde mich vorwärts bewegt hatte, ward die Stille der Einsamkeit durch einen dumpf grollenden Ton unterbrochen, gleich dem Murmeln eines schlafenden Riesen und als ich unwillkürlich rückwärts nach dem Himmel aufsah, bemerkte ich die schimmernden Ränder grauer Wolken, die bereits über die Wipfel blickten. Froh, mich jetzt in der Nähe eines sicheren Zufluchtsortes zu wissen, schritt ich schneller aus und erreichte in einer kleinen halben Stunde das Walddorf, an dessen Ende das Gehöft des Forstwärters gelegen war. Unterdess war die Sonne zuerst von Dünsten verschleiert und dann von den aufrückenden Wolken verdeckt worden, so dass eine zunehmende unheimliche Dämmerung rings verbreitet war, während die gewaltige 86Stimme des Donners immer näher tönte. Vor dem Hause des Forstwärters hielt ein städtischer Wagen und im Innern herrschte Verwirrung und Unruhe. Das hübsche Dienstmädchen, welches mir Bier brachte, klärte mich darüber auf: »De Herr is so krank«, sagte sie, »de Doktor is all dor«.
Ja, da musste es schlimm stehen, denn wenn in solchen Orten der Doktor geholt wird, da ist es mindestens hohe Zeit. Mittlerweile, als es so finster geworden war, dass man kaum im Zimmer hätte lesen können, als das Zucken der Blitze bereits sichtbar war und der Donner mächtiger rollte, kam der Arzt mit der Frau des Forstwärters in das Zimmer wo ich mich befand und sagte: »Sie müssen sich auf alle Fälle Eis verschaffen, liebe Frau, denn wenn sie die Wunde jetzt nicht mit Eis kühlen, kann ich für nichts stehen. Und zwar so bald als möglich.«
»Ja, wo soll ich Eis herkriegen?« sagte die Frau. »Nach Bornemünde sind drei Stunden hin und drei zurück, und im 87ganzen Dorf ist heut kein Pferd zu haben. Sie sind alle nach der grossen Wiese, eine Stunde von hier und fahren Heu ein.«
»Hm, hm!« sagte der Doktor, griff sich mit der Hand in den Bart und grübelte.
Da blitzte es plötzlich, dass Alles im Zimmer, auch in den Winkeln, völlig klar zu sehen war, doch ebenso schnell wieder in die Finsterniss zurückschwand. Bald hinterher kam ein knatternder Donner und als der verhallt war, blieb ein seltsames grausiges Rasseln in der Luft zurück, wie wenn mit den jagenden Wolken Schaaren von geharnischten Reitern auf gepanzerten Pferden herannahten. Zwischen diesem harten Geräusch war ein grausiges siedendes Kochen vernehmlich. Und näher kamen die furchtbaren Töne, die Wipfel der Bäume beugten sich, die Blätter flogen und plötzlich rasselte es hernieder, das Getöse des Donners fast übertäubend, von unendlichen Hagelschlossen. Sie donnerten auf das hölzerne Dach des kleinen windfangartigen Vorbaues und trommelten auf die 88Fensterbleche und tanzten in wilden Sprüngen auf dem Steinpflaster. Wie weisse Strähne hing es vom Himmel und im Nu war der Boden mit glasartigen Körnern bis zu der Grösse von Hasel- oder kleinen Wallnüssen bedeckt und alle Vertiefungen damit angefüllt. Zehn Minuten dauerte wohl dies Phänomen, dann zog es, allmälig schwächer werdend, in die Ferne und nach einer kurzen Weile brach die Sonne wieder hervor und schien auf die nassen glänzenden Blätter, als wäre nichts geschehen.
Der Doktor hatte schweigend aus dem Fenster in das Unwetter geblickt und während er nun seine Augen über den Boden schweifen liess, um die Menge des angesammelten Hagels zu schätzen, da verklärten sich plötzlich seine Züge und mit leuchtenden Augen wandte er sich und rief: »Frau Hedemann, kommen Sie doch, nun haben wir Eis so viel wir wollen.«
Diese kam eilig aus dem Zimmer, wo sie ihrem Manne während des Unwetters Gesellschaft geleistet hatte, und als nun der 89Doktor auf die in allen Vertiefungen angesammelten Hagelmassen zeigte und ihr in fliegender Hast auseinandersetzte, was er meinte, da faltete die Frau die Hände und sprach, indess ihr die Thränen über das Gesicht liefen: »Der liebe Gott hat es gesandt. Nun wird mein Mann wieder gesund werden!«
Der Doktor rief: »Nun aber frisch an die Arbeit, schicken Sie alle Leute hinaus, die Sie auftreiben können!« Er nahm selber einen Korb, der in der Nähe stand, ich schloss mich ihm sofort an und bald hockten alle Personen, welche im Hause verfügbar waren, draussen und scharrten das köstliche Himmelsgut, welches in Erdvertiefungen und Wagengeleisen mehrere Zoll hoch gelagert war, zusammen. Auf Anordnung des Arztes ward im Keller ein grosser flacher Bottich auf eine Unterlage von Stroh gesetzt und fast bis zum Rande mit dem Hagel angefüllt. Dann hüllte man Alles in Stroh ein, breitete darüber wollene Pferdedecken und durfte so die Hoffnung 90 hegen, den gesammelten Schatz über vierundzwanzig Stunden zu bewahren. Nachdem der Doktor die Frau kurz unterwiesen hatte in dem was zu thun war, verabschiedete er sich. In seinen Augen war ein seltsames Licht und als er auf dem Wagen sass, schweiften seine Blicke wie unwillkürlich über das Himmelsgewölbe, an welchem längst wieder unbewölkte Bläue glänzte.
Mit fröhlicher Seele dem wunderbaren Zufalle dieses Ereignisses nachsinnend, wanderte ich weiter durch die abgekühlte Frische des tropfenden Waldes und von solcher Schwungkraft war ich erfasst, dass ich kaum merkte, wie schnell ich vorwärts kam. Von Zeit zu Zeit bückte ich mich, nahm aus den tiefen grasigen Wagenspuren des wenig befahrenen Waldweges eine Hand voll der eisigen Körner und ward nicht müde, deren Grösse und verschiedenartige Bildung zu bewundern.
Zwischen dem Orte, von welchem ich kam, und dem kleinen Seebade Dannenhagen lag, wie eine Insel in den Wald 91 eingesprengt, ein kleines Bauerndorf, und als ich dorthin gelangte, fand ich, dass der Hagel auch dort vorüber gezogen war und einen Theil der angebauten Feldfrüchte vollständig verwüstet hatte. Am Wege stand ein alter Bauersmann und schaute auf ein Haferfeld hin, dessen grünendes Wachsthum gänzlich zerschlagen und vernichtet war. Mitleid befiel mich mit dem Alten, dessen Hoffnungen ein schnell vorüberrauschendes Unwetter mit einem Male zerstört hatte, allein als ich näher kam, wandte der Mann sein Gesicht mir zu und ich sah, dass er vergnügt grinste und dass aus seinen Augen die Begierde sich mitzutheilen funkelte. War dies der Acker seines Feindes, und war es teuflische Schadenfreude, die sein Herz so fröhlich stimmte? Ich beschloss dies zu ergründen: »Na, Olling,« sagte ich, »Sei sünd jo so vergnäugt un hebben't gornich nörig!«
»Ick freu' mi so äwer den'n ollen Hagel!« sagte er.
»Woso?« fragte ich verwundert.
92 »Je«, sagte er, »dei Hawer is jo hen, äwer ick heww em hoch versäkert. Nu bruk ick em nich to meien, ick bruk em nich intoführn, ick bruk em nich to döschen un krieg em doch god betahlt. Un doräwer möt'k mi bannig hägen. Bor Geld lacht, un ick lach mit!«
Damit kicherte er so recht von Herzen, und ich schritt weiter, verwunderten Gedanken nachhängend über diesen merkwürdigen Hagelschlag, der überall Segen stiftete. Aber das war noch nicht das Letzte, denn als ich nach fast dreistündiger Wanderung in das kleine Ostseebad Dannenhagen, den Ort meiner Bestimmung gelangte, schien man auch dort dem gefallenen Hagel die höchste Beachtung zu schenken, und als ich am Augusta-Hôtel vorüberschritt, hockten sämmtliche Kellner mit herabhängenden Frackschwänzen und alle Dienstmädchen dieses Gasthofes ringsum im Walde und sammelten in Körbe, Schaalen und Bottiche die kostbaren Körner, als seien sie von Gold.
93 Mein Freund Johannes, der in der Erwartung meiner Ankunft auf der Bank vor der Thüre des kleinen weissen Hauses, in welchem er mit seiner Familie wohnte, gesessen hatte, stand erfreut auf und kam roth und strahlend im Antlitz, wie die untergehende Sonne, mir entgegen. »Heil, heil!« rief er, grosses Glück ist uns widerfahren! In dem ganzen Orte giebt es kein Eis, denn auch dem Gastwirth ist es bei der grossen Hitze schon seit Wochen ausgegangen. Wir hätten unsere Bowle warm trinken müssen barbarischer Weise. Aber was geschieht? Der Himmel legt sich ins Mittel und sendet uns Eis – Eis, so viel wir wollen. Kinder, Frau, Mädchen, Alle sind hinaus gewesen zur Eislese, wir haben eine ganze Wassertonne voll, wir sind glücklich!«
Und so geschah es, dass in Folge dieses Hagelschlages in Dannenhagen an diesem Abend eitel Schwelgerei und Wohlleben herrschte, denn zum ersten Male gab es seit Wochen wieder im Augusta-Hôtel 94 Butter, die nicht auf dem Teller umherlief, kühles Bier und kalten Moselwein, und diese Konjunktur liess man nicht unbenutzt. Ja, die Wirthin liess sich sogar durch den allgemeinen Freudentaumel hinreissen, Fruchteis herzustellen und schrieb sich dadurch in die Herzen der Damen mit goldenem Griffel ein.
Als ich aber nachher mit der Familie meines Freundes um die gefüllte Bowle sass, deren köstliche Kühle die Trinkgläser mit feinem Thau bereifte, da erzählte ich ihnen das Erlebniss meiner Wanderfahrt und wir Alle stiessen vollen Herzens an auf das Wohl des Mannes, der fieberglühend auf Genesung harrte.
Ich darf hier wohl hinzufügen, was ich erst später erfuhr, dass er sie auch gefunden hat und noch manch' Jahrzehnt sich des neugeschenkten Lebens zu erfreuen hofft.