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Die Dachstube ist der Kopf des Hauses. Unten zu ebener Erde, wo die Kaufläden sind, wo in hastigem Getriebe Handel und Wandel aus und ein gehen, befinden sich die geschäftigen Füße. Der behagliche Rentier im ersten Stock, dessen Hauptbeschäftigung es ist, zu verdauen, und dessen größte Sorge, wie er neuen Hunger gewinne, mag für einen würdigen Repräsentanten des Bauches gelten, und nun eine Treppe höher müßte das Herz sich befinden. Stehen nicht Blumen am Fenster, tönt nicht den ganzen Tag Gesang und Klavierspiel, sieht man nicht zuweilen schöne Mädchenköpfe zwischen den Blumen lauschen? Noch eine Treppe höher und wir gelangen zu den rührigen Armen und Händen des Handwerks, und dann hinaus zum Kopf: zur Dachstube.
Hier wird am meisten gedacht und gedichtet und geträumt in der ganzen Stadt. Hier fliegen die Lieder aus, einige, gewaltig wie Adler, schwingen sich auf und schweben im Sonnenglanze über der erstaunten Welt; andere, wie kleine Waldvögel, flattern singend von Zweig zu Zweig und Liebende lauschen ihnen stillbeglückt. Hier schimmert in stiller Nacht noch lange die Lampe des Gelehrten wie ein einsamer Stern, hier ist das Reich des Gedankens und der Kunst.
Man sagt, die Kunst geht nach Brot, aber sie geht vor allem nach Licht, nach dem himmlischen und nach dem irdischen. Und, da unten im Gewühl der Menge des irdischen und des himmlischen Lichtes zu wenig ist, so muß die Kunst vier Treppen steigen. Nur den Bildhauer hält die Schwere seines erdgeborenen Stoffes unten fest, doch wir haben es hier mit einem Maler zu thun.
Wolfgang Turnall hatte viele Not, ehe er ein Atelier nach seinem Wunsche fand, und wurde dadurch umhergetrieben wie ein gefiedertes Samenkorn, das einen Platz zum Anwurzeln sucht. Noch hatte sein Pinsel nicht die Wirkung, die erst der Ruhm gewährt, alles, was er berührte, in Goldeswert zu verwandeln, und der Maler war vergnügt, wenn nur das unbedingt notwendige Silber dabei zum Vorschein kam. Darum verbannte er die hochfliegenden Vorstellungen von einem mächtigen zwei Stock hohen Raum, angefüllt mit den kostbarsten alten Möbeln, Gobelins, Decken, Rüstungen und sonstigem Prachtgerümpel, an dem das Herz eines Malers hängt, und versuchte seine Wünsche mit seinen Mitteln in Einklang zu bringen. Doch auch den herabgestimmten Ansprüchen wollten die besichtigten Räume sich nur selten fügen, und wenn dies geschah, so waren es wieder die Mittel, die Einspruch erhoben. Endlich führte ihn sein guter Stern in eine stille Straße der Vorstadt, wo er an einem Hause einen Zettel fand: »Hier ist ein Atelier an einen ruhigen Herrn zu vermieten. Vier Treppen, bei Frau Springer.« Da ruhig zu sein seine Stärke war, so stieg er mutvoll hinan, um zum einundzwanzigstenmal sein Glück zu versuchen.
Eine mittelalterliche freundliche Frau öffnete ihm und führte ihn hinein. Der Raum gefiel ihm, obgleich er durchaus seinen mitgebrachten Vorstellungen nicht entsprach. »Es geht auch so,« sagte er zu sich, als er sich eine Weile umgeblickt hatte. Nachdem er mit den Augen alle seine Habseligkeiten zurechtgerückt und die Wände eilfertig anders tapeziert und dekoriert und sich selbst an der Staffelei behaglich malend vorgestellt hatte, fand er, daß dies Phantasiebild von angenehmer Wirkung sei, und, müde und matt vom langen Suchen, und innig froh, zur Ruhe zu kommen, ward er mit Frau Springer bald einig.
Die nächsten Tage gingen hin mit Einrichtung und Einräumung. Wolfgang Turnall war einer der Menschen, die das Bedürfnis haben, von vielen Gegenständen umgeben zu sein. Wäre ihm nicht durch seinen Geldbeutel oder durch wohlgemeinte Ratschläge Einhalt gethan, so hätte er sich, wie sein Freund Morbrand zu sagen pflegte, längst das letzte Loch zum Malen verstopft und wäre gezwungen gewesen, dies Geschäft außerhalb des Ateliers zu verrichten. Frau Springer geriet in unsägliches Erstaunen, als ihr Mieter mit seinem Hausrat zum Vorschein kam. Da waren Tassen, ausreichend für eine ganze Familie und von den verschiedensten Formen, alle behaftet mit irgend einem Etwas, das sie dem Auge des Malers wohlgefällig gemacht hatte, Eigenschaften, die sich allerdings oft dem hausmütterlichen Auge der Frau Springer gänzlich entzogen und nur zur Vermehrung ihres Erstaunens beitrugen. Da gab es Krüge, schlanke, gebrauchte und ringförmige, Krüge, deren Zwecke unbegreiflich waren und deren Formen ungefähr den Vorstellungen entsprachen, die man von einem Kruge haben könnte, der wahnsinnig geworden ist. »Um Gottes willen,« sagte die gute Frau, »Herr Turnau, wollen Sie denn aus allen diesen Dingern trinken?« und zugleich ging ihr eine beängstigende traumhafte Vorstellung durch den Kopf von einem gewaltsamen Riesendurst, der nur durch monumentale Mittel bekämpft werden kann.
Wolfgang lachte: »Ich habe sie um mich, diese Dinge,« sagte er, »ich umgebe mich mit ihnen, sie sind ein Teil meiner Behaglichkeit, Ruhepunkte für meine Augen.« Frau Springer schüttelte den Kopf. Dann kamen acht riesenhafte Arbeitsleute die Treppen hinaufgeschnauft mit einem uralten braunen Holzschrank. Ein imposantes Bauwerk, das bald in breiter Behaglichkeit auf vier schwarzen Kugeln, so groß wie Schulglobusse, dastand und sich nach Inhalt umsah. Dieser ward danach aus mehreren Kisten zum Vorschein gebracht. Die verschiedensten Volkstrachten und Gewänder, alles echt und teilweise sozusagen vom Leibe des Volkes gesammelt, getragenes Zeug aller Art, das sich durch einen geheimnisvollen, dem profanen Auge durchaus verborgenen malerischen Reiz auszeichnete, und dergleichen mehr. Während aller dieser Vorgänge hatte sich zuweilen ein neugieriger Mädchenkopf an der Thür gezeigt, immer ein wenig dreister. Endlich stand ein dreizehnjähriges Springerchen mit ein paar dunklen Zöpfen hinter seiner Mutter und schaute mit neugierig klugen Augen hervor. Wolfgang bemerkte dies, als er zufällig aufblickte. »Dies ist meine Tochter Helene,« sagte die Frau. Das Springerchen legte seinen Kopf auf die Schulter, versuchte vergeblich seine Hände irgendwo passend unterzubringen und fand schließlich in der blaubeschleiften Spitze seines Zopfes ein alle übrigen Interessen scheinbar absorbierendes Objekt der Betrachtung. Dieser Zustand dauerte jedoch nicht lange, denn Wolfgang verstand es, solchen Zauber zu lösen. Ein Scherz von ihm, ein halbes Abwenden des Mädchens, dann eine kecke Antwort, scheinbar an eine imaginäre Person in der anderen Stubenecke gerichtet, noch ein kleines Wortgeplänkel und es dauerte nicht lange, da stand sie schon an einer der Kisten und reichte Wolfgang die Kleidungsstücke hin, die er in dem unersättlichen Bauche des Schrankes verschwinden ließ. Sie wich auch nicht eher, bis unter vielem Erstaunen und mancher wunderlichen Frage der bunte und absonderliche Inhalt dieser Malerwerkstatt vollzählig geworden war. Die Mutter dagegen verschloß in verschwiegenem Sinn einige unliebsame Vergleiche mit einem Trödlerladen und gestand sich ein, daß sie sich Thatsachen gegenüber befände, für die sie keinen Maßstab besitze. Diese Meinung wurde im Lauf der Tage, als die unermüdlich ordnende Hand Wolfgangs Harmonie aus diesem Chaos geschaffen hatte, allerdings einigermaßen erschüttert, und am Ende mußte sie eingestehen, daß dieser Musik von Farben und Formen ein eigener behaglicher Reiz innewohne, von dem sie in ihrer nüchternen farblosen Tüllgardinen- und Tapetenmusterexistenz zuvor keine Ahnung gehabt hatte. So fand Wolfgang Turnau sein Atelier und Frau Springer ihren ersten Mieter, und beide sahen mit heiterer Ruhe der Zukunft entgegen.
Sie aber ließ die Zöpfe fliegen,
Und lachte alle Weisheit aus! . . .
Th. Storm.
Die gute Frau gewöhnte sich bald an ihren Mieter, und es entstand ein ganz behagliches Verhältnis gegenseitiger Wertschätzung. Sie übernahm die Sorge für die Wäsche und Garderobe ihres Einwohners und dieser sonnte sich seit langem zum erstenmal wieder in dem wohlthuenden Sicherheitsgefühl, das vollzählige Knöpfe, undurchlöcherte Strümpfe und Röcke mit Henkeln gewähren. Außerdem besaß diese Frau die seltene Gabe, fremde Ordnungssysteme zu achten und deren Idee aufzufassen; jener brutale rechtwinkelige Aufräumefanatismus, eine der traurigsten Verirrungen des menschlichen Geistes, war ihr fremd. Wolfgang empfand das Bedürfnis einer Gegenleistung für so viel seltene und unschätzbare Wohlthat und erbot sich eines Tages dazu, die kleine Helene im Zeichnen zu unterrichten. Dieser Vorschlag ward von der Mutter mit großem Dank, von der Tochter mit sehr zweifelhaften Gefühlen entgegengenommen, denn sie witterte hierin mit Recht neue Stunden ärgerlichen Stillsitzens, von denen ihr das Schicksal nach ihrer Meinung schon mehr als zu viel verliehen hatte. Doch alles Sträuben half nichts, die Sache nahm ihren Anfang und fraß in die schönen schulfreien Oasen der Mittwoch- und Sonnabendnachmittage eine garstige kleine Oede hinein. Eines Tages kam sie schon am Morgen während der Schulzeit mit der Zeichenmappe in der Hand.
»Was ist das?« fragte Wolfgang, »nicht zur Schule?«
»Wir haben heute frei bekommen,« war die Antwort, »der Schulofen ist geplatzt.«
»Ein freudiges Ereignis auf dunklem Hintergrunde,« sagte Wolfgang, »doch
›Die Elemente hassen
Das Gebild der Menschenhand.‹
Du wärest nun wohl lieber in der Schule geblieben und hättest ›aimer‹ gelernt?«
»Ach,« sagte sie wegwerfend – »aimer! Wir haben jetzt eine Grammatik, darin ist alles französisch, das Deutsche auch – aimer – da war ich acht Jahre alt, als ich das lernte.«
»Frühreife Jugend,« lachte Wolfgang, »aber nun, warum so verdrießlich?«
»Ja, ich möchte heute nachmittag meine beste Freundin besuchen . . .«
»Allerdings ein trauriger Fall!«
»Pfui, Sie lassen mich nie ausreden . . . und da meinte meine Mama, ich möchte Sie bitten, ob ich die Zeichenstunde nicht heute morgen bei Ihnen haben dürfte.« Dabei schwenkte sie die Mappe ein klein wenig an den Bändern hin und her und starrte in eine Ecke mit der Miene eines Menschen, der alle seine irdischen Hoffnungen zu Grabe getragen hat.
»Gewiß, jawohl!« sagte Wolfgang belustigt, »wir können diesen Trauerfall sofort erledigen. Dort ist ein Tisch, hier ist ein Stuhl, es kann sofort beginnen.« Helene seufzte ein wenig und ging dann langsam an den Tisch.
»Es ist ja gar kein Platz da,« sagte sie, indem sie anfing, eine Ecke abzuräumen. Dies Geschäft ging sehr langsam von statten, jedes Ding, was ihr in den Weg kam, schien heute von einer außerordentlichen Merkwürdigkeit und wurde einer eingehenden Betrachtung wert gehalten. Endlich waren jedoch die Vorbereitungen beendigt, sie setzte sich mit einem hörbaren Ruck und einem kleinen Seufzer nieder und versank in die Betrachtung der Wolken, die an dem großen Atelierfenster weiß und sonnig vorüberzogen.
»Nun wollen wir einmal sehen, was wir unterdes gemacht haben!« sagte Wolfgang und schlug das Zeichenheft auf. »Himmel, was für Baumschlag, lauter Brezeln und Theekuchen! Und dieser würdige angelnde Greis, ganz aus Semmelteig gebacken! Mädchen, mußt du alle deine Formen aus dem Bäckerladen nehmen?«
Es ging etwas wie Sonnenschein über Helenens Gesicht.
»Der Bäcker unten im Hause hat heute ganz frische Windbeutel,« sagte sie.
»Selbst Windbeutel!« meinte Wolfgang lachend. Dann machte er sich daran, den Baumschlag zu entbrezeln und dem unglücklichen Semmelmann ein menschliches Aussehen beizubringen. Danach kehrte er an seine Staffelei zurück und die Zeichenstunde nahm ihren Fortgang. Man konnte kaum sagen Fortgang. Es gab so viele tausend Dinge in der Welt, die unendlich viel mehr Interesse darboten, als der langweilige alte Mann aus der Vorlage, der ewig auf der Brücke stand und angelte. Da war zum Beispiel eine Fliege, die von der Winterkälte schon so matt geworden war, daß sie sich ruhig von einem Finger auf den anderen setzen ließ. Diese Zahmheit war bewunderungswürdig. Das zutrauliche Haustier in eine Nußschale zu setzen und spazieren zu fahren, gab ein neues und intensives Vergnügen, das ebenfalls fünf Minuten in Anspruch nahm. Aber die Fliege nahm einen Aufschwung und flog fort gegen das Fenster. Da waren nun wieder die Wolken und zogen schimmernd vorüber. Es sieht sich so gut in die Wolken, wenn man die Ellbogen aufstützt und mit den Beinen dazu baumelt. Da war eine, die hatte ein Gesicht, wie die alte Schulmamsell mit der großen Flügelhaube und der Warze auf der Nase. Die Wolke schob und dehnte sich und nun war es ein Kamel, die Nase ward zum Höcker und die Warze zum Affen darauf. Dann war es manchmal wieder, als müsse zwischen den weißen Wolkenballen, wo das Blau hervorschimmerte, ein lichtes Antlitz hervorschauen und freundlich herniedernicken.
Ein Mahnruf von Wolfgang schreckte sie auf und trieb sie an die vernachlässigte Arbeit. Wenn ihr nur nicht der Zopf in die Quere gekommen wäre. Seine Spitze war aufgegangen und eine Beseitigung dieser Unordnung war heilige Pflicht, die allem vorging. Dabei erschien ihr die Aehnlichkeit dieser Zopfspitze mit einem Pinsel höchst bemerkenswert und einer näheren Untersuchung würdig. Ein in der Nähe befindlicher Tuschnapf und ein Blatt weißen Papiers leisteten diesem Forschungstrieb Vorschub, und das Resultat war ein schauderhaftes mit der Zopfspitze gemaltes Männerantlitz, das selbst durch die darunter angebrachte deutliche Unterschrift nicht bewogen werden konnte, die gewünschte Aehnlichkeit mit Wolfgang anzunehmen.
Daß bei allen diesen wichtigen Nebendingen die Hauptsache kläglich beeinträchtigt wurde, ist wohl nicht zu verwundern, und selbst ein durch das drohende Gewissen wachgebissener Schlußeifer vermochte um so weniger die zeichnerische Arbeit zu fördern, als sich dieser verspätete Fleiß auf ganz verwerfliche Dinge richtete, die auf der Vorlage gar nicht vorhanden waren. Es kam ihr nämlich die Eingebung, daß diese Landschaft durch die Anbringung einer Pumpe um ein Unendliches zu verschönern sei. Es ist zu bemerken, daß alle Kinder in ihren freien Zeichenübungen eine Leidenschaft für rauchende Schornsteine, Storchnester und Pumpen haben, so daß diese drei Dinge selten auf ihren primitiven Landschaften vermißt werden.
Mitten im Wege, jeglichen Verkehr über die Brücke grausam verhindernd, ward das monströse Bauwerk aufgeführt, ein Hohn auf die Gesetze der Perspektive und ein Faustschlag in das Antlitz der Naturwahrheit.
Wolfgang ward der stille Eifer seiner Schülerin verdächtig, er trat hinter sie und sah mit Entsetzen das Entstandene. »Nun sage einmal, was ist das?« fragte er.
»Eine Pumpe,« war die entschieden Antwort.
»Ein Ungeheuer, ein Turm zu Babel, ein Leuchtturm mit einem Schwengel dran!« sagte Wolfgang, »danken wir dem Himmel, daß er den Gummibaum erschuf – weg damit!«
»Ach,« meinte Helene, »darf ich sie nicht stehen lassen, es ist ja doch nur eine Zeichnung?«
Der Maler war entwaffnet. »Na, meinetwegen,« sagte er, »male nur noch ein Krokodil mit sieben Jungen dazu.« – »Ach ja,« fügte Helene freudig ein –, »dann kannst du es als abschreckendes Beispiel in einen Goldrahmen fassen lassen, und die Fliegen werden es alsdann schon auf ihre Weise kritisieren. Aber für heute wollen wir aufhören; die Krokodile kommen das nächste Mal. So, nun kannst du mir einen Kuß geben und zur Mutter gehen.« Helene sagte, das würde sie nie thun, dann that sie es doch, schlug ihn mit dem Zopf und lief zur Thür hinaus.
Wolfgang kehrte an seine Staffelei zurück, betrachtete sein Bild und fing an, aus der Palette einen Ton zu mischen. Seine Gedanken schienen nicht bei diesem Geschäfte zu sein, denn als er diesen Ton endlich genauer ins Auge faßte, war es ein scheußliches Graugrün, das mit seinem Bilde in gar keinem Zusammenhang stand. Er lachte vor sich hin. Dann faßte er die Summe seiner Gedanken in das eine Wort »Blitzkröte« zusammen und vertiefte sich wieder ernsthaft in sein Bild.
Der Winter ging und der Frühling kam ins Land. Eine kleine Kohlmeise saß in der großen Schwarzpappel, und bis in das Atelier hörte man ihren hellen Ruf: »Ich bin da! Ich bin da!« Aber die fröhliche Stimme in den Räumen des Ateliers war verstummt; das kleine Springerchen war fort. Im fernen Ostpreußen hatte Frau Springer »einen Bruder zu wohnen«, der Prediger war. Ein langgehegter Plan, die kleine Helene zu ihrer Konfirmation dorthin zu geben, war jetzt zur Ausführung gelangt. Später sollte sie noch einige Jahre dort bleiben, um in die Geheimnisse der Kochkunst, das Mysterium der Butterbereitung und sonstige Künste der Haushaltung eingeweiht zu werden.
Nun kam niemand mehr zu Wolfgang, der um ihn herum schwatzte und plauderte wie ein kleiner Vogel. Manchmal ertappte er sich über dem Gefühl, daß ihm etwas fehle und daß es unerträglich still um ihn sei. Heute war es wieder so, und als er die kleine Meise draußen hörte, ging er auf Fenster und schaute in den mächtigen Wipfel der Pappel, die fast bis zu ihm hinaufreichte. Da saß das kleine Tierchen und pinkte seine drei Töne so andächtig, als sei es das schönste Lied. Dann flog es zu einem anderen Zweig, häkelte sich von unten an und visitierte behend und zierlich Knospen und Kätzchen, und ließ zuweilen sein klares Pink ertönen, und so von Zweig zu Zweig, kopfoben, kopfunten, und spähte hier und pickte da, flink und unermüdlich. Endlich saß es wieder und sang: »Ich bin da! ich bin da!« und dann flog es fort, hinaus in den Sonnenschein.
»Adieu, Springerchen,« sagte Wolfgang unwillkürlich und kehrte ganz nachdenklich an seine Staffelei zurück. Aber die Zeiten vergehen und die Stimmungen mit ihnen. Bald dachte Wolfgang kaum noch an die kleine Helene, um so mehr, als in seiner äußeren Lage eine Wendung eintrat, die seine Stimmung erheiterte und viel fröhliche Arbeit mit sich brachte. Er gehörte zu den Künstlern, die unbekümmert die eigenen Wege gehen, ohne viel zu fragen nach Beifall und Zustimmung der Menge, und er besaß die stille Zähigkeit, die ohne geniale Sprünge, aber auch ohne Unterlaß nach Vollendung strebt. So hatte er ziemlich unbeachtet weiter gearbeitet und die Keime, die die Natur ihm verliehen, still gezeitigt und gefördert, bis eines Tages der Augenblick kam, wo die Welt erstaunt stillstand vor einem ganz eigenartigen und fertigen Talent, dessen allmähliches Werden ihr ganz entgangen war. Auf einer der großen Kunstausstellungen ward er plötzlich »entdeckt«, und die Kritik hatte nichts Eiligeres zu thun, als zu versichern, daß sie bereits seit längerer Zeit dem Streben dieses eigenartigen Künstlers mit Interesse gefolgt sei, ein Interesse, das sie, wie Turnau selber am besten wußte, bis jetzt jedenfalls ängstlich geheim gehalten hatte.
Seine sinnige und beschauliche Natur hatte ihn zu Darstellungen geführt, die dem Stillleben nahe verwandt erscheinen. Der Ausdruck seiner Bilder war das reine Behagen an einer künstlerisch verschönerten Häuslichkeit; seine Liebhaberei für schöne Stoffe, Waffen und andere Erzeugnisse der Kunstindustrie stand damit im engsten Zusammenhang. Eine einzelne Person in entsprechender Umgebung war gewöhnlich der Inhalt dieser Darstellungen, etwa eine Frau aus der Renaissancezeit, die in einem schön geschnitzten Schrank kostbare Geräte ordnet, oder ein Kunstliebhaber in der formen- und farbenreichen Unordnung seines Arbeitszimmers mit dem Studium eines schönen alten Kruges beschäftigt, oder eine altertümliche Trinkstube, in der ein einsamer Kenner mit wissenschaftlichem Ernste in die Geheimnisse eines besonders vorzüglichen Jahrganges zu dringen sucht, und dergleichen mehr. Diese Bilder drängten sich nicht auf, aber hatte man sie entdeckt, so kehrte man immer mit Liebe und Behagen wieder zu ihnen zurück. Es waren Darstellungen, die in hohem Maße geeignet waren, zum täglichen Verkehr mit ihnen in einem wohleingerichteten Zimmer zu hängen. Gewaltige Vorgänge, ergreifende Schilderungen gehören an besondere Orte, in die bestimmte Umgebung; im kleinen Zimmer ermüdet es bald, Affekte und Leidenschaften vor sich zu sehen, die sich niemals verändern, und man fängt bald an den Mann zu bemitleiden, der ewig mit der Gebärde des Zornes den Arm zu erheben genötigt ist, und die arme Frau, die der Maler gezwungen hat, bis an das Ende aller Dinge auf den Knieen zu liegen und um Mitleid zu flehen.
Die wohlthätigen Folgen dieser angehenden Berühmtheit blieben nicht aus, sie zeigten sich zuerst daran, daß kostbarere Stoff und schönere Geräte in das Atelier einkehrten, und der Raum zum Malen noch ein wenig knapper wurde. In einem neu erworbenen Schreibschrank von eingelegter Arbeit entdeckte Wolfgang eines Tages, als er das Innere genauer untersuchte und dabei ein verborgenes Knöpfchen berührte, ein geheimes Fach, und sein Behagen daran wurde noch dadurch vermehrt, daß er jetzt in der Lage war, diese Einrichtung mit Vorteil benutzen zu können. Einige angenehme bunte Papiere wurden sofort darin untergebracht. Es gewährte ihm ein besonderes und ungekanntes Vergnügen, nach Ablauf des ersten halben Jahres an diesen Papieren mit der Schere eine höchst angenehme Geldschneiderei vorzunehmen. Für ihn, der noch niemals im dauernden Besitz einer größeren Summe gewesen war, hatte es anfangs fast etwas Komisches, daß in jenem verborgenen Fach Dinge lagen, die ohne das geringste Zuthun von seiner Seite still und friedlich weiter heckten, so daß, wenn sie reif waren, man die Thaler von ihnen abschneiden konnte, wie die Traube vom Stock.
So lebte Wolfgang behaglich dahin, malte im Winter emsig und liebevoll seine Bilder und verwirklichte im Sommer langgehegte Reisepläne, die wohlgefüllte Skizzenbücher und wieder Stoff zu Bildern für den nächsten Winter lieferten.
Jedes Künstlerleben ist ein Bienenleben und besteht aus Einsaugen und Honigbereiten. Einsaugen thun sie alle den süßen Blumensaft des Lebens, der Schmetterling, der Käfer und die fleißige Ameise, allein nur die Biene versteht es, das klare, durchsichtige Kunstwerk des Honigs daraus zu bilden.
So gingen die drei Jahre und einige Monate vorüber, nach deren Ablauf Helene wieder zu ihrer Mutter zurückkehren sollte. Drei Jahre sind im Leben eines Kindes, das zur Jungfrau wird, eine lange Zeit, eine Zeit, in der verborgene Keime aufgehen und ungeahnte Knospen sich erschließen.
Sie war doch sonst ein wildes Kind . . .
Th. Storm.
Eines Tages war Helene wieder da, allein ihre Anwesenheit machte sich für Wolfgang weniger bemerklich, als er eigentlich gedacht hatte. Als er ihr zum erstenmal in Erinnerung der heiteren Vorzeit mit einem fröhlichen Scherz entgegentreten wollte, hielt er betroffen inne, denn er sah mit einemmal, daß solche muntere Vertraulichkeit nicht mehr am Orte sei. In seinem Gedächtnis war noch immer der bezopfte Wildfang und das vertrauliche Du, und nun sah er sich plötzlich einem schönen Fräulein gegenüber, das nur sehr wenig Erinnerung für die Vergangenheit zu haben schien und unbedingt mit Sie angeredet werden mußte. Dieser unvorhergesehene Plural verwirrte ihn, so daß die Begrüßung unter diesen Umständen ziemlich steif und förmlich ausfiel.
Im allgemeinen machte dies Ereignis aber wenig Eindruck auf ihn. Er erinnerte sich, daß aus den buntesten Raupen oft sehr ernsthaft gefärbte Schmetterlinge hervorgehen, und daß die heitere bewegliche Kaulquappe sich in einen nachdenklichen kleinen Frosch verwandelt. Dies burleske Gleichnis erheiterte ihn ein wenig, und dann wurde der Künstler in ihm lebendig, indem er sich überlegte, in welchem Zeitkostüm Helene wohl am besten zu malen sei. Wäre sie gewesen, wie sie in seiner Vorstellung lebte, so hätte sie einzig allein in dem koketten Rokokokostüm dargestellt werden müssen, in einem großblumigen Schäferanzuge mit zierlichen Stöckelschuhen. Die dunklen lachenden Augen hätten einen hübschen Kontrast gebildet zu dem weißen gepuderten Haaraufbau. Dies war nun nicht mehr möglich, allein es ging ihm eine andere Vorstellung durch den Kopf. Sollte man nicht auf die vielen blonden Gretchen auch einmal ein dunkelbraunes folgen lassen. Eine Abwechselung that wirklich einmal not. Er sah ein altertümliches Zimmer vor sich mit vielem sauberen blanken Gerät, geblümten Tassen und Krügen. Durch die grünlichen runden Butzenscheiben des Fensters fällt ein heller Lichtstreif auf Gretchen, die im Begriff, einen alten Eichenschrank zu öffnen, in Nachdenken versunken ist und sinnend vor sich hinsieht.
»Jedenfalls werde ich ihr Porträt malen,« schloß er diesen Gedankengang und kehrte an seine unterbrochene Arbeit zurück.
Dieser Plan wurde fürs erste nicht ausgeführt, indem andere Arbeiten alle Zeit verzehrten. Auch sah Wolfgang das junge Mädchen sehr selten und wurde durch nichts an ihre Gegenwart erinnert, so daß er seinen Vorsatz fast ganz aus dem Gedächtnis verlor. Die Idee zu dem Gretchenbilde gedieh zu einer Oelskizze und wurde in dieser Form beiseite gestellt.
Als ich da nach Malersitten
Bei den Augen nun begann,
War es wieder ganz notwendig,
Daß wir uns ins Auge sahn.
Reinick.
Der Ruhm hat seine Dornen. Die schöne Einsamkeit und die beschauliche Stille des Ateliers ward jetzt häufiger durch Besuche gestört, und besonders das Bewunderungsgeschwätz und ästhetische Gezwitscher kunstliebender Damen verwässerte und verdarb manch schöne Morgenstunde. Zuweilen waren diese Besuche allerdings angenehmer Art und manchmal gingen sogar erfreuliche Bestellungen daraus hervor. Eines Morgens kam ein Kunstliebhaber aus der Provinz, dem man Wolfgangs letztes Bild, das er zu kaufen beabsichtigte, vor der Nase weggeschnappt hatte, und wünschte ein Gemälde zu bestellen, denn der verfehlte Kauf hatte ihn in Feuer versetzt. Wolfgang legte ihm verschiedene Entwürfe vor, und der alte Herr begeisterte sich so für die Gretchenskizze, daß er über deren Ausführung bald mit dem Maler einig ward. Infolgedessen ward diesem der Wunsch wieder rege, Helenens Porträt zu malen, und er teilte Frau Springer diese Absicht mit. Die gute Frau zeigte eine merkwürdige Abneigung gegen diesen Plan. Sie hatte einen intensiven Haß auf die emanzipierten jungen Damen geworfen, die zuweilen in das Atelier des Malers kamen, um ihm für seine Bilder als Modelle zu dienen. Ihr die Notwendigkeit dieser Einrichtung einleuchtend zu machen, war ganz unmöglich. Sie wies dann jedesmal auf die lebensgroße Puppe hin, die mit den nötigen Kleidern angethan zur Aushilfe diente, und ließ sich nicht begreiflich machen, daß die höchst moralischen, mit Werg ausgestopften Glieder dieses Phantoms für die Zwecke des Malers nicht ausreichen sollten. Dieser Wurm fraß schon lange an ihrem Herzen, und nun witterte sie bei dem Antrage Turnaus verbrecherische Absichten und ließ sich nur mit großer Mühe dazu bewegen, ihre Einwilligung zu geben. Daß die Sitzungen nur in ihrem Beisein stattfinden konnten, war natürlich eine selbstverständliche Sache. Es wurde eine bestimmte Tagesstunde dazu angesetzt und die Geschichte nahm ihren Anfang. Die erste Entdeckung, die Wolfgang machte, war, daß Helene sehr merkwürdige Augen hatte. Es geschieht einem lustigen Waldquell wohl, daß er nach ausgelassenem Tanzen und Plätschern in einer kleinen Bodensenkung sich ausbreitet und mit klarem Spiegel zum Himmel aufschaut, als wüßte er nichts mehr von all dem fröhlichen Thun. Aber kaum setzen wir den Fuß ein wenig weiter, da tanzt er wieder doppelt so lustig über die Steine davon. Wolfgang merkte bald, diese dunklen Augen konnten noch ebenso übermütig funkeln wie ehedem, aber sie schauten nicht mehr so unbefangen wie damals, und die langen Wimpern senkten sich oftmals vor seinen forschenden Blicken.
Die Vollendung des Bildes zog sich sehr in die Länge. Außerdem daß wegen sonstiger dringlicher Arbeiten nur eine kurze Zeit täglich zur Verwendung kam, konnte sich Wolfgang nicht genug thun und wendete immer mehr Fleiß und Mühe an diese Arbeit. Die Stunde, in der er an dem Porträt malte, wurde ihm mit der Zeit zu der liebsten des Tages. Mutter Springer, deren argwöhnisches Gemüt sich allmählich beruhigt hatte, saß so behaglich in einem großen Polsterstuhl aus dem siebzehnten Jahrhundert und strickte und plauderte, was der Geist ihr eingab, und zwischen Wolfgang und Helene fanden zuweilen kleine lustige Wortgeplänkel statt, die oft zu der heitersten Stimmung führten. Ein Atelier hat zwar keinen Sonnenschein, allein manchmal war es dem Maler doch, als sei in solchen Stunden ein freundliches Licht über alle Dinge gebreitet.
Als das Porträt seiner Vollendung nahe war, trat Frau Springer eines Morgens bei Wolfgang ein, um ihm nach gewohnter Weise das Frühstück zu bringen. Dieser beachtete sie nicht weiter, weil er ganz in sein Gretchenbild vertieft war und dazu mit großer Kunstfertigkeit und begeistertem Nachdruck pfiff. Aber Frau Springer hatte heute so etwas Bemerkliches an sich. Sonst bei ähnlichen Gelegenheiten kam und verschwand sie wie der dienstbare Geist im Märchen, so daß Wolfgang später beim Aufblicken in Verwunderung geriet, wo denn mit einemmal das Frühstück hergekommen sei. Aber heute fiel es ihm bald auf, daß sie da war. Sie hatte so etwas Kurzes in ihrem Schritt, und ein geflissentliches Wesen ging von ihr aus, das Wolfgang im Nachdenken störte. Die Teller klapperten so herausfordernd, als sie sie ordnete, und dann ging sie noch nicht gleich, sondern seufzte zwischen den Möbeln herum, wischte Dinge ab, auf denen kein Staub lag, und rückte Stühle zurecht, die schon so richtig standen, daß man durch siebenjähriges Nachdenken keinen besseren Platz für sie hätte ersinnen können.
Wolfgang merkte endlich, daß sie ein Gespräch herbeizuführen wünschte, schloß seine Musik mit einem wunderschönen Triller und einer überaus künstlichen Kadenz, sah hinter seinem Bilde hervor und fragte: »Na?«
Frau Springer erschrak über die plötzliche, noch nicht erwartete Anrede, denn sie rieb gerade in ihren verzehrenden Gedanken einen polierten Metallgriff, der schon so blank war, daß er Feuerfunken von sich warf: »Das Frühstück . . .« sagte sie verwirrt.
»Jawohl,« meinte Wolfgang zerstreut, indem die Augen wieder an seinem Bilde hingen.
Die Frau faßte sich ein Herz: »Ich habe eine Frage, Herr Turnau,« sagte sie.
Dieser pfiff zur Antwort eine Jagdfanfare von dem Inhalt: »Heraus damit, ich bin ganz Ohr.«
»Ach bitte, Herr Turnau,« sagte sie verzweifelt, »lassen Sie doch das gottlose Pfeifen, es ist mir sehr ernst.«
Wolfgang blickte sie erwartungsvoll an.
»Kennen Sie Fräulein Iduna Schlunk?« fragte sie.
»Jawohl,« versetzte Wolfgang, »sie frönt der Blumenmalerei!«
»Sie soll sehr schön malen,« sagte Frau Springer, »Herr Registrator Schwamm hat es gesagt.«
»Ja meinetwegen,« brummte Wolfgang, »es gibt ja auch Tiere, die Disteln fressen.«
Frau Springer hatte ein Federbüschel ergriffen und stäubte dem Apoll von Belvedere die Nase ab: »Sie war gestern bei mir,« bemerkte sie, ohne Wolfgang anzusehen. »Sie sucht ein Atelier. – Sie meinte, Sie würden bald ausziehen. – Der Raum wäre für Sie zu klein, hat sie gesagt. – Sie scheint mir eine gesetzte, angenehme Dame zu sein. Zuletzt hat sie mich gefragt, ob sie das Atelier bekommen würde, wenn Sie auszögen, na, ich hätte nichts dagegen, habe ich gesagt.«
»Hoho,« meinte Wolfgang, »da kann sie lange warten.«
»Ich hätte doch beinahe Lust, ihr das Atelier zu vermieten,« sagte Frau Springer mit sanfter Entschiedenheit.
»Nur über meine Leiche geht der Weg,« rief Wolfgang, »wenn diese edle Dame wiederkommt, dann sagen Sie ihr: ›Mein verehrtes Fräulein, ich beherberge in diesen Räumen einen jungen Mann von den außerordentlichsten Talenten, einen jungen Mann, den ich achte wegen seiner Kenntnisse, den ich liebe wegen seiner Eigenschaften, den ich verehre wegen seines Charakters, – kurz, einen jungen Mann von höchst musterhafter Vorzüglichkeit, von dem ich mich niemals – niemals trennen werde.‹«
»Ach, Herr Turnau, Sie scherzen noch immer,« sagte die Frau, »es ist ganz gewiß mein entschiedener Ernst!«
Wolfgang sah sie verwundert an: »Dies sieht ja aus wie eine Kündigung! – und weshalb denn? Mir ist das Atelier groß genug. Und wenn es mir behagt, in einer Nußschale zu malen, so ist das doch allein meine Sache!«
»Ja, Herr Turnau,« sagte sie, »dagegen kann man gar nichts haben, und ich will es nur frei heraus sagen, es ist wegen der Modelle. Diese Menschen, die zu Ihnen ins Atelier kommen – von den Männern will ich gar nichts sagen, aber die Mädchen. Neulich war da wieder so eine; sie hatte so einen kecken Hut auf und sang auf der Treppe, und den Herrn Registrator Schwamm, den hat sie mit ein paar Augen angesehen – er sagte nachher zu mir, es wäre ein Skandal und für ihn als einen verheirateten Mann schicke es sich gar nicht, sich so ansehen zu lassen! Fräulein Schlunk malt Blumen, da kommt dergleichen nicht vor, und da bin ich denn mit ihr einig geworden, daß sie zum ersten März hier einzieht.«
Wolfgang kam es noch immer nicht in den Sinn, an wirklichen Ernst in dieser Angelegenheit zu glauben. Frau Springer hatte allerdings eine sehr eigentümliche und entschiedene Art, diesen Spaß zu betreiben, allein er hatte schon manche Schrulle der guten Dame hinweggescherzt. Sie gehörte zu den Frauen, die das Bedürfnis haben, sich von Zeit zu Zeit begütigen zu lassen.
»O liebe Frau Springer,« erwiderte er, »ich glaube, Sie haben sich noch gar nicht ordentlich überlegt, was Sie da sagen. Haben Sie wohl schon an die Zukunft gedacht? Es ist Ihnen wohl nicht in den Sinn gekommen, daß es eine Nemesis gibt, und daß Sie auch einmal in die Kunstgeschichte kommen. Und dem gelehrten Professor, der einst mein Leben beschreibt, dem werden sich vor sittlicher Entrüstung die wenigen Haare emporsträuben, wenn er an das Kapitel ›Frau Springer‹ kommt. Er wird es Ihnen niemals verzeihen, daß Sie die waren, die den berühmten Wolfgang Turnau, den göttlichen Wolfgang Turnau aus dem Hause geworfen hat. Die schaudernde Nachwelt wird Ihr Verfahren schon zu richten wissen, und wenn dann die Engländer und Engländerinnen kommen, um sich den Ort anzusehen, wo diese grausame That geschehen ist, da werden sie ein rotes Ausrufungszeichen der Entrüstung machen in ihrem Murray und › shocking‹ werden sie sagen, › indeed shocking‹ und Ihr Andenken, Frau Springer, wird verflucht sein bei allen Nationen!«
Aber die gute Frau schien nicht den geringsten Wert auf die Meinung der richtenden Nachwelt zu legen, denn sie schüttelte diese Mahnworte wie Regentropfen von sich und blieb fest. Turnau schwor, er würde nicht ausziehen, er würde sich verbarrikadieren und sein Leben teuer verkaufen. Er machte sie aufmerksam auf die Menge Harnische, Armbrüste, Morgensterne, Schwerter, Arkebusen, Dolche und Reiterpistolen, die sein Atelier beherbergte, er erinnerte sie daran, daß selbst die scheue Gemse den Jäger in den Abgrund rennt, wenn ihr kein anderer Ausweg bleibt, aber Frau Springer schüttelte nur den Kopf und blieb fest.
Dahinter steckte etwas anderes; dies ward ihm allmählich klar. Er gab den scherzhaften Ton auf und fragte die Frau allen Ernstes nach dem wahren Grunde der Kündigung. Sie wollte nicht mit der Sprache heraus und versteckte sich hinter die zu Anfang der Unterredung erwähnten Motive. Im Laufe des Gespräches und des fortwährenden Abstäubens hatte sie indes mehrfach den Ort gewechselt und bekam nun mit einemmal das Gretchenbild, auf das sie zuvor niemals einen Blick geworfen hatte, zu Gesicht. Sie starrte eine Weile sprachlos auf die Leinwand.
»Herr Turnau, das Bild dürfen Sie nicht verkaufen!« sagte sie dann.
»Warum nicht?« fragte Turnau verwundert.
»Ich will es nicht haben,« sagte sie, »ich will nicht, daß meine Tochter noch mehr ins Gerede kommt, als es schon der Fall ist. Das Mädchen auf dem Bilde sieht leiblich aus wie meine Helene, und ich will nicht, daß die Leute sagen, sie hätte Ihnen Modell gestanden. Es wird ohnehin schon dergleichen geredet.«
»Hier wittere ich die Spuren von Iduna Schlunk!« rief Wolfgang schnell, »nun verstehe ich alles!«
»Ja, Fräulein Schlunk hat es mir erzählt, daß die Leute darüber munkeln, daß Sie ein Verhältnis mit meiner Tochter hätten, und daß sie Ihnen Modell stünde, und damit solches Gerede aufhört, müssen Sie ausziehen. Daran ist nichts zu ändern und es bleibt dabei.« Damit, um jede fernere Erwiderung abzuschneiden, verließ sie schnell das Zimmer.
Wolfgang blickte ihr stumm nach, schüttelte den Kopf und setzte sich dann mechanisch an das bereitstehende Frühstück. Mit merkwürdiger Schnelligkeit verschwand dasselbe zwischen seinen fleißigen Zähnen. Allein sein Blick war bei dieser Arbeit fast immer auf jenen imaginären Punkt in der unendlichen Ferne gerichtet, den wir aufzusuchen pflegen, wenn das Gehirn mit verzehrender Gedankenarbeit beschäftigt ist. Und wenn er sein Leben hätte dadurch retten können, es wäre ihm eine Viertelstunde nach dem Frühstück nicht mehr möglich gewesen, zu sagen, was er gegessen hatte.