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Der Abend zu Baldringham wäre von unerträglicher Länge gewesen, wenn nicht eine drohende Gefahr die Zeit wesentlich abgekürzt hätte. Wenn auch Eveline wenig erbaut war von der Unterhaltung ihrer Tante mit Berwinen, die sich nur in langen Erörterungen über ihre Abkunft vom kriegerischen Horsa und Schilderungen der Großtaten sächsischer Kriegshelden, wie auch der Wundertaten sächsischer Mönche drehte, so war es ihr noch immer lieber, diesen Legenden ihr Ohr zu leihen, als sich im Geiste schon vorher mit ihrem Aufenthalt in jenem gefürchteten Zimmer, wo sie die Nacht zubringen sollte, zu quälen. Doch fehlte es keineswegs an lustiger Unterhaltung für den Abend, soweit sie das Haus von Baldringham darbieten konnte. Von einem ernsten alten sächsischen Mönche, dem Kaplan des Hauses, eingesegnet, wurde ein prächtiges Gastmahl, das ein Dutzend Hungrige hätte sättigen können, vor Ermengard und ihrer Nichte aufgetragen, an dem außer dem hochwürdigen Herrn auch Berwine und Rose Flammock teilnahmen. Eveline fühlte sich um so weniger geneigt, von dieser übertriebenen Gastfreiheit Gebrauch zu machen, als die Gerichte durchweg von jener groben, kräftigen Gattung waren, die die Sachsen bewunderten, die aber nicht zu ihrem Vorteil gegen die verfeinerte Kochkunst der Normannen abstachen, gleichwie der blinkende Becher leichten, blumigen, obendrein mit Wasser vermischten Gascogners nicht gegen das kräftige Bier, den würzigen Hippokras und andere starke Getränke, die nacheinander Hundwolf, der Haushofmeister, zu Ehren der Gäste von Baldringham auftischte, aufkommen konnte.
Ebensowenig wie das überreiche, derbe Gastmahl, war auch die Abendunterhaltung mit der greisen Tante nach Evelinens Geschmack. Als die Gestelle und Tische, auf denen die Gerichte aufgetragen gewesen, aus dem Zimmer geschafft waren, begannen die Diener unter Anleitung des Haushofmeisters große Wachskerzen anzuzünden, deren Zahl ebenso viele Zeitabschnitte anzeigten, und zwar wurden dieselben angekündigt durch eherne Kugeln, die von der Kerze hinunter an Fäden hingen, wobei man genau berechnet hatte, wieviel Zeit der zwischen ihnen befindliche Raum zum Brennen brauche; so daß, wenn die Flamme den Faden erreichte, die Kugeln, der Reihe nach in ein darunter gestelltes ehernes Becken fallend, gewissermaßen das Amt der viel später erfundenen Schlaguhren verrichteten. Eine Erfindung Alfreds des Großen (seit 801), also echt angelsächsischen Ursprungs. Bei dieser Beleuchtung begann die Abendunterhaltung.
Ermengards hoher, weiter Armstuhl wurde, alter Gewohnheit getreu, aus der Mitte des Zimmers auf die wärmste Seite eines breiten, mit Holzkohlen gefüllten Kamins gerückt, und ihr Gast erhielt ihr zur Rechten als Ehrenplatz seinen Sitz. Berwine stellte nun die weibliche Dienerschaft in gehörige Ordnung, und nachdem sie darauf gesehen, daß jede die ihr übertragene Arbeit vornahm, setzte sie sich selbst an die Spindel. In einem etwas entfernteren Kreise begannen die Männer, das Wirtschaftsgerät und die Werkzeuge auszubessern oder das Jagdgerät zu polieren, an ihrer Spitze Haushofmeister Hundwolf. Zur Aufheiterung der versammelten Familie sang ein alter Spielmann zu einer Harfe, die nur vier Saiten hatte, eine lange Legende religiösen Inhalts, die allem Anschein nach zu keinem Ende kommen konnte. Evelinen blieb der Gesang fast unverständlich durch die vom Dichter überreich gebrauchten Alliterationen, die für einen besonderen Schmuck der sächsischen Poesie gehalten wurden, aber nur auf Kosten der Musik gebraucht werden konnten. Dazu kam all die Dunkelheit, die durch Auslassungen, Abkürzungen und übertriebene Hyperbeln geschaffen wurde. Eveline war gut bekannt mit der sächsischen Sprache, lieh bald dem Sänger keine Aufmerksamkeit mehr, sondern dachte an die muntern Fabliaux und phantasiereichen Lais der normannischen Minstrels; dabei schweifte aber ihr Sinn mit banger Vorempfindung zu dem geheimnisvollen Zimmer hinüber, wo sie die Nacht zubringen sollte, und malte ihr die Erscheinung aus, die sie dort zu gewärtigen haben würde.
Endlich nahte die Stunde der Trennung. Kurz vor Mitternacht fiel die Kugel, den Zeitpunkt, den die hinuntergebrannte Wachskerze angab, kündend, mit Geklirr in das eherne Becken. Der alte Spielmann hielt in seinem Gesang inne, und die Dienerschaft war im Nu auf das Signal hin auf den Beinen, mit Fackeln oder Lampen die Gäste in die ihnen zuerteilten Schlafzimmer zu geleiten. Mehreren Kammerfrauen fiel es zu, Evelinen zu bedienen, von der sich die Tante feierlich verabschiedete, ihr die Stirn bekreuzend und küssend, mit den ihr ins Ohr geflüsterten Worten: »Sei mutig und werde glücklich!«
»Kann nicht meine Zofe Rose oder Raoul, meine Kammerfrau, die Nacht über bei mir mit im Zimmer bleiben?« fragte Eveline.
»Rose-Raoul!« wiederholte Ermengard verächtlich; »ist Dein Haushalt so zusammengesetzt? Die Holländer bilden für Britannien das Lähmungs-, die Normannen das Jähzorns-Ferment!«
»Und die armen Wälschen würden hinzusetzen,« sagte Rosa, deren Unwille die Achtung vor der alten Sächsin zu verscheuchen begann, »daß die Angelsachsen das Urübel seien und einer verheerenden Pestilenz gleichen.«
»Sehr keck, mein Kind, sehr keck,« sagte Lady Ermengard, unter ihren schwarzen Brauen hervor Blitze auf das flämische Mädchen schleudernd; »und doch liegt Witz in Deinen Worten! Sachsen, Dänen, Normannen sind, jagenden Wogen gleich, über unser Land dahin gerollt; die Kraft, es sich zu unterjochen, hatte jeder, den Verstand, es zu bewahren, keiner! – Wann wird das anders sein?«
»Wenn Sachse, Brite, Normann und Vlame,« antwortete Rosa, »lernen werden, sich mit gleichem Namen zu nennen und sich als gleiche Kinder des Landes zu fühlen, in welchem sie geboren wurden.«
»Ha!« rief die greise Lady, halb erstaunt, halb zufrieden; dann sich zu ihrer Verwandten wendend, sagte sie: »Du hast Wort und Witz an dem Mädchen; gib acht, daß sie es brauche, aber nicht mißbrauche.«
»Sie ist ebenso freundlich und treu, wie ehrlich und mit ihrem Witze fertig,« sagte Eveline. »Ich bitte Euch, teuerste Tante, vergönnt mir in dieser Nacht ihre Gesellschaft,«
»Es kann nicht sein, es wäre gefährlich für beide. Allein müßt Ihr Euer Geschick erfahren, wie alle Frauen unsres Geschlechts, Deine Großmutter ausgenommen. Und was ist die Folge davon gewesen, daß sie die Gesetze ihres Hauses vernachlässigt hat? Da! Ihre Enkelin steht vor mir, eine Waise, in der Blüte ihrer Jugend!«
»So will ich denn gehen,« sagte Eveline, ergeben in ihr Schicksal, doch tief aufseufzend; »nie soll man sagen, ich hätte, aus Scheu vor gegenwärtigem Schrecken, künftiges Weh veranlaßt.«
»Eure Dienerinnen,« sagte Lady Ermengard, »können im Vorzimmer bleiben, wo Ihr sie immer rufen könnt. Berwine wird Euch das Zimmer zeigen – ich kann nicht; denn wir, die wir einmal hineingegangen sind, kehren nie wieder dorthin zurück. – Lebe Wohl, mein Kind, und möge der Himmel Dich segnen!«
Mit einem größern Maße von Empfindung und Teilnahme, als sie bis jetzt gezeigt, küßte sie Evelinen noch einmal und winkte ihr, Berwinen zu folgen, die mit zwei Dienerinnen, die Fackeln trugen, ihrer wartete, sie in das gefürchtete Zimmer zu führen.
Die Fackeln warfen ihren Schein auf die rohen Wände und die dunklen, gewölbten Decken mehrerer gewundenen langen Gänge, dann auf die Stufen einer Wendeltreppe, die sie hinabstiegen und die durch viele Höcker und rauhe Stellen ihr hohes Alter verriet. Endlich traten sie in ein ziemlich hohes Gemach des Unterstocks, dem ein paar alte Tapeten, ein flackerndes Herdfeuer, das durch ein Gitterfenster sich stehlende Mondlicht und die Zweige einer um das Fenster herum gewachsenen Myrte kein unfreundliches Ansehen gaben.
»Dies,« sagte Berwine, »ist das Schlafgemach Eurer Dienerinnen.« – Dabei zeigte sie auf zwei Lagerstätten, die für Rosa und Frau Gillian bereit standen. – »Wir,« setzte sie hinzu, »gehen weiter.«
Sie nahm der einen der beiden Dienerinnen, die vor Furcht zurückzuschaudern schienen, – worin ihnen Frau Gillian schnell nachahmte, ohne eigentlich zu wissen warum – die Fackel ab; Rose Flammock aber folgte, ohne sich zu bedenken, ihrer Herrin, die von Berwinen durch eine schmale, mit eisernen Nägeln beschlagene Tür am äußersten Ende des Zimmers in ein zweites, aber kleineres Vorgemach geführt wurde, an dessen Ende eine ähnliche Tür sich befand. Auch hier war das Fenster mit Immergrün umrankt, und es wurde, gleich dem ersten, von mildem Mondlicht erhellt.
Hier blieb Berwine stehen und fragte, auf Rose deutend: »Warum folgt sie?«
»Um alle Gefahr mit meiner Herrin zu teilen, komme, was da wolle,« antwortete Rose mit ihrer charakteristischen Freimütigkeit in Wort und Entschluß. – »Sprecht, meine teuerste Lady,« und ergriff Evelinens Hand, »Ihr werdet doch Eure Rose nicht von Euch stoßen? Wenn ich auch nicht so hochsinnig bin wie eine von Eurem vielgerühmten Stamme, so bin ich doch nicht ohne Mut und Geistesgegenwart, so lange es sich um ehrlichen Dienst handelt. – Ihr zittert wie Espenlaub – geht nicht in das Zimmer – laßt Euch nicht durch all diese geheimnisvollen, prunkenden Vorbereitungen täuschen! Trotzet diesem veralteten und, ich sollte denken, halb heidnischen Aberglauben!«
»Lady Eveline muß gehen, Schätzchen,« antwortete Berwine ernsthaft, »und muß gehen ohne solch vorwitzige Ratgeberin oder Gesellschafterin, wie Ihr es zu sein scheint.«
»Muß gehen? muß?« wiederholte Rose; »ist das eine Rede, die sich gegen eine freie, edle Jungfrau geziemt? Süße Lady, gebt mir nur den kleinsten Wink, daß es Euch recht ist, und ich will's drauf ankommen lassen, ob Ihr »muß gehen« die Probe besteht. Aus dem Fenster will ich den normännischen Reitern zurufen und ihnen erzählen, daß wir in eine Höhle von Hexen geraten sind, statt in ein gastliches Haus.«
»Schweigt, Rasende,« sagte Berwine, und ihre Stimme bebte vor Aerger und Furcht, »Ihr wißt nicht, wer in dem nächsten Zimmer wohnt.«
»Ich will mir schon jemand rufen, der das ermitteln soll,« sagte Rose und flog zum Fenster, als Eveline sie beim Arm ergriff und zurückhielt.
»Ich danke Dir für Deine Liebe, mein Kind,« sagte sie, »aber sie kann mir hier nichts helfen, wer zu dieser Tür tritt, muß allein eintreten.«
»Dann will ich an Eurer Stelle hineingehen, teuerste Lady,« sagte Rosa, »Ihr seid blaß, seid kalt – Ihr sterbt vor Schrecken, wenn Ihrs weiter treibt! Es mag hier eine übernatürliche Kraft, wenn nicht ein Betrug im Spiele sein – mich sollen sie nicht betrügen – oder verlangt irgend ein finsterer Geist ein Opfer – besser dann Rose als ihre Gebieterin.«
»Laß das, laß das!« sagte Eveline und sprach sich selbst Mut zu. »Du machst, daß ich über mich selbst erröte. Das ist ein altes Gottesurteil, das die Frauen aus dem Hause Baldringham bis im dritten Gliede, und nur diese allein angeht. In meiner jetzigen Lage erwarte ich freilich nicht, mich ihm unterwerfen zu müssen; aber da die Stunde es fordert, will ich ihm so frei entgegentreten, wie jede andere meiner Vorfahren.«
So sprach sie und nahm die Fackel aus Berwinens Hand, und ihr und Rosen gute Nacht wünschend, machte sie sich sanft von der letztern los und trat in das geheimnisvolle Zimmer. Rose drängte sich ihr so weit nach, um zu sehen, daß es ein Zimmer von mäßiger Größe war, ähnlich dem, durch welches sie gegangen waren, gleichfalls durch den Mond erleuchtet, der durch ein Fenster, in gleicher Reihe mit denen der Vorzimmer gelegen, hereinschien. Mehr konnte sie nicht sehen, denn auf der Schwelle drehte Eveline sich um und schob sie mit einem Kusse sanft in das kleine Zimmer zurück und den Riegel vor die Tür.
Berwine forderte nun Rose auf, wenn ihr am Leben liege, sich in das erste Vorzimmer zurückzuziehen, wo die Betten bereit standen, und sich, wenn auch nicht dem Schlafe, so doch der Ruhe und dem Gebete zu überlassen; aber das treue flamländische Mädchen wies standhaft alle Vorstellungen zurück und widersetzte sich allen Befehlen.
»Sprecht mir nicht von Gefahr,« sagte sie. »Hier bleibe ich, damit ich wenigstens hören kann, wenn meine Gebieterin in Gefahr ist – und wehe über die, die ihr Leid zufügen wollen! – Merkt's Euch – zwanzig normännische Speere umgeben diese ungastliche Wohnung, bereit, jede Beleidigung zu rächen, die der Tochter Raymond Berengers zugefügt wird.«
»Spart Eure Drohungen für diejenigen auf, die sterblich sind,« flüsterte Berwine leise, aber eindringlich. »Der in jenem Zimmer dort haust, fürchtet sie nicht. – Lebe wohl! Bringst Du Gefahr über Dich, so komme sie über Dein Haupt!«
Sie ging davon und ließ Rose, seltsam ergriffen durch alles, was vorgegangen war, und von ihren letzten Worten mit Entsetzen erfüllt, zurück. »Diese Sachsen,« sagte das Mädchen zu sich selbst, »sind eigentlich nur halbbekehrte Christen und halten noch an vielen ihrer höllischen Gebräuche fest, besonders in der Anbetung der Elementargeister. Ihre Heiligen selbst sind ganz ungleich den Heiligen in jedem andern Lande, und ihre Blicke haben gleichsam etwas Wildes und Teuflisches an sich. – Es ist ängstlich hier, allein zu sein– und still wie der Tod ist alles hier in dem Zimmer, wohin meine Gebieterin so seltsamerart gezwungen wird. – Ob ich die Gillian herbeirufe? Doch nein, sie hat weder Sinn, noch Mut, noch Vernunft, mir bei solchem Anlasse beizustehen – besser allein, als mit einem falschen Freunde zur Seite! – Ich will sehen, ob die Normänner auf ihren Posten sind, denn auf sie muß ich mich im Fall der Not verlassen.«
Mit diesem Gedanken trat Rose an das Fenster des kleinen Zimmers, um sich von der Wachsamkeit der Posten zu überzeugen und über die Aufstellung der Wache zu unterrichten. Der Vollmond ermöglichte ihr, die Beschaffenheit der Gegend zu unterscheiden. Zuerst fand sie sich nicht wenig enttäuscht, als sie entdeckte, daß die Fensterreihe, statt dem Erdboden gleich zu sein, wie sie vermutet hatte, auf einen alten Graben hinaus führte, der sie von der drüber liegenden Ebene schied. Als Verteidigungsmittel mochte dieser Graben längst außer Gebrauch gesetzt sein; denn der Boden war ganz trocken und an vielen Stellen mit Gesträuch und Unterholz bedeckt, die sich an den Mauern des Schlosses emporrankten, und an denen man sich, wie es Rose vorkam, leicht bis zu den Fenstern heraufhelfen und in das Haus gelangen konnte. Von der jenseitigen Ebene war zunächst der Raum am Schlosse erhellt! das Mondlicht beschien den dichten Rasen, nur unterbrochen durch den langen Schatten der Türme und Bäume. Weiterhin schloß sich an diese Ebene waldiger Boden, wo ein paar riesenhafte Eichen längs dem Rande des breiten, finstern Waldes standen, gleich den einzelnen Kriegern, die vor der Front einer Schlachtlinie den Feind herausfordernd halten.
Die sanfte Schönheit und Ruhe dieser lieblichen Szenerie, die Stille ringsumher und die ernsten Gedanken, die durch dies alles geweckt wurden, beschwichtigten die Besorgnisse einigermaßen, die die Ereignisse vom Abend eingeflößt hatten. »Bei alledem,« so überlegte sie, »warum sollte ich wohl für Lady Eveline so besorgt sein? Unter den stolzen Normannen und den mürrischen Sachsen ist kaum eine Familie von Bedeutung, die es nicht für notwendig erachtet, sich von den andern durch einen eigentümlichen Aberglauben zu unterscheiden, als ob sie es für eine Schande vom Himmel hielten, wie eine arme einfältige Flamländerin gleich mir einherzugehen. – Könnte ich nur eine normännische Schildwache gewahr werden, so wollte ich mich wegen der Sicherheit meiner Herrin beruhigen, – Ha dort! da wandert einer im Dunkeln, in seinen langen Weißen Mantel gehüllt, und der Mond versilbert die Spitze seiner Lanze. – Hier! Hei da! Herr Kavalier!«
Der Norman« drehte sich um und näherte sich auf ihren Ruf dem Graben, – »Was ist Euer Begehr, Jungfer?« fragte er.
»Im Zimmer nebenan weilt Eveline Berenger, die Ihr bewachen sollt. Haltet, bitte, diese Seite des Schlosses scharf im Auge!«
»Seht keinen Zweifel in uns, Lady,« antwortete der Kavalier, und sich in seinen langen militärischen Wachmantel, Chappe genannt, wickelnd, zog er sich zu einem großen Eichbaum in einiger Entfernung zurück und stand hier mit ineinandergeschlagenen Armen, auf seine Lanze gelehnt, einer Waffentrophäe ähnlicher als einem lebenden Krieger.
Durch das Bewußtsein, daß im Falle der Not Hilfe nahe zur Hand sei, kühn gemacht, zog sich Rose in ihr kleines Zimmer zurück, und nachdem sie sich durch Lauschen davon überzeugt hatte, daß alles in Evelinens Gemach ruhig sei, begann sie die nötigen Vorkehrungen zur eigenen Nachtruhe zu treffen. Zu diesem Zwecke begab sie sich in das äußere Vorzimmer, wo Dame Gillian von der Furcht vor der einschläfernden Wirkung eines kräftigen Schluckes von Lithe-alos, d. i. Ale von der besten und stärksten Sorte, dadurch erlöst worden war, daß sich ein so tiefer Schlaf auf ihre Lider gesenkt hatte, wie ihn dieses edle sächsische Getränk nur eben hervorbringen konnte.
Ueber solche Trägheit und Gleichgültigkeit ihrem Unwillen Luft machend, trug Rose von dem leeren, für sie bestimmten Lager die obere Decke in das innere Vorzimmer und machte sich daraus und aus den Binsen, mit denen der Estrich bestreut war, ein kümmerliches Lager zurecht, auf dem sie, halb liegend, die Nacht im Wachen über das Wohl ihrer Gebieterin zuzubringen gewillt war, bis die aufsteigende Morgenröte sie von der Sorge um Evelinens Sicherheit befreien würde.
Ihre Gedanken verweilten indessen bei der in Schatten gehüllten Welt jenseits des Grabes und bei der großen, vielleicht noch nicht entschiedenen Frage, ob die Trennung ihrer Bewohner von denen hienieden auch wirklich Gewißheit sei, oder ob sie nicht durch Gründe, in die wir nicht eindringen können, in einer Art von Schattengemeinschaft mit denen, die noch irdisch in Fleisch und Blut wandeln, fortleben. Das zu leugnen, hieß im Zeitalter der Kreuzzüge und Wunder die Schuld der Ketzerei auf sich laden; aber Rosens gesunder Verstand legte ihr wenigstens den Zweifel nahe, ob dergleichen übernatürlicher Verkehr auch wirklich häufig vorkäme; sie fand Trost in der Meinung, mit der sich freilich ihr unwillkürliches Aufschrecken, sobald sich nur ein Blättchen regte, nicht vertrug, daß Eveline sich keiner tatsächlichen Gefahr aussetze dadurch, daß sie sich dem althergebrachten Familien-Brauche unterwerfe.
In dem Verhältnis, wie diese Ueberzeugung ihr Gemüt stärkte, verlor ihr Vorsatz, zu wachen, an Stärke – ihre Gedanken schweiften auf Dinge, auf die sie nicht eigentlich gerichtet waren, ähnlich wie Schafe sich der Aufsicht ihres Hirten entziehen – ihre Augen führten ihr kein deutliches Bild mehr von der großen runden silbernen Scheibe vor, auf die sie doch unaufhörlich hinblickten. Zuletzt schlossen sie sich, und sitzend auf der um sie geschlagenen Decke, mit dem Rücken an die Zimmerwand lehnend, die weißen Arme über die Brust zusammengeschlagen, sank Rose Flammock in einen festen Schlaf, der aber urplötzlich durch einen scharfen, durchdringenden Schrei aus Evelinens Zimmer unterbrochen wurde. Aufspringen und zur Tür fliegen, war das Werk eines einzigen Augenblicks für das edle Mädchen, das keine Furcht kannte, wenn es sich um Liebe und Pflicht handelte. Die Tür aber war verschlossen und verriegelt, und ein anderer schwächerer Schrei oder vielmehr ein Stöhnen schien zu sagen, daß nur schnelle Hilfe noch nützen könne. Rose flog zum Fenster und rief oder schrie vielmehr dem normännischen Krieger zu, der, durch den Weißen Wachmantel kenntlich, noch immer unter dem alten Eichbaume stand.
Auf den Ruf »Hilfe! Hilfe! Lady Eveline wird ermordet!« bekam die scheinbare Bildsäule plötzlich Leben, eilte mit der Geschwindigkeit eines Wettrenners zum Grabenrande und war im Begriff, da in den Graben zu springen, wo Rose am offnen Fenster stand und ihn mit Worten und Gebärden zur äußersten Eile anspornte.
»Nicht hier! Nicht hier!« rief sie atemlos, als sie sah, daß er zu ihr wollte. – »Das Fenster zur Rechten – erklimmt es um Gotteswillen und öffnet die Zwischentür!«
Der Soldat schien sie zu verstehen. Ohne Zögern sprang er in den Graben und hielt sich an den Zweigen der Bäume, um nicht abzustürzen. Im einen Augenblick verschwand er in dem Gesträuch, im andern sah ihn Rose, wie er, sich an den Zweigen einer Eiche haltend, ihr schon zur Rechten war, in unmittelbarer Nähe von dem Fenster des unseligen Zimmers. Eine Furcht blieb noch: Das Fenster konnte gegen das Eindringen von außen her sicher sein; doch nein! es wich den Stößen des Normannen, und da Angeln und Klammern durch die Zeit verdorben waren, fiel es mit einem Gerassel ins Zimmer hinein, dem selbst der Dame Gillians Schlaf nicht zu widerstehen vermochte.
Schrei auf Schrei ausstoßend, wie Narren und Memmen zu tun pflegen, stürzte sie aus dem Vorzimmer in das Kabinett, eben als die Tür von Evelinens Zimmer aufging und der Krieger sich zeigte, in seinen Armen die halb entkleidete leblose Gestalt des normannischen Fräuleins. Ohne ein Wort zu sprechen, legte er sie in Rosens Arme, und mit derselben Schnelligkeit, mit der er hereingekommen war, schwang er sich aus dem noch offenstehenden Fenster, aus welchem Rose ihn herbeigerufen hatte.
Gillian, von Furcht und Schrecken halb verwirrt, häufte Ausrufungen auf Fragen, und Fragen mischte sie wieder mit Hilfsgeschrei, bis Rose sie ernstlich zurechtwies. Es gelang ihr, ihre zerstreuten Sinne wieder zu sammeln, und sie fand endlich Besonnenheit genug, eine brennende Lampe aus dem Zimmer herbeizuholen, aus dem sie eben getreten war, und alles zu tun, was irgend nützen könnte, der Ohnmächtigen das Bewußtsein wiederzugeben. Zuletzt gelang dies den vereinten Bemühungen beider Personen. Eveline schöpfte tief Atem und schlug die Augen auf, schloß sie jedoch auf der Stelle wieder, ließ ihr Haupt an Rosens Brust sinken und verfiel in ein krampfhaftes Frösteln, bis die treue Dienerin unter vielen Liebkosungen ihr nun Hände und Schläfen rieb und endlich ausrief: »Sie lebt! – Sie erholt sich – Gelobt sei Gott!«
Das: »Gelobt sei Gott!« hallte in feierlichem Tone von dem Fenster des Zimmers wieder. Rose wandte sich erschrocken dahin um und erblickte, starr vor Staunen, das bewaffnete Haupt des Kriegsmannes, der in so gelegenem Augenblick ihr zu Hilfe gekommen war und sich, auf seinen Arm gestützt, zu dem Fenster emporgeholfen hatte, um in das Innere des Kabinetts sehen zu können.
Rose eilte sogleich auf ihn zu: »Geht! – geht, guter Freund,« sagte sie, »der Lohn soll Euch zu anderer Zeit werden. – Geht! – Entfernt Euch! – Doch wartet! – Bleibt auf Eurem Posten, daß ich Euch rufen kann, falls es noch einmal not tut. – Und nun geht und seid treu und verschwiegen!«
Ohne ein Wort zu erwidern, gehorchte der Kriegsmann, und Rose sah ihn in den Graben wieder zurücksteigen. Darauf kehrte sie zu ihrer Gebieterin zurück, die in Gillians Armen lag, leise wimmernd und unverständliche Ausrufungen ausstoßend, was darauf schließen ließ, daß sie, durch irgend eine tief erschütternde Ursache veranlaßt, mit den heftigsten Empfindungen kämpfte.
Kaum hatte Dame Gillian ihre Kräfte wiedergefunden, als auch ihre Neugierde wieder rege wurde. – »Was bedeutet das alles?« fragte sie Rosen, »was ist zwischen Euch vorgegangen?« »Ich weiß es nicht,« erwiderte Rose.
»Wenn Ihr es nicht wißt,« sagte Gillian, »wer soll es denn wissen? – Soll ich die andern Frauen rufen und das Haus in Alarm setzen?«
»Bei Leibe nicht,« sagte Rose; »tun wir nichts, so lange nicht Mylady imstande ist, selbst Befehl zu geben – und so wahr mir der Himmel helfe, ich will alles daran setzen, die Geheimnisse jenes Zimmers zu erfahren! Unterstützt derweilen meine Gebieterin!«
Mit diesen Worten nahm sie die Lampe in die Hand, schlug ein Kreuz auf der Stirn, überschritt kühn die geheimnisvolle Schwelle und blickte, das Licht hochhaltend, in das Gemach.
Es war ein altes, gewölbtes Zimmer, von mäßigem Umfange. Im Winkel hing ein roh geschnitztes Bild der heiligen Jungfrau über einem sächsischen Wasserbecken von sonderbarer Arbeit. Auch zwei Sitze und ein mit grobem Teppich gedecktes Lager, auf dem Eveline geruht zu haben schien, befanden sich in dem Raume. Scherben von dem zerschmetterten Fenster lagen auf dem Boden; doch rührte diese Oeffnung vom gewaltsamen Eindringen des Soldaten her, und Rose sah keinen andern Eingang, durch den ein Fremder hätte ins Zimmer gelangen können, da die Tür verschlossen und verriegelt gewesen war.
Jetzt empfand Rose selbst den Einfluß jener Schrecken, denen sie bisher stand gehalten hatte; geschwind warf sie ihren Rock über den Kopf, wie wenn sie ihre Augen vor einem schrecklichen Anblick zu bewahren suchte, und rannte ins Kabinett zurück, aber erheblich unsicheren Schrittes, als wie sie es verlassen hatte, und bat Dame Gillian um ihren Beistand, Evelinen in das nächste Zimmer zu führen. Sobald dieses geschehen, schloß sie sorgsam die Zwischentüren ab, um gleichsam eine Scheidewand zwischen sich und jeder drohenden Gefahr zu ziehen.
Lady Eveline hatte sich soweit erholt, daß sie aufrecht sitzen konnte; sie versuchte zu reden, konnte aber kaum lallen: »Rose, ich habe sie gesehen – mein Urteil ist gefällt.«
Rosen kam auf der Stelle der Gedanke, daß es unvorsichtig wäre, Gillian hören zu lassen. was ihre Gebieterin in solchem bangen Augenblicke weiter sagen möchte; schnell ging sie deshalb auf ihren vorhin abgewiesenen Vorschlag ein und bat sie, noch zwei andere Mädchen von der Dienerschaft ihrer Herrin herbeizuholen.
»Und wo soll ich sie finden in einem Hause,« sagte Gillian »in welchem fremde Männer mitternächtlicher Weile umherlaufen, und Teufel oder was weiß ich, ihren Spuk treiben?«
»Findet sie, wo Ihr könnt,« versetzte Rose heftig, »aber macht, daß Ihr wegkommt!«
Gillian ging langsam hinaus, ein paar unverständliche Worte murmelnd. Kaum war sie verschwunden, so ließ Rose ihrer eigenen Liebe zu ihrer Gebieterin die Zügel schießen und bat sie in den zärtlichsten Ausdrücken, die Augen doch aufzuschlagen und ihr ein Wort zu vergönnen, ihrer Rose, die ja, wenn es sein müsse, jederzeit bereit sei, für ihre Gebieterin das Leben zu lassen.
»Morgen, morgen, Rose,« flüsterte Eveline, »– ich kann jetzt nicht sprechen,«
»Erleichtert nur Euer Gemüt durch ein einziges Wort – sagt, was Euch in Schrecken gesetzt hat – was für Gefahren Ihr fürchtet.«
»Ich habe sie gesehen,« antwortete Eveline, »ich habe die Bewohnerin jenes Zimmers gesehen! die Erscheinung, verhängnisvoll für meinen Stamm! Bestürme mich nicht weiter, denn morgen sollst Du alles erfahren!«
Als Gillian mit den beiden andern Dienerinnen eintrat, hieß Rose sie die Herrin in ein entfernteres Zimmer bringen und auf ein Bett legen. Rose entließ hierauf die Dienerinnen wieder und hielt bei Evelinen weiter Wacht. Eine Zeitlang blieb diese noch unruhig und aufgeregt; allmählich aber gewann die Ermüdung ihr Recht, und sie sank in tiefen Schlummer, aus dem sie nicht eher erwachte, als bis die Sonne schon hoch über den fernen Hügeln stand.