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Zweite Abtheilung.

Beinahe den ganzen Januar hatte ein anhaltendes Unwetter die Stockholmer des Vergnügens beraubt, Spaziergänge zu machen, die Wintertoiletten der Damen und die Equipagen nebst den üblichen Schlittenpartieen zu bewundern.

Die elegante Welt blieb daheim, außer wenn sie in einem bedeckten Wagen ausfuhr, um Besuche zu machen.

Man hatte sich sehr über die Witterung, den vielen Schnee und den fortwährenden Wind zu beklagen gehabt.

Als der erste Monat des Jahres zu Ende ging, gab man sich der Hoffnung hin, daß der nächste Monat schöne, klare, sonnenhelle Tage bringen würde, damit man auch hinaus und sich zeigen könnte; allein der Februar fing ganz so an, wie der Januar aufgehört hatte, mit Schnee und Nebel.

In der Wohnung des Großhändlers Klas Henrik Grattman in der Regierungsstraße in Stockholm befand sich ein reizendes Ankleidezimmer, in welchem eine Kammerjungfer damit beschäftigt war, die letzte Hand an den Ballanzug von Fräulein Agnes zu legen.

Agnes war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, klein und schmächtig von Gestalt, mit schwarzen Locken und Augen, gelblicher Haut und einem Aussehen, welches jede Spur von Schönheit vermissen ließ. Die Züge waren lebhaft und ließen auf eine launische Gemüthsart schließen.

»Jetzt ist das Fräulein fertig,« erklärte die Kammerfrau.

Agnes trat vor den Spiegel und, nachdem sie sich betrachtet hatte, sagte sie: »O ja, Mina hat mich recht hübsch angekleidet. Schön kannst du mich nicht machen, aber dafür kannst du nicht. Es war immerhin gut, daß ich der Mama nicht gefolgt habe, denn sonst hätte ich mich roth gekleidet, und roth steht mir zu meiner Hautfarbe abscheulich.«

Mina war auch der Meinung, daß Gelb ihre junge Gebieterin am besten kleide und bekam sodann den Befehl, zu hören, ob die Frau des Hauses fertig sei.

»Ich werde wohl wie immer auf Mama warten müssen,« sagte Agnes. »Es ist unausstehlich, daß sie nie fertig werden kann.«

Die Kammerjungfer entfernte sich. Agnes nahm ihr in Gold und Elfenbein gebundenes Notizbuch und blätterte darin, um nachzusehen, für welche Tänze sie bereits vergeben sei. Nachdem sie sich Gewißheit hierüber verschafft hatte, zuckte sie verächtlich mit den Schultern und murmelte: »Nicht ein einziger dieser Männer interessirt mich. Es ist geradezu unerträglich, daß die Leute so langweilig sind. Ich wundere mich nur, daß …«

Sie blickte empor und bemerkte im Spiegel ein bärtiges Mannesgesicht.

»Arthur!« rief sie fröhlich aus. »Das ist schön von dir, daß du zu mir kommst. Ich habe dich heute den ganzen Tag nicht gesehen.«

»Ich habe keinen Augenblick Zeit übrig gehabt. Ich hatte in Folge der Unpäßlichkeit des Vaters viel zu thun und komme jetzt, um dich davon abzuhalten, auf den Ball zu fahren.«

»Und warum dies?«

»Bist du heute schon bei Papa gewesen?« forschte Arthur.

»Heute Morgen, und da war er allerdings sehr unwohl, aber …«

»Dann hast du dich nicht nach seinem Befinden erkundigt, denn du richtest dich zum Balle. Das ist eine eigentümliche. Art, sich um seinen Vater zu bekümmern.«

»Mein Gott, Arthur, wie bist du doch immer so strenge!« rief Agnes beinahe weinend aus. »Ich weiß nicht, warum ich dich so gerne habe, denn du hast mir nur immer Unangenehmes mitzutheilen.« Sie warf sich auf ein Sopha nieder.

»Agnes!« war Alles, was Arthur sagte. Die Schwester blickte rasch empor. Arthurs Gesicht war traurig und ernst.

»Das Unwohlsein unseres Vaters ist zu einer bedenklichen Krankheit geworden.«

Der Ton, in welchem diese Worte ausgesprochen wurden, griff Agnes an. Sie wechselte die Gesichtsfarbe und murmelte, als Arthur aus dem Zimmer eilte: »Was hat er gesagt? gefährliche Krankheit!« Sie warf einen Shawl um und eilte dem Bruder nach.

Im Zimmer vor dem Schlafgemach des Großhändlers lag Florence in Krämpfen; die Kammerfrau hatte alle Hände voll zu thun, um sie wieder zum Bewußtsein zu bringen.

Agnes würdigte ihre Mutter keines Blickes, sondern eilte zu dem Vater hinein.

Arthur stand da über denselben gebeugt und unten am Bette saß eine alte Frau. Agnes bemerkte die Letztere nicht, sondern stürzte auf das Bett des Vaters zu, warf sich davor aus die Knie und stammelte: »Papa, Papa!« Dann brach sie in Thränen aus.

Der Arzt kam herein. Er neigte sich über den Kranken, fühlte demselben den Puls und sagte leise zu Arthur: »Es ist ein Andrang nach dem Gehirn. Ich befürchte einen schlimmen Ausgang.«

So war es auch. Drei Tage später war Klas Henrik Grattman nicht mehr unter den Lebenden.

Es war zwölf Uhr Nachts. In dem Zimmer des reichen Mannes war außer der Wärterin Niemand. Sie saß auf demselben Platz zu seinen Füßen, das Kinn auf die Hand gestützt und die Augen aus das bleiche, unbewegliche Gesicht gerichtet.

Ein tiefer Seufzer entwand sich ihrer Brust; sie öffnete den Mund und flüsterte: »Klas Henrik;« dann wandte sie sich um und blickte nach der Thüre, die langsam geöffnet wurde. Es war Arthur, welcher hereintrat.

Er ging auf den Todten zu, blieb lange bei ihm stehen und betrachtete ihn mit bekümmertem, ernstem Blick, dann sah er die Alte an und sagte: »Magdalene ist auch hier!«

»Ja, ich bin Diejenige, welche ihn bei seinem Eintritt in die Welt zuerst begrüßte; ich bin daher auch Diejenige gewesen, welche bei seinem Abscheiden von dieser Welt anwesend war. Er hat es selbst so gewünscht.«

»Und Sie haben recht daran gethan,« sagte Arthur, indeß er seines Vaters kalte Hand erfaßte und dieselbe küßte.


Mit allem möglichen Pompe war der auf sein Geld so stolze, in seinem Egoismus so verstockte Mann zu Grabe gebracht worden.

Die Glocken hatten geläutet; der Geistliche hielt seine Rede, und die Leidtragenden beklagten den Verlust, welchen das Land erlitten habe. Die Wittwe, welche einen kostbaren Trauerschmuck trug und von teilnehmenden Freunden umgeben war, zerfloß in Thränen. Die hinterlassene Frau eines reichen Mannes kann stets auf Theilnahme rechnen; die Frau des Armen dagegen kann niemals so viel Sympathie erregen.

Agnes hatte sich von dem Augenblicke an, in welchem ihr Vater sein Leben ausgehaucht hatte, in ihre Zimmer eingeschlossen. Der Bitten und Thränen ihrer Mutter ungeachtet konnte sie nicht dazu veranlaßt werden, in vollem Schmuck ihr Leid zur Schau zu tragen. Am Begräbnißtag durfte Niemand hinein zu dem jungen Mädchen, welches sich dem heftigsten Schmerzensausbruch überließ. Als der traurige Tag vorüber war, wurde Agnes ruhiger, beharrte jedoch darauf, in ihren Gemächern zu bleiben, ohne Besuche von Fremden anzunehmen. Die Mutter und Arthur waren außer der Kammerjungfer die einzigen Personen, welche Agnes sehen und sprechen konnten.

Arthur war, nachdem die Beerdigung vorüber, beinahe fortwährend im Comptoir. Nur auf kurze Augenblicke eilte er zu seiner Schwester hinauf.

Die Zeit der Mutter war mit Annahme von Besuchen in Anspruch genommen, und sie hatte vollauf zu thun, um ihre Trauer auf augenfällige Weise an den Tag zu legen, so daß sie der Tochter nicht viel Zeit widmen konnte. Wenn sie hie und da ihre Tochter besuchte, so weinte sie und sprach ausschließlich von ihrer Erschöpfung und davon, daß sie ihrem Manne bald in das Grab nachfolgen werde u. s. w. Diese Ergüsse waren der Tochter so zuwider, daß es der Letzteren am liebsten war, wenn die Mutter keinen Besuch bei ihr machte.

Klas Henrik Grattman war schon vierzehn Tage todt, als Arthur Abends zu Agnes hereinkam. Sein Gesicht war so ruhig, wie man es schon lange nicht mehr an ihm wahrgenommen hatte, aber es lag tiefer Ernst in dieser Ruhe.

Agnes ging ihm entgegen.

»Wie kommt es, Arthur?« sagte sie und reichte ihm ihre Stirne zum Kusse dar; »du hast dich den ganzen Tag nicht um mich bekümmert. Ich bin sehr traurig gewesen. Ich denke fortwährend daran, daß Mama und ich in den acht Tagen, als Papa unpäßlich war, nur an dem Abend, an welchem seine Krankheit einen bedenklichen Charakter annahm, zu Hause gewesen sind. Ach, ich werde dies nie vergessen und es uns nie verzeihen; ich werde mir stets den Vorwurf machen, nicht bei ihm geblieben zu sein.«

Sie schmiegte den Kopf an des Bruders Brust und weinte.

»Weine nicht, Agnes,« sagte Arthur, »du thust mir sonst wehe, und ich möchte dich gefaßt sehen. Ja,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »sehr gefaßt, denn ich habe Ernsthaftes mitzutheilen, Dinge, welche Muth erfordern, um sie anzuhören.«

»Tom ist doch nicht gestorben?« rief Agnes erschrocken aus.

»Nein, er befindet sich wohl. Ich habe heute einen Brief von ihm erhalten. Er segelt in einigen Tagen von London ab.«

»Wenn es so ist, Arthur, dann habe ich den Muth, dich anzuhören. Nur der Tod ist schrecklich.«

»Nicht immer; für unsern Vater war der Tod vielleicht ein Glück.« Arthur zog die Schwester auf seinen Schooß hernieder und blickte sie mitleidig an. »Du bist ein vom Glück verwöhntes Kind, mein Schwesterchen; du hast zwar von Natur aus ein gutes Herz, aber dabei viele Selbstsucht und Charakterschwäche. Es ist mir peinlich in diesem Augenblick, daß ich genöthigt bin, dir zu sagen, was in Zukunft deiner harrt.«

»Arthur, du wirst doch wohl jetzt nicht ans Heiraten denken, wo sich eben erst das Grab über unserem Vater geschlossen hat?«

»Das hast du weniger als je zu befürchten. Höre aufmerksam auf das, was ich dir zu sagen habe und versuche es, unsere Lage richtig zu begreifen. Am Begräbnißtag unseres Vaters lief die Nachricht ein, daß zwei große Bankhäuser ihre Zahlungen eingestellt hätten. Wir standen in vielseitiger Verbindung mit denselben. Wir haben einen solchen Verlust erlitten, daß wir nach der Ungunst der letzten Jahre unseren Verbindlichkeiten nicht mehr nachkommen können: wir müssen unsere Zahlungen einstellen. Anfangs hoffte ich, die Sache ins Reine bringen zu können; aber nach gewissenhafter Prüfung der Bücher findet sich eine so bedeutende Unzulänglichkeit vor, daß keine Rettung vorhanden ist; wenn die Schulden bezahlt werden, so sind wir ruinirt. Es wird wohl zu einem Konkurs kommen.«

Agnes starrte den Bruder an und sagte alsdann in ruhigem Ton: »Ich hätte Schlimmeres erwartet. Dergleichen pflegt öfter vorzukommen, ohne daß sich die Stellung derer verändert, welche zu einem solchen Schritt gezwungen sind. Man fängt aufs Neue an und wird wieder reich.«

»Nein, Agnes, wir können nicht von vorn anfangen, wenn wir einmal arm geworden sind. Alles, was wir haben, werden die Gläubiger an sich ziehen. Ich bleibe nicht mehr Kaufmann. Klas Henrik Grattmans Kinder sind arm, selbst wenn unsere Hilfsmittel derart wären, daß wir die Krisis bestehen könnten.«

Agnes preßte die Hände zusammen und flüsterte: »Arthur, ich kann dies nicht verstehen. Wir haben reiche Verwandte – können diese uns nicht retten? Unser Onkel wird nicht zugeben, daß unser Wohlstand zu Grunde geht: er wird uns helfen.«

»Er ist im Ausland, und wenn er hier wäre, so würde ich nicht wünschen, daß er für uns ein Opfer brächte. Ich hoffe, wenn die Sache erledigt sein wird, für Mama und dich arbeiten zu können. Ich werde dich stets vor der Demüthigung. bewahren, bei der Verwandtschaft das Gnadenbrod zu essen.«

Agnes brach in Thränen aus. Da sie jetzt den Wechsel in ihrem Schicksal klar einsah, so verlor sie allen Muth, den harten Schlag zu ertragen.

Wir wollen darauf verzichten, die Scene zu schildern, welche jetzt folgte. Mit aller Unvernunft, welche ein vom Glück verwöhntes Kind an den Tag legen kann, überließ sich Agnes ihrer Verzweiflung und machte dabei nicht nur ihren Bruder, sondern auch dem Vater, welcher kaum begraben war, Vorwürfe. Anfangs versuchte es Arthur, sie zu beruhigen, als dies aber nicht gelang, verlor er die Geduld und entfernte sich.

Arthur war nie verträglich gewesen, und in dieser Beziehung war mit den Jahren keine Wendung zum Bessern bei ihm eingetreten; vielmehr hatte diese angeborene Eigenschaft den Charakter der Strenge angenommen.

Als Arthur die Thüre hinter sich zugemacht hatte, sah Agnes empor. Sie war allein, allein in der entsetzlichen Gewißheit, arm zu sein!

Das junge Mädchen trocknete sich die Thränen ab, um die Gegenstände in der Umgebung besser sehen zu können. Sie mußte sich überzeugen, ob sie wach sei.

Agnes war zweiundzwanzig Jahre alt. Sie war in ihrem ganzen früheren Leben auf Rosen gebettet gewesen, ohne je von einem Dorn gestochen worden zu sein. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Wunsch gehabt zu haben, welcher nicht erfüllt worden wäre, und das Wort »Verzicht« war ihr fremd. Der erste Kummer, welchen sie empfand, war durch des Vaters Tod hervorgerufen. Derselbe schmerzte sie heftiger, als man hätte glauben sollen, aber der Schmerz war nicht so tiefgehend, daß sie sich hätte abhalten lassen, den Todten anzuklagen, nachdem sie sich in ihrer Selbstsucht dazu für berechtigt hielt.

Agnes war sehr anhänglich an ihren Vater gewesen und hatte sich nach seinem Tode Gewissensbisse darüber gemacht, daß sie ihn als Tochter nicht sorgfältig verpflegt habe; allein von dem Augenblick an, wo Arthur die veränderte ökonomische Lage der Familie geschildert hatte, war der Schmerz über den erlittenen Verlust beseitigt und an seiner Stelle die Verzweiflung über das eigene Schicksal getreten.

Sie betrachtete es als einen Fehler, ja sogar als ein Verbrechen von Seiten ihres Vaters und Bruders, daß sie arm werden solle. Warum hatten dieselben ihre Geschäfte auch so schlecht geführt?

Reich zu sein hielt sie für ihr unbestreitbares Recht, und unbemittelt zu werden, kam ihr vor, wie wenn man sie ihres Eigenthums hätte berauben wollen. Sie konnte diesen harten Schlag nicht ohne Weiteres ertragen.

In ihrer Einsamkeit überkam sie jedoch ein anderes Gefühl als das des Zorns: die Furcht vor der Zukunft, worauf eine tiefe Niedergeschlagenheit folgte.

Sie hatte zu dem Bruder eilen und mit ihm über die eingetretene Veränderung weinen wollen, aber sie wurde durch das Geräusch einer aufgehenden Thüre davon abgehalten. Es trat Jemand in das außen befindliche Boudoir ein.

»Arthur!« dachte Agnes und eilte hinaus, blieb aber auf der Schwelle zwischen beiden Zimmern stehen. Es war nicht Arthur, sondern eine schöne, stattliche Dame in Trauerkleidung.

Diese regelmäßigen Züge, diese wunderbar schönen blauen Augen, der kleine, festgeschlossene Mund waren der Agnes wohlbekannt, denn dieselben waren, so lange sie sich zurückerinnern konnte, der Gegenstand ihres Neides gewesen.

Diese Dame war das einzige Wesen, gegen welches Agnes Abneigung empfand; in diesem Augenblick nahm die Abneigung einen noch feindseligern Charakter an.

Sie war ja immer noch reich, während Agnes arm geworden war.

Es war dies das erstemal, daß die beiden Cousinen sich gegenüberstanden. Sie hatten sich zwar einige Male bei Verwandten getroffen, auf Spaziergängen begegnet und einander in Gesellschaft gesehen, allein niemals mit einander gesprochen.

Agnes vermied es, mit Margarethen in direkte Berührung zu kommen. Jetzt ließ sich dies nicht mehr umgehen. Agnes war über Diejenige ergrimmt, welche ihr niemals Böses gethan hatte.

»Ich wäre schon längst hierhergekommen,« sagte Margarethe, »um unsere herzliche Theilnahme an dem Verlust auszusprechen, den du erlitten hast; allein ich und Papa sind außer Landes gewesen, als wir die Nachricht von dem Tode deines Vaters erhielten. Wir sind aber heimgeeilt, um …«

»Ueber unser Unglück zu triumphiren!« platzte Agnes heraus, während sie beinahe an den Thränen erstickte, welche ihr von verletztem Stolz ausgepreßt wurden.

»Das kann deine Meinung nicht sein, dazu bist du zu jung!« rief Margarethe aus. »Nein, Agnes, ich stehe hier als eine Freundin, deren Herz von aufrichtigster Theilnahme erfüllt ist.« Margarethe wollte ihrer Cousine die Hand geben; diese aber zog die ihrige zurück.

»Eure Theilnahme wird sogleich aufhören, wenn Ihr erfahret, daß ich nicht nur meinen Vater verloren habe, sondern daß wir um unser ganzes Vermögen gekommen sind.«

Diese letzteren Worte konnte Agnes nur mit Mühe über die Lippen bringen. Sie warf sich in einen Ruhesessel nieder und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie hätte vor Scham vergehen mögen. In ihren Augen war die Armuth nicht nur ein Unglück, sondern auch eine Schande.

»Das, wovon du sprichst, ist die Ursache gewesen, daß mein Vater so schnell nach Hause gereist ist. Er ist gekommen, um Arthur beizustehen. Agnes,« setzte Margarethe mit sanfter Stimme hinzu, »du bist nicht arm, so lange wir reich sind. Es ist ja ganz natürlich, daß Papa mit Euch theilt, was er besitzt. Mein Vater hat nur den einzigen Bruder und meine Mutter gar keine Geschwister gehabt, und Ihr seid daher unsere nächsten Verwandten. Glaubst du vielleicht, John Grattman werde zugeben, daß Ihr von Armuth heimgesucht werdet? Nein, niemals!«

Agnes blickte ihre Cousine verwundert an. Trotzdem erfaßte sie die ihr von Margarethen nochmals dargereichte Hand nicht.

Margarethens klarer Verstand konnte errathen, was im Herzen der Cousine vorging. Sie sah, daß Letztere nichts weniger als freundlich gegen sie gestimmt sei, allein Margarethe war fest entschlossen, diese Unfreundlichkeit verschwinden zu machen.

Sie setzte sich neben das junge Mädchen und sprach lange und ruhig mit demselben.

Margarethe suchte nie die Leute durch Ueberrumpelung zu gewinnen, sondern war stets bemüht, deren Verstand für das Wahre, Rechte und Gute empfänglich zu machen, und daher kam es oft vor, daß sie, obgleich ihr Herz warm schlug, kalt, verständig sprechen konnte.

Bei Agnes spielte der Verstand eine untergeordnete Rolle, während das Gefühl überwiegend war.

Margarethe verweilte lange bei der Cousine; aber als sie sich spät am Abend verabschiedete, drückte Agnes ihr die Hand, wenn auch nicht mit Herzlichkeit, so doch ohne Widerwillen.

Als Agnes wieder allein war und die nackte Wirklichkeit vor Augen hatte, kam es dem Mädchen vor, als ob es zwanzig Jahre älter geworden wäre. Das Leben hatte sich ganz anders gestaltet; Agnes selbst war aller ihrer Jugendhoffnungen verlustig geworden, und ein neuer trauriger Zeitabschnitt hatte begonnen. Derselbe war nicht bloß von Bedeutung für ihre äußere Lebensstellung, sondern sollte auch von Einfluß auf ihr Inneres sein.

Führten diese Prüfungen wohl zu einer höheren Stufe der Entwicklung oder mußte sie dadurch verbittert und schlimmer werden? Es war unmöglich, dies im Voraus zu bestimmen.

Margarethe kam täglich zu Agnes. Sie sprachen lange miteinander, aber Agnes legte noch immer gegen ihre Cousine eine gewisse Kälte an den Tag, über welche sie nicht Herrin werden konnte.

Was die Beiden mit einander zu verhandeln hatten, wollen wir vorerst unerörtert lassen.

Agnes hatte nur des Abends Zeit gehabt, ihre Cousine zu empfangen, weil Erstere genöthigt war, die Tageszeit ihrer Mutter zu widmen, welche mit der ganzen Geistesabwesenheit einer eiteln Frau die Kunde vom Stande des Geschäfts vernahm.

Die Freunde hatten sich, sobald das Gerücht im Umlauf war, daß Grattmans ruinirt seien, nicht mehr sehen lassen. Die Salons waren leer und verödet, und Florence, welche von Niemand, nicht einmal von den eigenen Kindern in Anspruch genommen wurde, erfuhr wenig Theilnahme. Agnes, welche viel über das Unglück der Familie geweint hatte, ehe die Mutter von demselben wußte, konnte nicht mehr weinen, als sie Florence klagen hörte. Die Vorwürfe, welche die Mutter gegen den verstorbenen Mann schleuderte, ließen alle Anklagen verstummen, welche Agnes sich erlaubt hatte, und sie empfand nunmehr eine heftige Erbitterung gegen Florence, welche auf solche Weise von dem Todten sprechen konnte. Oft, sehr oft, verlor Agnes die Geduld und gab ihrer Mutter Beschuldigungen zurück, welche Letztere gegen ihren Mann aussprach. Dies hatte heftige Auftritte zur Folge, und unter solchen Umständen verfloß über eine Woche.

Florence wollte Niemand aus der Verwandtschaft ihres verstorbenen Mannes sehen, also auch Margarethe nicht. Agnes hatte sie mehrere Male gebeten, sie möchte Margarethe empfangen, erhielt aber stets eine abweisende Antwort.

Was der Tochter nicht glücken wollte, gelang übrigens der Kammerjungfer, welche ihrer Frau ganz kaltblütig vorstellte, wie vortheilhaft es sei, mit dem reichen Schwager und seiner Tochter auf freundschaftlichem Fuße zu stehen. Jungfer Lotte war der Meinung, es könne die Lage der Frau sich nicht ändern, wenn sie mit dem reichen Schwager und dessen Tochter auf freundschaftlichem Fuße stehe, denn in letzterem Falle würde der Bruder des Großhändlers für die Frau und das Fräulein Alles thun.

Die Beweisgründe der Kammerjungfer waren von Erfolg, und Florence beschloß, Margarethe zu empfangen. Diese, welche noch nie mit der Frau des Onkels gesprochen und keinen Umgang mit ihr gehabt hatte, wußte nicht, wie theatralisch Florence sei. Auch war Margarethe auf ein großartiges Auftreten derselben bei der ersten Begegnung nicht gefaßt.

Sie trat in der gewöhnlichen ruhigen Haltung und mit einem Herzen voll Theilnahme bei ihrer Tante ein; aber Margarethe kam beinahe ganz aus der Fassung, als Florence auf sie zustürzte und sich ihr in die Arme warf.

Auf diese Begrüßung folgten eine Ohnmacht, dann Krämpfe, zuletzt Ströme von Thränen und Ausbrüche der Verzweiflung. Florence durchlief die ganze Stufenleiter von Gefühlsaufwallungen in der Absicht und Meinung, hiedurch einen tiefen Eindruck hervorzubringen. Sie verfehlte jedoch ihren Zweck gänzlich. Margarethe fand kein einziges Wort des Trostes für dieses Weib, welches unter so unglücklichen Umständen Komödie spielen konnte. Für wirkliches Leiden hatte Margarethe stets ein offenes Herz, aber für das traurige Bestreben, Mitleid zu erregen, fehlte ihr jede Theilnahme.

Margarethe besuchte zwar ihre Verwandten jetzt jeden Tag, aber es geschah dies nur der Tochter zu lieb.

Mit Arthur war sie noch nicht zusammengetroffen. Er war nie bei Florence oder bei seiner Schwester, wenn Margarethe Besuch bei denselben machte.

Es war am Tage vor der Gläubigerversammlung. Arthur hatte die Gläubiger von der Lage des Hauses in Kenntniß gesetzt. Er stellte seiner Mutter mehrere Male die Nothwendigkeit vor, daß sie die Erbschaft ausschlagen müsse, ohne daß es ihm gelungen wäre, sie zur Unterzeichnung der nöthigen Dokumente zu bewegen.

Florence lag auf dem Sopha in dem eleganten Salon und las folgendes Schreiben ihres Schwagers:

 

»Frau Schwägerin!

Ich hatte gehofft, daß man die Angelegenheiten ohne Konkurs hätte ordnen können, aber da bei Erledigung derselben Ihr Sohn meine Beihilfe durchaus nicht annehmen wollte, so bleibt nichts übrig, als daß Sie Alles verkaufen.

Ich habe es unterlassen, Sie zu besuchen, weil wir nie Freunde gewesen sind und mein Erscheinen Ihnen deshalb stets unerwünscht sein muß. Meine Tochter ist deshalb auch in meinem Namen gekommen. Ich bin übrigens dennoch durch die Umstände genöthigt, heute Vormittag um 11 Uhr mich in ihrer Wohnung einzufinden. Es handelt sich um den Namen Grattman, und da derselbe durch die Unklugheit meines Bruders bedeutend Noth gelitten hat, so will ich darauf achten, daß dieser Name durch kindische, selbstsüchtige Interessen von Ihrer Seite nicht noch mehr geschädigt wird. Zu diesem Zweck werden Sie eine wichtige Handlung durch Ihre Unterschrift bekräftigen.

Ihr Sohn hat Sie nicht von der Nothwendigkeit dieser Handlung überzeugen können; versprechen Sie deshalb, daß Sie einen Besuch annehmen von

John Grattman.«

 

Dieser Brief, welcher unter anderen Umständen mit der größten Verachtung von Florence entgegengenommen worden wäre, flößte derselben die Hoffnung ein, daß John die Absicht habe, die Familie gegen den Willen Arthurs vor der Demüthigung zu bewahren, ihr gesammtes Besitzthum verkaufen zu müssen.

John wollte in der That in aller Stille die Schulden seines Bruders bezahlen und dem Sohne desselben Kapital zur Fortsetzung des Geschäftes vorstrecken, und damit wäre Alles so geblieben, wie es gewesen war. Streng genommen war dies des Schwagers Schuldigkeit. Er durfte die Schwägerin wohl schadlos halten für das, was der Bruder von dem beigebrachten Vermögen seiner Frau durchgebracht hatte.

John wollte auch der ihm sonst so verhaßten Verwandtschaft in freundschaftlicher Weise entgegenkommen.

Punkt elf Uhr trat er bei seiner Schwägerin ein. Er sah steifer und ernster aus, wie gewöhnlich, was viel sagen wollte.

Florence flüsterte seinen Namen, reichte ihm die Hand dar und brach in Thränen aus. Sie verstand sich jedoch insoweit auf den Charakter ihres Schwagers, daß sie es nicht wagte, mit nervösen Anfällen zu kommen.

»Ich muß die Schwägerin bitten, ruhig zu bleiben,« sagte John mit Schärfe. »Meine Augenblicke sind gezählt; ich habe nur eine Viertelstunde Zeit übrig.«

Florence trocknete ihre Thränen und erklärte, sie werde ihn so gefaßt als nur möglich anhören.

»Ich will nicht viele Worte machen,« bemerkte John und nahm ein Papier aus der Brusttasche. »Hier ist ein Dokument,« fuhr er fort, »wornach die Erben des Klas Henrik Grattman auf die Erbschaft verzichten. Unter dieses Dokument soll die Schwägerin ihren Namen setzen.«

»Soll ich auf das verzichten, was möglicherweise übrig bleibt, nachdem die Schulden meines Mannes bezahlt sind?«

»Ja, dies soll die Schwägerin thun.« John legte ihr das Papier vor. »Wenn ein Grattman so unglücklich ist, bei seinem Tode das Geschäft in einem Zustand zu hinterlassen, wie es bei meinem Bruder der Fall ist, so können dessen Erben erst dann auf die Hinterlassenschaft Anspruch machen, wenn alle Diejenigen, welche etwas zu fordern haben, bezahlt sind. Kann die Schwägerin seine Schulden aus eigenen Mitteln bezahlen? Nein; nun gut, da bleibt bloß übrig, entweder auf die Erbschaft zu verzichten oder Alles zu verkaufen, um Jedermann zu bezahlen.«

Florence, welche von ihrem Schwager etwas ganz Anderes erwartet hatte, wurde durch dessen Worte gereizt und glaubte deshalb, sich seinem Willen nicht fügen zu sollen, besonders da sie der Meinung war, daß er etwas verlange, worauf sie nicht eingehen dürfe. Die stolze Frau verstand von der ganzen Sachlage nichts und wollte sich auch keine Mühe geben, dieselbe zu begreifen.

»Wenn der Schwager mich nöthigen will, auf das zu verzichten, was mein ist,« sagte Florence, »so bedaure ich, daß dies nicht geschehen kann. Ich habe Geld mitgebracht und will es wieder haben.«

»Will die Schwägerin nicht unterschreiben?« John faltete das Papier zusammen. »Nun, dann kommt es zum Konkurs, aber in diesem Falle darf man nicht mehr auf mich rechnen.«

»John!« rief Florence aus, welche bei dem bloßen Gedanken, die Unterstützung ihres reichen Schwagers zu verlieren, in Schrecken versetzt wurde. »Ich unterschreibe, wenn der Schwager verspricht, daß …«

»Ich verspreche nichts, bevor nicht der Name hier steht.«

John legte seiner Schwägerin das Papier hin, welche, ohne ein Wort weiter zu verlieren, ihren Namen darauf setzte.

»Von diesem Tag an,« sagte John, indem er die Unterschrift prüfte, »empfangen die Schwägerin und mein Neffe aus meinem Comptoir je 2000 Reichsthaler jährlich. Diese Summe wird Euch ausbezahlt so lang ich lebe, und nach meinem Tod wird Margarethe für die Auszahlung Sorge tragen. Leben Sie wohl.«

Als die Thüre hinter ihm zu war, sprang Florence auf und schrie zornig und betrübt:

»Zweitausend Reichsthaler! O mein Gott! ich muß verhungern und mein Leben wie eine Bettlerin durchschlagen. O, wie bin ich doch so unglücklich. Zweitausend Reichsthaler! Das hat ja nicht einmal für meine Toilette gereicht!«


Nach dieser Unterredung mit dem Schwager hatte sich Florence aufs Neue der Verzweiflung hingegeben, und es war vergeblich, sie zu beruhigen. Arthur gab sich auch keine Mühe, dies zu versuchen. Einige Zeit nach dem Besuch seines Onkels war Arthur bei der Mutter gewesen, welche ihm solche Vorwürfe machte, daß er seinen Besuch nicht wiederholte.

Arthur liebte seine Mutter nicht, hatte wenig Achtung vor ihr und war deshalb auch ganz unverträglich. Wochen vergingen, ohne daß er sie wiedersah. Eines Abends gegen das Frühjahr hin machte er einmal wieder einen Besuch bei ihr. Florence war mit Lotte allein. Agnes befand sich auf ihrem Zimmer, und es hieß, sie sei unpäßlich. Es war dem Mädchen schwer geworden, die Vorbereitungen zu der Versteigerung der werthvollen Haushaltungseinrichtung mit anzusehen. Um nicht Zeugin der Einleitung hiezu sein zu müssen, hatte sie sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Alles, was sich in demselben befand, sollte von den Gläubigern unangetastet bleiben. Sie konnte also in Ruhe gelassen werden und den Anblick der verhaßten Gestalten vermeiden, welche die einzelnen Gegenstände aufschrieben und numerirten.

»Verlassen Sie uns,« sagte Arthur zu Lotte, nachdem er seine Mutter begrüßt hatte, welche wie gewöhnlich auf einem Sopha lag. Lotte entfernte sich. Sie hatte, wie alle Uebrigen, großen Respekt vor Arthur.

»Der Onkel hat der Mama und Agnes eine Jahresrente angeboten,« begann Arthur ohne jede weitere Einleitung; »aber es versteht sich von selbst, daß Mama von Niemand außer ihren Söhnen eine Unterstützung annimmt. Das habe ich auch heute dem Onkel gesagt.«

»Meine Söhne,« bemerkte Florence mit Bitterkeit, »können ja nicht einmal für sich selbst sorgen, viel weniger für ihre Mutter. Die verdammte Unterstützung, welche deines Vaters Bruder mir auswerfen will, ist übrigens unzulänglich, so daß Ihr schließlich genöthigt sein werdet, mir einen Beitrag zu leisten, denn ich müßte sonst wegen Mangels am Nothwendigsten zu Grunde gehen.« Florence weinte.

»Mama kann gewiß nicht behaupten, daß ich gesagt habe, die Unterstützung von Seiten des Onkels sei anzunehmen,« fuhr Arthur fort. »Die Sache ist bereits abgemacht, und es kann sich nicht mehr um die Ausbezahlung dieses Betrages handeln.«

»Wird er mir sein Wort nicht halten oder bist du mein Vormund?« schrie Florence.

»Fahre nicht so fort!« unterbrach sie Arthur. »In Ehrensachen betrachte ich mich als Mamas Vormund; von solchen Dingen hat Mama nicht einmal eine blasse Vorstellung.«

»Es mag sein, aber soviel weiß ich, daß ich gegen deine Einmischung in meine Angelegenheiten protestire!« rief Florence aus.

Ohne sich an ihre Worte zu kehren, theilte ihr Arthur mit, daß sie von ihm und Tom zweitausend Reichsthaler jährlich erhalten werde, Tom habe ein so gutes Einkommen, daß er der Mutter tausend Reichsthaler auswerfen könne und er, Arthur, werde ebenfalls in der Lage sein, soviel zu verdienen, daß er die weiteren tausend Reichsthaler zuschießen, aber er sowohl als Tom müßten verlangen, daß sie die Hauptstadt sofort verlasse.

Wir wollen den Auftritt, welcher jetzt folgte, übergehen.

Florence konnte es nicht fassen, warum sie auf die zweitausend Reichsthaler, welche John für sie bestimmt hatte, verzichten sollte; sie hätte auf diese Weise ein jährliches Einkommen von mindestens viertausend Reichsthalern gehabt. Noch weniger konnte sie einsehen, wie die Söhne dazu kamen, ihr den Aufenthaltsort anzuweisen. Trotz der Unmöglichkeit, dies Alles zu begreifen, mußte sie sich endlich in Arthurs Willen fügen; aber nicht deshalb, weil es ihm gelungen wäre, sie von der Nothwendigkeit zu überzeugen, sondern einfach deshalb, weil Arthur erklärte, daß sie gezwungen sei, sich nach ihm und Tom zu richten, wenn sie keine Bettlerin werden wolle.

Als Florence endlich so weit gebracht worden war, daß sie dies einsah, fragte sie in mattem und leidendem Ton, wohin sie sich begeben solle.

»Die Mama wird auf ihre Kosten bei ihrem Halbbruder, dem Bergwerksbesitzer Harthen zu Näsbruk, sich aufhalten. Hier ist die Antwort des Onkels auf meine Anfrage, ob er die Mama und Lotte für einen jährlichen Betrag von tausend Reichsthalern bei sich aufnehmen wolle. Die Mama erhält auf ihre Kosten zwei Zimmer für sich und Lotte eines für eigene Rechnung.«

Florence las den Brief ihres Stiefbruders. Näsbruk war groß; man konnte dort herrlich leben. Zwar war die Schwägerin auf dem Lande geboren und auferzogen worden, aber sie war das Kind vermöglicher Eltern und bekannt als eine Frau, welche zu leben verstand. Der Bergwerksbesitzer hatte keine Kinder.

Florence billigte die Wahl, welche Arthur für sie getroffen hatte.

Einige Tage darauf reisten Florence und Lotte aus der Hauptstadt ab. Die schwache, selbstsüchtige Frau, welche in den Tagen des Glücks ihre Kinder verwöhnt hatte, war jetzt so mit sich selbst beschäftigt, daß sie an diese Kinder nicht einmal dachte. Sie hatte kaum gefragt, wohin Agnes sich wenden würde. Arthur hatte zwar gesagt, daß seine Schwester bei ihm bleiben werde, aber wie und aus welche Weise er sich durchzubringen gedenke, war ein Umstand, nach welchem die Mutter nachzufragen nicht für der Mühe werth hielt. Es genügte ihr, daß er ihr tausend Reichsthaler jährlich bezahlen wollte.

Arthur war sechsunddreißig Jahre alt und konnte noch etwas unternehmen.

Florence weinte zwar beim Abschied und beklagte sich darüber, Agnes nicht bei sich zu haben, aber es fiel ihr keinen Augenblick ein, auf Lotte zu verzichten und Agnes statt derselben mit sich zu nehmen. Nein, ohne Lotte konnte Florence nicht leben, aber ohne Agnes ging dies ganz gut.

Nachdem Arthur den Schlag des Reisewagens seiner Mutter zugemacht hatte, ging er zu Agnes hinauf.

Er traf sie an, wie sie am Fenster stand und dem Fuhrwerk nach blickte, welches die Frau, die ihr das Leben gegeben hatte, fortführte.

»Nun, Gott sei Dank, daß diese Last von meinen Schultern genommen ist!« rief Arthur aus und warf sich in einen Ruhesessel. Er legte die Hand auf seine Stirne und fuhr fort: »Welche traurige Zeit habe ich seit dem Tod des Vaters verlebt; welchen Demüthigungen und Anstrengungen habe ich mich unterziehen müssen! Was hat man doch für alte Geschichten, nachdem einmal der Ruin des Grattmanschen Hauses bekannt geworden, über den Todten aufgewärmt, um ihn ja recht anzuschwärzen, damit von allen seinen Fehlgriffen auch auf seinen Sohn ein Schatten geworfen werde. Tom, der schon lange von hier fort ist, ist glücklich!«

Arthur sprach mehr mit sich selbst, als mit seiner Schwester. Agnes war auch ganz stille und hatte das Gesicht von ihm abgewandt; ihre Wangen waren thränenfeucht.

»Armer Arthur,« flüsterte sie ganz leise.

Es gibt Worte, welche, wenn sie auch noch so leise ausgesprochen werden, dennoch von Denjenigen, auf welche sie sich beziehen, gehört werden. So war es auch mit diesen Äußerungen des Mitleids.

»Nicht doch, Agnes!« rief Arthur aus und entfernte die Hand von der Stirne. »Man beklagt nur den Schwachen und Denjenigen, welcher Unrecht leidet, aber nicht Denjenigen, welcher die Kraft hat, sein Geschick zu ertragen. Ich werde jetzt für dich, mich und die Mutter arbeiten und muß daher stark sein.«

»Aber, Arthur, was willst du beginnen? Hast du die Absicht, Schweden zu verlassen und in einem fremden Land eine neue Laufbahn zu beginnen?«

»Da würde man hier sagen, ich sei außer Landes gegangen, weil mein Vater keinen guten Namen hinterlassen habe. Nein, ich bleibe in meinem Vaterland und werde den Beweis liefern, wie viel ein Mann vermag, welcher sich eine unabhängige Stellung erringen will. Ich muß dem Namen meines Vaters Achtung verschaffen. Ich muß von vorn anfangen, aber wir wollen jetzt nicht von mir sprechen, sondern von dir, Agnes. Ist es wirklich deine Absicht, mit Margarethe nach Fjellboda zu gehen und bei derselben zu bleiben?«

Agnes, welche am Nähtisch saß, war mit einer Handarbeit beschäftigt. Arthur blickte seine Schwester scharf an. Die Wangen des Mädchens schienen sich zu röthen.

»So lange du mich nicht zu dir nehmen kannst, wird dies wohl der einzige Ausweg sein, den man finden kann,« antwortete Agnes. »Ich habe nicht arbeiten gelernt und kann mir somit keinen Unterhalt verschaffen.«

»Und deshalb ziehst du es vor, bei deiner reichen, von dir so verkannten Cousine das Gnadenbrod zu essen!« fiel Arthur seiner Schwester unbarmherzig ins Wort. »Wäre ich an deiner Stelle, meine beste Agnes, so würde ich lieber einen Platz als Erzieherin oder Gesellschaftsdame annehmen, statt zu irgend Jemand aus meiner Familie in einem Abhängigkeitsverhältniß zu stehen.«

»Du bist grausam, Arthur; so könnte ich mit dir nicht reden,« gab ihm Agnes zur Antwort. »Würdest du es lieber sehen, wenn ich um Lohn dienen müßte?« Bei dem bloßen Gedanken hieran brach Agnes in Thränen aus.

»Ja, lieber dies, als daß ich sehen müßte, daß du ein Faullenzerleben bei deiner reichen Cousine führst. Deine ökonomische Lage erfordert Arbeit und Entsagung, und du ziehst ein erniedrigendes Wohlleben vor.«

»Ich müßte sterben vor Scham, wenn ich genöthigt wäre, Erzieherin zu werden,« stammelte Agnes. »O Arthur, Arthur, welche Demüthigung kann wohl mit dieser Abhängigkeit einen Vergleich aushalten!«

»Ja, es ist noch viel schlimmer, das Gnadenbrod zu essen. Ich für meinen Theil halte es durchaus nicht für beschämend, daß ich die Stelle eines Comptoiristen in einer größeren Fabrik angenommen habe,« bemerkte Arthur kalt.

»Du scherzest, das kann nicht sein!« rief Agnes aus; »der Onkel hat dir ja ein Kapital zur Verfügung stellen wollen, damit du dich als Kaufmann etabliren kannst. Er wird dir zwar zur Bedingung gemacht haben, daß du dich nicht in Stockholm niederlassen darfst, allein was hat dies zu bedeuten? Warum nimmst du sein Anerbieten nicht an?«

»Weil ich Niemand etwas zu verdanken haben möchte, wenn ich die angestrebte Unabhängigkeit erlangt haben werde.«

»Aber, Arthur, ich kann mir dich nicht als einen Bediensteten bei einem einfachen Fabrikanten vorstellen.«

»Und dennoch mußt du dies. Ich habe gesagt, daß ich den Anfang machen will und gedenke, Wort zu halten. Ich will mir selbst eine Zukunft erringen und mich vom einfachen Comptoiristen zu etwas Besserem emporschwingen.«

Agnes ließ den Kopf niedersinken. Das war die herbste Prüfung, welche sie bestehen mußte.

Ihr geliebter Bruder, auf welchen sie so stolz war, sollte zum Buchhalter in einer Fabrik herabgesetzt werden! Welche entsetzliche Demüthigung! Agnes war der Meinung, alle Leute würden mit dem Finger auf sie zeigen. Sie wollte in laute Klagen ausbrechen, allein sie schwieg. Die Kälte und Schärfe in dem Tone des Bruders ließen sie vermuthen, daß es nicht räthlich sei, wenn sie ihm ihre Empfindungen mittheile.

»Wir wollen jetzt einstweilen diesen Gegenstand verlassen und nur von dir reden,« ergriff Arthur das Wort. »Glaubst du, daß ich zugeben werde, daß du zu Margarethe ziehst?«

»Zugeben?« wiederholte Agnes.

»Ich bin dein Vormund. Leider besitzest du nur deine Mobilien und deine Luxusgegenstände, welche du sämmtlich verkaufen mußt, um ein kleines Kapital zu bekommen. Ich habe also vollkommen Recht, Agnes, wenn ich sage, daß du Margarethens Anerbieten nicht annehmen darfst. Du wirst mit mir gehen.«

»Wohin?« fragte Agnes.

»In die Fabrik, wo ich angestellt bin. Ich werde daselbst eine eigene Haushaltung führen, und du kannst dich derselben annehmen. In einem Monat reisen wir ab. Du hast vier Wochen Zeit, um dich vorzubereiten. Ich habe schon Anordnungen getroffen, daß deine und meine Habseligkeiten zu Geld gemacht werden. Das kleine Kapital, welches dadurch erlöst wird, werde ich so anlegen, daß es sich Vortheilhaft rentirt und du in deinen alten Tagen, im Falle ich und Tom nicht mehr am Leben wären, vor Noth geschützt bist. Dein Piano und sonstige Luxusgegenstände, welche von keinem besondern Werth sind, kannst du behalten, aber deine Kleidung, merke es wohl, muß künftig so anspruchslos wie deine Lebensstellung sein. Verzichte deshalb auf Alles, was nicht zu dieser Stellung paßt.«

Arthur ging hinaus, ohne noch etwas beizufügen.

Agnes griff mit beiden Händen an die Schläfe, öffnete die Lippen, um ihren Gefühlen Luft zu machen und rief dann verzweifelnd aus: »Mein Bruder Comptoirist und ich seine Haushälterin. O mein Gott, laß mich sterben!«


Bei der Schiffbrücke stand ein großes, schönes Haus, welches Eigenthum von John Grattman war. Zu ebener Erde befanden sich die Comptoirräumlichkeiten; den ersten Stock nahm der Großhändler für sich in Anspruch, den zweiten bewohnten Margarethe mit Signe.

Als Arthur von seiner Schwester weggegangen war, begab er sich direkt in das Haus seines Onkels. Er ging jedoch sowohl am Comptoir, als auch an der Wohnung des Onkels vorbei und hielt erst vor Margarethens Vorthüre.

Arthur zögerte einen Augenblick, ehe er den Glockenzug anfaßte.

Zehn Jahre waren verflossen seit seiner letzten Unterredung mit Margarethe. Das Schicksal hatte es so gewollt, daß sie während dieser ganzen Zeit sich kein einziges Mal begegnet hatten. Der Grund lag darin, daß Margarethe sich stets bloß kurze Zeit in der Hauptstadt aufhielt und dann nur wenig am geselligen Leben Theil nahm.

Wenn Arthur wußte, daß sie in Stockholm war, so machte er keine Besuche bei den gemeinschaftlichen Bekannten und vermied es, in Gesellschaft zu sein.

So hatte er es seit seines Vaters Tod gehalten. Obgleich Margarethe während jener betrübten Zeit seine Schwester täglich besuchte, so wußte er doch seiner Cousine stets auszuweichen; allein jetzt suchte er selbst Diejenige auf, welche er so viele Jahre lang gemieden hatte. Man konnte auch an seinen gerunzelten Augenbrauen, den fest geschlossenen Lippen und dem Ausdruck in seinem Blick, als er die Hand nach dem Glockenzug ausstreckte, errathen, daß er einen sehr schmerzlichen Schritt zu unternehmen bereit sei; aber er schreckte niemals vor der Ausführung eines gefaßten Entschlusses zurück, wie hart es ihn auch ankommen mochte.

Die Dienerin, welche ihm die Vorthüre öffnete, führte ihn sofort in ein kleines Arbeitszimmer, wo Margarethe saß und schrieb. In zehn Jahren war aus dem jungen Mädchen eine schöne Frau geworden, welche sich in der Blüthe der Jahre befand.

Als die Dienerin den Herrn Arthur Grattman anmeldete, erhob sich Margarethe rasch und ließ den Eintretenden in ein Gesicht blicken, welches ebenso schön war als damals, wo er es zuletzt gesehen hatte; aber jetzt war der Ausdruck dieses Gesichts freundlich und mild und ließ eine Versöhnung ahnen.

»Willkommen, lieber, lieber Arthur!« rief sie und streckte ihm die Hände entgegen. Er verbeugte sich kalt, preßte einen Kuß auf eine ihrer Hände und ließ dieselbe sofort los, wie wenn er sich daran verbrannt hätte.

Seine düstere Miene verschwand, und sein sonst so widerliches Gesicht hatte etwas Weiches an sich, als er mit einigermaßen unsicherer Stimme äußerte: »Ich danke dir für deine herzliche Begrüßung und auch für alle Freundlichkeit gegen meine Mutter und meine Schwester. Erstere ist heute abgereist, und Letztere wird in einem Monat mit mir abreisen.«

»Mit dir abreisen?« Margarethe sah ihn an. »Was willst du damit sagen? Agnes hat ja versprochen, mit mir nach Fjellboda zu gehen.«

»Agnes hat da etwas versprochen, was sie nicht halten kann. Sie ist unmündig, und ich bestimme ihre Handlungen, Das übereilte Versprechen hat mich deshalb auch veranlaßt, dich zu besuchen, was ich ja seit mehreren Jahren nicht mehr gethan habe. Ich halte mich aber jetzt für berechtigt dazu.«

»Arthur, wozu diese Worte, welche …«

»An Begebenheiten erinnern, die du so wenig als ich vergessen hast,« entgegnete Arthur. »Die Erinnerung an die Ereignisse, welche mich genöthigt haben, Nygarda zu verlassen, hat mich veranlaßt, dir und Agnes entgegenzutreten. Hast du vergessen, Margarethe, was du mir bei unserer letzten Unterredung zu Fjellboda gesagt hast?«

»Vergessen habe ich es nicht, aber bereut habe ich es. Denke nicht mehr daran. Ich habe da eine Unverträglichkeit an den Tag gelegt, welche man der Jugend und der Unerfahrenheit zu gut halten muß.«

»Deine Worte wurden dir von deinem Rechtsgefühl eingegeben. Du würdest unter ähnlichen Umständen auch heute noch so sprechen. Ich habe es auch in diesen zehn Jahren keinen Tag unterlassen, mir das zu wiederholen, was du gesagt hast. Ich frage dich jetzt: glaubst du, ich sei ein Mann ohne alles Selbstgefühl, daß ich, so lange ich meine Arme rühren kann, der Frau, welche ich liebte und die mich verachtete, die Sorge um meine Schwester überlassen würde? Für so charakterlos hast du mich nicht halten können. Du hast erwartet, daß ich kommen und sagen soll: »Ich werde nie etwas von dir annehmen; du brauchst niemals Barmherzigkeit gegen Eines der Meinigen auszuüben.«

Margarethe schwieg. Sie hatte in der That etwas Aehnliches erwartet.

»Du schweigst,« versetzte Arthur. »Du hast demnach meinen Charakter ebenso beurtheilt, und ich danke dir deshalb; dies ist mir ein Beweis, daß du immer noch eine ziemlich gute Meinung von mir hast, so daß du davon ausgehst, daß ich nicht gänzlich sinken werde.«

»Arthur,« fiel ihm Margarethe in das Wort, »du wirst es, wenn du mich angehört hast, mir nicht abschlagen, daß Agnes mir anvertraut wird; du kannst mich unmöglich so sehr kränken.«

»Ich muß es thun, und du, Margarethe, solltest mich nicht zu überreden suchen, weil dies nur ein Beweis wäre, daß ich in deinen Augen ein Mann bin, welcher im Stande sein könnte, sein eigenes Selbstgefühl mit Füßen zu treten. Selbst wenn du eine göttliche Ueberredungsgabe besitzen würdest, so wäre dieselbe in dieser Richtung unnütz an mich verschwendet.«

Es entstand eine Pause.

»Wohin willst du mit Agnes?« fragte Margarethe endlich ganz betrübt.

»Wir begeben uns in eine größere Stadt, woselbst es mir gelungen ist, eine Stelle als erster Comptoirist zu erhalten. Meine Bezahlung reicht für mich und Agnes aus, wenn wir eingezogen und sparsam leben.«

Margarethe sprach kein Wort. Vielleicht verspürte auch sie eine Regung des Grattmanschen Hochmuths, als sie erfuhr, daß ihre Cousine von Andern abhängen müsse. Wer von uns Sterblichen vermag des Herzens Innerstes zu erforschen? So viel ist sicher, daß, als Arthur einige Zeit später von Margarethe Abschied nahm, sich aus den Blicken derselben tiefe Bekümmerniß absehen ließ.


Es gibt Stellen auf unserem Erdball, welche in Jahren und in Jahrhunderten sich gleich bleiben und weder durch die Zeiten, noch durch die Menschen irgend welche Veränderung erleiden. Alles bleibt da beim Alten. Wenn man solche Plätze nach zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren besucht, so haben sie noch immer dasselbe Aussehen.

Andere Plätze dagegen auf dem großen Klumpen unterliegen fortwährenden Verwandlungen. Sie sind gleichsam zum Versuchsfeld für den rastlos thätigen Menschengeist ausersehen. Da werden Häuser gebaut, Wege angelegt, Kanäle gegraben und Alles so umgewandelt, daß man selbst Berge und Wälder der Gestalt und dem Aussehen nach verändert zu sehen vermeint. Ein solcher Platz war die Umgebung von Qvarndammen.

Wer zehn Jahre lang nicht zu Nygarda und in der Fabrik unten im Thal gewesen war, hätte den Platz schwerlich wieder erkannt. Qvarndammen war früher eine unbedeutende Fabrik, welche durch eine Feuersbrunst das Wohngebäude verloren hatte, so daß das Ganze einen höchst unansehnlichen Anblick darbot. Jetzt war die frühere Weberei zu Magazinen eingerichtet und eine neue große Weberei gebaut worden, woselbst tausend Webstühle nebst den dazu gehörigen Spul- und Webmaschinen in Thätigkeit waren. An der Stelle des abgebrannten Wohnhauses stand ein großartigeres Gebäude, welches Wohnungen für die in der Weberei beschäftigten Arbeiter enthielt. Kurz gesagt: aus der kleinen Fabrik war eine der größeren des Landes entstanden, welche der ganzen Umgebung einen großartigen Anstrich gab.

»Wenn die Fabrik so groß geworden, wie ist es dann den Eigenthümern ergangen?« wird sich der neugierige Leser fragen.

Nur Geduld, wir werden uns gleich seinen jetzigen Aufenthaltsort besehen und uns mit dessen neuen Anwesen befassen; wir wollen jedoch von dem Thal aus den Weg nach Nygarda einschlagen.

Zwar ist die kurze, breite und schattige Allee, welche von der Landstraße aus zu dem Besitzthum führt, noch immer dieselbe, aber dies ist auch das Einzige, was noch aus früherer Zeit übrig ist.

Im Hofe angekommen, stehst du verwundert da und rufst aus: »Ist dies denn dasselbe Nygarda, wo wir vor zehn Jahren gewesen sind?«

Ja, das große, prächtige Wohngebäude, welches im Geschmack der Neuzeit hergestellt wurde, ist dem Aeußern nach noch ebenso stattlich, aber so verändert, daß man es kaum mehr erkennen kann.

Was ist aber aus dem großen Landsitze geworden? Zwar stehen noch die Linden und Kastanien im Hofe, allein die Ruhebänke, die prächtigen Rosenbeete, die Rabatten, die gut gepflegten Grasböden: Alles ist verschwunden und nur ein freier, mit Kies bedeckter Platz vorhanden.

Wenn man den Blick auf die hohen Spiegelglasfenster richtet, so erscheinen dieselben öde und unschön. Es finden sich keine schwellenden Gardinen und keine Topfpflanzen an diesen Fenstern, sondern man erblickt durch letztere auffallende Gegenstände, welche arbeitenden Maschinen gleichen, und aus dem Innern des Gebäudes ertönt ein eigenthümlicher Lärm und polterndes Geräusch, woraus man schließen kann, daß das mit Marmorsäulen geschmückte Gebäude in eine Arbeitsstätte umgewandelt worden ist. Man ist bei dieser Wahrnehmung sehr überrascht.

Wir eilen die breite Staffel hinauf, und was erblicken wir in diesen Sälen? Eine Baumwollspinnerei!

Es sind einige Wände niedergerissen worden, um große Säle herzustellen, worin Kämm- und Spinnmaschinen aufgestellt sind. Aber nicht genug damit, daß das Hauptgebäude ein so verändertes Aussehen zeigt: auch die beiden schönen Seitenflügel haben dasselbe Schicksal gehabt. Der eine ist zu einer Baumwollfärberei und der andere zu einer Kattunweberei eingerichtet. Außer diesen drei Gebäudetheilen sind noch drei neue, bedeutend größere vorhanden, von denen jeder an einer Alle liegt, so daß der Hof durch ein Gebäudeviereck eingeschlossen wird.

Das neue Gebäude rechter Hand enthält zu ebener Erde das Comptoir nebst den Wohnungen des Kassiers, Hauptbuchhalters und der Schreibereigehilfen der Fabriken zu Nygarda und Qvarndammen. Ueber dem Comptoir befindet sich eine kleine Wohnung, welche für den ersten Buchhalter bestimmt ist. Im Bau zur Linken wohnen der Werkmeister von Nygarda und die Schreiber; wo aber befindet sich die Wohnung des Eigenthümers?

Dem rechten Flügel zur Seite ist ein thurmartiger Bau aufgeführt, welcher die nächsten Dächer bedeutend überragt, so daß man von der Plattform desselben eine ausgedehnte Aussicht hat. Diesen Thurm bewohnt der Fabrikbesitzer Folke Richardson.

Im Thurm befinden sich in den zwei Wohnungen desselben je zwei Zimmer. Von der ersten führt eine Wendeltreppe auf die Plattform hinauf.


Es war an einem Samstag Abend im Monat April. Die Glocken zu Nygarda und Qvarndammen verkündeten, daß die Arbeiter heimgingen, um sich auf die Sonntagsfeier vorzubereiten.

Samstags wurde um sechs Uhr mit der Arbeit aufgehört. Eine halbe Stunde später war Alles ruhig und stille in der großen Fabrik, und die sogenannten Hofknechte beschäftigten sich mit der Reinigung des Hofes. Die hohen eisernen Gitterthüren waren verschlossen.

Auf der Veranda des Gebäudes, woselbst der Werkmeister seine Wohnung hatte, stand ein alter Mann, blickte auf die Allen hinunter und lauschte auf das leiseste Geräusch, das man von Weitem hören konnte. Plötzlich bemerkte er ein herannahendes Fuhrwerk.

»Gewiß ist er es,« murmelte der Mann. »Ich bin begierig, was er über meinen Nachfolger sagen wird. Ich glaube wohl, daß Aufhebens darüber gemacht wird, weil ich den Mann engagirt habe, aber was einmal geschehen ist, kann nicht mehr geändert werden.«

Das Fuhrwerk kam näher und bog in die Allee ein. Es hielt gleich darauf vor der verschlossenen Gatterthüre. Der Pförtner trat heraus und fragte, wer es sei.

»Der neue Buchhalter!« lautete die bündige Antwort. Ohne zu öffnen, wies der Pförtner dem Ankömmling das Gebäude, welches demjenigen, auf dessen Veranda der Mann stand, gerade gegenüber lag. Der Kutscher kehrte um und fuhr nach dem bezeichneten Eingang.

»Hm, hm, es ist wohl am besten, wenn ich ihn empfange,« brummte der Alte, warf einen Cigarrenstummel weg und stieg die Treppe hinab. Gravitätischen Schrittes ging er über die Allee auf den Wagenschlag zu. Aus dem Wagen stieg ein Mann, welcher in einen Pelzmantel eingewickelt war.

»Herr Grattman, wenn ich mich nicht täusche?« bemerkte der Alte.

Arthur bejahte diese Frage.

»Mein Name ist Hundern,« bemerkte der alte Herr. »Ich habe seit der Gründung der Fabrik die Stelle inne gehabt, welche sie jetzt bekleiden werden, und als Verwandter und Theilhaber Richardsons heiße ich Sie in seiner Abwesenheit willkommen.«

Die Beiden drückten einander die Hände.

Arthur wandte sich im Wagen um und half einer kleinen pelzumhüllten Frauensperson aussteigen. Als Arthur vor Hundern stand, stellte er dieselbe als seine Schwester Agnes vor. Hundern erwiderte mit einer zierlichen und artigen Verbeugung:

»Ihre Wohnung ist in Ordnung; sie steht schon seit vier Wochen für Sie bereit,« sagte Hundern zu Arthur.

»Ich bedaure, daß es so lange anstand, allein die plötzliche Erkrankung meiner Schwester machte es mir unmöglich, früher einzutreffen.«

Hundern begleitete ihn in die kleine Wohnung hinauf, woselbst er von einer Dienerin empfangen wurde; worauf Hundern sich entfernte, nachdem er in seiner etwas schwerfälligen Weise den Ankömmling in der neuen Heimath beglückwünscht hatte.

Agnes ging, ohne die Dienerin zu begrüßen, in ein Zimmer zur Rechten des Saales. Hundern hatte die Andeutung gemacht, daß dieses Zimmer für Agnes hergerichtet sei. Dieselbe bekümmerte sich wenig darum, wie es aussah und eingerichtet war, so sehr war sie von dem Gedanken eingenommen, daß sie sich jetzt in Nygarda als die Schwester des ersten Angestellten bei Folke Richardson befinde.

Agnes warf sich auf den ersten besten Stuhl nieder, bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach in heftiges Weinen aus.

Vergessen waren nun alle guten Vorsätze und alle freundschaftlichen Rathschläge, welche Margarethe gegeben hatte. Alles war vergessen bis auf die herbe, schmerzliche Erinnerung, in dem Hause zu sein, welches einst dem Vater gehört hatte und jetzt Richardsons Eigenthum war. Sie glaubte es dem Bruder nicht verzeihen zu können, daß er sie bis zum Antritt der Reise in Unkenntniß darüber gelassen hatte, bei wem er Buchhalter geworden sei. Erst bei der Ankunft in der Stadt X. hatte er zu ihr gesagt: »Du weißt, daß Nygarda schon vor acht Jahren an Richardson verkauft worden ist, welcher das Besitzthum in eine Baumwollspinnerei verwandelt hat. Das ist die Fabrik, in welche wir uns begeben werden.«

Der Eindruck, den diese Worte machten, war unbeschreiblich. Sie wußte nicht, was sie dem Bruder erwiderte, denn sie war zu erregt, als daß sie es hätte versuchen mögen, ihren Gefühlen Zwang anzuthun. In dem Augenblick, als sie auf dem ehemaligen Besitzthum ihres Vaters sich befand, glaubte sie, sie müsse vor Schmerz und Verzweiflung zu Boden sinken.

Agnes fragte sich, ob Arthur es verantworten könne, daß er sie an diesen Ort geführt habe, wo sie von Allem an das erinnert werde, was sie einst besessen und dann verloren hatte. Wenn er ihr vor der Abreise gesagt hätte: »Wir begeben uns nach Nygarda,« so wäre sie nimmermehr mit ihm gezogen.

Während Agnes auf ihrem Zimmer fortwährend weinte, wurde Arthur im Saale von der Dienerin aufgehalten, welche ihn fragte, ob sie dem Herrn Thee aufwarten solle. Sara hatte trotz ihres ländlichen Aussehens immerhin einen solchen Anstand, daß man ihr ansah, sie sei kein gewöhnliches Bauernmädchen.

Arthur richtete einige Fragen an dieselbe und erfuhr, daß sie mehrere Jahre lang bei Frau Richardson gedient habe, von welcher sie veranlaßt worden, bei dem neuen Buchhalter in Dienst zu treten, da derselbe unverheiratet sei und nur eine junge Schwester habe, welche ihm seine Haushaltung führe. Frau Richardson sei der Meinung gewesen, die neu Angekommenen bedürfen einer ordentlichen Dienerin.

Nach dieser Auskunft entfernte sich Sara, um den Thee aufzutragen.

Arthur nahm den Pelz ab und warf einen prüfenden Blick im Zimmer umher. Es war ein schöner, geräumiger Saal mit drei Fenstern, welche auf den Park hinausgingen. Durch die Lichtung, welche man in demselben gemacht hatte, erblickte man von Ferne den Berg, auf dem der Pavillon von Fjellboda stand. Der Platz in der nächsten Nähe des Baues war in ein Blumenbeet verwandelt, welches sehr üppig zu werden versprach; man hatte Sorge getragen, des Buchhalters Wohnung zu einer sehr angenehmen zu machen. Nachdem Arthur die äußere Umgebung in Augenschein genommen hatte, unterzog er das Zimmer einer näheren Betrachtung. Er musterte die Möbel, wobei ein bitteres Lächeln seine Lippen bewegte.

Die prachtvollen Stühle waren ihm wohlbekannt, denn sie standen einst in dem Speisesaal seines Vaters. Zwar war nur die Hälfte der Möbel nothwendig gewesen, um Arthurs jetzigen Salon auszustatten; vermuthlich hatte ein sonstiger Angestellter der Fabrik die andere Hälfte erhalten. Arthur näherte sich dem Zimmer, worin Agnes sich befand; aber als er ein Seufzen aus demselben ertönen hörte, wandte er sich sogleich wieder um und ging in das Zimmer, welches auf der andern Seite des Saales lag. Dasselbe war viereckig und zu Arthurs Privatzimmer eingerichtet. Er blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete sämmtliche Gegenstände, welche ihm alle sehr wohl bekannt waren.

Das Bett mit den grünseidenen Vorhängen stand einst in seinem Schlafzimmer; der kleine Sopha, der Schreibtisch, die grün überzogenen Stühle, welche in dem Arbeitskabinet standen, hatten seinem Vater gehört. Vor zehn Jahren hätte Arthur allerdings nicht geahnt, als er diese Gegenstände zum letzten Male erblickte, daß er derselben als Richardsons Buchhalter wieder ansichtig würde.

Es war ein trauriger Augenblick, weil Arthur sich an jene Zeit erinnerte, als er der Sohn eines reichen Mannes gewesen und einen unbezwinglichen Hochmuth besaß.

»Die Möbel in dieser Wohnung lassen auf eine wohlüberlegte Rache schließen,« dachte Arthur; »Richardson kennt aber den Mann nicht, welchen er durch solche Kleinlichkeiten zu demüthigen glaubt. Es ist zwar richtig, daß er Vieles zu rächen hat, allein wir sind noch immer nicht mit einander fertig. Wer des Andern Schuldner zuletzt bleibt, ist noch ungewiß.«

Er wandte sich plötzlich um und ging zu Agnes hinein. Sie befand sich in einem Eckzimmer, dessen Fenster auf Park und Hof gingen. Dieses Vorzimmer war mit dunkelrothen seidenen Möbeln ausgestattet, welche in früheren Zeiten in einem kleinen Salon zu Nygarda standen. Vor diesem Zimmer lag das Schlafzimmer der Agnes. Der Putztisch, der Schreibtisch, das Chaiselongue, die Stühle, das Bett: sämmtliche Gegenstände hatten einst Agnes gehört.

Nachdem Arthur einen Blick auf diese Sachen geworfen und einen Seufzer ausgestoßen hatte, wandte er sich an Agnes, welche in vollständigem Reiseanzug aus dem Sopha lag und weinte.

»Ich verlange gewiß nicht, daß du dich nach mir richten sollst, aber ich verlange, daß du dich nicht selbst zum Gegenstand des Klatsches hergibst, wenn die Dienerin beim Eintreten dich in diesem Zustand antrifft. Höre deshalb so lange zu weinen auf, bis die Nacht kommt, wo kein menschliches Auge deine Thränen sieht. Bete zu Gott, Agnes, daß er dir das gibt, was dir fehlt: Muth.«

Agnes stand rasch auf: sie wollte mit Vorwürfen antworten, aber Arthur ließ sie allein; sie hörte, daß er im Saal mit der Dienerin sprach. Man konnte an dem Geklapper des Geschirrs erkennen, daß Sara mit der Herrichtung des Theetisches beschäftigt war. Einen Augenblick lang war Agnes stille, dann stand sie auf und eilte in das Schlafzimmer hinein.

»Gib dich nicht zum Gegenstand des Klatsches her,« wiederholte sie und trocknete ihre Thränen ab.

Der Kummer, welcher ihr Inneres erfüllte, verschwand, als sie sich in diesem Zimmer an vergangene glückliche Zeiten erinnerte. Sie wollte wieder weinen, hielt aber ihre Thränen zurück, und es überkam sie eine Angst, welche auffallende Aehnlichkeit mit Gewissensbissen hatte.

»Armer, armer Arthur,« flüsterte sie und legte ihre Reisekleidung ab. Sie begab sich an den Spiegel. War dieses bleiche, von Krankheit und Thränen entstellte Gesicht das ihrige? Sie war noch nie schön gewesen, aber jetzt kam sie sich wahrhaft häßlich vor. Sie versuchte es, durch Auswaschen der Augen und Ordnen der Haare sich ein leidliches Ansehen zu geben und trat dann in den Saal heraus, als Sara gerade mit dem Thee hereinkam.

»Du mußt Arthurs Hauswesen so angenehm als möglich machen,« hatte Margarethe oft wiederholt und dabei stets beigefügt: »Versuche es, ihn die Demüthigung, der Diener eines Privatmannes zu sein, vergessen zu lassen.«

Jetzt war sie in dem Heimwesen, welches sie zu einem behaglichen zu machen bestimmt war. Als sie in dem Saale stand, fühlte sie große Lust, Margarethens Ermahnungen zu folgen; aber sie verfiel so schnell von einer Gemüthsstimmung in die andere, daß keine nachhaltig war.

Sie ging auf ihren Bruder zu, reichte ihm die Hand und sagte, indem sie sich vergebens zu einem Lächeln anstrengte: »Verzeihe mir alles Beleidigende, was ich in meiner Aufregung gesagt habe.«

»Ich habe es bereits vergessen,« antwortete der Bruder.

Agnes täuschte sich übrigens nicht, wenn sie annahm, daß seine Stimme kälter als sonst sei. Er drückte der Schwester ganz flüchtig die Hand, ohne Agnes, wie er sonst zu thun pflegte, auf die Stirne zu küssen.

»Willst du mir eine Tasse Thee einschenken?« sagte Arthur und stellte einen Stuhl zu der Schwester hin.

Während des Theetrinkens wurde Vieles gesprochen. Sie konnte es nicht vermeiden, daß ihr eine Thräne um die andere über die Wangen lief. Sie fühlte sich sehr unglücklich und fing abermals an, ihrem Bruder im Stillen Vorwürfe zu machen.

Warum war er nicht freundlich gegen sie gewesen, als sie reumüthig und mit den besten Vorsätzen von der Welt in den Saal herausgetreten war?

Der erste Abend würde weit angenehmer gewesen sein, als es der Fall war, wenn ihr Arthur herzlicher begegnet wäre. Streng genommen hätte der Bruder die Verpflichtung gehabt, seine Schwester über ihr unglückliches Schicksal zu trösten. Ihre besseren Gefühle kämpften heftig mit den unedleren. Der Egoismus machte sich ganz bedeutend geltend.

Wie dieser Widerstreit der Gefühle geendigt haben würde, wenn Arthur seinen Thee nicht schon vorher, ehe der Egoismus zum Durchbruch kam, getrunken hätte, ist ungewiß. Als Agnes allein war, fand sie sich sehr versucht, abermals in Thränen auszubrechen. Sie hatte das größte Mitleid mit sich selbst. Die Thränenfluten wurden jedoch durch Saras Eintritt, welche hereingekommen war, um abzudecken, gehemmt.

Agnes ging in das Schlafzimmer hinein, konnte aber nicht zur Ruhe gehen, denn sie war zwar ermüdet, allein ihr Inneres glich einer erregten See, deren Wogen, von Sturmwinden aus verschiedenen Himmelsgegenden aufgewühlt, sich aneinander brechen. Agnes setzte sich an ein Fenster und blickte trostlos hinaus in den großen Hof. Der Mond verbreitete sein bleiches Licht über den Platz, und die Schatten der Bäume hatten etwas Gespensterhaftes an sich.

Wie lebhaft kam ihr nun die Erinnerung an diesen Hof in seiner früheren Gestalt mit Grasmatten und Rosenbeeten! Damals war sie noch ein Kind. Wie war sie doch zu jener Zeit so glücklich gewesen! Da wurde allen ihren Launen und Wünschen entsprochen, und sie betrachtete das ganze große Nygarda als ihr Eigenthum. Wie oft hatte sie nicht mit angehört, daß ihre Mutter sich über die Unannehmlichkeit beklagte, die unglückselige Fabrik in der Nachbarschaft zu haben; wie oft hatte nicht die Mutter von Richardsons als von rohen, elenden Menschen gesprochen und stets dabei bemerkt, daß dieselben die Feinde der Familie Grattman seien; und jetzt? jetzt war Nygarda zu einer Fabrik eingerichtet und Agnes von dem rohen, elenden Fabrikanten abhängig!

Agnes empfand einen gründlichen Widerwillen gegen diesen Mann.

Von diesen Erinnerungen aus lenkten sich ihre Gedanken auf den Bruder. Es schien ihr, als ob hinter Arthurs Kälte sich etwas wie unterdrücktes Schmerzgefühl verberge.

Bei diesem Gedanken eilte Agnes vom Fenster weg an die Thüre des Bruders. Dieselbe war verschlossen; drinnen wurden abgemessene Schritte gehört. Agnes legte die Hand auf das Thürschloß, zog sie jedoch wieder zurück, denn es hätte vielleicht unerwünscht sein können, wenn sie jetzt zu Arthur hinein wäre.

Sie setzte sich auf die Schwelle seines Zimmers und lauschte seinen rastlosen Schritten.

Agnes war in diesem Augenblick ausschließlich von Liebe zu ihrem Bruder beseelt. Sie hätte gerne ihr Leben hingegeben, wenn sie ihm dadurch eine unabhängige Stellung hätte verschaffen können.

Während Agnes den einförmigen Schritten ihres Bruders lauschte, bedauerte sie jedes beleidigende Wort, welches ihr entfallen war und nahm sich vor, nie mehr die Bitterkeit des Kelches, welchen Arthur zu leeren sich vorgenommen hatte, zu vermehren.


Es war an einem Montag um acht Uhr. In und außer der Fabrik herrschte Leben und Thätigkeit. Im Comptoir saßen zwei Comptoiristen an ihren Pulten und arbeiteten, während die Magazinsbuchhalter aus- und eingingen.

»Papa Hundern läßt gegen seine Gewohnheit auf sich warten,« meinte der eine der Comptoiristen und warf die Feder weg.

»Er wird heute seinen Posten verlassen und denselben einem Angestellten übergeben,« gab der Andere zur Antwort und stemmte die Arme auf das Pult.

»Ich wünsche von Herzen, daß der neue Chef kein solcher Teufel ist, wie die alte Bulldogge war,« bemerkte der, welcher zuerst gesprochen hatte.

»Mein lieber Hippolitus, hast du vergessen, daß selten etwas Besseres nachkommt? Wenn man einen neuen Vorgesetzten bekommt, welcher von einer solchen Dogge ausgewählt worden ist, so kann man sicher sein, daß er noch schlimmer ist.«

»Was wird der alte Uhu wohl anfangen, wenn er seinen Wachposten verläßt?«

»Als Patron Nummero zwei auf seinen Loorbeeren ausruhen, wenn der Patron Nummero eins anwesend ist. Inzwischen kann er in der Fabrik Ordnung halten und darauf sehen, daß die Werkmeister und die Anderen ihre Schuldigkeit thun. Dazu ist er ganz geeignet, der …«

Die Thüre ging auf; die Comptoiristen nahmen ihre Federn und begannen, damit auf dem Papier zu kratzen. Hundern in Begleitung Arthurs kam herein. Mit kurzen Worten wurde den jungen Leuten mitgetheilt, daß Herr Grattman ihr neuer Vorgesetzter sei, worauf Hundern und Arthur sich in das innere Comptoirzimmer begaben.

Als der Engländer und Arthur mit ihrer Arbeit anfingen, äußerte der Letztere: »Was hat wohl den Herrn Richardson veranlaßt, mir diesen Posten anzubieten und zu geben?«

»Richardson hat Ihnen denselben nicht angeboten, denn er ist seit dem Monat Oktober in England. Mir, als ältestem Theilhaber, stand es zu, meinen Nachfolger zu wählen. Ich wählte Sie, weil Sie eine so große Geschäftsgewandtheit besitzen. Wir hatten einen Mann nöthig, welcher mehrere Jahre Chef eines größeren Comptoirs war. Man hielt Sie allgemein für einen Mann von großem Geschäftsgeist, und diese Eigenschaft verlangt man von meinem Nachfolger. Auch hatte ich einen Grund, um Sie in unser Interesse zu ziehen.«

»Mir will es scheinen, als ob Sie allen Grund gehabt hätten, mich nicht zu Ihrem Nachfolger zu wählen, wenn Sie sich erinnert hätten …«

»An Ihr Benehmen gegen Richardson,« fiel ihm Hundern ins Wort. »Bah, das waren Kindereien, welche noch nicht den Mann ausmachen. Ich habe Sie auch beobachtet und denke besser von Ihnen.«

»Glauben Sie, daß Herr Richardson Ihre Wahl billigen wird? Ich vermuthe das Gegentheil.«

»Was er dabei denkt oder empfindet, kommt bei ihm nicht weiter in Betracht,« erwiderte Hundern. »Sie sind Bureauchef in den Fabriken von Nygarda, und Richardson wird Sie nur nach Ihren Fähigkeiten beurtheilen. Damit hat sein Gefühl und das Ihrige nichts zu schaffen. Uebrigens hat Richardson den kindischen Haß, welchen er in seinen Jünglingsjahren hegte, sich abgewöhnt. Er ist Geschäftsmann und wird, nachdem er Sie zum ersten Male angetroffen hat, vergessen, daß Sie ein Grattman sind.«


Der zweite Abend, welchen die beiden Geschwister in ihrem neuen Heimwesen verbrachten, war weit angenehmer als der erste. Während der ersten Nacht war denselben Verschiedenes klar geworden, was ihnen vorher nur dunkel vorschwebte. Ab und zu hatte die leicht erregbare Agnes nach den stürmischen Ausbrüchen ihrer Leidenschaft ruhige Augenblicke. Der herzliche Wunsch, dem Bruder zu zeigen, wie sehr sie ihn liebe, hatte die Stimme ihres grollenden Egoismus unterdrückt.

Arthur hatte zwar seine kalte, steife Art beibehalten, allein er sprach doch wenigstens über gleichgültige Gegenstände, und der Tag war ohne unangenehme Auftritte vergangen, als Arthur, nachdem er seiner Schwester gute Nacht gewünscht hatte, bemerkte: »Ich hätte es beinahe vergessen, dich daran zu erinnern, daß du morgen bei Herrn Richardsons Mutter einen Besuch machen mußt, um derselben für alle die Gefälligkeit zu danken, welche sie uns erwiesen hat.« Mit diesen Worten verließ Arthur den Saal und machte seine Zimmerthüre hinter sich zu, ohne eine Antwort abzuwarten. Agnes starrte auf die zugemachte Thüre mit einem Ausdruck, wie wenn Sie befürchtet hätte, ihr Bruder habe den Verstand verloren.

»Herrn Richardsons Mutter, die Frau des ehemaligen Tischlergesellen,« stammelte sie, indem sie vor Schmerz beinahe erstickte. »Ich habe ihn nicht recht verstanden, er hat dies nicht verlangen können!«

Abermals hatte die arme Agnes alle ihre guten Vorsätze vergessen; sie eilte in ihr Zimmer hinein und machte ihrem Schmerz durch eine Flut von Thränen Luft. Agnes war überzeugt, daß ihre Liebe bald aufhören werde, wenn Arthur derartige Opfer verlange, weshalb sie es für das Beste hielt, ihm gleich zu sagen, daß sie nicht im Sinne habe, auf dergleichen ungehörige Wünsche einzugehen.

Agnes fand übrigens keine Zeit, sich ihren traurigen Betrachtungen hinzugeben, denn sie wurde durch das Geräusch eines Fuhrwerks, das in den Hof hereinkam, gestört. Obgleich sie in erregter Stimmung war, so konnte sie sich dennoch nicht enthalten, an das Fenster zu gehen und zu sehen, wer so spät ankomme.

Es war ein eleganter, mit zwei Pferden bespannter Reisewagen. Derselbe hielt am Eingange des Thurmes. Ungefähr zwanzig Leute, Arbeiter, welche in der Fabrik wohnten, Werkmeister und Schreiber, sowie Hundern versammelten sich um das Fuhrwerk, in welchem ein einzelner Herr saß. Als der Kutscher anhielt, erhob sich der Mann und blieb einen Augenblick im Wagen stehen mit dem Hut in der Hand. Agnes hörte ihn die Worte sprechen: »Guten Abend, meine Freunde, es freut mich, wieder bei Euch zu sein.« Die Arbeiter riefen Hurrah, und der Mann stieg aus dem Wagen. Er drückte den Leuten die Hände und sagte denselben einige freundliche Worte.

Der mondhelle Aprilabend ermöglichte es Agnes, daß sie deutlich bemerken konnte, wie der Ankömmling aussah. Sie hatte diese schlanke, kräftige Gestalt früher schon einmal gesehen, und damals wie jetzt trug er das dunkelhaarige Haupt hoch und sprach zu einem Haufen Arbeiter, welche ihn bedrohten, weshalb seine Stirne barsch und strenge klang.

Agnes bedeckte ihre Stirne mit der Hand. Sie schloß die Augen. Es schienen ihr der Hof von Qvarndammen mit seinen Lichtern, das die Veranda umgebende Volk und der so allein und so muthig dastehende Jüngling wieder vor den Augen zu sein.

Agnes warf sich auf den Sopha nieder und rief im Tone bitteren Schmerzens aus: »Und dieser Mann ist meines Bruders Prinzipal!« Sie schlug die Hände zusammen und fügte hinzu: »Von ganzer Seele verabscheue ich ihn. Bei Folke Richardson, einem Abkömmling des Kutschers meines Vaters, ist also mein Bruder freiwillig im Dienst! Wie ich einen Augenblick an die Möglichkeit habe denken können, mich hiebei zu beruhigen, begreife ich nicht. Ach, wenn es doch nur in meinem Vermögen stünde, diesem verhaßten Menschen irgend einen tiefen Schmerz zu bereiten, so würde ich kein Bedenken tragen, es zu thun!«

In diesem Augenblick entdeckte sie einen glänzenden Gegenstand, welcher von den Strahlen des Mondes beschienen wurde. Derselbe lag auf ihrem Toilettentisch. Was konnte es wohl sein? Sie ging darauf zu, und siehe, da lag die große Prachtbibel, welche sie bei ihrer Abreise von Stockholm von Margarethe bekommen hatte. Die Cousine hatte bei der Uebergabe der Bibel gesagt: »In den Stunden der Prüfung wirst du hieraus Ergebung lernen können.«

Agnes nahm das Buch und wunderte sich darüber, wie es auf ihren Toilettentisch gekommen war. Sie selbst hatte es ja zu den übrigen Büchern in den Schrank in der Ecke gethan. Derjenige, welcher das Buch auf den Tisch gelegt hatte, hatte dasselbe aufgemacht. Während Agnes die Bibel in den Händen hielt, fiel ein Papier aus derselben. Sie hob es auf, aber in der Dunkelheit konnte sie nicht lesen, was darauf stand. Sie zündete ihre Lampe an und blickte auf das Geschriebene. Dasselbe war von Margarethens Hand. Agnes las: »Folke Richardson rettete am 29. Juni 18.. Agnes Grattman vor dem Tod im Wasserfall zu Nygarda. Vergiß nie, daß Dankbarkeit eine unserer heiligsten Pflichten ist.«

Das Andenken an diese Handlung hatte die Zeit verwischt, aber jetzt, als Agnes daran erinnert wurde, konnte sie sich die Begebenheit wieder lebhaft vorstellen.

Es ist stets unangenehm, wenn man an Verbindlichkeiten erinnert wird, namentlich dann, wenn man der Person nicht gut gesinnt ist. Die Erinnerung an die vergessene Schuld der Dankbarkeit war denn auch nichts weniger als angenehm. Agnes warf den Papierstreifen weit weg und murmelte: »Dankbarkeit für die Rettung des Lebens, welches zu verlieren ein Glück gewesen wäre! Ich kann nun einmal keinen freundschaftlichen Gefühlen für diesen Mann Raum geben, und ich bedaure es von Herzen, daß er meinen Sturz in den Wasserfall verhindert hat.«

Agnes ging an diesem Abend mit gram- und zornerfülltem Herzen zur Ruhe. Sie hegte den Wunsch, es möchte ganz Nygarda zusammenstürzen und Alle unter den Ruinen begraben.

Agnes träumte, daß sie und Folke am Wasserfall stünden und daß sie den Folke hineinstürze. Sie wachte erschreckt in dem Augenblick auf, als sie glaubte, daß das brausende Wasser ihn fortführe und sie ihm nachrufe: »Ich verzeihe dir!«

Wir wollen nun einen Besuch im Thurme machen.


Es ist am andern Morgen in der Frühe.

Die Wohnung im ersten Stocke bestand nur aus einem Speisesaal und Janes Zimmer; im zweiten Stocke war ein Vorzimmer und Hunderns Zimmer; im dritten Stock wohnte Folke. In der Wohnung zu ebener Erde befand sich die Küche u. s. w. In keinem dieser Zimmer standen welche von den Möbeln, die mit Nygarda käuflich erworben worden waren.

Hier herrschte englische Sauberkeit und puritanische Einfachheit.

An dem großen runden Tisch im Saale saßen Jane Richardson, Folke, Hundern und tranken ihren Frühstücksthee.

Als Hundern seine zweite Tasse getrunken hatte, legte er die Serviette weg und sagte gerade heraus: »Ehe ich mich in die Fabrik hinunterbegebe, muß ich dir sagen, wer als Comptoirchef mein Nachfolger geworden ist.«

»Vermutlich kenne ich denselben nicht,« antwortete Folke, »und wenn dies auch der Fall wäre, so ist mir doch die Sache gleichgültig. Der Onkel hat ihn angestellt, und somit ist Alles gut und recht.«

Hundern lächelte zufrieden.

»Daß er seine Stelle als ein ganzer Mann ausfüllen wird, bin ich überzeugt, was nicht ausschließt, daß du, ehe du erstmals mit demselben zusammentriffst, seinen Namen erfahren sollst,« erklärte Hundern.

Folke versicherte lächelnd, daß er, wenn dies die Meinung des Onkels sei, nicht einsehe, was denselben abhalte, dies sofort zu sagen.

Hundern schwieg und blickte Jane an.

Auch Folke richtete seine Blicke auf die Mutter und war erstaunt, daß sein alter Freund Umschweife machte, wenn es sich um den Namen des ersten Buchhalters handelte. Noch mehr mußte er sich wundern, als er auf dem sonst so ruhigen Gesichte der Mutter eine Spur von Unruhe bemerkte.

»Nun, Hundern, wie heißt der Mann?« fragte Folke.

»Er heißt Arthur Grattman.«

Folke schlug mit der Hand auf den Tisch; er sprang in die Höhe und es war, als ob ein Blitzstrahl über sein Gesicht fahre, so lang er die Augen auf Hundern richtete. Der Brite schnitt sich ganz kaltblütig ein Stück Käse herunter und verschanzte sich hinter sein englisches Phlegma. Er erwartete einen stürmischen Auftritt, allein er täuschte sich.

Nachdem ihn Folke einige Sekunden betrachtet hatte, verließ Letzterer das Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen.

»Onkel,« sagte Jane, »ich glaube, wir haben zu viel gewagt. Erinnere dich, daß ich dir abrieth, Arthur Grattman anzustellen; ich kenne den Folke und weiß …«

»Nichts von der Veränderung, welche innerlich mit ihm vorgegangen ist,« unterbrach sie Hundern und stand auch vom Tische auf. »Er hat stillschweigend die Mittheilung angehört, daß sein bitterster Feind in unseren Diensten steht. Gut! nach kurzer Zeit wird Folke denselben für eine gänzlich fremde Person ansehen, ohne gegen ihn Widerwillen oder Stolz zur Schau zu tragen. Ich kenne den Jungen und habe ihn richtig beurtheilt.«

Hundern rieb sich ganz vergnügt die Hände und entfernte sich. Jane setzte den Stuhl, worauf sie saß, in Bewegung und begab sich auf diese Weise von dem Tische an das Fenster, welches auf den Hof hinausging.

Sie sah jetzt wieder beruhigt aus und sagte, als die Dienerin eintrat, man möge dafür sorgen, daß dem Buchhalter nichts abgehe.

Arthur war nicht länger als eine halbe Stunde auf dem Comptoir gewesen, als Folkes hohe Gestalt zur Thüre hereinkam. Die Schreiber verneigten sich, und auch Arthur erhob sich vom Comptoirsessel.

Trotz aller Anstrengung konnte es der stolze Arthur nicht verhindern, daß sich sein Gesicht mit einer starken Röthe überzog.

Folke, welcher die Verbeugungen seiner Comptoiristen flüchtig erwiderte, heftete seine Blicke sofort auf Arthur und ging direkt auf seinen überwundenen Gegner zu.

Als Folke unmittelbar vor Arthur sich befand, blieb er neben dem Pulte stehen und streckte die Hand aus.

»Willkommen, Herr Grattman,« sagte er, »ich hoffe, daß Ihnen Hundern gesagt hat, was für einen schwierigen Posten Sie bekleiden, würde er das verschwiegen haben, so hätte er sehr unrecht gehandelt.«

Die beiden Männer, welche seit dem Tage, als Fritz auf Arthurs Befehl den Folke durchgepeitscht hatte, nicht wieder mit einander gesprochen hatten, blickten sich fest an. Folke war um einen halben Kopf höher als Arthur, allein in diesem Augenblick trug Letzterer das Haupt gerade so hoch.

»Mit Vergnügen beglückwünsche ich meinen Principal zu seiner Rückkehr,« antwortete Arthur und fügte bei: »Wenn die Stelle hier auch noch einmal so schwierig wäre, wie es der Fall ist, so würde ich sie dennoch jeder andern vorziehen.«

Arthurs Worte und sein Anstand ließen den Weltmann erkennen.

»Das höre ich gerne,« erklärte Folke und schüttelte Arthurs Hand. »Ich bin ja bekannt als einigermaßen zu thätig, wodurch bewirkt wird, daß ich weder mir noch Andern Ruhe gönne. Einen Beweis hievon will ich damit liefern, daß wir uns sofort an das Geschäft machen.«

Die Herren gingen in das innere Comptoir, woselbst sie sich an das Pult des Herrn begaben und da den ganzen Vormittag beisammen blieben.

Arthur hatte Veranlassung, einige Bemerkungen hinsichtlich neu einzuleitender Unternehmungen zu machen, so daß Folke schließlich ausrief: »Ich sehe schon, daß Sie mir als Geschäftsmann bedeutend überlegen sind, und es ist somit das Beste, Ihnen die Einleitung aller neuen Unternehmungen ganz und gar zu überlassen!«

Arthur bekam jetzt sehr viel zu thun. Den ganzen Vormittag brachte er auf dem Comptoir zu, ohne sich zum Frühstück Zeit zu nehmen.

Der Mittagstisch war schon eine ganze Stunde gedeckt, als Arthur endlich kam.

Agnes, welche das Warten in eine äußerst schlechte Laune versetzt hatte, zeigte ihm ein saures Gesicht und rief ärgerlich aus: »Mein Gott, Arthur, wie hast du mich warten lassen. Jetzt muß man kalt essen, und dies ist sehr unangenehm. Das hättest du mir doch ersparen können!«

»Es gab sehr viel zu thun auf dem Comptoir, und ich habe nicht bälder kommen können,« gab Arthur zur Antwort; »am besten ist es, wenn du ein anderes Mal nicht auf mich wartest, sondern zu Tische gehst, wenn das Mittagessen bereit ist. Wer den ganzen Tag über arbeitet, hat immer guten Appetit, selbst wenn das Essen kalt ist.«

»Wer arbeitet?« wiederholte Agnes in gereiztem Tone; »was willst du damit sagen?«

»Was ich sage.«

»Du willst sagen, daß du arbeitest, während ich nichts thue. Du bist nicht sehr fein!«

»Aber aufrichtig, die eine Eigenschaft ersetzt die andere,« sagte er und begab sich an den Tisch.

Sara kam mit der Suppe herein, und die beiden Geschwister aßen zusammen, ohne daß ein Gespräch angeknüpft wurde. Als Arthur vom Tisch aufstand, wollte er sogleich den Kaffee haben.

»Willst du wieder in das Comptoir hinunter und mich allein lassen?« rief Agnes aus.

»Ich kann nicht helfen,« gab Arthur zur Antwort; »du weißt, daß ich für uns Beide arbeiten und auch zu Mamas Unterhalt beitragen muß: ich habe also keinen Augenblick übrig.«

»Wird dies immer der Fall sein?«

»Gewiß. Herr Richardson ist zurückgekehrt, und eine Masse neuer Geschäfte ist zu den seitherigen gekommen, so daß man es sehr eilig hat.«

»Herr Richardson!« Agnes lächelte schmerzlich; es traten ihr Thränen in die Augen. »Du hast ihn wohl getroffen?«

»Wir haben den ganzen Vormittag mit einander gearbeitet.«

»Er begegnete dir vermuthlich mit all der Ueberlegenheit, welche ein Principal seinem Untergebenen gegenüber an den Tag legen kann? O Arthur, wie konntest du dich so heruntergeben? Ich muß ja vor Scham vergehen!«

Sara brachte den Kaffee herein. Arthur ging im Zimmer auf und ab. Als die Dienerin sich entfernt hatte, blieb er vor seiner Schwester stehen.

»Agnes,« sagte er, »ich habe mich in dir sehr getäuscht. Ich beging eine große Thorheit, daß ich dich mit hierhernahm und dich nicht mit Mama zu ihrem Stiefbruder ziehen ließ. Jetzt bereue ich es.«

»Was, du bereust es?«

»Ja, wenn ich eine Ahnung davon gehabt hätte, daß du deine Lage so falsch auffassen oder so herzlos sein würdest, wie du bewiesen hast, so hätte ich dich niemals mit mir genommen. Jetzt kann man es nicht mehr ändern, weshalb es am besten ist, wenn ich dir geradezu meine Beweggründe auseinandersetze. Nicht deshalb habe ich dich zu mir genommen, weil ich das Bedürfniß gefühlt hätte, dich bei mir oder eine befreundete Person an meiner Seite zu haben, welche mein herbes Loos mir erleichtert hätte, sondern es geschah, weil ich die Nothwendigkeit einsah, dich von unserer Mutter zu trennen. Sie wird nie dazu gelangen, sich in unsere veränderte Lage zu finden und könnte folglich auch auf dich nicht in dem richtigen Sinne einwirken. Ich dachte, meine Schwester würde es nicht nöthig haben, bei ihren reichen Verwandten das Gnadenbrod zu essen; dieselbe sei jung und könne arbeiten lernen. ›Agnes hat den richtigen Verstand,‹ dachte ich weiter; ›sie ist nicht herzlos, und wenn sie mich arbeiten sieht, so will sie ihr Leben nicht in Unthätigkeit verbringen. Sie wird mir durch ihre Häuslichkeit und Fürsorge meine Last erleichtern und wird, weil sie jetzt arm ist, ein ebenso ausgezeichnetes Mädchen werden, wie sie in guten Tagen thöricht und selbstsüchtig war.‹ Das Alles hoffte ich. Du hast jedoch bewiesen, daß du als arm so selbstsüchtig bist, wie du als reich warst. Du hast mir das Leben verbittert und deine Zeit in einer bedauernswerthen Unthätigkeit verbracht. Du hast dich als gedankenlos und jedes edleren Gefühles baar gezeigt; es ist daher am besten, wenn wir ferner nicht mehr beisammen bleiben. Ich will den Versuch machen, dich in einem einfachen Pfarrhaus auf dem Land unterzubringen. Die Rente deines kleinen Kapitals reicht hin, um die Kosten deiner Kleidung damit zu bestreiten, und ich werde dafür sorgen, daß du kein höheres Kostgeld zu bezahlen hast, als ich aufwenden kann. Auf diese Art wird vermieden, daß du mir die Arbeit erschwerst, was jetzt der Fall ist. Ich kann dich versichern, daß Herr Richardson weit mehr Zartgefühl gegen mich an den Tag gelegt hat, als es bei meiner Schwester der Fall war.«

Arthur ging, und wir unterlassen jede Schilderung des Eindrucks, den seine Worte machten.


Am offenen Fenster saß Agnes und blickte in den klaren Abend hinaus. Sie saß schon einige Stunden da und wartete auf ihren vom Comptoir kommenden Bruder; allein obgleich die Sonne hinter dem Berg unterging und die Arbeit in der Fabrik aufgehört hatte, ließ sich Arthur doch nicht blicken.

Agnes sah aus dem Thurmbau einen Menschen herauskommen, welcher ausrief: »Anders!«

Ein Bursche sprang herbei.

»Du sollst dem Herrn das Reitpferd satteln!« befahl der Mann.

Agnes ließ die Gardinen hernieder, blieb jedoch hinter denselben sitzen. Eine Weile später stieg Folke zu Pferd; er sagte zu Hundern: »Ich reite nach Fjellboda.«

Nach Fjellboda! Zu Margarethen! War es schon so weit gekommen? Es hatte doch geheißen: Margarethe werde sich den Frühling und Sommer über auf dem Bergwerke zu Boda aufhalten!

Agnes verfiel in ihrem lebhaften Gedankengang auf immer neue Vermuthungen. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, was Folke denn eigentlich in Fjellboda zu schaffen habe. War er wohl mit Margarethen genauer bekannt? Schließlich dachte Agnes an das beschriebene Stück Papier in der Bibel.

Margarethe hatte Agnes an deren Verbindlichkeit gegen Folke erinnern wollen. Weshalb? Liebte Margarethe vielleicht den Enkel des Kutschers ihres Vaters?

In diesen Gedanken wurde Agnes durch Sara unterbrochen, welche sagte: »Herr Grattman läßt mittheilen, das Fräulein solle mit dem Thee nicht warten. Er kommt erst spät Abends heim.«

Die nächsten Stunden waren lang und traurig. Agnes wurde in der Einsamkeit und ohne eine befreundete Person, welche ihr die Notwendigkeit vorgestellt hätte, den verletzten Hochmuth zu beherrschen, von tiefer Niedergeschlagenheit und bitterer Unzufriedenheit mit sich selbst ergriffen. Sie hatte gut und geduldig sein wollen, vermochte dies aber nicht; sie hatte ihrem Bruder zeigen wollen, wie sehr sie ihn liebe, allein auch dazu war sie nicht fähig gewesen. Sie fortschicken, hätte soviel bedeutet, als sie noch unglücklicher machen. Sie wollte sich lieber Allem, der Arbeit und jeder Art von Demüthigung unterziehen; sie sah aber selbst ein, daß ihr dies nicht so leicht werden würde.

Es schlug zwölf Uhr. Sara hatte den Auftrag bekommen, den Thee abzutragen, ohne daß Agnes von demselben zu sich genommen hatte.

Mitternacht und Arthur noch nicht da! Wo hielt er sich nur so lange auf? Sie ging in sein Zimmer hinauf, denn er konnte ja vielleicht von ihr unbemerkt in dasselbe eingetreten sein. Nein, das Zimmer war leer, still und öde.

War Arthur auch nach Fjellboda gefahren?

Jetzt ertönte die Glocke am Gatterthor. Agnes eilte in das Vorzimmer. Das Thor wurde geöffnet, und Folke ritt in den Hof herein. Er kehrte von seinem Besuch bei Margarethen zurück. In demselben Augenblick wurden Tritte auf der Treppe gehört, die hinauf in das Comptoir führte.

»Das ist er!« rief sie aus und eilte in den Saal hinaus.

Der Mond schien mit seinen blassen Strahlen durch die Fenster; die Thüre wurde sehr vorsichtig geöffnet; Arthur kam herein.

Agnes hatte heftiges Herzklopfen.

Des Bruders Angesicht war blaß, und ein tiefer Zug von Kummer war darauf bemerkbar. Noch nie zuvor hatte Agnes ihren Bruder so niedergeschlagen gesehen. Erbitterung, Stolz, Ernst und Strenge hatte sie oft aus diesen Zügen gelesen, aber noch nie einen solchen Ausdruck des Schmerzes.

»Was, Agnes, du bist noch nicht zu Bett gegangen?« rief Arthur, als er der Schwester ansichtig wurde.

»Ich konnte nicht schlafen, ohne dich zuvor gesehen zu haben,« flüsterte Agnes und ergriff seine Hand. »Verzeihe mir,« setzte sie bittend hinzu; »schicke mich nicht fort von dir; lasse mich hier bleiben. Ach, Arthur, wenn ich nicht gewesen bin, wie ich hätte sein sollen, sondern das Gegentheil davon, so urtheile nicht zu streng; habe Nachsicht mit meinen Fehlern mir zu lieb. Du bist das einzige Wesen, welches ich liebe, und obgleich du keinen Grund hast, an meine Anhänglichkeit zu glauben, so habe wenigstens Nachsicht mit mir. Ich liebe dich tausend, tausendmal mehr als mich selbst.«

Sie schmiegte sich an seine Brust und weinte im Stillen. Agnes hätte ohne alle Bedenken ihr eigenes Glück ihrem Bruder opfern können.

Arthur legte seinen Arm um ihren Leib und drückte ihr schweigend einen Kuß auf die Stirne.

Es gab nur Ein Herz, welches ihn liebte, nur Ein Wesen, welchem er weit mehr war, als lediglich eine materielle Stütze.

Sie verharrten lange in dieser Haltung: er, welcher die Schwester an seine Brust gedrückt hielt und sie, welche an seinem Busen weinte.

Diese Augenblicke waren traurig und glücklich zugleich.

Die Herzen des Bruders und der Schwester hatten sich zu einander gefunden und verstanden sich: dies war ein Glück, wodurch die Prüfung gemildert werden mußte.

Arthur unterbrach zuerst das Stillschweigen. »Komm, Agnes, setze dich hierher,« sagte er und führte sie an das Fenster. »Ich will dir etwas sagen, was du in Erwägung ziehen mußt.«

Agnes setzte sich.

»Niemand weiß besser als ich,« fuhr Arthur fort, »was du für ein gutes Herz hast, wenn du der Stimme desselben gehorchst; aber es weiß auch Niemand besser, welchen schwachen Charakter du besitzest.«

Agnes machte eine abwehrende Bewegung; er fuhr jedoch fort: »Du mußt mich aussprechen lassen. Also, weil ich dich kannte, hätte ich nie den Versuch machen sollen, dich mit hierher zu nehmen und dir die Prüfung, eine untergeordnete Stellung einzunehmen, aufzuerlegen, und dies auf einem Platze, wo du als Kind unabhängig warst! Ich hätte einsehen sollen, daß du eines stählernen Willens ermangelst und daß demnach dieser Wille in Unglück nicht gehärtet werden kann. Du hast ein Herz von Wachs, nicht von Gold, welches somit die Feuerprobe nicht bestehen kann. Weine nicht, mein armes Schwesterchen; ich gebe nicht dir, sondern Mir die Schuld. Ich habe Unrecht gehabt und bitte dich, mir meinen Mißgriff zu verzeihen. Zu meiner Entschuldigung mag es dienen, daß ich der Meinung war, der Grundzug deines Charakters stimme mit dem meinigen überein. Wenn dies der Fall gewesen wäre, so hätte der Wechsel unseres Schicksals auch eine Umwandlung in deinem Innern hervorgebracht. Du hättest mir in dem Kampf gegen das Geschick die Hand geboten und mit mir eine künftige Unabhängigkeit angestrebt, und zwar ohne Klagen, ohne Thränen. Nun habe ich mich überzeugt, Agnes, daß du zu dem bevorstehenden Kampf nicht gerüstet bist. Ich weiß, daß du mich liebst, und diese Gewißheit ist mir von Werth, aber ich weiß auch, daß du, trotz deiner Liebe, nie die Qual ertragen kannst, hier zu sein. Du wirst dich zu Tod grämen, und deshalb mußt du fort von hier. Ich werde dich auf meine Kosten bei Margarethen unterbringen, und da wirst du dann in meiner Nähe sein.«

»Arthur, höre mich an!« rief Agnes aus. »Ich will hier bleiben. Wenn du mich heute fortjagen wolltest, so würde ich morgen wiederkommen. Ich will nirgends sein als bei dir.« Agnes sprach mit klarem und bestimmtem Ausdruck.

»Vergiß nicht, Agnes, daß du es selbst so haben willst, sowie daß ich eine Veränderung wünschte und daß dir die Wahl zwischen einer abhängigen Stellung hier und einer unabhängigen zu Fjellboda frei stand.«

»Ich werde dies nicht vergessen, und du wirst niemals Ursache haben, mich der Charakterschwäche zu zeihen.«

Sie schmiegte sich an ihn an, und er zog sie näher an seinen Busen. Der Mond allein war Zeuge des Versprechens, welches Agnes gab.


Wir wollen nun sehen, was Folke Richardson in Fjellboda zu thun hatte.

Es war acht Uhr Abends vorüber, als er den Hügel hinaufritt und in dem hinter dem Wohnhause belegenen Hof des Stalles abstieg.

Als Folke zum Hofthor hereinkam, war ein alter Diener damit beschäftigt, die Wege mit dem Rechen in Ordnung zu bringen.

»Guten Tag, lieber Olle; es ist schon lange her, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben,« sagte Folke und nickte dem Alten vertraulich zu, welcher mit einer sehr freudigen Miene erklärte, es hätte kein willkommenerer Gast zu der Pflegemutter kommen können, als der Herr.

»Ist deine Pflegemutter zu Hause?« fragte Folke.

»Sowohl diese, als das Fräulein; sie sind im Pavillon,« gab Olle zur Antwort und deutete die Richtung mit dem Rechen an.

Folke schlug die angedeutete Richtung ein. Er hatte ein ruhiges Aussehen und zeigte nicht die geringste Spur von Ungeduld darüber, ob er Diejenige, welche er besuchen wollte, auch gewiß antreffen würde.

Er trat in den Pavillon ein. Margarethe richtete sich aus ihrer halbliegenden Stellung empor und Signe stieß einen Schrei freudiger Ueberraschung aus, als sie ihn erblickte.

»Willkommen, willkommen nach der langen Reise,« sagte Signe und gab dem Eingetretenen die Hand.

Der junge Fabrikant antwortete mit einer einfachen und herzlichen Begrüßung.

Zwar hatten die Jahre das Eckige an Folkes Charakter abgeschliffen und ihm jeden Anstrich von Widerwärtigkeit genommen; allein er hatte gleichwohl die Steifheit beibehalten, welche ihm eigentümlich war und es ihm unmöglich machte, als einnehmender lediger Mann aufzutreten.

Wenn man seine kräftige Gestalt und sein offenes, freimütiges Gesicht betrachtete, so mußte man annehmen, daß sein Charakter mit seinem Aeußern in voller Uebereinstimmung sich befinde.

Nachdem er zu Signe gesagt hatte, daß es ihm eine wahre Freude sei, sie wiederzusehen, wandte er sich an Margarethe.

»Ich bin gestern etwas spät nach Hause gekommen,« sagte er, »und befinde mich jetzt hier, um dir meine Aufwartung zu machen. Es war mir leid, daß ich dies nicht früher habe thun können. Ich hatte das Verlangen, dich wiederzusehen, Margarethe.«

Er hatte eine kurze Pause gemacht, ehe er das Wort »Du« aussprach und sie dabei mit fragendem Lächeln angesehen.

»Und ich, ich brannte vor Ungeduld, weil Folke so lange ausblieb,« antwortete Margarethe. »Ich sollte dich schelten, allein ich beschränke mich darauf, dich herzlich willkommen zu heißen.«

»Danke!« Folke küßte ihr die Hand.

Einige Minuten lang wurde nur von seiner Reise, seiner Mutter und der Fabrik gesprochen. Folke unterbrach endlich dieses Gespräch kurzweg mit den Worten: »Weiß Margarethe, wer Bureauchef zu Nygarda geworden ist?«

»Es ist mein Vetter Arthur,« antwortete sie lächelnd. »Was hältst du davon, daß Hundern ihn angestellt hat?«

»Bei der ersten Kunde wurde ich böse und gleich darauf betrübt darüber. Ich kann es jetzt noch nicht begreifen, wie er es über sich bringen konnte, die Stelle anzunehmen.«

»Um aufrichtig zu sein,« sagte Margarethe, »muß ich gestehen, daß auch ich es nicht begreife. Mein Vater erbot sich, dem Arthur zu helfen, wenn er sich als Großhändler etabliren wolle, allein er schlug das Anerbieten aus und nahm die Stelle in der Fabrik von Richardson u. Cie. an. Bist du auch schon mit ihm zusammengetroffen?«

»Wir haben den ganzen Vormittag mit einander gearbeitet.«

Margarethe warf einen Blick auf Folke, welcher nach kurzer Pause hinzufügte: »Margarethe will wissen, was ich empfand, als ich meinen ehemaligen Feind als Angestellten der Fabrik vor mir hatte, deren erster Theilhaber ich bin.«

»Allerdings!«

»Wenn dies vorgekommen wäre, ehe ich Margarethens Bekanntschaft gemacht hatte, so ist es höchst wahrscheinlich, daß mein Hochmuth sich an seiner Demüthigung ergötzt hätte; jetzt aber hegte ich nur den Einen Wunsch, eine Gelegenheit zu bekommen, um Arthur Grattman die Verbindlichkeit entgelten zu lassen, in welcher ich zu seiner Cousine stehe.«

»Kommt Folke wieder auf dieses abgedroschene Kapitel?« unterbrach ihn Margarethe. »Habe ich dir nicht verboten, hierüber zu sprechen?«

»Du verstehst mich falsch,« versicherte Folke. »Ich dachte nicht an die materielle Verbindlichkeit, sondern an die moralische.«

Dies war etwas ganz Neues. Margarethe richtete ihre blauen Augen auf ihn. »Nun, laß hören, worin diese Verbindlichkeit besteht. Ich kann dies nicht verstehen.«

»Kann dies Margarethe nicht?« Er blickte fest in die Augen, deren Blick er früher kaum aushalten konnte.

»Begreift Margarethe nicht, wieviel ein junger Mann der Frau schuldet, welche ihn durch ihren Verstand und ihr edles Herz einsehen lernt, daß es im Leben höhere Ziele anzustreben gibt, als zeitliche Vortheile; einer Frau, welche ihn aus einem rohen, übermüthigen und gewinnsüchtigen Egoisten zu einem Manne macht, welcher sein Inneres ernstlich von den Erbsünden des Hochmuths und der Selbstsucht frei machen will? Wenn ich in diesem Augenblick ein Mann bin, welcher bestrebt ist zu verstehen, was das Wort ›Christ‹ bedeutet, so habe ich dies Margarethen zu verdanken, denn durch dich habe ich meine eigenen elenden Leidenschaften verachten gelernt. Und wie ist es daher möglich, Margarethe, dir die Freundschaft zu vergelten, welche du mir seit zehn Jahren so reichlich hast angedeihen lassen? Wenn ich mein ganzes Leben dir opfern wollte, so wäre dies nicht hinreichend, um meine Schuld zu tilgen!«

Bei den letzten Worten wechselte Margarethe die Farbe, sagte jedoch mit anmuthigem Lächeln: »Die Schuld, von der Folke jetzt redet, ist ganz und gar eine eingebildete. Wenn wir von Einwirkung sprechen, Folke, so fürchte ich, daß unsere Rechnung sich anders stellt und ich deine Schuldnerin bin. Du ahnst nicht, wie sehr du auf mich eingewirkt und zur Entwickelung meiner edleren Gefühle beigetragen hast. Frage Signe: sie wird dir's sagen können. Ich bin jedoch gerne in der Schuld bei Folke Richardson, und jetzt, nachdem ich meine Meinung gesagt habe, wollen wir auf Arthur zurückkommen. Hast du seine Schwester gesehen?«

»Noch nicht. Ich habe zwar gehört, daß er eine Schwester bei sich hat, allein ich habe auch gehört, daß sie ihre Zimmer nie verläßt.«

Folke und Margarethe sprachen lange von den beiden Geschwistern, und es war elf Uhr vorüber, als Folke Fjellboda verließ. Als er zu Pferde stieg, klopfte Margarethe das schöne Thier auf den Hals, während sie dem Herrn mittheilte, daß sie am nächsten Tage Frau Richardson besuchen wolle.

»Und ich werde gleichzeitig Agnes besuchen,« fügte Margarethe hinzu. »Du brauchst es übrigens nicht auszuplaudern,« setzte sie bei mit dem Anfügen: »Gute Nacht und Dank für diesen Abend.«

»Gott segne dich, Margarethe,« antwortete Folke. Er nahm den Hut ab und neigte sein entblößtes Haupt, worauf die blassen Strahlen des Mondes fielen, vor ihr. Er war in diesem Augenblick ein schöner, stattlicher Mann. Jetzt zog er den Zügel an, und das Pferd galoppirte fort mit seinem Herrn.

Margarethe blieb stehen und blickte ihm nach.

»Immer noch derselbe, wie vor zehn Jahren. Freunde, nichts Anderes als Freunde!« flüsterte Margarethe.

»Und dies ist am besten,« sagte Jemand hinter ihr.

»Du hast Recht, Signe, so ist es am besten. Wir wollen hereingehen.«

»Nur einmal in seinem Leben kann ein Mann eine solche Frauensperson wie Margarethe kennen lernen,« dachte Folke, als er heimritt. »Wenn ich auf dem ganzen Erdenrund suchte, so würde ich ihres gleichen nicht finden. Ist wohl ein Mann würdig, ihr Ehegatte zu werden? Nein, und deshalb ist sie im Alter von neunundzwanzig Jahren noch ledig. Sie hat noch nie geliebt. Alle die Männer, welche um die Gunst des reichen Mädchens sich beworben haben, waren gar zu untergeordnet, und wird sich wohl Einer finden, welcher ihr überlegen ist? Ich glaube nicht. Wir können daher Freunde und nur Freunde bleiben. Ich bewundere sie zu sehr, als daß ich es wagen könnte, sie zu lieben, und doch kann ich, seitdem ich sie kennen gelernt habe, mein Herz keiner Andern weihen: es ist wohl am besten so!«

Folke gab ungeduldig dem Pferde die Sporen, und vorwärts flog der feurige Renner.


Am folgenden Morgen sah es in der Wohnung des Buchhalters aus, wie Sonnenschein nach lange andauerndem Regen.

Als Arthur in aller Frühe in den Saal herauskam, traf er Agnes bereits damit beschäftigt, ihm sein Frühstück zu serviren. Es waren zwar noch Spuren der Thränen des letzten Abends sichtbar, allein sie blickte den Bruder so liebreich an und ihre Lippen umschwebte ein so freundliches Lächeln, daß sie der Sonne glich, welche nach einem Gewitter wieder aus den Wolken hervorbricht. Auch Arthur sah nicht mehr so widerwärtig aus und sein Gruß war herzlicher.

»Du wunderst dich wohl darüber, wo ich gestern Abend so lange gewesen bin,« sagte Arthur.

»Ich ziehe dies nicht in Abrede,« entgegnete Agnes. »Du warst vielleicht in Fjellboda?«

»Dorthin ist Richardson geritten,« antwortete Arthur gleichgültig. »Ich hatte auch beabsichtigt, dorthin zu gehen, bin aber jetzt sehr zufrieden, daß ich davon abgehalten worden bin.«

»Nun, bei wem bist du denn gewesen?«

»Bei Frau Richardson.«

»Ach!« Agnes führte die Tasse an den Mund. Es fiel ihr ein, daß ihr Bruder schon früher den Wunsch ausgesprochen hatte, sie möchte die alte Frau besuchen.

»Ich hielt es für eine große Unhöflichkeit, daß wir sie noch nicht besuchten, um ihr für das von ihr uns gegenüber an den Tag gelegte Wohlwollen zu danken. Ich ersuchte daher Hundern, mit mir zu derselben zu gehen, nachdem der Sohn weggeritten war.«

»Nu – un?« Agnes wagte nicht, beizufügen: »Wie benahm sich diese Frau gegen den Buchhalter ihres Sohnes?«

»Die beste Antwort auf deine Frage ist es, wenn ich dir sage, daß ich mich bei der alten Dame bis um halb zwölf Uhr aufhielt. Als ich mich endlich entfernte, mußte ich einen Spaziergang machen, um darüber nachzudenken, was sie Alles gesagt hatte. Sie ist eine ausgezeichnete Mutter gewesen; schade, daß sie nicht einige Kinder gehabt hat!«

»Aber der Sohn da?«

»Ist ihr Stiefsohn.«

»Ach, das habe ich gehört!« rief Agnes erröthend aus. Die Erinnerung an das Gerücht, daß ihr verstorbener Vater die Todesursache der Mutter Folkes gewesen sei, tauchte plötzlich in der Erinnerung des Mädchens auf.

»Ist Frau Richardson alt?« fragte Agnes.

»Siebenundvierzig Jahre. Sie ist seit fünfzehn Jahren gelähmt.«

Arthur erhob sich vom Tisch, nickte seiner Schwester zu und nahm seine Mütze, um sich ins Comptoir zu begeben.

»Arthur, ich möchte eine Frage an dich richten.«

Das Gesicht der Schwester ließ deutlich erkennen, daß sie einen inneren Kampf bestehe.

»Ich muß fort!«

»Willst du immer noch, daß ich einen Besuch bei Frau Richardson mache?«

»Ob ich will? Nein, aber es würde mich freuen, wenn du es thun würdest.«


Um zwölf Uhr bemerkte Arthur durch das Comptoirfenster, daß Agnes sich nach dem »Herrenthurm« begab.

Es war dies das erstemal, daß Agnes außerhalb ihrer Wohnung sichtbar war.

Als Agnes in den Saal des Thurmes eintrat, saß Jane auf dem gewöhnlichen Platz an einem der Fenster.

Agnes trat ein in der Erwartung, daß sie in der Richardsonschen Wohnung die prächtigsten Möbel ihrer Eltern antreffen würde; sie war jedoch sehr überrascht, als diese Vermuthung sich nicht bestätigte.

»Fräulein Grattman!« sagte Sara, als sie ihre junge Herrin einführte.

Jane sah mit fröhlichem Gesicht von ihrer Arbeit auf, wie wenn sie erwartet hätte, eine liebe Freundin zu erblicken; als sie aber Agnes gewahr wurde, begriff sie sofort, wer vor ihr stand.

Sie grüßte mit jener stillen Freundlichkeit, welche ein hervorstechender Zug in Janes Wesen war und demselben einen so großen Reiz verlieh. Jane sagte einige verbindliche Worte über das Vergnügen, Agnes kennen zu lernen. Vom Trieb ihres Herzens und einem angeborenen Zartgefühl geleitet, trat Jane stets wie eine gebildete Frau auf.

Agnes war von dem Benehmen der Engländerin überrascht. Alle ihre hochmüthigen Gefühle traten zurück, weil dieselben durch nichts verletzt wurden und Agnes weniger steif war, als bei der Begrüßung. Sie hätte keinen Anstand genommen, den ihr von Jane angebotenen Stuhl anzunehmen, wenn nicht Margarethe, eine blühende, stattliche, blendende Schönheit, ganz ungenirt in den Saal eingetreten wäre.

Agnes empfand eine solche Abneigung, daß dadurch das Andenken an alle Güte und Freundlichkeit, welche ihr die Cousine in den Tagen der Prüfung erwiesen hatte, in den Hintergrund trat.

Margarethe begrüßte Jane mit Herzlichkeit, gab dann der Agnes die Hand und sagte derselben, daß sie den Tag über bei ihr bleiben werde, nachdem sie, Margarethe, mit Frau Richardson einen Augenblick gesprochen habe. Margarethe theilte Agnes weiter mit, daß Frau Richardson die beste Nachbarin sei, welche man finden könne und sprach die Hoffnung aus, daß Agnes dieselbe Güte von Seiten Janes werde erwarten dürfen, welche die Letztere stets gegen Margarethe an den Tag gelegt habe.

Diese Worte der reichen Cousine machten auf Agnes einen höchst unangenehmen Eindruck.

Nach einer kurzen Weile erhob sich denn auch das junge Mädchen, um fortzugehen; allein Frau Richardson bat dasselbe, da zu bleiben, und Agnes wurde gegen ihren Willen hiezu veranlaßt, weil Folke im nämlichen Augenblick in den Saal eintrat.

Die Mutter stellte Fräulein Grattman vor.

Margarethe und Agnes standen neben einander. Erstere war hochgewachsen, schlank und schön ungeachtet ihrer neunundzwanzig Jahre; Letztere war klein, zart, bleich und häßlich trotz ihrer schönen braunen Augen und ihrer Jugend. Aeußerlich sah sie finster aus, und von Charakter war sie unfreundlich.

Margarethe war ihrem äußern und innern Wesen nach licht und lächelnd.

Folke begrüßte Agnes, wie man eine fremde Person begrüßt und ließ seine Blicke flüchtig über dieselbe gleiten, worauf er sich zu Margarethen wandte.

Seit zehn Jahren hatte er Gelegenheit gehabt, sie zu sehen; zehn Jahre lang hatte man ihm wiederholt, daß sie schön sei, und seit zehn Jahren war er der Einzige gewesen, welcher dies nicht einsah. Jetzt aber, als er Margarethens häßliche, abstoßende Cousine, welche neben Ersterer stand, ins Auge faßte, hätte er ausrufen mögen: »Wie ist doch Margarethe so schön!« Bisher war er mit Blindheit geschlagen gewesen, jetzt aber fielen ihm die Schuppen von den Augen.

»Wie freut es mich, Margarethe in Nygarda zu sehen,« sagte er; »ich hätte nicht zu hoffen gewagt, daß du so bald herüberkommen würdest.«

Der Ton, in welchem Folke mit Margarethen sprach, war sehr abweichend von dem, womit er den Wunsch ausdrückte, daß es Agnes zu Nygarda gefallen möge.

Margarethens Wangen nahmen auch eine lebhaftere Farbe an, als sie zur Antwort gab: »Und doch habe ich gestern versprochen, recht bald hierherzukommen. Wann hat Folke meine Worte bezweifelt?« Margarethe lächelte, und Folke erklärte, daß er es nicht gewagt habe, das, was Sie am vergangenen Abend gesagt, für ein Versprechen anzusehen.

Agnes mußte sich über die Vertraulichkeit, welche zwischen Folke und Margarethen herrschte, wundern. Auch entging es Agnes nicht, daß Folke ihre Cousine mit einem Ausdruck der Bewunderung betrachtete, und im Verlauf der wenigen Minuten, während welcher Folke da blieb, bekam Agnes die feste Ueberzeugung, daß der junge Fabrikant in Margarethe verliebt sei.

Folke sprach zwar auch mit Agnes, allein er wandte sich dabei eigentlich an Margarethe, und als er endlich von den jungen Damen Abschied nahm, bat ihn Margarethe, recht bald wieder nach Fjellboda zu kommen.

Folke erklärte mit Wärme, daß es nicht lange anstehen werde, bis er aufs Neue ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehme.

Agnes, welche von sehr unfreundlichen Gefühlen gegen den Prinzipal ihres Bruders beseelt war, hatte Vieles an seinem offenen Wesen, das ihr beleidigend vorkam, auszusetzen, obgleich sie zugeben mußte, daß man nichts Ungehöriges in seinem Gespräch finden konnte.

»Es scheint übrigens,« meinte sie, »daß Folke mit Niemand, als mit Arbeitern umzugehen gewohnt ist.« Agnes fand es merkwürdig, daß ein Mann, wie Richardson, von stattlichem, schönem Aussehen sein könne; es sei zwar Vieles an ihm auszusetzen, allein immerhin sehe er ganz hübsch aus. Die Augen seien zu scharf, seine Stirne sei zu sehr gewölbt, der Zug um den Mund zu ernst, die Schultern zu breit, die Hände zu groß und das braune Haar zu gelockt, und doch würde sein Kopf einem Künstler und nicht einem Webereibesitzer anstehen, behauptete Agnes.

Kurz nachdem Folke sich entfernt hatte, erhob sich Agnes, und diesmal wurde sie von Frau Richardson nicht zurückgehalten. Margarethe verabschiedete sich denn auch.

»Nun, Agnes,« sagte sie, »gehe ich mit dir und esse bei dir zu Mittag. Wir haben viel mit einander zu reden.«

Agnes sprach die Befürchtung aus, daß Margarethe schlecht dabei fahren werde, wenn sie mit ihnen zu Mittag essen wolle, da sie so dürftig leben müßten.

»Ihr lebet nicht dürftiger, als ich und Richardson,« erklärte Margarethe; »und trotzdem, daß du so wenig gastfreundlich bist und mir kein Mittagessen verabreichen willst, mußt du es dennoch thun.«

Als Margarethe in der Wohnung von Arthur und Agnes angekommen war, ging sie überall herum und erklärte, daß sie diese Wohnung so angenehm und schön finde, daß Agnes sich gewiß darin wohlbefinden werde, namentlich da zu allen diesen äußerlichen Bequemlichkeiten der Umstand hinzukomme, daß sie diese Wohnung mit ihrem Bruder theile und daselbst für ihn und nur für ihn thätig sein könnte.«

Wenn Margarethe Tags zuvor so zu Agnes gesprochen hätte, so wäre zu befürchten gewesen, daß das arme Mädchen in Thränen und in Klagen über die Herzlosigkeit ihrer Cousine ausgebrochen sein würde; jetzt aber hörte Agnes stillschweigend zu, wenn auch nicht ohne Groll im Herzen.

Margarethe war übrigens scharfsinnig genug, um zu ahnen, was Agnes empfand und richtete sich deshalb in ihren Reden auch darnach. Weit entfernt, den Gegenstand zu verlassen, sprach sie weiter über denselben, jedoch auf eine so freundliche Art, daß es ihr nach und nach gelang, das Gefühl der Erbitterung zu beschwichtigen und Agnes zu nöthigen, die Lichtseiten der Gegenwart anzuerkennen.

Wenn man längere Zeit nur sich selbst und seinem Unmuth überlassen war, so ist es stets angenehm, mit Andern zu reden und an etwas Anderes denken zu können, als an das eigene Ich. Das war auch der Grund, warum Agnes ihrer Cousine geduldig zuhörte.

Arthur, welchem es ganz und gar nicht bekannt war, daß Margarethe bei Agnes war, trat um die Mittagszeit in den Saal. Er traf Margarethe allein an einem Fenster sitzend an.

»Margarethe!« rief Arthur aus und blieb stehen.

»Wunderst du dich darüber, daß ich bei deiner Schwester auf Besuch bin?« fragte Agnes und ging ihm entgegen.

»Ja, dies wundert mich in der That. Daß du Agnes in den Tagen der Trübsal, als man nicht wußte, worauf sie rechnen konnte, besuchtest, war deinem Charakter entsprechend; ebenso, daß du ihr, als sie keine eigene Heimstätte hatte, die deinige anbotest; allein das wundert mich, daß du sie besuchst, nachdem die Würfel gefallen sind und ich der Diener eines andern Mannes bin.«

»Und weshalb?«

»Weil du stets einen hohen Grad von Zartgefühl an den Tag gelegt hast.«

»Habe ich denn dieses Gefühl verläugnet?«

»Beinahe. Du bist reich und unabhängig, Agnes dagegen arm und abhängig. Nun liegt in deinem Besuch hier eine herablassende Güte, welche beinahe verletzend ist.«

»Genug, Arthur!« unterbrach ihn Margarethe. »Ich bin die nächste Verwandte von dir und Agnes; es gehört nicht hierher, wer von uns reich oder arm ist. Wir sind Nachbarn, und ich bin gekommen, um dich und Agnes zu fragen, ob Ihr mit mir als mit einer Freundin und nahen Verwandten umgehen wollet? Ich für meine Person biete Euch meine Freundschaft an. Ich frage dich, ob nicht zehn Jahre eine hinreichend lange Zeit gewesen sind, um mir mein nicht sehr christliches Benehmen gegen dich zu verzeihen. Hast du es noch nicht über dich gewinnen können, mir dies zu vergeben?«

Jedes hochherzige Gefühl drückt sich in den Gesichtszügen aus, und dies traf auch bei Margarethen zu. Ihr Angesicht hatte stets einen edeln Ausdruck, aber in diesem Augenblick war dies in höherem Grade der Fall als jemals.

Arthur blickte sie schweigend an.

Es war nicht möglich zu beurtheilen, welchen Eindruck ihre Worte gemacht hatten. Nach einer Pause fuhr Arthur fort: »Zehn Jahre haben nicht hingereicht, um die Scham über meine begangenen Fehler verschwinden zu lassen. Deshalb, Margarethe, habe ich dich gemieden und werde es auch ferner thun.«

»Dies wirst du nicht mehr.« Margarethens klangreiche Stimme dämpfte sich ein wenig. »Das Vergangene ist gesühnt, und du wirst Margarethe von Neuem als deine Freundin betrachten. Gehe nicht wieder fort, sondern gib mir deine Hand und sprich es aus, daß nichts mehr vorhanden ist, was eine Scheidewand zwischen uns bildet.«

Agnes kam herein, und Arthur gab stillschweigend seiner Cousine die Hand.

Man sagt, das Herz der Frau sei deren werthvollster Schatz. Wir unserestheils fürchten jedoch, daß ein Herz ohne Verstand nicht hinreicht, um dem Zusammenleben jenes Behagen und Wohlbefinden, welches eine denkende Frau verschaffen kann, zu verleihen.

Den Beweis hievon lieferte Margarethe an diesem Mittag. Durch ihren wahrhaft überlegenen Verstand und ihre feine Fassungsgabe gelang es ihr, alles Gezwungene zu beseitigen und jeden Schein gedemüthigten Stolzes im Umgang mit ihren Anverwandten auszuschließen, denn Margarethens gutes Herz allein hätte dies nicht vermocht.

Der Mittag verfloß denn auch auf höchst angenehme Weise, und Agnes konnte nicht umhin, sich aufgeheitert zu fühlen.


Der Abend war schon längst hereingebrochen, als Margarethe, in ihrem Wagen zurückgelehnt, von Nygarda abfuhr. Auf ihrem blühenden Gesicht lagerte sich ein Schatten von Ermüdung oder Wehmuth: was, wissen wir nicht. Es hatte den Anschein, als ob diese von ihrem Verstande geleitete Person sich augenblicklich ihren Empfindungen hingebe. Vielleicht hatte die poetische Anmuth des Frühlingsabends die in strenger Zucht gehaltene Phantasie auf den Schwingen des Traumes sich frei entfalten lassen. Es war wohl einer jener Augenblicke, wo die Wirklichkeit nicht vorhanden zu sein scheint und die Einbildungskraft einige Minuten lang den Verstand bethört. Die starke, kräftige und kluge Margarethe hatte möglicherweise in diesem Augenblicke die Arme erheben und dem Herrn des Schicksals zurufen wollen: »Warum hast du mir kein Herz geschenkt, welches mich versteht und liebt?«

»Guten Abend, Margarethe,« hörte man eine Stimme ganz nahe am Wagen ertönen.

Margarethe, welche darüber erschrak, daß sie von Jemand bei ihren Träumereien ertappt worden war, fuhr empor.

Zur Seite des Fuhrwerks galoppirte ein Pferd, welches einen Reiter trug.

»Ah, Folke, wohin willst du?« fragte Margarethe und wich seinem Blick aus.

»Hm!«

»Aber du reitest ja in entgegengesetzter Richtung.«

»Ich begegnete dir und schlug die entgegengesetzte Richtung ein.«

»Man soll nie von dem einmal eingeschlagenen Weg abweichen,« sagte Margarethe.

»Du hast Unrecht. Man kann den rechten Weg verfehlen und thut dann am besten daran, wenn man eine andere Richtung einschlägt.«

Margarethe antwortete nicht, und es entstand eine Pause. Das Mädchen hatte die Augen niedergeschlagen und bemerkte nicht, daß er sie mit prüfendem Blick beobachtete.

»Warum so stille?« sagte Folke; »ist Margarethe mißvergnügt? Habe ich mir vielleicht etwas Ungehöriges zu Schulden kommen lassen oder soll ich mich von dir verabschieden? Sieh mich an und sage mir, was dein Wunsch ist.«

Margarethe blickte empor. Ihre klaren blauen Augen waren auf ihn gerichtet.

»Habe ich recht gehört?« sagte sie lachend; »ich glaube, du hast gewollt, daß ich dich ansehen soll.«

»Das that ich.«

»Sonst pflegte dies bei dir nicht der Fall zu sein. Meine Augen haben dir sonst immer wehe gethan.«

»Bisweilen und besonders jetzt.«

»Da wird es wohl am besten sein, wenn ich die Augen wieder niederschlage«

»Thue dies nicht,« bat Folke und blickte in dieselben. »Ist Margarethe mißvergnügt?« fragte er.

»Nicht im Geringsten.« Margarethe wandte den Kopf auf die Seite, und es entstand abermals Stillschweigen. Auch diesmal war es Folke, welcher das Wort ergriff. In seinem gewöhnlichen kalten Tone sagte er: »Du bist heute bei deinen Verwandten gewesen. War das Zusammensein mit denselben angenehm für dich?«

»So war es. Ich bin mit dem heutigen Tage zufrieden.«

»Wie findest du dieselben?«

»Arthur ist ein Mann und hat sich vollkommen in seine Stellung gefunden. Agnes ist ein Kind, ein verwöhntes Kind und braucht Zeit, um sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Nun, was hältst du von ihr?«

»Fräulein Grattman ist häßlich; dies ist Alles, was ich nach meinem ersten Zusammentreffen mit derselben sagen kann.«

»Häßlich,« wiederholte Margarethe. »Sie hat für ein sehr reizendes Mädchen gegolten.«

»So lange sie für reich gehalten wurde,« bemerkte Folke; »jetzt aber wird Jedermann meinem Urtheil beipflichten. Ihr Bruder dagegen ist ein hübscher Mann. Man wird selten ein regelmäßigeres und männlicheres Gesicht sehen können als das seinige.«

Folke und Margarethe wechselten Blicke mit einander.

»Arthur sieht sehr hübsch aus,« sagte Margarethe gleichgültig und fuhr dann fort: »Sage mir, Folke, warum meine Augen dir wehe thun.«

»Sie sind zu klar und zu kalt. Es drückt sich in denselben viele Willenskraft, viel überlegener Verstand, aber auch viel Kälte aus.«

»Mangel an Güte also?«

»Nein, nicht Mangel an Güte, aber Mangel an Zärtlichkeit.«

»Dann gleichen sie ja den deinigen.«

»Eisen und Gold sind zwar zwei Metalle, aber von verschiedener Natur und verschiedenem Werth und können deshalb nicht mit einander verglichen werden.«

»Und auch nicht in Verbindung gebracht werden.«

»Das Gold ist zu edel, als daß man es an einen so einfachen Gegenstand, wie Eisen einer ist, verschwenden würde.«

»Das ist ein Irrthum. Gibt es nicht auch Stahlarbeiten, welche mit Gold eingelegt sind?«

»Gewiß, aber da ist dann das Eisen zu Stahl veredelt worden. Nicht alles Eisen kann man aus diese Art umarbeiten.«

»Margarethe lachte, und das Gespräch über Eisen und Stahl wurde aus einen rein praktischen Gegenstand, auf unsere Eisenindustrie nämlich, gelenkt. Folke war übrigens einsilbiger als sonst und schien sich nur auf das Zuhören beschränken zu wollen.


Während Agnes damit beschäftigt war, das Weißzeug ihres Bruders durchzusehen und dasselbe in Ordnung zu bringen, was sie bis jetzt stets außer Acht gelassen hatte, kam Sara herein mit der Meldung, daß Frau Richardson einen Besuch zu machen wünsche.

Agnes traute ihren Ohren nicht. Die lahme Frau, welche nie ihre Wohnung verließ, war zum Besuch gekommen! Agnes eilte in den Saal hinaus, in welchen Jane, die in einem Fauteuil saß, von zwei Männern hereingetragen wurde.

Mit wehmüthigem Lächeln entschuldigte sie sich, daß sie auf diese Art eintreten müsse, wobei sie hinzufügte, daß sie es vorgezogen habe, sich so vorzustellen, um Agnes den Besuch nicht schuldig bleiben zu müssen.

Es lag soviel Feinheit in Janes Benehmen, daß Agnes unwillkürlich von demselben gerührt wurde.

Arthur hatte gesehen, daß Jane zu seiner Schwester hinaufgetragen wurde und verließ sofort das Comptoir, um der Frau Richardson seinen Dank über diesen neuen Beweis von Güte abzustatten.

Jane blieb lange bei dem jungen Mädchen und bat, als sie sich verabschiedete, Agnes möchte nur recht oft zu ihr kommen.

Als sie fort und Agnes wieder allein war, dachte Letztere darüber nach, wie es möglich gewesen sei, daß diese Frau sich so viel Takt und ein so liebenswürdiges Wesen habe aneignen können.

Agnes rief sich ins Gedächtniß, wie ihre Mutter die Personen ihrer Bekanntschaft, welche arm geworden waren, behandelt hatte und fand einen großen Unterschied zwischen Frau Richardsons ungekünstelter Artigkeit und der hochtrabenden Unverschämtheit der Mutter. Wie sehr hatte nicht Letztere die Frau eines ruinirten Kaufmanns ihrer Bekanntschaft beleidigt, während Jane Alles that, um Arthur Grattmans armer Schwester ihre Achtung zu bezeugen!

Auch Agnes hatte mit einer gewissen Verachtung auf Diejenigen herabgesehen, welche in Armuth gerathen waren und erwartete, daß Folkes Mutter sich ebenso benehmen werde.

War es möglich, daß diese einfach erzogenen Leute einen höheren moralischen Werth besitzen sollten, als die im Reichthum Geborenen?

Agnes hatte viel hierüber nachzudenken, und als sie dann mit Arthur zusammentraf, sprach derselbe sich sehr lobend über Jane aus und rieth seiner Schwester, diese Bekanntschaft zu pflegen.

»Siehst du, Agnes, wir müssen sehr sparsam leben, und dies verstehst du noch nicht,« äußerte Arthur ferner; »Frau Richardson wird eine gute Rathgeberin für dich sein; sie ist eine so hochbegabte Frau, daß du sie dir zum Vorbild nehmen mußt.«

»Nun, wie findest du den Sohn?« fiel Agnes ihrem Bruder in die Rede, ohne auf den Rath desselben etwas zu bemerken.

»Er ist ein Mann, welcher weiß, was er will. Er schreckt vor keinem Hinderniß zurück, wenn er ein vorgestecktes Ziel zu erreichen sucht, und an Leib und Seele ist er ein Mann von Eisen, stolz von Gesinnung und von unbeugsamem Willen.«

»Er ist mit andern Worten ein herrschsüchtiger Despot, welcher alle seine Untergebenen fühlen läßt, daß er ihr Herr ist.«

»Dazu ist er zu stolz. Er weiß, daß er hier Herr ist, weiß auch, daß dies von Allen anerkannt wird, und er vergibt seiner Stellung als Herr nichts, sondern stellt Jeden auf den rechten Platz, indem er wohl weiß, daß Alle ihm verantwortlich sein müssen. Er selbst ist beseelt von rastloser Thätigkeit, einer außerordentlichen Arbeitslust und einem leidenschaftlichen Verlangen nach ökonomischer Unabhängigkeit. Er lebt und strebt für die Vergrößerung der Fabrik.«

»Welche abscheuliche Zusammensetzung!« dachte Agnes: »hochmüthig und eigensinnig, geizig und materiell! Er ist ja ein Mensch, welcher nur versteht, Andere zur Arbeit anzutreiben und ist nicht im Stande, ein höheres Interesse als das der Fabrik im Auge zu haben. Er ist eine gewöhnliche Natur, welche unter allen Umständen anwidern muß.«

Eines Tages nahm Agnes ein Buch und ging in den Garten hinunter, um an einem der schattigen Ruheplätze sich niederzulassen. Sie hoffte bei dem Lesen von Byron ihr unglückliches Loos zu vergessen, denn Agnes fühlte sich unglücklich, obgleich sie dies vor ihrem Bruder nicht merken ließ. Sie setzte sich auf eine Bank unter einigen Eschen, öffnete jedoch ihr Buch nicht.

Der Garten war unverändert geblieben. Das Andenken an die sorglosen Tage der Jugend stellte sich ein, und Agnes, das Haupt auf die Hand gestützt, gab sich ihren Träumereien hin.

Oft war sie als Kind auf diesem Platze gewesen und hatte die vielen Seeabenteuer erzählen hören, welche ihr jüngster Bruder zum Besten zu geben pflegte, nachdem er selbst solche zuvor gelesen gehabt hatte. Er war damals ein fröhlicher Junge gewesen und nun seit vielen, vielen Jahren als Seemann weit entfernt von den Seinigen. Sie erinnerte sich daran, wie Arthur, als er vom Auslande zurückkehrte, hier zu sitzen und zu rauchen pflegte und wie sie ihn damals schon halb mit Ehrfurcht, halb mit Liebe betrachtete. Sie hatte ihm mitgetheilt, wie sie davor gerettet worden sei, in den Wasserfall zu stürzen; hier an diesem Orte hatte sie ihm von den Vorkommnissen zu Qvarndammen erzählt und ihn am letzten Abend seines Aufenthalts zu Nygarda bleich, finster und mit dem Ausdruck der Verzweiflung in den Blicken angetroffen. Agnes hatte sich damals ihm auf den Schooß gesetzt, ihm geschmeichelt und ihn geküßt, so daß er sie endlich anlächelte. Sie glaubte, es jetzt noch hören zu müssen, als er sagte: »Hüte dich wohl, Agnes, künftig aus Rachsucht Jemand schaden zu wollen, denn früher oder später wird der Schaden dich selbst treffen.« Und damals hatte er auch einen Namen vor sich hingemurmelt: dieser Name lautete: Richardson.

Richardson! Sie verweilte in Gedanken bei diesem Manne.

Richardsons wurden für alles Unangenehme, welches in der Familie vorkam, verantwortlich gemacht. Richardsons hatten den Namen des Vaters von Agnes zuerst in Verruf gebracht; Richardsons verbitterten den Eltern das Leben, und Richardsons verbitterten auch das Leben der Tochter. »Wie abscheulich dieser Name klingt!« murmelte sie. In diesem Augenblick wurden Schritte vernehmbar.

Sie blickte empor. Ein Mann näherte sich auf dem Sandweg, welcher hinter den Eschen vorbeiführte. Es war Folke.

Agnes beobachtete ihn durch das Laub des Gebüsches, durch welches sie verborgen war. Sein Gesicht zeigte einen strengen Ausdruck. Die zusammengezogenen Augenbrauen schienen auf Unzufriedenheit hinzudeuten, und die scharfen Augen blitzten, wie zwei blanke Stahlklingen. Es wollte Agnes scheinen, als ob er einen durchdringenden Blick auf das Gebüsch werfe, als er daran vorbeiging. Sie bemerkte, daß er sich nach rechts wandte, und bald verstummte das Geräusch seiner Schritte.

Die Glocke der Fabrik verkündigte, daß die Tagesarbeit zu Ende sei.

Agnes wußte, daß Arthur nicht so bald vom Comptoir zurückkehren werde. Sie verließ jedoch trotzdem ihren Platz, um durch einen Spaziergang im Park ihrer traurigen Stimmung ledig zu werden.

Der Park lag der Richtung, welche Folke eingeschlagen hatte, entgegengesetzt.

Agnes ging in der Richtung nach dem Wasserfall. Sie konnte sich selbst nicht Rechenschaft geben, warum sie gerade diesen Weg machte. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie von einem Mann aufgehalten wurde, welcher schnell aus einem Seitenweg herausbog.

Die Kleidung des Mannes glich derjenigen eines Herrn, obwohl seine gewöhnliche Haltung nicht zu seinem Anzug paßte. Er nahm den Hut ab und sagte mit einem gewissen Bemühen, höflich zu sein: »Ich habe wohl die Ehre, Fräulein Grattman zu sprechen? Obwohl es schon lange her ist, daß wir uns gesehen haben, so glaube ich doch, Sie wieder zu erkennen.«

Agnes blickte den Mann an. Auch ihr war dieses Gesicht bekannt, denn der Mensch war ein ehemaliger Diener ihres Vaters.

»Ich hätte eigentlich den Buchhalter sprechen mögen; aber weil ich meine Gründe habe, mich nicht in der Fabrik zu zeigen, ehe ich ihn angetroffen habe, so habe ich meine Schritte hierhergelenkt in der Hoffnung, Jemand zu treffen, welcher eine Botschaft von mir an ihn überbringen würde.«

»Was wollen Sie von meinem Bruder, und wie heißen Sie?« fragte Agnes, welche unwillkürlich mißtrauisch wurde.

»Ich hieß früher Fritz Runström und jetzt heiße ich August Palmqvist. Vielleicht erinnert sich das Fräulein an Fritz.«

Der Bediente Fritz – ja, Agnes erinnerte sich desselben. Ja, jetzt erkannte sie dieses, wie sie meinte, garstige Gesicht sehr wohl wieder.

»Ich sehe, daß mich das Fräulein wieder erkennt,« meinte der Mensch. »Nun, nun, dies ist kein Wunder, denn ich und der Bruder des Fräuleins haben viel mit einander zu schaffen gehabt, und er hätte mir für alle meine Mühe, die ich hatte, mehr geben sollen, als er gethan hat. Nun hat er aber versprochen, noch mehr mit Geld herauszurücken, denn dieses ist mir ausgegangen, und in solchem Falle wendet man sich an seine Freunde. Das Fräulein wird daher so gut sein und denselben bitten, er möchte sofort hierherkommen. Sagen Sie nur, Fritz sei da; er wird alsdann sogleich kommen.«

Der Lümmel erhob die Hand, um Agnes in seiner unverschämten Vertraulichkeit, welche er ihr gegenüber an den Tag legen zu dürfen glaubte, auf die Schulter zu klopfen. Das junge Mädchen wich aus und warf ihm einen erzürnten Blick zu.

»Nun, nun, werden Sie um einer solchen Kleinigkeit willen nicht böse, Fräulein; es ist nicht der Mühe werth, sich zu ärgern,« sagte er mit rohem Lachen; »es hängt unter allen Umständen von mir ab, ob der Bruder des Fräuleins frei ausgeht oder auf die Festung kommt. Nehmen Sie daher die Sache nicht zu leicht und holen Sie ihn, sonst könnte ich in die Lage kommen, den Eigenthümer von Nygarda aufzusuchen und ihm etwas zu sagen, was ich weiß. In diesem Falle würde Grattman vor die Thüre gesetzt.«

Agnes fühlte, wie ihr das Blut zum Kopfe stieg; sie wandte dem Kerl den Rücken und sagte in stolzem Ton: »Wenn Sie etwas mit meinem Bruder zu sprechen haben, so gehen Sie in das Comptoir hinauf; dort treffen Sie ihn und den Herrn Richardson.«

Agnes beabsichtigte hinwegzueilen. Der ehemalige Bediente war jedoch anderer Ansicht und hatte auch seine triftigen Gründe, sich nicht in der Fabrik zu zeigen, weshalb er Agnes zurückhielt.

»Aha, Sie haben nicht nöthig, die Nase hoch zu tragen,« sagte er; »bleiben Sie nur da, sage ich;« mit diesen Worten faßte er Agnes am Arm und hielt sie zurück, indem er mit gesenkter Stimme hinzusetzte: »Wenn das Fräulein nicht sogleich den Bruder holt, so sage ich aus, wie Herr Arthur mich dazu verleitete, die Arbeiter in Qvarndammen aufzuwiegeln, so daß sie ihren Herrn beinahe todtgeschlagen hätten; da aber dies nicht gelang, veranlaßte er mich, den Lars Erickson zu bearbeiten, damit er die Fabrik anzünde. Das Alles kann ich beweisen, und es müßte wohl mit dem Teufel zugehen, wenn nicht der arme Arthur Grattman das büßen müßte, was der reiche gethan hat.«

»Was Sie sagen, ist Unwahrheit!« rief Agnes todesblaß aus und machte sich von ihm los.

»Was Sie sagen, ist Unwahrheit!« schrie Fritz. »Wenn dies der Fall wäre, warum habe ich denn von den Herren Grattman eine so große Geldsumme erhalten und bin außer Landes geschickt worden; warum haben dieselben, so lange sie etwas besaßen, mir einen Jahresgehalt ausbezahlt? War dies vielleicht für treue Dienste oder war es dafür, daß ich schweigen solle? Ich habe auch zehn Jahre lang reinen Mund gehalten, allein jetzt brauche ich Geld, und wenn er nicht bezahlen will, so soll er eben dafür büßen. Spielen Sie also nicht die Vornehme, sondern lassen Sie uns Freunde sein!«

Fritz streckte den Arm aus, um Agnes um den Leib zu fassen; in diesem Augenblick aber erhielt er eine so nachdrückliche Ohrfeige, daß er einige Schritte auf die Seite taumelte.

»Was unterstehst du dich, Lümmel?« rief eine strenge Stimme, und Folke stand zwischen Fritz und Agnes.

»Herr!« murmelte Fritz erschrocken.

»Was thust du hier?« fragte Folke; »habe ich dir nicht anbefohlen, aus meiner Nähe wegzubleiben? Wie kannst du es wagen, meinen Befehlen zu trotzen? Willst du vielleicht von meinen Arbeitern in Stücke gerissen werden? Fort von hier, oder du wirst sehen, was geschieht!«

Folke machte eine verständliche Bewegung mit dem Stock, und Fritz schien es für das Gerathenste zu halten, sich schnellstens zu entfernen.

Agnes war so aufgeregt, daß sie sich an einen Baumstamm anlehnen mußte. Die Vorstellung, daß Arthur an der That, deren er von Fritz beschuldigt wurde, Antheil genommen haben könnte, benahm dem Mädchen alle Selbstbeherrschung.

»Ich fürchte, der Schurke hat Sie ernstlich erschreckt,« sagte Folke und ging auf Agnes zu.

Sie war so blaß, daß ihre Lippen ganz entfärbt waren. Die bleiche Farbe paßte ihr keineswegs, denn die arme Agnes war häßlich, und nun stand sie mit gesenkten Augen und bebenden Gliedern da.

Sie vermochte nicht zu antworten. So lange Folke mit ihr sprach, dachte sie nur an Fritzens Beschuldigung und daran, daß dieser Mann im nächsten Augenblick ihren Bruder Arthur der Mordbrennerei beschuldigen könnte. Was müßte die Folge davon sein? daß Arthur um seine Stelle käme! Die Thränen kamen der Agnes in die Augen.

Da Folke keine Antwort erhielt, so sagte er in freundlicherem Tone: »Fräulein Grattman ist gewiß unwohl. Wollen Sie nicht meinen Arm nehmen, damit ich Sie zur nächsten Bank führen kann?«

Agnes schlug die Augen auf und richtete dieselben auf Folke. In ihren Blicken konnte man die Angst erkennen, welche ihr Herz erfüllte.

»Ich bin nicht unwohl,« sagte sie mit zitternder Stimme; »allein ich fühle mich sehr unglücklich.« Unwillkürlich erfaßte sie Folkes Hand und bemerkte mit bewegter Stimme: »Wenn Sie diesen Kerl wieder treffen, so wird er meinen Bruder eines großen Verbrechens beschuldigen, an welchem Arthur gewiß unschuldig ist. Sie müssen nicht glauben, daß Arthur sich so vergessen konnte.«

Ob Agnes in diesem Augenblick wohl häßlich war? Nein, aus jedem ihrer Gesichtszüge leuchtete eine herzliche Zuneigung für Denjenigen, dessen Fürsprecherin sie war. Folkes Angesicht verlor denn auch einigermaßen seinen widerlichen Ausdruck, und seine Stimme klang beinahe mild, als er die kleine Hand in die seinige schloß und sagte: »Seien Sie vollkommen ruhig in dieser Beziehung, ich habe Alles gehört, was der Schurke sagte, und ich kann versichern, daß er nur wiederholte, was er mir bereits mitgetheilt hat in der Hoffnung, ich werde ihn für seine Angaben bezahlen. Ich habe ihn fortjagen lassen, und nun hat er gehofft, auf andere Weise einen Geldgewinn herauszuschlagen. Ihr Bruder, Fräulein Grattman, steht zu hoch in meiner Achtung, als daß ein solch elender Mensch mit seinen Anschuldigungen ihm schaden könnte.«

»Ja, er hat über meinen armen Bruder gelogen!« stammelte Agnes.

»Wollen Sie hier Platz nehmen?« sagte Folke und deutete auf ein Ruhebänkchen, welches einige Schritte weit entfernt war. Er reichte Agnes seinen Arm und führte sie zu dem bezeichneten Ruhesitz.

»Sie sind also vollkommen überzeugt davon, daß die Beschuldigungen des ehemaligen Bedienten gegen Ihren Bruder unwahr sind?«

Folke fixirte Agnes mit scharfem Blick.

»Das ist so,« antwortete sie und blickte ihn an.

»In diesem Fall müssen Sie versprechen, Ihrem Bruder kein Wort davon zu sagen, daß Sie Fritz getroffen haben; diese Angelegenheit soll unter uns bleiben.«

Agnes war von Folkes Benehmen überrascht, allein es war ihr unmöglich, das Versprechen zu geben, welches er verlangte. Sie wollte aus Arthurs eigenem Mund erfahren, ob Fritz gelogen habe und mußte wissen, in welcher Beziehung ihr Bruder zu dem Bedienten stehe.

»Sie zögern,« fuhr Folke fort, »und dennoch muß ich Ihnen das Versprechen abnehmen.«

»Ich kann es Ihnen nicht geben,« sagte Agnes. »Ich würde meinem Bruder damit die Möglichkeit benehmen, sich zu rechtfertigen.«

»Der Unschuldige braucht sich nicht zu rechtfertigen, und der Schuldige vermag dies nicht. Ihr Bruder wußte, welche Gerüchte in Umlauf gesetzt worden sind, was ihn jedoch nicht abhielt, sich um die Stelle in hiesiger Fabrik zu bewerben, während ich und Herr Hundern keinen Anstand nahmen, ihm diese Stelle zu übertragen. Sie können mir deshalb unbedingt das gewünschte Versprechen geben. In Ihren Augen ist Herr Grattman unschuldig, und zwischen mir und ihm kann von der ganzen Sache weiter gar keine Rede sein. Nun, wollen Sie mir Ihr Wort geben?«

»Sie haben es,« sagte Agnes und brachte sodann mit Mühe die Worte hervor: »Ich danke Ihnen, Herr Richardson, für …«

»Dafür, daß ich einem unverschämten Kerl nicht gestattet habe, Sie zu beleidigen? Sie haben für nichts zu danken.«

»Ja, dies habe ich,« fiel ihm Agnes hastig in die Rede; »und zwar für sehr viel.«

»Haben Sie die Güte, von derlei nicht zu sprechen.« Folke lüpfte den Hut und entfernte sich.

Die Sonne war schon untergegangen, und immer noch blieb das junge Mädchen auf derselben Stelle. Endlich wurde sie von Sara aufgesucht, welche ihr mittheilte, daß der junge Herr sie zum Thee erwarte. Auf Agnes machte es einen beinahe peinlichen Eindruck, als sie daran dachte, sie werde jetzt ihren Bruder antreffen. Fritzens Beschuldigung kam ihr in den Sinn und erweckte wider ihren Willen Zweifel in ihr. War Arthur vollkommen unbetheiligt an den Vorkommnissen zu Qvarndammen? Dies war eine Frage, welche sie sich fort und fort stellen mußte.

Einige Tage später kam Margarethe, um Agnes nach Fjellboda mitzunehmen, wo sie, wie Margarethe meinte, sofort mit Signe Bekanntschaft machen sollte.

Das Wetter war herrlich, die Luft warm und das Grün des Frühlings frisch. Ehe Margarethe mit Agnes Nygarda verließ, machte sie einen kurzen Besuch bei Frau Richardson, worauf sie in das Comptoir hineinschaute. Sie drückte den Wunsch aus, Arthur möchte am Abend nachkommen. Es war Samstag, und er wurde also bälder fertig als sonst; allein Arthur schützte Abhaltung vor. Margarethe ließ die Entschuldigung nicht gelten, und er mußte schließlich versprechen, Agnes abzuholen.

Agnes brachte zu Fjellboda einen sehr angenehmen Tag zu.

Signe und Margarethe waren zwei Personen, welche es verstanden, ihre Umgebung zu erheitern.

Agnes war von Signe und von Fjellboda entzückt. Sie gestand sich, daß sie der ehemaligen Erzieherin Sympathie entgegenbringen könne, was Margarethen gegenüber unmöglich war.

Agnes fühlte sich trotzdem behaglich in Gesellschaft ihrer Cousine und hörte ihr gerne zu; allein obgleich sich Erstere bewußt war, daß sie unendlich viele Fehler habe, so war eben Margarethe zu vollkommen, und außerdem war dieselbe schön: lauter Eigenschaften, welche bewirkten, daß Agnes im Herzen kalt blieb. Bei Signe war dies ganz anders: sie war alt und keine ihrer Eigenschaften that dem Gefühle Eintrag, welches Agnes zu ihr hinzog. So kam es, daß Agnes an Signes Gesellschaft größeres Behagen fand als an der Margarethens.

Nachmittags saßen die drei Damen im Pavillon. Agnes welche nicht an Arbeit gewöhnt war, überließ sich ihrer Vorliebe für das Nichtsthun und lehnte sich in einen Ruhesessel. Margarethe und Signe beschäftigten sich mit Handarbeit. Das Gespräch bezog sich auf Folke.

Agnes hatte ganz unbemerkt die Unterhaltung auf ihn gelenkt.

Sie wunderte sich darüber, daß er und Margarethe zu einander »Du« sagten und daß sie mit einander auf einem so vertraulichen Fuße standen, als ob sie verwandt wären.

»Dies ist nicht zum Verwundern,« bemerkte Signe; »Margarethens Vater hat einen sehr bedeutenden Theil ihres Vermögens in der Fabrik angelegt, und Richardson ist deshalb in fortwährende Berührung mit Margarethe gekommen, wodurch eine aufrichtige Freundschaft zwischen ihnen entstanden ist.«

»Das soll heißen, Margarethe sei eigentlich die Besitzerin der Fabrik?« sagte Agnes.

»Weit entfernt davon; dieselbe gehört mir nicht ausschließlich, sondern nur ein Drittel davon; die andern zwei Drittheile gehören Richardson und Hundern.«

Margarethe beschrieb sodann ihrer Cousine, mit welchen Schwierigkeiten Folke zu kämpfen gehabt habe, bis es ihm gelungen sei, soviel zu verdienen, daß er den Antheil, welcher nun sein Eigenthum sei, habe erwerben können.

Dies gab Agnes Veranlassung, das Gespräch auf die Arbeiterunruhen zu lenken, welche zehn Jahre zuvor stattgefunden hatten. Sie hoffte nämlich, durch Margarethe eine ausführliche Schilderung davon zu erhalten; allein trotzdem, daß sie den Gegenstand festhielt, konnte sie dennoch nicht weiter erfahren, als daß die Arbeiter ihren zweiundzwanzigjährigen Herrn, den sie für einen Knaben gehalten hatten, zwingen wollten, höhere Löhne zu bezahlen und deshalb zu Thätlichkeiten geschritten seien.

»Aber,« sagte Agnes, »und es wurde ja auch Feuer eingelegt.«

»Ja, einer der Arbeiter hat angezündet. Bei dieser traurigen Gelegenheit rettete Arthur die Frau Richardson vor Verbrennung. Es war dies eine Gegenleistung für den Dienst, welchen dir Folke das Jahr zuvor gethan hatte, als er dich vor dem Sturz in den Wasserfall bewahrte.«

Agnes holte tief Athem. Es war, als ob ihr ein Stein vom Herzen genommen würde. Arthur war also bei der Brandstiftung nicht betheiligt! Er hatte sich stets wie ein Mann von Ehre benommen, und sie konnte noch immer stolz auf ihn sein. Agnes fühlte sich sehr glücklich. Sie stellte nun ganz ungenirt eine Frage nach der andern und sprach zuletzt die Meinung aus, Frau Richardson habe mehr Verbindlichkeit gegen Arthur, als sie, Agnes, gegen Folke. Ein Kind von dem Rande eines Abgrundes zu entfernen, sei eine viel unbedeutendere Handlung, als die, eine lahme Frau mit Gefahr des eigenen Lebens aus einem brennenden Hause zu tragen.

»Es mag sein,« bemerkte Margarethe; »allein dessen ungeachtet sind Grattmans stets die Schuldner Richardsons. Die früheren Zwistigkeiten zwischen beiden Familien waren derart, daß wir viel gut zu machen haben. Sprich deshalb nie davon, daß wir auf Folkes Dankbarkeit Anspruch haben.«

Auf diese Bemerkung hin entstand Stillschweigen.

Agnes hätte zwar gewünscht, des Näheren zu hören, worin die Zwistigkeiten bestanden, aber sie empfand einen ausgesprochenen Widerwillen dagegen, von Margarethens schönen Lippen eine nicht sehr ehrenhafte Handlung des verstorbenen Grattman erzählen zu hören. Die von Kindheit an eingewurzelte Abneigung gegen Folke erwachte aufs Neue, so daß Agnes in beinahe verächtlichem Tone die Vermuthung aussprach, Richardsons geringe Herkunft sei Schuld daran, daß er keine seiner jetzigen Stellung entsprechende Partie machen könne.

»Er ist wohl zu hochmüthig, um eine Frau derselben Klasse, welcher er eigentlich angehört, zu nehmen,« sagte Agnes; »und er wird auch schwerlich darauf Anspruch machen können, ein Mädchen aus besserer Familie zu bekommen.«

Margarethe lächelte und schwieg, aber Signe antwortete: »Das Fräulein irrt sich in dieser Beziehung. Es mag ein Mädchen noch so reich und von noch so guter Familie sein, und dennoch darf der Besitzer der Fabriken zu Nygarda und Qvarndammen um dasselbe anhalten, besonders da er von vortheilhaftem Aeußern ist und dazu noch einen geachteten und angesehenen Namen besitzt. Wer fragt darnach, ob sein Großvater Kutscher war und der Vater als Tischlergeselle angefangen hat? Niemand! Ich bezweifle nicht, daß John Grattman keinen Anstand erheben würde, ihn als Schwiegersohn anzunehmen, wenn Richardson um Margarethe anhalten würde.«

»Da würde der Onkel bedeutend aus der Art schlagen,« meinte Agnes stolz.

»Dies thut er auch,« versicherte Signe. »Für ihn gibt es nur ein solides Vermögen, einen geachteten Namen und strenge Rechtschaffenheit.«

»Wenn es wahr ist, was Fräulein Ekkeberg da sagt, warum hat Richardson nicht geheiratet?«

»Vermuthlich deshalb, weil er sich keine Zeit nahm,« erklärte Margarethe lachend.

»Keine Zeit!« wiederholte Agnes. »Was hat ihn abgehalten?«

»Seine Fabrik. Das ist seine Geliebte, das Ideal seiner Träume; für diese lebt er und widmet ihr alle seine körperlichen und geistigen Kräfte. Dieselbe bedeutet für ihn nicht nur ökonomische Unabhängigkeit, sondern sie ist für ihn eine Idee, welche er verwirklichen möchte, um der Allgemeinheit zu nützen. Wenn man sich einem solchen Bestreben von ganzer Seele hingibt, so hat man keine Zeit für Weibergeschwätz und Lachen; man verschwendet die Zeit nicht mit Liebeleien, sondern verzichtet auf dieses Glück zu Gunsten einer umfassenderen Thätigkeit.«

»Aber ein solcher Mann muß entsetzlich langweilig sein!«

»Ich habe Folke nie langweilig gefunden,« versicherte Margarethe.

»Du behauptest also, daß Folke nie verliebt war?« fuhr Agnes fort.

»Ich bin vollkommen überzeugt davon, und ich glaube auch, daß ihm dies nicht möglich ist. Folke Richardson ist, was die zarteren Gefühle des Herzens betrifft, von der Mutter Natur sparsam ausgerüstet. Alle Zärtlichkeit, deren er fähig ist, richtet sich einzig und allein auf die Stiefmutter. Sein Inneres ist übrigens eine Mischung von Härte und Stärke.«

»Bei dieser Beschreibung friere ich!« rief Agnes aus. »Er hat mir früher schon nicht gefallen, und jetzt gefällt er mir noch weniger.«

Margarethe hatte keine Gelegenheit, hierauf zu antworten, denn ein dunkler Schatten erschien vor der Veranda, und gleich darauf stand der Gegenstand des Gesprächs vor Margarethen.

»Das ist schön von dir, daß du heute Abend kommst!« rief sie aus; »zum Lohne dafür kann ich dir sagen, daß du in diesem Jahre noch nicht stirbst, denn wir haben soeben von dir gesprochen.«

»Von mir? Kann ich der Gegenstand des Gesprächs für drei Damen sein?« versetzte Folke, küßte sodann Signes Hand und verneigte sich vor Agnes.

»Warum sollte dies nicht der Fall sein?« fragte Margarethe.

»Frauen erwählen nicht gern Trivialitäten zum Gegenstand ihres Gesprächs.«

»Du kommst dir demnach trivial vor?«

»Ich bin Fabrikant.« Folke lächelte.

»Und ganz eigen in deiner Art,« unterbrach ihn Margarethe. »Du bist ein Mann, für den wir Frauen uns interessiren.«

»Und aus welchem Grunde?«

»Aus dem Grund, weil du noch nicht geliebt hast.«

»Aus keinem andern?«

»Hältst du dies für nichts?«

»Beinahe.«

»Du bist unverbesserlich, und zur Strafe dafür mußt du uns jetzt sagen, wie du nahezu zweiunddreißig Jahre alt geworden bist, ohne dein Herz auf dem Altar einer Frau zu opfern.«

»Weil ich nur eine Einzige kennen gelernt habe, welche ich der Liebe eines Mannes für würdig hielt, und weil ich diese Einzige nicht lieben konnte.«

Folke hatte sich zu Margarethen hingesetzt, und während er dies zur Antwort gab, wickelte er den Faden ihrer Strickerei um seinen Finger.

»Und was hat dich davon abgehalten, diese Eine zu lieben?« fragte Margarethe.

»Ihr Reichthum, glaube ich. Was in den Augen Anderer ein weiterer Vorzug gewesen wäre, war in meinen Augen ein Fehler, welcher meine Leidenschaft abkühlte.«

»Du hast also, wie es scheint, nicht die Absicht, eine reiche Frau zu heiraten?«

»Ich will gar nicht heiraten,« erklärte Folke; »sollte es aber der Fall sein, daß ich dies wider meinen Willen thue, so muß meine Frau arm an Geld, aber reich an Verstand und Herz sein.«

»Letzteres dürfte sich schwer finden lassen,« bemerkte Signe. »Außerdem ist ein großes Feuer nothwendig, um Eisen zu schmelzen, und ich für meinen Theil glaube nicht, daß Folke je so erwärmt werden kann, daß seine starren Vorsätze zu überwinden sind.«

»Vor einigen Wochen war ich gleicher Meinung, wie die Tante, aber jetzt bin ich so weit gekommen, daß ich nichts für unmöglich halte. Ich glaube jedoch, daß ich in dieser Richtung keine weitere Erfahrung machen werde. Für einen Mann, welcher mit ganzer Seele für das wirkliche Leben eingenommen ist, wäre es sehr unvortheilhaft, wenn er sich dazu verleiten ließe, den Gaukelbildern der Liebe nachzujagen. Aber ich vergaß, den Herrn Grattman bei Margarethen zu entschuldigen, daß er trotz seines Versprechens heute Abend nicht hierherkommen konnte. Er hat einige Briefe empfangen und Geschäfte gehabt, welche ihn abhielten. Er ist nach X. abgereist.«

Agnes öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, aber sie sprach sich nicht aus.

»Ist Arthur abgereist?« fragte Margarethe.

»Ja, aber er kommt morgen Abend zurück,« antwortete Folke und nahm einen Brief aus der Tasche. »Ich habe mich dazu erboten, dies dem Fräulein zu übergeben,« setzte er hinzu und überreichte Agnes den Brief.

Agnes las denselben. Folke, Margarethe und Signe setzten die Unterhaltung fort.

Man sprach von Hundern und kam auf die Comptoirgeschäfte zu sprechen. Folke sagte:

»Wir können uns in der That Glück dazu wünschen, daß wir den Herrn Grattman als Comptoirvorstand bekommen haben, denn er besitzt eine ungewöhnliche Arbeitskraft und ist, was das Geschäft anbelangt, den Meisten überlegen. In dieser, wie in mancher andern Beziehung haben wir einen Ersatz für Hunderns Austritt gewonnen.«

»Arthur ist jung und Hundern alt,« wandte Signe ein, welche sich veranlaßt fand, für Letzteren zu sprechen.

»Es ist wahr, allein Hundern ist ein Engländer und liebt es, zu gewissen Zeiten zu arbeiten und zu andern Zeiten auszuruhen. Er vergißt dabei, daß wir keine Zeit zur Unthätigkeit haben, sondern nur zur Arbeit.«

Die Unterhaltung kam jetzt auf einen Gegenstand, durch welchen Folke immer sehr gesprächig wurde. Er wies nach, welche Kraft die Arbeit verleihe. Armut, Sorge und Leiden: Alles werde dadurch beseitigt. »Eine Person, welche den Werth der Arbeit nicht einsieht,« sagte er, »und welche in derselben keine Befriedigung und keine Freude findet, bleibt eine Last für den Boden, welchen sie mit den Füßen tritt.« Unwillkürlich ließ er seinen Blick auf die müßige Agnes schweifen. Das Blut schoß derselben in die Wangen.

Signe war der Meinung, daß in Bezug auf die Arbeit im Allgemeinen das Weib in einer unrichtigen Stellung sich befinde; man habe dieselbe zu lange nur für Nadelarbeiten tauglich gehalten.

»Das Hauswesen ist die Welt der Frau,« sagte Signe; »allein es kann vorkommen, daß einer Frau vom Schicksal ein Hauswesen, welchem sie sich widmen könnte, versagt bleibt. Was ist alsdann ihr Loos? Entweder muß sie Lehrerin, Haushälterin oder Näherin werden. Dies ist zwar ganz etwas Anderes, aber sie kennt im Anfang ihre erweiterte Thätigkeit noch nicht und steht dann unschlüssig mit einem Fuß in dem Kreise ihrer früheren und mit dem andern in ihrer neuen Wirksamkeit. Für den Mann hingegen ist die Welt immer offen gewesen, woher seine Überlegenheit an Energie und Arbeitskraft kommt.«

»Bis zu einem gewissen Grad hat die Tante recht,« ließ Folke sich vernehmen, »aber immerhin hängt auch Vieles von der Frau selbst ab. Wir bleiben Sklaven, so lange wir Sklavenketten ertragen. Margarethe zum Beispiel hat sich weder durch ihren Reichthum, noch durch die herkömmliche Sitte abhalten lassen, thätig an den Geschäften Theil zu nehmen. Sie hat ihr Vermögen und ihr Eigenthum selbst verwaltet. Sie hat nicht nur ihren Vater veranlaßt, sich bei einem Fabrikunternehmen zu betheiligen, sondern auch Theil an der Fabrikthätigkeit genommen und verfolgt dieselbe mit lebhaftem Interesse. Sie führt ein thätiges Leben, das ganz verschieden von demjenigen ist, welches reiche Frauen sonst zu führen pflegen, indem sie die Tage unbeschäftigt und in fortwährendem Haschen nach unwürdigen Vergnügungen verbringen. Den Fall gesetzt, daß Margarethe arm würde, so wäre dieses Unglück für sie nicht so groß. Sie würde alsdann für ihre Unabhängigkeit arbeiten und nicht ermüden, bis sie eine selbständige Stellung im Leben sich errungen hätte.«

»Aber, lieber Folke,« unterbrach Margarethe, »was sollte ich denn da anfangen: Verwalter eines Landguts oder Werkmeister in einer Fabrik werden?«

»Ist es wirklich dein Wunsch, daß ich dir sage, was du thun müßtest?«

»Gewiß.«

»Nun gut, du bist sprachkundig, hast eine schöne Handschrift und bist gewandt in der Buchführung. Wir nehmen nun an, du habest dein Vermögen verloren und es wäre dir bekannt, daß zu Nygarda eine Comptoiristenstelle offen sei, welche sechshundert Reichsthaler Gehalt einträgt. Du bewirbst dich, und ich ziehe natürlich ein gebildetes Frauenzimmer jeder andern Person vor, die sich meldet. Du wirst angestellt und hast dir somit durch deine Thätigkeit eine sorgenfreie Existenz verschafft. Dies ist übrigens nur einer der vielen Auswege, welche einer Frau mit deinen Kenntnissen und deinem hellen Verstand offen stehen, so daß ich keinen weiteren anzudeuten brauche.«

»Es genügt mir auch das eine Beispiel, und ich werde mich an dasselbe erinnern, wenn ich in den Fall komme, eine derartige Stelle zu suchen, denn wer weiß, ob ich nicht vielleicht morgen oder übermorgen in dieser Lage sein kann.«

»Ein so glücklicher Umstand kann leider nicht eintreffen.«

»Glücklich, glaube ich, hast du gesagt!« rief Margarethe aus.

»Ja, Margarethe, du bist fähig, mit Anstrengung und durch endlose Schwierigkeiten hindurch dein Ziel zu erringen. Als mittellos würdest du das schönste Beispiel dessen geben, was eine Frau vermag, welche mit deinem Kopf und deinem Charakter ausgerüstet ist.«

»Kann ich als reich dieses Beispiel nicht geben?«

»Du thust es, allein auf ganz andere Weise. Ich möchte allen unbeschäftigten Frauen Schwedens zurufen können: ›Nehmet ein Beispiel an Margarethe Grattman und lernet von ihr, wie Ihr es machen müßt, um die Glücksgüter, welche Ihr besitzet, auch für Andere segenbringend zu machen!‹ Sodann würde ich diese Frauen in den von dir eingerichteten Schulen herumführen, würde die von dir angekaufte und geordnete Bibliothek für die Fabrikbevölkerung sehen lassen und dann erzählen, wie du als ein neunzehnjähriges Mädchen einen jungen, ungebildeten Fabrikanten lehrtest, daß er ohne Kenntnisse und Herzensbildung ein Mensch sei, dem jeder innere Werth abgehe und wie du ihn auf die Nothwendigkeit hingewiesen hast, die Lage der Fabrikarbeiter zu verbessern und die Arbeitszeit auf eine für dieselben zweckmäßigere Weise einzutheilen. Du ließest deine Theorien zur Wirklichkeit werden und hast die Summen, welche Andere für Vergnügungen, Feste, Reisen und Narrheiten verschwenden, zum Besten dieser Arbeiter verwandt, deren moralischer Zustand dir so beklagenswerth vorkam. Wenn ich hieran denke, so finde ich allerdings, daß es ein größeres Glück ist, wenn du reich bist, als wenn du arm sein würdest, denn ich befürchte, daß letzterer Umstand weniger segensreich wäre.«

»In diesem Fall habe ich also nicht nöthig, arm zu werden,« bemerkte Margarethe lachend; »übrigens sorgt die Fabrik zu Nygarda, welche einen über Erwarten großen Nutzen abwirft, dafür, daß ich nicht arm werden kann. Die eingelegten Kapitalien rentiren sich gar zu gut.«

Folke nahm seinen Hut, um sich zu verabschieden. Er gab Margarethen die Hand, indem er ganz eigenthümlich lächelnd sagte: »Wenn es so steht, so ist es nicht zum ersten Mal, daß zu Nygarda Anzettelungen gegen den Besitzer gemacht worden sind, und ich glaube auch nicht, daß es das letzte Mal sein wird. Jetzt muß ich fort, und deshalb lebe wohl, Margarethe.«

»Was, bleibst du nicht da? Es ist ja schon spät.«

»Um so schlimmer; ich habe mich über die bestimmte Zeit aufgehalten, und dies ist zu Fjellboda schon öfter vorgekommen.«

»Wohin willst du?«

»Nach Qvarndammen, um die Anordnung zu treffen, daß der dortige Rechnungsführer sich ohne Schreiber behelfen kann. Wir müssen seinen Gehilfen auf das Comptoir zu Nygarda nehmen. Der erste Comptoirist hat nämlich abreisen müssen, um dem Begräbniß seines Vaters anzuwohnen und denselben zu beerben. Es ist ungewiß, ob er seine Stelle wieder antritt, nachdem er im Besitze von Vermögen ist, und inzwischen ist Herr Grattman ohne Gehilfen auf dem Comptoir.«

»Ja so, es ist also in der That eine Stelle bei Euch offen?« sagte Margarethe.

»Willst du dich um dieselbe bewerben?«

»Wer weiß!«

»Margarethe, du scherzest: es wäre zu gewagt.«

Folke verbeugte sich vor Signe, und als er sich sodann an Agnes wandte, sagte er in kurzem und kaltem Ton: »Wünschen Sie ein Fuhrwerk, welches Sie heute Abend heimführt? Ich habe dem Herrn Grattman versprochen, Sie heimführen zu lassen.«

»Ich bleibe über den Sonntag bei Margarethen,« gab Agnes zur Antwort.

Folke entfernte sich.

Beim Wegfahren von Fjellboda dachte er bei sich: »Wie ist es möglich gewesen, Margarethe zehn Jahre sehen zu können, ohne nicht gleich zu bemerken, daß sie blendend schön ist? Welche Ungleichheit zwischen den beiden Cousinen! Das Aussehen der Einen ist blendend edel und so harmonisch, daß das Auge seine Freude daran hat, das der Andern ein getreuer Spiegel aller der Leidenschaften, welche ihr Inneres aufrühren und ihre Vernunft beherrschen. Wenn ich nur ein einziges Mal aus Margarethens Augen einen Strahl der Wärme, welche ihr mangelte, hervorleuchten sehen könnte, dann … ja, dann würde ich sofort vergessen, daß sie reich ist. Es ist deshalb am besten, daß die blauen Himmel ihr eiskaltes Aussehen behalten. Man bewundert die helle Wintersonne, aber man liebt sie nicht.«


Etwas über ein Monat war seit jenem Abend verflossen. Zu Nygarda ging Alles seinen gewohnten Gang.

Margarethe kam wöchentlich zweimal dorthin, besuchte dann die Fabriken, aß meistens bei Jane zu Mittag und brachte einige Stunden bei Agnes zu. In der Zwischenzeit war Margarethe mit ihren Schulen, mit der Bibliothek und der Aufsicht über die Arbeiterfamilien beschäftigt.

Einmal im Monat war sie auf dem Comptoir, um mit Folke die Bücher durchzugehen und vom Stand der Geschäfte Einsicht zu nehmen.

Fast jeden Abend ritt der junge Fabrikant nach Fjellboda hinüber. Es war ihm ein Bedürfniß geworden, Margarethe jeden Tag sehen und sprechen zu können.

Arthur hatte seine Cousine nur ein einziges Mal besucht und zwar an einem Sonntag Vormittag. Wenn er eingeladen wurde, so hatte er stets eine Abhaltung. Er schien von dem Comptoir sich nicht entfernen zu können. An manchen Sonntagen gönnte er sich so wenig freie Zeit, daß er, wenn Folke nach Fjellboda ritt, zu Frau Richardson hinaufging, um einige Stunden mit derselben zu verplaudern.

Auch Agnes kam sehr oft zu der Lahmen, aber noch öfter fuhr sie nach Fjellboda und konnte manchmal einige Tage daselbst zubringen.

Nach dem ersten Besuche daselbst war eine ganz bedeutende Veränderung mit Agnes vor sich gegangen. Diese Veränderung war von durchgreifenderer Natur, als man hätte erwarten sollen. Es war, als ob einige in dem Mädchen schlummernde Eigenschaften zum vollen Durchbruch gekommen wären.

Es braucht manchmal Jahre, bis ein solches Erwachen zu Stand kommt, allein es kommt auch vor, daß ein einziger Augenblick hinreicht, um uns aus der Betäubung, worin wir lebten, zu wecken. Dies war bei Agnes der Fall.

Sie war ein launisches und halsstarriges Kind gewesen. In ihrem Charakter schien kein Zug bestimmt ausgedrückt zu sein, und die Erziehung hatte nur ihre Selbstsucht entwickelt. Gleichwohl fand sich die Aussaat einer bessern Ernte vor.

Wir halten uns nicht für verpflichtet, darüber Rechenschaft zu geben, auf welche Weise Agnes die schönen Sommerwochen verbrachte, nachdem sie von ihrem Egoismus geheilt worden war. Sie hatte vollauf zu arbeiten, und es gehörte zu den Ausnahmen, wenn sie mit einem Buch in der Hand im Garten oder Park herumstreifte, um in Unthätigkeit ihre Zeit zu verträumen. Agnes war zwar noch immer bleich im Gesicht und hatte immer noch das sonderbare Lächeln an sich, allein in ihren Zügen prägte sich etwas aus, was auf ein bestimmt vorgezeichnetes Ziel und einen unabänderlichen Beschluß hindeutete.

Eines Abends, als Arthur später als sonst vom Comptoir kam, war er außerordentlich bleich und sah sehr müde aus.

»Ich fürchte, Arthur, daß du zu viel arbeitest,« sagte Agnes. »Du gönnst dir keinen Augenblick Ruhe.«

»Von der Arbeit bin ich nicht krank,« erwiderte Arthur kurz. »Uebrigens bin ich dazu gezwungen.«

»Herr Richardson (Agnes hatte stets eine unsichere Stimme, wenn sie diesen Namen aussprach) wird es wohl nicht verlangen können, daß du dich zu sehr anstrengst.«

»Wenn er dies verlangte, so ist es sicher, daß ich nicht so arbeiten würde, wie es eben der Fall ist; nun aber geschieht es freiwillig und in der Hoffnung, dadurch mein Einkommen zu verdoppeln. Ich beabsichtige nämlich, mich mit einem einzigen Comptoiristen zu behelfen und dadurch eine Gehaltserhöhung zu erlangen.«

Agnes sagte nichts weiter.

Als Arthur seinen Thee getrunken hatte, zündete er eine Cigarre an, küßte seine Schwester auf die Stirne und erklärte, daß sie ein so umsichtiges Hausmütterchen geworden sei, daß dies eine wahre Freude für ihn sei, und entfernte sich mit diesen Worten.

Agnes sah ihrem Bruder mit bitterem Lächeln nach.

Wie wenig verdiente sie das Lob, eine sparsame und umsichtige Hausmutter zu sein! Diese Ehre kam einzig der Sara zu. Die Haushaltung dieser zwei Leute war so klein und wurde so gut von Sara versehen, daß für Agnes nichts zu thun übrig blieb. Sie konnte auch nicht behaupten, daß sie durch ihre Gesellschaft zur Behaglichkeit ihres Bruders beitrug. Er leistete ihr nie Gesellschaft, sondern arbeitete unaufhörlich, und wenn er einen Spaziergang machte, so schlug er seiner Schwester nie vor, ihn zu begleiten.

Agnes stand an ein Fenster gelehnt in dem kleinen Vorzimmer und sah bekümmert aus. Die Gatterthüre der Allee wurde geöffnet, und Folke ritt in den Hof herein. Beinahe im gleichen Augenblick ging die Comptoirthüre auf, und Arthur kam heraus. Folke hielt sein Pferd an.

»Hundern hat gewiß verabsäumt, den Herrn Grattman davon in Kenntniß zu setzen, daß zwei Pferde zu seiner Verfügung stehen,« sagte Folke. »Wenn Sie dieselben nicht benützen, so werden sie verdorben. Wollen Sie nicht vielleicht mit mir heute Abend einen Ritt nach Qvarndammen machen? Ich habe ein Geschäft dort. Der Weg ist weit und wir haben Manches mit einander zu besprechen. Ihre Gesellschaft würde mir sehr angenehm sein.«

Agnes hörte, daß ihr Bruder zur Antwort gab, daß er mit Vergnügen einen Ritt nach Qvarndammen machen werde. Folke gab den Befehl, ein Reitpferd zu satteln. Während man darauf wartete, bis dies geschehen war, stieg Folke ab.

Agnes stand unbeweglich da und blickte auf den jungen Mann. Folkes kräftige, schlanke und hohe Gestalt hatte etwas Imponirendes an sich, was Arthur abging. Letzterer war von mittlerer Größe und von schmächtigem, zartem Körperbau. Er sah aus, wie ein Mann, welcher weichlich erzogen worden war, während Folke das Bild eines unter Arbeit und Anstrengung aufgewachsenen Mannes darbot.

Agnes war nicht im Stande, es einzusehen, daß Folke von angenehmerem Aeußern war; sie tröstete sich vielmehr damit, daß Arthurs Aussehen eine noblere und bessere Abstammung verrathe, als diejenige des Sohnes des Tischlergesellen.


Auf dem Comptoir saß Arthur und hatte schon früh am Morgen zu arbeiten angefangen, als die Thüre aufging und Margarethe hereinsah. Sie grüßte den Vetter freundlich, welcher ganz überrascht war, daß sie so frühe schon da sei.

»Ist Richardson nicht da?« fragte Margarethe.

»Er ist soeben hinaufgegangen,« lautete die Antwort; »wenn du ihn sprechen willst, so wirst du ihn gewiß bei seiner Mutter treffen.«

»Ich werde ihn schon dort aufsuchen, obwohl ich ihn hier zu treffen hoffte: allein ehe ich gehe, möchte ich wissen, ob du Zeit hast, mich heute Abend zu besuchen. Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu sprechen.«

»Dann werde ich mich einfinden, obwohl es in diesem Falle ziemlich spät Abends sein wird.«

»Du bist jederzeit willkommen.« Margarethe nickte, und Arthur preßte die Lippen zusammen, worauf die Thüre sich hinter ihm schloß. Er murmelte: »Ihm und immer ihm gelten ihre Besuche.« Arthur erhob sich vom Pult und legte seine Faust auf dasselbe, während er mit gedämpfter Stimme sagte: »In der Hölle kann es keine größere Qual geben, als diejenige, welche ich ausstehe; aber nimm dich in Acht, Margarethe: du verschwendest deine Liebe an einen Undankbaren. Er wird dich nie lieben!«

Hundern kam herein, und Arthur begab sich wieder an seinen Platz.

Margarethe hatte sich inzwischen nach dem »Herrenthurm« begeben, allein anstatt zu Jane hineinzugehen, ging sie in die oberste Wohnung hinauf. Es war ihr gesagt worden, daß Folke in seiner Wohnung sei.

Sie klopfte an, und ein »Herein!« war die Antwort.

Sie machte die Thüre auf und traf Folke an seinem Arbeitstisch im äußeren Zimmer an, als er gerade eine Zeichnung durchsah, welche ihm der Werkmeister vorgelegt hatte.

Als Folke Margarethe erblickte, verabschiedete er den Werkmeister sogleich.

»Es ist dies das erste Mal, daß mich Margarethe in meiner Wohnung besucht,« sagte er. »Was mag wohl die Ursache sein?«

»Etwas Außergewöhnliches,« antwortete Margarethe.

»Was wir übrigens sicherlich auch unten bei meiner Mutter verhandeln können,« gab Folke zur Antwort.

»Durchaus nicht; wir bleiben, wo wir sind, und du brauchst gar kein so ernstes Gesicht zu machen. Ich kann dich versichern, daß Margarethe Grattmans Ruf ein solcher ist, daß es Niemand einfallen wird, eine Bemerkung darüber zu machen, daß ich mit dir in deiner Privatwohnung gesprochen habe.«

Folke antwortete nicht, sondern stellte seinem Besuch einen Stuhl hin. Er selbst blieb stehen.

»Es ist jetzt ungefähr fünf Wochen her, daß ich um eine Stelle auf dem Comptoir zu Nygarda für den Fall, daß eine solche erledigt werden würde, mich beworben habe. Verhält es sich nicht so?« Margarethe nahm ihren Hut ab, während sie sprach und legte denselben auf den Tisch. Folke versicherte, daß er sich ganz genau erinnere, dies gesagt zu haben.

»Nun gut, mein Freund, jetzt bin ich hier, um dich beim Wort zu nehmen. Willst du mir die erledigte Stelle übertragen?« Margarethe blickte ihn an. Ihre Augen waren so hell und blau, daß Folke die seinigen seufzend abwandte.

»Ich begreife nicht, wo dieser Scherz hinaus will,« sagte er. »Ein Theil von Margarethens Vermögen ist in der Fabrik angelegt, und es ist erst zwei Tage her, seit …«

»Wir die Bücher durchsahen, willst du sagen,« unterbrach ihn Margarethe. »Ich frage nur, will Folke mir die Comptoiristenstelle übertragen? Ja oder nein!«

»Margarethe soll die Stelle haben.« Folke sah sehr ernst aus.

»Unbedingt! Muß ich sie selbst bekleiden oder kann ich damit machen, was ich will?«

»Ganz und gar.«

»Danke.«

Folke machte ein steifes Compliment.

»Aber,« sagte er, »es würde mir immerhin lieb sein, wenn ich eine Erklärung darüber bekommen könnte, warum Margarethe diese Stelle zu haben wünscht. Geschieht es aus Furcht, daß ich dieselbe unbesetzt lasse und Grattman sich deshalb überanstrengen muß oder geschieht es aus dem Grunde, um seinem Wunsche entgegenzukommen, daß er sein Einkommen vermehrt?«

»Arthurs Wünsche sind mir vollständig unbekannt,« versicherte Margarethe; »derselbe spricht mit mir nicht von seinen eigenen Angelegenheiten.«

»Aber seine Schwester thut dies vielleicht an seiner Stelle,« wandte Folke ein; »und weil wir gerade auf ihn zu sprechen kommen, so muß ich dir mittheilen, daß ich glaube, wir sollten ihm tausend Reichsthaler mehr bezahlen, und ihm dennoch einen Mitarbeiter geben. Er arbeitet in der Weise, daß er diese Aufbesserung verdient.«

»In diesem Fall kannst du eine Bestimmung treffen,« sagte Margarethe. »Morgen haben wir den fünfzehnten Juli. Du wirst dann wissen, was ich in Beziehung auf meine Comptoiristenstelle zu thun gesonnen bin; inzwischen lebe wohl und sage Niemand, daß ich dieselbe erhalten habe.«

»Bleibe einen Augenblick,« bat Folke.

»Was, du bittest mich da zu bleiben, und erst kürzlich hast du mir die Thüre gewiesen!«

»Nur eine Frage: hält Margarethe viel auf Arthur Grattman?«

»Ehrlich gesprochen: ich habe dies stets gethan, und ich hoffe, dies immer zu thun.«

»Freundschaft also und nichts weiter!«

»Das kommt vom Mangel an Herz, wie du behauptest. Lebe wohl, wir treffen uns morgen wieder.«

Margarethe ging. Folke klingelte, und der Werkmeister trat ein, um mit Folke die Prüfung der Zeichnung fortzusetzen.


Folke war neugierig zu erfahren, was Margarethe bezüglich der zugesagten Comptoiristenstelle anfangen würde.

Es war ihm vollkommen klar, daß einer ihrer Schützlinge die Stelle erhalten werde; aber warum sagte sie dies dann nicht rund heraus? Und doch wußte Folke, daß Alle, welche sich ihres Wohlwollens zu erfreuen hatten, auch von ihm wohlgelitten waren. Es mußte sich somit um eine Person handeln, gegen die er ein Vorurtheil hegte. Folke forschte vergebens nach einem jungen Mann, welchem etwa die Stelle hätte zugedacht sein können. Trotz des nicht geringen Grades von Ungeduld, welchen Folke empfand, um Aufklärung in dieser Angelegenheit zu erhalten, kam er am andern Morgen dennoch nicht früher als sonst auf das Comptoir; aber wie groß war sein Erstaunen, als er an dem Pulte des früheren Comptoiristen, welches seit fünf Wochen unbesetzt war, ein Frauenzimmer antraf, welches schrieb. Dasselbe hatte den Rücken der Thüre zugewandt; wenn man aber das schwarze Haar sah, so konnte man über die Person nicht im Zweifel sein. Der neue Schreiber, welcher da saß, war kein Anderer als – Agnes. Bruder und Schwester arbeiteten jetzt auf demselben Comptoir!

Nachdem die Überraschung vorüber war, lächelte Folke. Er hielt übrigens trotzdem stille, weil er nicht wußte, wie er diese eigenthümliche Erscheinung auf seinem Comptoir begrüßen solle. Margarethens Heraustreten aus dem innern Zimmer machte seiner Unentschlossenheit schnell ein Ende.

»Guten Morgen, Folke,« sagte Margarethe fröhlich; »hier stelle ich dir deinen neuen Comptoiristen vor. Ich argwöhne übrigens sehr, daß du es selbst bist, lieber Folke, welcher Agnes aus einem unbeschäftigten Mädchen in einen emsigen Arbeiter auf dem Comptoir, wo ihr Bruder thätig ist, verwandelt hat.«

Agnes erröthete und warf einen vorwurfsvollen Blick auf Margarethe.

»Es freut mich sehr, daß Herr Grattman einen so wünschenswerten Beistand erhalten hat,« sagte Folke; »aber ich schreibe nicht mir das Verdienst zu, ihm diese Gelegenheit verschafft zu haben. Ich habe die Gewißheit, daß das, was ich sage, nur auf Margarethe Bezug haben kann.«

»Ich habe es ebenso wenig gethan,« erklärte Agnes; »mein einziges Begehren war dahin gerichtet, durch Arbeit meinen Lebensunterhalt zu verdienen und meinem Bruder seine ökonomische Last zu erleichtern.«

»Ein achtungswerthes Bestreben, welches, wie ich hoffe, auch gelingen wird.«

Agnes nahm ihren Platz wieder ein. Folke und Margarethe wechselten einige Worte mit einander, woraus Ersterer an seinem Pulte Platz nahm. Margarethe verabschiedete sich, worauf man keinen andern Laut mehr vernahm, als das Kratzen der Federn auf dem Papier.

Nachdem Folke eine Weile geschrieben hatte, stand er auf und legte der Agnes zwei Concepte auf das Pult.

»Dies muß ins Reine geschrieben und dann in die Bücher eingetragen werden. Ich werde selbst unterzeichnen.«

Er ging hinaus, wobei er den hohen Stuhl bemerkte, auf welchem Agnes saß.

»Sie sitzt nicht sehr bequem,« dachte er.

Eine Woche später, als Agnes Abends damit beschäftigt war, ihre Bücher am Pulte durchzugehen, kam Folke in das Comptoir herein. Agnes befand sich allein da; Arthur war nach Qvarndammen geritten.

»Wollen Sie die Güte haben, mir die Schlüssel zu Ihrem Pulte zu geben,« sagte Folke; »ich werde Ihnen dieselben morgen wieder zurückgeben.«

Sie gab ihm die Schlüssel und entfernte sich. Am gleichen Abend erhielt Agnes die Schlüssel durch Sara zurück, wobei Agnes dachte: »Er hat gewiß meine Arbeit durchgesehen. Vielleicht denkt er, der sich keine Ruhe gönnt, daß ich nicht genug arbeiten werde.«

Agnes überdachte nun die abgelaufene Woche. Die Zeit kam ihr im Vergleich mit den Tagen und Wochen, welche sie zu Nygarda ohne Beschäftigung zugebracht hatte, kurz vor, und Agnes empfand ein Gefühl der Befriedigung.

»Er hatte Recht: die Arbeit gewährt Trost, Muth und Ergebung,« sagte sie sich, als sie in das Schlafzimmer eintrat. Die Bibel auf dem Nachttisch kam ihr wieder unter die Augen. »Sonderbar,« bemerkte sie, »daß ich dieses Buch jeden Abend hier finde, obgleich ich dasselbe stets wieder an seinen Platz stelle.«

Sie rief nach Sara.

»Wie kommt es, daß du die Bibel jeden Abend vom Schranke nimmst?« fragte Agnes.

»Ich will dem Fräulein die Mühe ersparen, dies zu thun,« antwortete Sara; »so habe ich es stets bei Frau Richardson gehalten, denn diese legte sich nie zu Bett, ohne vorher ein Kapitel daraus gelesen zu haben.«

Agnes sagte nichts weiter, und Sara ging. Das Mädchen setzte sich, nahm die Bibel in die Hand und starrte die großen Seitendecken an; endlich öffnete sie das Buch, und es fielen ihr folgende Worte in die Augen: »Bittet, so wird Euch gegeben; suchet, so werdet Ihr finden.«


Agnes war am andern Morgen die Erste auf dem Comptoir. Eine Ueberraschung harrte ihrer.

Das alte hohe Pult, an welchem sie gearbeitet hatte, war fort, und an seiner Stelle stand ein kleines, elegantes, für ein Frauenzimmer passendes nebst einem dazu gehörigen zweckmäßigen Comptoirstuhl. Folke hatte also zu dem Zwecke, um das alte Pult gegen ein neues zu vertauschen, die Schlüssel verlangt gehabt. Sie nahm den Schlüsselbund und bemerkte jetzt erst, daß die alten Schlüssel durch neue ersetzt worden waren.

Agnes öffnete die Klappe und fand alle ihre Papiere und Bücher in guter Ordnung vor. Auf dem Pult stand ein hübsches Tintenfaß nebst einigen andern hübschen Schreibgeräthschaften. Sie hatte die Gegenstände noch nicht alle gemustert, als Folke eintrat.

Dem jungen Mädchen stieg das Blut in den Kopf, als es sich nunmehr erstmals ganz allein mit Richardson auf dem Comptoir befand. Agnes mußte sich für die ihr bewiesene Aufmerksamkeit bedanken, allein wie sollte sie einige anerkennende Worte über ihre widerstrebenden Lippen bringen?

»Guten Morgen,« sagte Folke in seinem knappen, kalten Ton.

Agnes ging einen Schritt auf Folke zu und stammelte hervor: »Welche Güte …«

»Eine Frau nicht auf einem hohen Stuhl sitzen zu lassen, wo ihre Füße nicht den Boden erreichen, und sie zu verhindern, an einem Pulte zu arbeiten, wo sie sich eine Lungenkrankheit zuzieht!« wandte Folke ein, »Fräulein Grattman ist mir keinen Dank schuldig. Die Aenderung, welche vorgenommen worden ist, war nothwendig, und es ist deshalb kein Wort darüber zu verlieren.«

Folke machte sein Pult auf, nahm ein Papier heraus und übergab es der Agnes mit den Worten: »Machen Sie eine Abschrift hievon,« womit jede weitere Unterredung zu Ende war. Als Agnes die Abschrift vollendet hatte, begab sich Erstere damit zu Folke und wollte dann wieder an ihren Platz gehen; sie wurde aber mit folgenden Worten zurückgehalten: »Sie haben einige Sprachfehler gemacht. Sie schreiben schlecht Englisch.«

Agnes erröthete.

»Ich habe wortgetreu abgeschrieben,« sagte sie.

»Doch nicht,« sagte Folke ungeduldig; »überzeugen Sie sich selbst.« Er zeigte ihr zuerst das Concept und dann die Reinschrift.

Agnes beugte sich über die Papiere. Sie hatte in der That Fehler gemacht. Während sie in dieser gebückten Stellung verharrte, löste sich eine ihrer Flechten auf und glitt am Halse hinunter. Folkes Blicke fielen auf die schönen, glänzenden Haare, welche seidenartig und weich das gesenkte Haupt umgaben und demselben ein südländisches Aussehen verliehen; allein wie wenn es ihn geärgert hätte, seine Aufmerksamkeit von einer solchen Kleinigkeit in Anspruch nehmen zu lassen, bemerkte er trocken: »Ich kann meinen Namen nicht unter diese Abschrift setzen: Sie müssen dieselbe nochmals machen.«

Agnes nahm das Concept und die unrichtige Abschrift; allein Folke hielt solche zurück.

»Lassen Sie dieselbe liegen.«

»Aber ich möchte sie nochmals machen,« sagte Agnes, welche ganz roth wurde; »es führt zu nichts, wenn Herr Richardson diese Abschrift zurückbehält und die Fehler, welche ich gemacht habe, sehen muß. Ich werde mich bestreben, von nun an dieselben zu vermeiden.« Sie wollte das Papier ergreifen, aber Folke ließ es nicht los. Er schüttelte nur den Kopf und blickte sie an.

»Sie sind sehr stolz, Fräulein Grattman, allein dessen ungeachtet bleibt die Abschrift in meinem Besitz.«

Aus seinem Blick und an seiner Stimme konnte man entnehmen, daß alle Worte verschwendet seien, und Agnes, welche beim Eintritt in das Comptoir zufriedeneren Sinnes war, empfand jetzt ein sehr peinliches Gefühl. Sie setzte sich gramerfüllten Herzens auf den Schreibstuhl, und als sie sich niederbeugte, rollten ein paar dicke Thränen über ihre Wangen, wodurch einige Flecken auf den Brief kamen. Sie mußte denselben bei Seite legen und einen neuen Bogen nehmen. Nachdem dies geschehen war, streckte Folke die Hand aus und nahm das bei Seite gelegte, von Thränen durchfeuchtete Papier, ohne übrigens ein Wort zu sagen.

Agnes hatte gegen dieses Verfahren protestiren wollen, allein sie wagte nicht, das in Thränen gebadete Angesicht zu erheben und wollte nicht weiter mit dem Mann reden, welcher sie durch seine schonungslosen Reden beleidigt hatte.

Auch bemerkte Agnes nicht, daß Folke, so lange sie schrieb, sie betrachtete, trotzdem er am Pulte in gebückter Stellung saß.

Als Agnes bei den letzten Zeilen angelangt war, stellte Folke sich hinter sie, bis sie mit Schreiben fertig war, nahm ihr die Feder aus der Hand und unterzeichnete seinen Namen.

»Sie haben meine Abschrift nicht durchgelesen,« bemerkte Agnes.

»Das ist überflüssig, Sie werden denselben Fehler nicht zweimal begehen.«

Er legte der Agnes ein halbes Dutzend Concepte auf das Pult und kehrte sodann zu dem seinigen zurück.

Den ganzen Vormittag wurde kein Wort weiter gewechselt.

Als Agnes zur Mittagszeit ihr Pult zuschloß und sich zum Fortgehen anschickte, erhob Folke den Kopf und sagte in freundlicherem Ton:

»Es ist Mittwoch; mit dem Brief, welchen Sie geschrieben haben, ist die Correspondenz für die heutige Post abgeschlossen. Es ist also diesen Nachmittag nichts zu thun; wollen Sie vielleicht einen Besuch zu Fjellboda machen? Ich spiele mit meiner Mutter ›Klein Fünf‹; wollen Sie ihr nicht Gesellschaft leisten?«

Agnes stand da mit erhobenem Kopf und mit der Röthe verletzten Stolzes auf den Wangen.

»Heute will ich keinen Besuch zu Fjellboda machen,« antwortete sie.

»Sie sind aber ja dann allein zu Hause, da Ihr Bruder den ganzen Tag zu Qvarndammen sein wird. Sie sollten deshalb auch fortgehen.« Folke näherte sich ihr.

»Ich liebe die Einsamkeit; ich habe im Sinne, einen größeren Spaziergang zu machen.«

»Nun, wie Sie belieben.« Folke wandte sich weg, aber als Agnes gleichzeitig unter der Thüre stand, setzte er hinzu: »Sie sind böse, und deshalb verwerfen Sie meinen Vorschlag. Wenn ich Ihnen denselben vor dem Schreiben des englischen Briefes gemacht hätte, so würden Sie sich vielleicht nicht geweigert haben, meiner Mutter Gesellschaft zu leisten.«

»O ja, ich hätte es dennoch gethan.« Agnes erhob den Kopf noch mehr. Ihre und Folkes Blicke begegneten sich.

»Sie widersprechen sich selbst und thun Unrecht.« Folke ging wieder an das Pult zurück, und Agnes eilte in ihre Wohnung hinauf.

Sie war sehr aufgeregt. Unzufrieden mit sich sowohl, als mit Folke, sah sie ein, daß ihr Benehmen mit ihrer Stellung nicht im Einklang stehe. Eine Bemerkung durfte nicht verletzen; sich mißmuthig zeigen hieß soviel als empfindliche Eigenliebe an den Tag legen. Jetzt bereute es Agnes, dies gethan zu haben und damit aus ihrer Rolle gefallen zu sein. Ach! wie betrübt kam ihr jetzt ihre ganze Zukunft vor, und dennoch hatte ihr dieselbe am Morgen so befriedigend geschienen.

Das Mittagessen schmeckte ihr nicht, und Sara dachte, als sie das beinahe unberührte Essen abtrug: »Meine junge Gebieterin muß die Bibel fleißig lesen, um ihre absonderliche Laune im Zaum halten zu können.«

Sara trug den Kaffee auf und theilte bei dieser Gelegenheit mit, daß Frau Richardson wünsche, Agnes möchte sie besuchen.

»Gehe nicht!« rief der Hochmuth.

»Gehe!« sprachen Vernunft und Herz. Diesmal gehorchte sie den letzteren und begab sich zu Jane hinauf.

»Fräulein Grattman,« äußerte die Engländerin, »wollen Sie mir einen Dienst erweisen?«

»Wenn es mir möglich ist,« stammelte Agnes, deren verletzte Eigenliebe noch immer mit den besseren Trieben zu kämpfen hatte.

»Ich habe es Fräulein Margarethen versprochen, ihr den Besuch zu machen, welchen ich ihr jährlich einmal abzustatten pflege. Mein Sohn hätte mich begleiten sollen, allein er hat eine Abhaltung, denn Ihr Bruder hat ihn nach Qvarndammen beschieden: würden Sie deshalb die Güte haben, mich zu begleiten?«

Es war unmöglich, mit »Nein« zu antworten, obgleich der Hochmuth es so haben wollte.

Kurze Zeit darauf trug man die Lahme in das Gefährt, welches sodann mit den beiden Personen davonfuhr.

Als man unten im Thale war, kam Folke hergeritten. Er drückte den Wunsch aus, die Fahrt möge seiner Mutter gut bekommen und ließ alsdann sein Pferd vorbeieilen.

Zu Fjellboda war es wie immer sehr angenehm. Agnes glaubte, sie müsse nach jedem Besuch daselbst mehr eingenommen für Signe sein. Sie hegte, was der eigenen Mutter gegenüber nicht der Fall war, für Signe eine kindliche Zärtlichkeit.

Nach dem Abendessen, als Jane mit Agnes nach Hause fahren wollte, halfen Signe und Margarethe der lahmen Frau, sich mit Mantel und Hut zu bekleiden. Ehe Jane fertig war, hörte man ein Pferd in den Hof hereingaloppiren. Es war Folke. Einige schwere Regentropfen fielen von dem bewölkten Himmel. Die im Zimmer Befindlichen hatten indessen das herannahende Unwetter nicht wahrgenommen.

»Warum kommst du so spät, Folke?« rief Margarethe aus.

»Meine Zeit erlaubte es mir nicht, mit Mama zu kommen; allein da ich sah, welches drohende Aussehen der Himmel angenommen hat, so bin ich hierhergeritten, um den Wagen selbst zu führen. Meine Kutschenpferde scheuen vor dem Donner, und ich wage nicht, meine Mama dem Kutscher anzuvertrauen, da wir von einem heftigen Donnerwetter bedroht sind.«

Weder Signe noch Margarethe machten den Vorschlag, daß Jane über Nacht da bleiben solle, denn sie wußten, daß Jane nie sich hiezu hätte bewegen lassen. Wenn sie einmal im Jahre Fjellboda besuchte, so war sie stets in Unruhe und pflegte zu sagen: »Wenn man lahm ist, so sollte man es nie wagen, auszugehen; man muß sich stets auf etwas Unerwartetes gefaßt machen und sollte Andere dieser Unannehmlichkeit nicht aussetzen.«

Als Jane angekleidet war, nahm Folke sie in die Arme und trug sie in das Fuhrwerk. Agnes folgte denselben. Folke setzte seine Mutter so bequem wie möglich, wandte sich alsdann nach Agnes um und streckte die Hand aus, um ihr beim Einsteigen zu helfen; sie schien dies jedoch nicht zu bemerken, sondern sprang ohne seine Beihilfe in den Wagen hinein.

Der erste Blitz leuchtete auf. Die Pferde bäumten sich und als ein starker Donnerschlag ertönte, gelang es dem Kutscher und dem Knechte nur mit der äußersten Anstrengung, die Thiere zurückzuhalten. Agnes war todesbleich vor Schrecken.

»Ist es nicht sehr gewagt, bei diesem Wetter und mit so unbändigen Pferden zu fahren?« rief Margarethe aus.

»Es ist keine Gefahr vorhanden,« versicherte Folke und wollte sich auf den Kutschenbock setzen, wobei er seine Augen auf Agnes richtete. »Fräulein Grattman ist erschrocken; bleiben Sie heute zu Fjellboda über Nacht; ich werde Sie morgen abholen lassen.«

»Wenn Sie erlauben, so gehe ich mit Frau Richardson,« gab Agnes zur Antwort.

Es schien ihr, als ob Folke gelächelt hätte, allein sie war ihrer Sache nicht sicher, denn er beeilte sich, seinen Platz auf dem Bock einzunehmen, ergriff die Zügel, und bergab rollte der Wagen mit unglaublicher Geschwindigkeit.

Es blitzte und donnerte rings herum. Die Pferde flogen dahin, und noch niemals hatte Agnes eine so geschwinde Fahrt mitgemacht. Jane fragte, ob sie ängstlich sei, aber diese Frage wurde in einem so ruhigen Ton ausgesprochen, daß Agnes ihre Furcht nicht eingestand.

»Sie sind nicht aufrichtig,« ertönte eine Stimme durch Donner, Sturm und Regen. »Sie sind sehr erschrocken,« setzte die unerbittliche Stimme hinzu, und Folke warf einen raschen Blick in den Wagen.

Man gelangte endlich unter fortwährendem Donnerwetter und Regen nach Nygarda. Folke hielt zuerst bei der Wohnung des Buchhalters und lüpfte Agnes ohne alle Umschweife aus dem Wagen.

»Gute Nacht, Fräulein Grattman, Sie haben gutes Eisen in Ihrem Charakter, welches man nur zu härten braucht, damit es so wird, wie es sein soll. Ich danke Ihnen für den heutigen Tag.«

Agnes trat in ihre Wohnung ein.

Sie dachte nicht mehr an Blitz und Donner, so ergriffen war sie von der Heimfahrt und von Folkes Abschiedsworten.

Es kam ihr vor, als ob sie aus einer Donnerwolke gefahren wäre und als ob der, welcher sie durch Blitz und Donner geführt hatte, ein übermenschliches Wesen sei.

Noch im Traume rief sie aus: »Man braucht es nur zu härten, damit es so wird, wie es sein soll!«

Als sie am Morgen erwachte, kam ihr der vorhergehende Tag wie ein Traum vor, und sie konnte nicht eher zum Bewußtsein der Wirklichkeit gelangen, als bis sie auf das Comptoir kam und des neuen Pultes ansichtig wurde. Folke saß schon an der Arbeit.

Arthur war auch an seinem Platz, und Alles ging seinen ebenmäßigen Gang. Folke hatte wieder etwas an der Arbeit der Agnes auszusetzen. Bald hatte sie diesen, bald jenen Fehler gemacht, und es schien, als ob Folke mit seiner Kleinlichkeit Agnes habe reizen und ermüden wollen. Zuweilen, wenn Ersterer seine Bemerkungen in gar zu scharfem Tone machte, schoß Arthur das Blut in den Kopf; er sah dann plötzlich auf von seiner Arbeit und blickte die Schwester an, mischte sich übrigens nicht in das, was zwischen ihr und Folke vorfiel.

Merkwürdig war es, daß Agnes nach Folkes erster Bemerkung eine Kaltblütigkeit bewies, welche sie keinen Augenblick außer Acht ließ. Ihr Inneres war ganz Feuer und Flammen, aber sie schien für alle die Stiche, welche ihr Folke versetzte, völlig unempfindlich zu sein, und die einzige Wirkung, welche dieselben hatten, bestand darin, daß sie ihre Anstrengungen verdoppelte. Als sie allein war und der Kummer zum Vorschein kommen wollte, sagte sie sich selbst: »Er will das Eisen in meinem Charakter härten und wird den Triumph nicht erleben, daß es während des Härtens in Stücke springt.«

So kleinlich, unbillig und unverträglich Folke gegen Agnes war, so human und verbindlich war er gegen Arthur. Nie unternahm er etwas in Geschäften, ohne Arthurs Ansicht zu hören, und wenn diese Ansicht derjenigen Folkes gerade entgegengesetzt war, so behielt doch die des Ersteren Geltung. Die Achtung vor Arthur und das Zutrauen zu demselben stiegen mit jedem Tag. Bei jeder Gelegenheit suchte Folke diese Gesinnung an den Tag zu legen, und das Verhältniß zwischen Beiden wäre das allerbeste gewesen, wenn es Arthur nicht schwer gefallen wäre, Folkes Benehmen gegen Agnes gutheißen zu können.

Arthur schwieg, weil er es für das Klügste hielt, aber Folkes Kleinlichkeit verletzte Arthurs Stolz.

Als eine Woche um die andere vergangen war, ohne daß Folke sein Benehmen änderte, ritt Arthur eines Abends nach Fjellboda hinüber.

Es war sehr ungewöhnlich, daß er dort Besuch machte, und sowohl Signe als Margarethe sprachen ihre Verwunderung darüber aus.

»Ich habe etwas mit Margarethen zu sprechen,« sagte Arthur, »und da dies zu Nygarda nicht thunlich ist, so blieb kein anderer Ausweg übrig, als hierher zu reiten.«

Margarethe war der Meinung, daß diese Worte nicht sehr schmeichelhaft seien, worauf Arthur nicht antwortete, sondern ihr in das Kabinett folgte.

»Als du mich einzuwilligen vermocht hast, daß Agnes die Stelle auf dem Comptoir annimmt,« sagte Arthur, als Beide allein beisammen waren, »hast du mir das Versprechen abgenommen, daß ich mich nicht darum bekümmern dürfe, ob sie bleiben oder wieder abgehen wolle. Sie sollte ganz allein darüber bestimmen können. Nun gut, ich bin jetzt gekommen, um dich zu bitten, mich dieses Versprechens zu entbinden.«

»Aus welchem Grund?« fragte Margarethe.

»Weil ich nicht haben möchte, daß sie auf dieser Stelle bleibt. Ich fürchte, daß, wenn sie dies thut, ich die meinige aufgeben muß.«

»Was du sagst, kommt mir räthselhaft vor.«

»Die Sache läßt sich schnell erklären. Richardsons Benehmen gegen Agnes deutet darauf hin, daß er die Absicht hat, Agnes zu veranlassen, daß sie ihre Stelle aufgibt. Er will sich des ihm aufgenöthigten Arbeiters entledigen. Er ist unbillig, hochfahrend und ungerecht gegen Agnes, und du wirst es wohl einsehen, daß wenn ich dies täglich anhören muß, meine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe gestellt wird. Es ist deshalb am besten, wenn du mich des Versprechens entbindest, das du mir abgenommen hast, damit ich mich in die Sache einmischen und Agnes vom Comptoir wegnehmen kann.«

»Ich entbinde dich deines Versprechens nicht,« sagte Margarethe. »Du mußt demselben treu bleiben und es deiner Schwester selbst überlassen, was sie für gut findet. Rede mit derselben, aber lasse sie entscheiden, ob sie sich zu verändern wünscht.«

»Gestehe mir ein, Margarethe, daß du in allen Dingen dich von deiner Schwäche für Richardson leiten lässest!« rief Arthur aus. »Du erlaubst ihm, deine Cousine zu demüthigen, statt daß du der Meinung bist, ihn dadurch zurechtweisen zu können, daß Agnes ihre Stelle aufgibt.«

»Du überlegst nicht, was du sagst,« bemerkte Margarethe in aller Ruhe. »Mein einziger Wunsch geht dahin, es möge Agnes gestattet sein, als selbständiges Wesen zu handeln. Du kannst ja mit ihr sprechen, ohne sie zu beeinflussen. Wenn sie unzufrieden ist, so wird sie dir dies schon sagen.«

Arthur allerdings war sehr mißvergnügt. Margarethe mußte auch ihre ganze Beredsamkeit aufbieten, um ihn zu überzeugen, daß sie sich von keiner Parteinahme leiten lasse.

Als Arthur Abends etwas spät zu Nygarda eintraf, hatte sein Gespräch mit Margarethen die Folge gehabt, daß er die Dinge von einem ganz andern Gesichtspunkt aus betrachtete, als bei seinem Abgang.

Arthur war nach dem Besuch zu Fjellboda in Gedanken nur mit Margarethen beschäftigt. Vielleicht war die Macht, welche sie auf ihn ausübte, größer als je, obgleich er sich dieser Macht zu entziehen suchte. Es verletzte seinen Stolz, daß sie diesen Einfluß auf ihn ausüben konnte. Die Eifersucht und das Bewußtsein, einstmals ihre Achtung verscherzt zu haben, rief das brennende Verlangen in ihm hervor, auf dem selbst vorgezeichneten Wege weiter zu gehen und zwar ohne Beeinflussung von Seiten Margarethens.

Arthur traf bei der Ankunft zu Nygarda Folke in der Allee. Derselbe grüßte und fragte: »Wie steht es zu Fjellboda?«

Woher wußte Folke, daß Arthur dort gewesen war? Arthur antwortete, ohne Verwunderung zu verrathen, daß es daselbst ganz gut stehe.

»Wenn ich Zeit gehabt hätte, so wäre ich heute dorthin geritten, um zu sehen, wie sie sich daselbst befinden, da Fräulein Margarethe diese ganze Woche nicht mehr hier war. Es freut mich, daß sie sich Alle wohl befinden. Gute Nacht.«

Folke spazierte pfeifend über die Allee hinaus, und Arthur begab sich in seine kleine Wohnung hinauf.

»Er ist also die ganze Woche über nicht bei Margarethen gewesen. Was mag wohl die Ursache sein?« dachte Arthur.


»Höre Agnes,« sagte Arthur am folgenden Morgen, »willst du mir aufrichtig eine Frage beantworten?«

»Ich antworte stets aufrichtig,« versetzte Agnes. »Du weißt ja wohl, daß ich zu verwöhnt bin, um mich verstellen zu können.«

»Sieh mir fest in die Augen,« sagte er.

»Gerne.« Agnes blickte ihrem Bruder frei in das Gesicht.

»Ist es dir keine Qual, fortwährend auf dem Comptoir zu arbeiten?« fragte er.

»Im Gegentheil, es macht mir Vergnügen.«

»Aber es scheint mir, daß dich Richardson auf eine ungerechte Weise behandelt.«

»Dies habe ich nicht bemerkt.« Agnes blickte ihren Bruder ruhig an. »Ich glaube, daß er sich richtig benimmt. Ich arbeite auf seinem Comptoir und er behandelt mich so, wie er Jeden behandeln würde, ohne Rücksicht darauf, daß ich eine Frauensperson bin. Damit beweist er, daß er meine Stellung richtig aufgefaßt hat. Nur unter solchen Umständen ist es möglich, daß eine Frau an den Geschäften der Männer Theil nimmt. Höflichkeit wäre hier nicht am Platze.«

Arthur sah verwundert aus. War dies die unverträgliche und unvernünftige Agnes? Wer hatte ihr diese Denkungsart beigebracht? Diese Frage zu entscheiden sollte der Zukunft vorbehalten bleiben.

»Seine fortwährende Unzufriedenheit mit Allem, was du thust, verletzt dich somit nicht?«

»Nicht im mindesten.«

»Du willst also auf deiner Stelle bleiben?«

»Gewiß. Seitdem ich eine bestimmte Thätigkeit habe und mir bewußt bin, daß ich selbst für meinen Unterhalt arbeite, vermisse ich den Reichthum nicht mehr und bin nicht bekümmert darüber, daß wir arm sind.«

Arthur küßte seiner Schwester die Hand.

Sie umhalste ihn, drückte ihr roth gewordenes Gesicht an seine Brust und stammelte: »Jetzt, Arthur, bin ich wahrhaft glücklich: ich weiß, daß du mich liebst, daß du alle meine Fehler vergessen und verziehen hast, daß … –«

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich störe,« ertönte eine Stimme von der Thüre her.

Agnes richtete den Kopf in die Höhe und ließ die Arme von dem Hals ihres Bruders los.

Folke war unbemerkt hereingekommen. Es war dies zum erstenmal, daß er seinen Fuß über diese Schwelle gesetzt hatte. Was konnte ihn jetzt dazu veranlaßt haben?

»Der Commissionär des Hauses H–s in London ist hier, um das bedeutende Baumwollegeschäft abzumachen. Er hat uns nur eine kurze Zeit zu widmen; will also Herr Grattman die Güte haben, ins Comptoir herunterzukommen?«

Folke entfernte sich, nachdem er dies gesagt hatte, und Arthur ging mit ihm.

Agnes klingelte Sara herbei, um zu erfahren, wie es komme, daß Richardson selbst den Arthur gerufen habe. Sara konnte nur soviel sagen, daß Folke am heutigen Tage, wie schon oft, sich sehr früh auf das Comptoir begeben habe; daß der Handelsagent gleich darauf angekommen sei; daß Niemand sonst da gewesen sei, den man habe schicken können und Folke deshalb selbst nach Arthur habe gehen müssen.

Vormittags kam Margarethe nach Nygarda. Sie blieb bis zum Mittag bei Jane. Nach der Mahlzeit ließ sich Margarethe auf dem kleinen Balkon des Thurms nieder. Folke kam ebenfalls dorthin, um, wie er sich ausdrückte, eine Viertelstunde zu verplaudern; mehr Zeit habe er nicht zur Verfügung.

»Was hältst du von Agnes?« fragte Margarethe.

»Sie ist häßlich,« war Folkes Antwort.

»Das hast du schon früher einmal gesagt, und es ist dies keine Antwort auf meine Frage.«

»Margarethe hat mich gefragt, was ich über Agnes denke, und darauf gab ich den mir am passendsten scheinenden Bescheid.«

»Will Folke eine aufrichtige Antwort umgehen?«

»Durchaus nicht; ich bin bereit, dir die gewünschte Auskunft zu geben, nur mußt du deine Fragen deutlich ausdrücken.«

»Gut; wie bist du mit Agnes als Comptoirarbeiterin zufrieden?«

»Ich bin sehr mit ihr zufrieden. Sie arbeitet rasch, gut und mit Verstand. Lasse mich aber jetzt gefälligst wissen, warum du diese Frage an mich gerichtet hast.«

»Es ist mir berichtet worden, daß du ein sehr kleinlicher Herr gegen sie seiest, und dadurch bin ich auf die Vermuthung gekommen, daß du nicht zufrieden bist.«

»Ich bin im Allgemeinen kleinlich und ungeduldig; ich verlange viel und bin nicht sehr nachsichtig, was übrigens Margarethe, wie ich meinte, wissen könnte. Der Comptoirist, welcher bei mir arbeitet, hat es noch immer schwierig gehabt und hat es selten lange bei mir ausgehalten. Jetzt aber, nachdem ich diese Erklärung abgegeben habe, möchte ich wissen, wie es kommt, daß du von den Vorgängen auf meinem Comptoir unterrichtet bist. Hat Fräulein Grattman sich beklagt?«

»Diese Frage war nicht aufrichtig, Folke, denn du weißt es, daß sie dies nicht gethan hat.«

»Dann hat es der Bruder gethan.« Folke runzelte die Stirne.

»Ich glaube nicht, daß man in der Familie Grattman sich beklagt,« versetzte Margarethe. »Arthur glaubte, seine Schwester von dem Comptoir entfernen zu müssen, weil sie nicht so arbeiten könne, um deine Zufriedenheit zu erlangen. Er wollte dies indessen nicht thun, ohne zuvor meine Meinung zu vernehmen.«

»Und was hat Margarethe für einen Rath gegeben?«

»Daß man Agnes entscheiden lassen solle.«

»Ich danke, Margarethe. Jetzt muß ich gehen. Du wirst nun deine Cousine besuchen?«

»Ist sie nicht auf dem Comptoir beschäftigt? Ihr habt ja Posttag heute.«

Folke sah auf seine Uhr.

»In einer Stunde ist Fräulein Grattman frei.«


Agnes war allein auf dem Comptoir, als Folke eintrat. Es war an einem der Nachmittage, an welchem Arthur auf dem Comptoir zu Qvarndammen war.

Folke begab sich an sein Pult, ohne etwas zu der eifrig schreibenden Agnes zu sagen. Er ging einige Briefe durch und bemerkte alsdann: »Wollen Sie meinen Namen hier unterzeichnen und dann einige Zeilen schreiben, welche ich diktiren werde. Ich habe mich an der rechten Hand beschädigt und kann nicht schreiben.«

Agnes blickte auf seine Hand. Dieselbe war verbunden. Folke reichte ihr den Brief, welcher unterschrieben werden sollte. Hierauf nahm Agnes einen unbeschriebenen Bogen Postpapier, legte ihn vor sich hin und wartete auf Folkes Diktat.

Dieser stellte sich neben ihr Pult und folgte, während sie schrieb, den Federzügen mit den Blicken. Als Agnes daran war, diesen letzten Brief abzuschließen, sagte Folke: »Sie haben eine schöne Handschrift.«

Dieses unbedeutende Lob veranlaßte, daß Agnes plötzlich aufsah. Er lächelte in seiner ernsthaften Weise und sagte: »Schreiben Sie meinen Namen.«

Agnes schrieb denselben.

»Danke! Jetzt ist es nur noch nöthig, den Brief zu adressieren und denselben ins Journal einzutragen, dann können wir das Comptoir schließen.«

»Ich habe Rechnungen herauszuschreiben,« wandte Agnes ein.

»Diese brauchen vor Dienstag nicht abzugehen. Sie arbeiten unter einem gar zu strengen Herrn und haben deshalb dazwischen hinein einige Ruhe nöthig.« Folke lächelte abermals.

Agnes schwieg, legte den Brief zusammen, versiegelte denselben und adressirte ihn. Folke stand fortwährend hinter ihrem Stuhl, sagte jedoch kein Wort. Es schien, als ob er an etwas ganz Anderes denken würde. Als Agnes Alles besorgt hatte, legte sie den Brief zu andern Briefen, nahm ein großes Buch zu sich und fing an, eine Rechnung herauszuschreiben.

»Wollen Sie mit Ihrer Arbeit fortfahren?« fragte Folke.

»Ja.«

»Aber ich sagte ja, daß Sie Ruhe nöthig haben.«

»Ich theile diese Ansicht nicht und mache deshalb weiter,« antwortete Agnes.

»Wie lange sind Sie jetzt auf Ihrer Stelle?«

Agnes erröthete, denn es ärgerte sie, daß er nicht einmal soviel Interesse an ihr genommen hatte, um sich hieran zu erinnern.

»Seit drei Monaten.«

»Dies ist eine lange Zeit für Sie gewesen, nicht wahr?«

»Durchaus nicht. Die Zeit verging und ich war mit meinem Loos zufrieden.«

»Obgleich Sie es mit einem so eigenen Menschen zu thun hatten.«

»Ich habe nicht bemerkt, daß Herr Richardson ein eigener Mann ist.«

Folke biß sich auf die Lippen.

Agnes hatte so wenig Gewicht auf seine Art und Weise gelegt, daß ihr dieselbe nicht einmal auffiel.

»Sie sind in diesem Falle der erste Comptoirarbeiter, welcher meiner Ungeduld nicht überdrüssig wurde. Sonst haben es die Leute höchstens ein halbes Jahr bei mir ausgehalten. Vielleicht haben Sie in den nächsten drei Monaten auch genug an mir.«

»Daran zweifle ich.«

»Sie sind demnach mit Ihrer Beschäftigung zufrieden?«

»Sehr.«

»Ihre Hand, Fräulein Grattman: ich danke Ihnen für diese Worte.«

Agnes wollte ihm die Hand nicht geben; aber als sie seinen Blick bemerkte, reichte sie ihm dieselbe dar. Folkes große Faust umfaßte fest das seidenweiche Händchen.

»Heute schreiben Sie nicht mehr,« sagte Folke. »Ich bitte Sie, jetzt aufzuhören.«

Agnes gab keine Antwort. Sie zog ihre Hand zurück, legte die Bücher bei Seite und schloß das Pult ab.

Folke nahm seinen Hut.

»Margarethe ist bei meiner Mutter,« sagte er; »wollen Sie nicht hinaufgehen und ein Stündchen im Gespräch zubringen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er hinaus. Er rief dem Comptoirdiener, sagte demselben, er solle das Comptoir abschließen und gab ihm die Posttasche.


Entlaubt standen die Bäume da, und der Winter war auf den regnerischen, düstern Herbst gefolgt, ohne daß zu Nygarda durch diesen Wechsel eine Aenderung eingetreten wäre. Dort wurde mit derselben Emsigkeit gearbeitet, mochte nun die Erde ein grünes, graues oder weißes Gewand tragen.

Agnes kam ihren Obliegenheiten eifrig und mit Interesse nach.

Folke war eigentlich noch immer derselbe, gleich ungeduldig, gleich eifrig und schwer zufrieden zu stellen; wenn es auf dem Comptoir viel zu thun gab, so machte er außerordentliche Ansprüche. Er hätte in der That einen Engel überdrüssig machen können, allein Agnes wurde nicht überdrüssig.

Es hatte wirklich den Anschein, als ob sie seine Unverträglichkeit nicht in Acht nehme. Wenn er sich vereiferte, so lächelte sie im Stillen, und wenn Folke dieses Lächeln bemerkte, so hütete er sich stets, heftig zu werden; allein er wurde immer widerwärtiger.

Einen Tag nachher, als Agnes erstmals sein Diktat niedergeschrieben hatte, waren von Folke einige Aenderungen auf dem Comptoir getroffen worden. Agnes arbeitete jetzt nur noch Vormittags, mit Ausnahme des Dienstags und Freitags, wo sie bis zum Abgange der Post zu thun hatte. An den übrigen Tagen hatte sie Nachmittags frei.

Arthur dagegen war mehr oder minder in Anspruch genommen. Er hatte es übernommen, auch auf dem Comptoir zu Qvarndammen die Aufsicht zu führen, wodurch sowohl seine Geschäfte, als auch sein Einkommen sich verdoppelten.

Als Folke die Arbeitszeit für Agnes abgeändert hatte, sagte er zu Arthur: »Ihre Schwester braucht Luft und Bewegung, und es würde ihrer Gesundheit schaden, wenn sie den ganzen Tag arbeiten müßte, besonders da sie es mit einem Mann von meiner Gemüthsart zu thun hat. Es ist daher mein Wunsch, daß sie nur Vormittags arbeitet. Theilen Sie ihr dies mit und sagen Sie derselben, daß ein Pferd zu ihrer Verfügung steht, so daß sie sich entweder durch Reiten oder durch Fahren die nöthige Bewegung verschaffen kann.«

Obgleich Arthur seiner Schwester diese Mittheilung machte und dieselbe bat, sie möge eine solche Gelegenheit benützen, um frische Luft zu schöpfen, so zog es Agnes dennoch vor, kürzere oder längere Spaziergänge zu Fuß zu machen.

Nach einiger Zeit wollte es der Zufall, daß ihr an einem regnerischen und schmutzigen Dezembernachmittag Folke begegnete, wie sie unschlüssig dastand, um über den Weg zu gelangen. Er faßte sie, nahm, ohne ein Wort zu sagen, das zarte Wesen in seine Arme und trug dasselbe über die Wasserpfütze, welche der Regen auf der Straße gebildet hatte. Er setzte Agnes sodann ganz vorsichtig wieder auf den Boden.

»Warum ziehen Sie denn das Fahren dem Gehen nicht vor?« fragte er.

»Weil meine Füße mir und Pferd und Wagen Ihnen gehören. Ich bediene mich am liebsten meiner eigenen Werkzeuge.«

»Sie sind sehr stolz, Fräulein Grattman,« bemerkte Folke. »Es wäre mir lieber, Sie würden es nicht sein.«

Sie gingen nun schweigend neben einander her. Folke begleitete sie nur bis zur Wohnung des Buchhalters, ohne etwas gesprochen zu haben. Als er sich verabschiedete, sagte er: »Morgen werden Sie ausfahren.«

Am folgenden Tag war das Wetter herrlich. Ein Spaziergang zu Fuß wäre sehr angenehm gewesen, aber Agnes fuhr aus, und es kam von nun an selten vor, daß sie spazieren ging.

Um die Weihnachtszeit machte Margarethe, welche das Jahr über zu Fjellboda sich aufhielt, ihren gewöhnlichen Besuch in der Hauptstadt, wo sie mit ihrem Vater Weihnachten feierte. Margarethe brachte dann fünf Wochen mit ihrem Vater zu, ohne an den Lustbarkeiten Stockholms Theil zu nehmen.

Signe pflegte in der Regel mit Margarethen nach der Hauptstadt zu gehen, allein Erstere hatte in den letzten zwei Jahren vorgezogen, zu Fjellboda zu bleiben. Die Reise bekam ihr nicht gut, nachdem sie einmal alt geworden war. Signe übernahm die Fürsorge für die Alten und Bedürftigen im Armenhaus, für die Fabrikarbeiter und Schulkinder, so lange Margarethe abwesend, und war vollauf beschäftigt mit der Austheilung von Brod, Fleisch, Brennmaterial und Kleidern.

Während Margarethe sich in der Hauptstadt aufhielt, fuhr Agnes jeden Mittag nach Fjellboda. Sie brachte die Abende bei Signe zu. Es war für Agnes ein großes Vergnügen, Besuche zu Fjellboda zu machen und während der Unterhaltung mit Signe das bessere Ich zu pflegen. Wenn aber Margarethe daheim war, so war das schöne Gesicht und der überlegene Verstand der Cousine von sehr störendem Einfluß, denn Agnes fühlte sich alsdann immer abgestoßen.

Dieser Eindruck hatte mehr und mehr zugenommen. Agnes fühlte sich daher von einer großen Seelenqual befreit, als Margarethe nach Stockholm reiste. Nach Margarethens Abreise war Folke noch schlechter gelaunt.

Er war unverträglicher als je, so daß sich zuweilen seine Heftigkeit auch gegen den alten Hundern richtete; allein der Engländer war, gerade so wie Agnes, vollständig unempfindlich gegen die Ausbrüche schlechter Laune. Hundern pflegte manchmal zu Folke zu sagen: »Wenn dir dein Vater eine gute Erziehung gegeben hätte, so hättest du nicht so viele Fehler an dir, welche deinen Charakter entstellen, sondern du würdest die Humanität eines gebildeten Mannes besitzen.«

Zwei Wochen nach Margarethens Abreise fuhr Agnes Sonnabends nach Fjellboda, um über den Sonntag daselbst zu bleiben.

Agnes und Signe hatten am Sonntag den Gottesdienst besucht und verbrachten einen ruhigen und angenehmen Nachmittag. Beide saßen während der Dämmerung am Ofen und sprachen von Jane. Während Agnes zuhörte, wie Signe die Ergebung und Sanftheit der lahmen Frau schilderte, regte sich in Agnes etwas wie Gewissensbisse darüber, daß sie Jane nicht so oft besucht hatte, als sie gesollt hätte.

Signe fragte Agnes in demselben Augenblick, ob sie oft bei Richardsons Mutter gewesen sei.

»Leider muß ich diese Frage verneinen,« sagte Agnes.

»Wie kommt dies? Hast du sie nicht gerne?«

»Doch, allein trotzdem mag ich sie nur dann besuchen, wenn man mich direkt darum ersucht. Arthur ist in allen seinen freien Stunden bei Frau Richardson.«

Signe rührte mit der Feuerzange im Ofen.

»Willst du von mir eine Erklärung darüber, warum du nicht zu Frau Richardson gehst?« fragte Signe.

»Ja wohl,« gab Agnes zur Antwort, welche etwas beunruhigt darüber war, daß Signe möglicherweise den wahren Grund ahnen mochte.

»Du hast noch sehr viel von dem Hochmuth an dir, welcher einen Grundzug bei Euch bildet, und dieser Umstand hält dich davon ab, mit der Frau des ehemaligen Tischlergesellen umzugehen.«

Agnes schwieg. Vor zehn Monaten hatte sie so gedacht, allein jetzt war sie doch zu einer andern Anschauung gelangt. Signe hatte den wahren Grund nicht errathen und beurtheilte auch das Schweigen der Agnes, welches sie für Zustimmung hielt, unrichtig.

»Du hast doch die heilige Schrift lieben gelernt?« fuhr Signe fort.

Agnes nickte bejahend mit dem Kopf.

»Nun gut, mein Kind; erinnere dich, daß unser Erlöser der Sohn einer Mutter von geringem Stande war. Mehr brauche ich nicht zu sagen.«

Das Mädchen küßte Signes Hand und stammelte: »Ich werde diese Worte nie vergessen.« Eine Thräne fiel auf die Hand, und als Signe ihre Blicke auf Agnes richtete, war das Angesicht der Letzteren thränenfeucht.

»Wie ist doch das Geschick so barmherzig gegen dich gewesen, daß es dich eines Reichthums beraubt hat, welcher dein besseres Ich ertödtet hätte, wenn du reich geblieben wärest!« fuhr Signe fort. »Wärest du reich geblieben und auf der Bahn des Glückes weitergegangen, so würde das Unkraut in deinem Herzen üppig weiter gediehen sein und zwar auf Kosten der edleren Saat. Danke daher Gott, daß du arm geworden bist.«

»Dies thue ich auch,« flüsterte Agnes mit wohlthuender Ergebung. »Ich fühle mich jetzt so zufrieden mit meinem Loos und so glücklich bei meiner Arbeit, daß ich, während ich reich gewesen bin, niemals denselben Grad von Zufriedenheit empfand.«

»Es kommt Besuch,« bemerkte ein alter Diener, welcher den Kopf zur Thüre hereinstreckte; »es ist der Herr von Nygarda.«

Es war früher niemals der Fall gewesen, daß Letzterer zu Fjellboda einen Besuch machte, solange Agnes daselbst war. Er kam zwar zu Signe sehr oft, aber stets nur dann, wenn er sicher war, nicht mit Agnes zusammenzutreffen.

Agnes hatte keine Zeit, Betrachtungen über das außergewöhnliche Ereigniß anzustellen, denn Folke, in Pelz gehüllt und mit der Reisemütze in der Hand, kam sofort herein.

»Verzeihung, liebe Tante,« sagte er, »daß ich komme, ohne abzulegen, aber die Augenblicke sind kostbar. Ich bin da, um Fräulein Grattman abzuholen.« Er wandte sich nun an Agnes. »Ihr Bruder, Kapitän Tom Grattman, ist ganz unerwartet zu Nygarda angekommen; weil er aber unpäßlich ist, so konnte Herr Arthur Grattman nicht herüberfahren, um Sie abzuholen, weshalb ich mich hiezu anerboten und versprochen habe, daß Sie in einer Stunde zu Nygarda sein würden.«

Agnes blickte den Folke grüßend an. Es fiel ihr, welche in diesem schönen, kalten und strengen Gesicht zu lesen gelernt hatte, etwas auf, was sie erkennen ließ, daß die Unpäßlichkeit des schon so lange vermißten Bruders ernster Natur sei. Folke hatte zwar zu ihr in seiner gewöhnlichen, abstoßenden Weise gesprochen, allein es klang dennoch Mitleid aus seiner Stimme.

Das Gefühl freudiger Ueberraschung, hervorgerufen durch die Nachricht, daß Tom wieder auf heimatlichem Boden angelangt sei, erstarb sofort, weil Agnes sich bewußt war, daß ihr eine unerwartete Prüfung bevorstehe. Ihr gegenwärtiges Glück war vielleicht auf immer verschwunden und ein neuer Schicksalswechsel bevorstehend.

Es fiel ihr jedoch nicht ein, weiter zu fragen; vielmehr beeilte sie sich, in ihr Pelzwerk zu schlüpfen.

Folke und Agnes nahmen in dem Schlitten Platz, welcher im Hofe stand, worauf es in frischem Trab die Anhöhe hinunterging.

»Ich sehe es Ihnen an, daß Sie darauf vorbereitet sind, Ihren Bruder sehr krank anzutreffen,« sagte Folke.

Agnes hatte heftiges Herzklopfen. Sie vermochte keine Antwort zu geben, sondern nickte nur mit dem Kopfe zum Zeichen des Einverständnisses.

»Er befindet sich wirklich in einem sehr bedenklichen Zustand,« versetzte Folke; »allein versuchen Sie es, stark und muthig zu sein, nicht allein um Ihretwillen, sondern ganz besonders mit Rücksicht auf Ihren ältern Bruder. Dieser ist sehr bestürzt.«

»Arthur!«

»Es gibt Widerwärtigkeiten, Fräulein Grattman, welche der stärkste Mann nur schwer ertragen kann, und da muß dann die Frau ihm beistehen.«

»Ich werde versuchen, dies zu thun.«

»Wir wollen übrigens hoffen, daß die Sache ein glücklicheres Ende nimmt, als jetzt anzunehmen ist. Es ist am besten, wenn ich Ihnen, bevor Sie nach Hause kommen, die Wahrheit sage. Kapitän Grattman hat in seinem letzten Brief an Sie angedeutet, daß er nach sechzehnjährigem Aufenthalt in fremden Ländern im Frühjahr einen Besuch in Schweden zu machen gedenke. Er hatte damals schon die Absicht, seiner Schwester durch frühere Ankunft eine Ueberraschung zu bereiten. Er landete denn auch gestern in Göteborg und reiste heute Mittag von dort ab, wurde jedoch im Walde von Nygarda von Strolchen angefallen und erhielt mehrere bedeutende Streiche und einige Messerstiche. Der Postknecht rettete sich durch die Flucht, und es ist ungewiß, was geschehen sein würde, wenn nicht ich und Herr Grattman von Ekenäs des Weges gekommen wären. Bei unserem Herannahen flohen die Uebelthäter, und der Kapitän konnte, ehe er die Besinnung verlor, kaum noch seinen Namen hervorstammeln. Herr Grattman nahm sich seines Bruders an und verbrachte denselben nach Nygarda; ich rief den Arzt herbei und begab mich dann nach Fjellboda, um Sie abzuholen, weil man Ihrer Anwesenheit sehr bedarf. Wir wollen übrigens nicht hoffen, daß der Kapitän nur deshalb in sein Vaterland zurückgekehrt sein sollte, um einen zu frühen Tod zu finden, sondern daß er im Gegentheil davon kommen und sich des Wiedersehens seiner Geschwister erfreuen möge.«

Ein Seufzer – nein, ein unterdrücktes Schluchzen war die Antwort, welche Agnes zu geben hatte. Sie hatte sich gar oft gefreut, einmal wieder mit Tom zusammenzutreffen, so daß ihr der Gedanke an das jetzige Wiedersehen Thränen auspreßte und einen ungemeinen Schmerz bereitete.

»Sie weinen?« bemerkte Folke weiter. Es lag so viel Güte und Theilnahme in seiner Stimme, daß Agnes in diesen zwei Worten Trost und Linderung ihrer Schmerzen zu finden meinte.

»Ja, ich weine jetzt, allein an meines Bruders Seite werden Sie mich getröstet finden.«

»Daran habe ich nie gezweifelt, nur wünschte ich, die Macht zu besitzen, in irgend einer Art die Last erleichtern zu können, welche Sie zu tragen haben.«

»Ihre Theilnahme hat dies bereits ins Werk gesetzt,« flüsterte Agnes kaum hörbar.

Folke trieb die Pferde zur Eile an.


Agnes blieb im Saal stehen, ehe sie es wagte, in Arthurs Zimmer einzutreten, woselbst Tom lag. Folke war zuerst hineingegangen. Sie wartete, bis er herauskam. Endlich wurde die Thüre geöffnet, und Folke trat ihr entgegen.

»Der Kapitän ist zu vollem Bewußtsein gekommen, und der Arzt hofft, ihn am Leben erhalten zu können. Ihr Bruder hat nach Ihnen gefragt.«

Agnes ergriff Folkes Hand, drückte dieselbe und ging zu Tom hinein, welchen sie seit ihrer frühesten Kindheit nicht mehr gesehen hatte.

Folke blieb im Saal. Als er allein war, wechselte der Ausdruck in seinem Gesicht: die Ruhe, das Wohlwollen verschwanden, und ein Anflug von Aerger wurde bemerkbar. Er begab sich an das Fenster, blickte in die sternhelle Nacht hinaus und sprach zu sich selbst: »Das Geschick hat es unternommen, sich an einem Unschuldigen zu rächen. Welches unbegreifliche und seltsame Spiel des Schicksals führte ihm diesen Fritz in den Weg? War es darum, um ihn, welcher nie mit diesem Bösewicht zu thun hatte, dafür büßen zu lassen, weil der Bruder einmal mit diesem Menschen sich zu schaffen gemacht hat? Oder war es deshalb, damit die Strafe für den begangenen Frevel um so härter ausfalle? Wie konnte Fritz wagen, in diese Gegend zurückzukehren, wo er stets befürchten muß, daß ihn meine Hand erreicht? Dieser Vorfall hat die trübe Erinnerung aus meiner Kindheit in trauriger Weise aufs Neue erweckt: eine Erinnerung, welche ich zu vergessen bemüht war, seitdem ich auf edlere und bessere Art das erlittene Unrecht zu vergelten suchte!«

Das Geräusch einer auf- und zugehenden Thüre veranlaßte Folke, sich umzusehen. Es war der Arzt, welcher aus dem Krankenzimmer kam.

»Nun?« fragte Folke.

»Er hat einen Körper von Eisen, und ich hoffe mit Bestimmtheit, daß er am Leben bleiben wird; aber das rechte Auge verliert er,« sagte der Doktor.


Was läßt sich über ein Krankenzimmer sagen? Nicht viel und durchaus nichts Angenehmes.

Beschreibungen dessen, was der Kranke leidet, sind peinlich, und auch die Geduld und die unermüdliche Sorgfalt der Wärterin hat für Andere kein so großes Interesse, als für Denjenigen, welcher Gegenstand dieser Pflege ist. Deshalb übergehen wir die Wochen, während welcher Agnes sich ausschließlich der Wartung Toms widmete.

Sie hatte schließlich die Genugthuung, daß Tom trotz aller Schmerzen, Fieber und Qualen gesundete. Nach fünf Wochen befand er sich so weit, daß er außer aller Lebensgefahr war und wieder allmälig zu Kräften kam. Einige Zeit später konnte er das Bett mit dem Sopha vertauschen. Wir müssen unbedingt annehmen, daß Agnes ihre Stelle als Krankenwärterin auf ausgezeichnete Weise versah; was wir jedoch hervorheben zu müssen glauben, ist der Umstand, daß Arthur nie in das Krankenzimmer kam, außer wenn der Bruder schlief und daß Tom nicht ein einziges Mal seinen Bruder zu sehen wünschte. Des weiteren wollen wir mittheilen, daß Folke die Stelle der Agnes auf dem Comptoir unbesetzt ließ und die betreffenden Geschäfte selbst besorgte.

Das kleine Schreibpult stand unbesetzt da, und es kam nie vor, daß Folke etwas Schriftliches auf dasselbe legte. Damit die Comptoirgeschäfte keine Unterbrechung erleiden sollten, arbeitete Folke bis spät in die Nacht und war früh Morgens schon auf, ja früher als sonst Jemand in der Fabrik.

Arthur war nach dem Unglück, welches Tom betroffen hatte, noch eifriger bei der Arbeit, allein er hatte sich so verändert, daß es Jedermann auffiel. Die frische Energie, welche ihm eigen gewesen, war verschwunden und sein Aussehen zeigte ein düsteres Gepräge.

Er hegte nicht mehr die feste Zuversicht, ein neues Leben anfangen und die begangenen Fehltritte wieder gut machen zu können. Er hatte keine Hoffnung mehr und war niedergeschlagen.

Folke traf ihn manchmal über den Büchern an mit der Feder in der Hand, wie er auf das Papier hinstarrte, ohne zu schreiben. Wenn er aus diesen Träumen erwachte, so fuhr er auf, wie wenn ihm Jemand einen schmerzhaften Stich versetzt hätte, worauf er mit verdoppelter Eile zu schreiben anfing.

In seiner Wohnung verweilte er so kurz als möglich und ging nach dem Essen gleich wieder auf das Comptoir. Er war menschenscheu geworden, welcher Umstand übrigens Agnes und Folke nicht entging.

Erstere bemerkte, daß Arthur etwas auf dem Herzen hatte; sie wünschte, seine Sorgen kennen zu lernen, um dieselben theilen zu können; allein ihre Zeit war so von dem Kranken in Anspruch genommen, daß sie nur wenig freie Zeit übrig hatte.

Unter diesen Umständen wäre es für Agnes sehr schwer gewesen, Tom allein zu verpflegen, wenn sie nicht von Signe unterstützt worden sein würde.

Tom war von kräftiger Körperbeschaffenheit und von heftiger Gemüthsart, so daß er durch seinen Zustand aufgeregt wurde. Er machte seiner Ungeduld rücksichtslos Luft und wollte Agnes fortwährend bei sich haben. Wenn Signe das arme Mädchen nicht getröstet und Muth zugesprochen hätte, so wäre zu befürchten gewesen, daß Agnes bei aller äußerlichen und innerlichen Unruhe, welche sie empfand, zu Grunde gegangen wäre.

Daß Folke den Kranken nicht oft besuchte, war nicht zu verwundern, aber es gab dennoch Augenblicke, wo Agnes mit Erbitterung dieser Gleichgültigkeit gedachte.

Sechs Wochen nach Toms Ankunft zu Nygarda saß Agnes einmal bei Einbruch der Dämmerung da und blickte durch ein Fenster des Vorzimmers.

In Toms Zimmer brannte eine Lampe.

Er schlief und Agnes hatte sich von ihm weggeschlichen, um sich ihren traurigen Betrachtungen hinzugeben. Sara saß innen bei dem Schlafenden.

Signe, welche einige Tage auf Besuch da gewesen, war wieder abgereist und Agnes also aufs Neue allein. Sie wurde aus ihren Gedanken durch das Oeffnen der Saalthüre aufgeweckt und schaute sich um.

Es kamen zwei Personen. Eine dieser Personen war Folke, welcher in Begleitung einer Frauensperson hereintrat. Agnes erkannte sofort, daß es Margarethe war und empfand daher ein gewissermaßen peinliches Gefühl im Herzen.

»Du hast dich selbst verleugnet, Margarethe, weil du mich so oft und viel schreiben und dich bitten ließest, zu kommen,« sagte Folke halblaut.

»Ich konnte die Hauptstadt nicht früher verlassen; aus meinem Anzug solltest du ersehen, daß ich eine sehr traurige Angelegenheit zu besorgen hatte.«

Agnes schauderte, denn sie hatte einen Brief von ihrer Mutter bekommen, worin dieselbe mittheilte, daß sie nach Stockholm gereist sei, um den Arzt zu Rath zu ziehen. Agnes hatte diesem Brief kein Gewicht beigelegt, weil sie ihre Mutter kannte und stets argwöhnte, dieselbe leide an eingebildeten Krankheiten. Diese Einbildung mußte natürlicherweise bei einer Ortsveränderung um so lebhafter hervortreten. Sollte es übrigens trotzdem möglich gewesen sein, daß … daß …

Agnes erhob sich, blieb aber unter der Thüre stehen, so heftig zitterte sie. Sie hörte Folke fragen: »Wann ist sie gestorben?«

»Gestern Morgen, und heute bin ich hier.« –

»Wer ist gestorben?« rief Agnes aus und trat in den Saal ein.

Margarethe kam ihr entgegen, allein weder diese noch Folke gaben eine Antwort.

»Margarethe,« stammelte Agnes in Aufregung, »antworte, sage: ist es … ist es … die Mama?«

»Ja, Agnes, deine Mutter ist gestorben.«

»Meine armen, armen Eltern sind also Beide gestorben, ohne eines ihrer Kinder bei sich zu haben!« flüsterte Agnes und sank auf einen Stuhl nieder.

Margarethe versuchte es, sie mit einigen Worten herzlicher Theilnahme zu trösten.

In diesem Augenblick rief Tom nach Agnes.

»Ich kann nicht zu ihm hineingehen,« seufzte Agnes. Margarethe drückte ihr die Hand und ging zu Tom hinein.

»Fräulein Grattman,« sagte Folke, »erlauben Sie, daß ich Sie zu meiner Mutter begleite. Ich werde sodann Ihren Bruder von dem Verlust, welcher Sie betroffen hat, in Kenntniß setzen.«

Ohne Widerstreben ließ Agnes sich von Folke zu Jane hinaufbegleiten.

Margarethe war, ehe sie mit Folke zusammentraf, bei Jane gewesen und hatte derselben die traurige Nachricht mitgetheilt. Es war also Jane, welche der armen Agnes erzählte, daß Florence wegen einer unbedeutenden Veranlassung nach Stockholm gekommen sei, woselbst sie einige Aerzte zu Rathe gezogen habe, welche der Meinung gewesen wären, daß das Uebel ohne alle Bedeutung sei und einige gelinde Arzneien verordnet hätten, um Florence zufrieden zu stellen. Dieselbe sei jedoch in der Hauptstadt geblieben, habe die Theater besucht und sich eine heftige Erkältung zugezogen, wodurch sie genöthigt worden sei, das Bett zu hüten. Sie habe vom Arzte Arzneien, welche nicht wohlschmeckend waren, erhalten und die Kammerjungfer habe es nicht fertig bringen können, Florence zum Einnehmen zu bewegen.

Ihr Zustand sei jedoch immer schlimmer geworden und die Kammerjungfer habe nach Margarethen geschickt. Die Erkältung, welche zu Anfang den Charakter eines Catarrhfiebers gehabt habe, sei ernster Natur geworden, obwohl der Arzt versichert habe, daß keine Gefahr vorhanden wäre. Einige Tage nachher habe sich die Sache geändert und für Florence sei keine Hoffnung mehr da gewesen; die Kranke sei plötzlich verschieden, ehe man ihre Kinder von der unerwarteten und traurigen Wendung der Krankheit habe benachrichtigen können.

Margarethe sei von dem Tag an, an welchem sie die Nachricht erhalten habe, Florence nicht von der Seite gewichen, sondern bei derselben geblieben und habe dieselbe bis zum letzten Athemzug verpflegt.

Jane erzählte dies Alles und sprach Trostesworte, während Agnes ganz still zuhörte, ohne daß ihr Schmerz für den Augenblick gemildert werden konnte.

Der Verlust dieser eiteln, eigennützigen und albernen Mutter konnte Agnes nicht zu Herzen gehen, aber derselbe mußte jetzt, nachdem Agnes das Leben von einer ernsten Seite aufzufassen gelernt hatte, das Gewissen der Letzteren aufwecken, welches fragte: »Hast du als zärtliche Tochter deine Pflichten gegen deine Mutter erfüllt?« Die Antwort fiel verneinend aus, während sie jetzt das Versäumte nicht mehr gut machen konnte. Sie weinte über sich und die Dahingeschiedene, welche sich nicht beliebt zu machen verstanden hatte. Wie sehr würde diese von Agnes geliebt worden sein, wenn sie wie Signe oder wie Jane gewesen wäre! Die arme Agnes war sehr unglücklich.

Am folgenden Tag reiste Arthur zum Begräbniß seiner Mutter. Margarethe blieb zu Nygarda zurück.

Hundern nahm Arthurs Stelle auf dem Comptoir ein, wo Folke für alle zusammen arbeitete, denn die Arbeitskraft des alten Engländers war nicht mehr dieselbe wie sonst.

Margarethe, welche keine passende Trösterin für Agnes war, eignete sich vollkommen dazu, Toms trotzigen und heftigen Charakter zu besänftigen.

Wenn Margarethe bei ihm war, so fragte er nichts nach seiner Schwester; wenn ihn aber die Erstere auf einige Stunden verließ, um sich nach Fjellboda zu begeben, so war ihm nichts recht. Er hatte die Anhänglichkeit und Geduld seiner Schwester bereits vergessen und war, so lange sie Margarethens Stelle versah, nicht einmal freundlich gegen sie.

Eines Tags, als Agnes fragte, ob sie aus dem Buch, woraus Margarethe vorgelesen hatte, weiter lesen solle, antwortete er: »Verschone mich damit, deine Stimme ist so eintönig; du würdest nur den angenehmen Eindruck verwischen, welchen Margarethe durch ihr Vorlesen auf mich gemacht hat.«

Die Worte des Bruders bereiteten ihr Schmerz. Sie verließ das Zimmer mit thränenden Augen. Im Saale stand Folke mit einem Brief in der Hand.

»Ich habe Nachrichten von Ihrem Bruder erhalten,« sagte er und überreichte ihr das Schreiben. »Er wird eine Woche länger ausbleiben, als beabsichtigt war.«

Wie peinlich fühlte sich Agnes jetzt von dem veränderten Benehmen ihres Bruders berührt! Er war abgereist, ohne ein Wort des Trostes auszusprechen und sollte zurückkehren, ohne zu fragen, ob sie bekümmert sei oder nicht. Agnes durchlas den Brief.

Einige Formalitäten hielten Arthur in der Hauptstadt zurück. Er bat Richardson, derselbe möge Hundern ersuchen, seine, Arthurs Stelle auf dem Comptoir noch eine Woche länger zu versehen, und schloß mit der Versicherung, daß er bei seiner Zurückkunft die verlorene Zeit hereinbringen werde.

Agnes gab den Brief wieder an Folke zurück.

»Der Kapitän bedarf ihrer nicht mehr,« sagte Folke, »aber ich habe ihre Hülfe nöthig. Das Pult auf dem Comptoir ist unbesetzt.«

Agnes blickte ihn an. Ihre Wangen erglühten; die Thränen, welche in den Augenwimpern hingen, blieben auf diesen Wangen stehen und rollten nicht über das Gesicht hinunter.

»Ich werde morgen mit meiner Arbeit wieder anfangen,« sagte sie.

Folke drückte ihr die Hand und ging.


Am nächsten Morgen nahm Agnes ihre Arbeit auf dem Comptoir wieder auf. Das Gefühl unüberwindlicher Niedergeschlagenheit, welches ihr Herz erfüllt hatte, verschwand wieder. Die Arbeit war ihr Trost und ihr Auskunftsmittel gegen den Mißmuth.

Wir sagen: Arbeit, denn sonst hatte Agnes keinen Tröster.

Folke hatte zwar aufgehört, kleinlich zu sein und hütete sich, seine Ungeduld zum Ausbruch kommen zu lassen, allein er sprach selten mit Agnes und legte weder für ihre Person noch für ihre Bekümmerniß irgendwie Interesse an den Tag.

Margarethe brachte noch immer ihre Zeit zu Nygarda damit zu, daß sie Tom vorlas und dadurch, sowie durch ihre Gesellschaft ihm die Langeweile verkürzte. Sie war nicht nur Toms Freude, sondern schien auch Folkes Wonne zu sein. Letzterer war immer bei der Hand, um ihr aus dem Wagen zu helfen, wenn sie nach einem kurzen Besuch zu Fjellboda zurückkehrte.

Wenn Margarethe den Tag über eine Weile Tom verließ, um bei Jane einen kurzen Besuch zu machen, so konnte Agnes sicher sein, daß Folke vom Pult wegging und auch hinauf zu seiner Mutter eilte. Gewöhnlich kam er dann in Margarethens Gesellschaft wieder zurück.

Trotz aller Erbitterung, welche Agnes bei derlei Gelegenheiten im Herzen empfand, verschwand dennoch die Niedergeschlagenheit aus ihrem Herzen, und das Leben kam ihr weniger schwer und traurig vor. Es war, wie wenn eine verborgene Macht in ihrem eigenen Innern ihre Energie wieder erweckt hätte.

Eines Abends war sie länger als sonst auf dem Comptoir und arbeitete. Sie empfand jedesmal ein peinliches Beben, wenn sie zu Tom hinaufgehen sollte.

Der Arzt hatte es bis zu diesem Tage aufgeschoben, Tom von dem traurigen Umstand in Kenntniß zu setzen, daß er der Sehkraft des rechten Auges für immer verlustig geworden sei.

Agnes kannte die Gemüthsart ihres Bruders und sah voraus, daß ihn eine solche Mittheilung sehr in Aufregung versetzen würde.

Als der Doktor gleich nach Mittag sich entfernen wollte, war Agnes zu demselben hinausgegangen und hatte gefragt, wie Tom sich befinde, und da erhielt sie von dem Arzte die Antwort: »Er ist in voller Raserei, allein ich hoffe, daß Fräulein Margarethe ihn zur Besinnung bringen wird. Sie besitzt einen großen Einfluß auf sein Gemüth.«

Ja, Margarethe hatte auf Jedermann Einfluß.

Agnes lächelte betrübt und begab sich an ihr Pult zurück.

Margarethe war hübsch und außerdem von hervorragendem Verstand. Der stolzeste Mann konnte sich ihrem Einfluß nicht entziehen.

Wollte es wirklich so viel heißen, verständig zu sein, wenn die Gefühle nicht entflammt werden konnten, sondern kalt blieben?

Agnes preßte die Hand auf ihr unruhiges Herz. Sie wünschte, alle Eifersucht, von welcher sie gequält wurde, daraus entfernen zu können, aber sie vermochte dies nicht. Von Margarethen war sie ganz aus dem Felde geschlagen worden und dennoch: wenn man einen Vergleich anstellte, welche Anhänglichkeit Beide an eine und dieselbe Person hatten: um wieviel stärker mußte nicht Agnes die ihrige halten? Wie sehr hing sie an Arthur, und dennoch empfand Arthur keine Tröstung in dieser Zuneigung! Wie liebreich und aufopfernd hatte sie nicht ihren Bruder Tom verpflegt, und trotzdem hatte er noch niemals ein Wort der Anerkennung für sie gehabt!

Margarethe nahm bei ihm die Stelle der Schwester ein. Erstere sprach ruhig, verständig und kalt, und seine Ungeduld verschwand.

Zärtlichkeit, Liebe und ein brennendes Verlangen, für denjenigen zu leben, welchen man liebte, waren also nichts!

Agnes fühlte ihre Wangen erglühen und hatte sich, während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, noch mehr über das Buch gebeugt, in welches sie schrieb, ohne zu bemerken, daß Folke, welcher auch über die gewöhnliche Zeit arbeitete, sie mit einem Seitenblick beobachtete.

Als Folke endlich das Comptoir verließ, sagte er zu dem Knecht: »Verschließe die Comptoirthüre nach dem Hofe zu; das Fräulein wird selbst die Lampe auslöschen und die Thüre zur Treppe verschließen.«

Ueber das Gesicht der Agnes flog ein Strahl der Freude. Sie blickte empor und sagte zu sich selbst: »Er hat es doch begriffen, daß ich bleiben möchte.«

Ein schwaches Lächeln glitt über die schmerzhaft zusammengepreßten Lippen, und die Feder flog rasch über das Papier.


Arthurs kleine Wohnung war dunkel; nur im Krankenzimmer brannte eine Lampe.

Die Thüre zwischen diesem Zimmer und dem Saal stand offen, und ein schwacher Schein, aus dem Zimmer erhellte den Saal zur Hälfte.

Es war beinahe zehn Uhr, als Agnes sehr behutsam eintrat.

Sie hatte Margarethen sagen lassen, daß sie nicht mit ihr Thee trinken werde. Sie hatte ihren Bruder Arthur erwartet, allein derselbe war noch nicht angekommen.

Agnes blieb unter der Thüre stehen, um zu sehen, ob Margarethe noch bei Tom sei. Sie hörte seine Stimme; derselbe sprach heftig, und Agnes lauschte.

»Wenn du mir beweisen könntest, daß Arthur bei dem Vorfall seine Hand nicht im Spiele gehabt hat, so würde der Verlust meines Auges mich nicht schmerzen,« sagte Tom. »Nun will es mir so vorkommen, wie wenn seine und seines Vaters unglückselige Handlungen auf ein Verbrechen hindeuteten, für das ich zu büßen bestimmt war, und dies, Margarethe, erbittert mich. Ich kann nur brutal gegen meine Geschwister sein, welche in ihrer Art nicht mit mir übereinstimmen.«

»Und ich beklage dich,« sagte Margarethe mit ernster Stimme. »Du bist ein Egoist, welcher auf dem Schmerzenslager seinen Bruder beleidigt und verdammt, ohne daß du dir die Zeit nimmst, zu untersuchen, ob du auch das Recht dazu hast. Wenn Arthur in jüngeren Jahren noch so viele Fehler gemacht hat, so ist es dennoch gewiß, daß er in seinem späteren Leben dieselben gut zu machen und zu sühnen bestrebt war. Am allerwenigsten sollte der eigene Bruder solch ein strenges Urtheil fällen.«

»Am allerwenigsten, sagst du!« rief Tom aus; »betrachte mein narbiges Gesicht und das Auge, welches ich eingebüßt habe, und sage mir dann, ob mein Grimm gegen denjenigen, welcher an Allem schuldig ist, keine Berechtigung hat.«

Agnes hörte nichts weiter, denn Sara trat herein und sagte leise, daß Herr Grattman zurückgekommen sei und sich sogleich in das Zimmer, welches er seit Toms Ankunft in dem unteren Stock bewohnte, begeben habe.

Agnes eilte die Treppe hinunter und stand im nächsten Augenblick an des Bruders Thüre. Dieselbe war bereits verriegelt. Agnes klopfte an: einen Augenblick später wurde der Riegel zurückgeschoben.

»Guten Abend, Agnes,« sagte er im allerkältesten Ton.

»Willkommen daheim, lieber, theurer Arthur,« stammelte Agnes und umschlang seinen Hals; »du bringst mir ja einen Gruß von dem Grabe unserer Mutter! Wende dich nicht weg, sondern sieh mich an, denn wir sind ja Beide von demselben Unglück betroffen worden, und du mußt es mir in den Augen ansehen, daß du mir lieber als jemals bist!«

Arthur blickte seine Schwester kalt an. Es ist übrigens immer schwer, sich dem Eindruck eines Augenpaars zu entziehen, aus welchem herzliche Theilnahme hervorleuchtet. Auch Arthur vermochte es nicht. Er beugte sich zu der Schwester hernieder und küßte sie seufzend auf die Stirne. Er war ihr schon zu lange ausgewichen, um in dieser Weise fortfahren zu können. Während dieser ganzen traurigen Zeit hatten sie sich einander nicht genähert. Jetzt kam ihm Agnes entgegen und zwar in einem Augenblick, wo er sich von der Last, welche ihm das Schicksal auferlegt hatte, niedergedrückt fühlte und welche doppelt so schwer war, weil Selbstanschuldigungen dazu kamen.

Wir wollen nicht wiederholen, was Agnes ihm zuflüsterte, als er seine Lippen auf ihre Stirne preßte; wir wollen nur erwähnen, daß die Worte herzlicher Liebe, welche über ihre Lippen kamen, die Wirkung hatten, daß Arthur auf diese Sprache lauschte, wie auf eine liebliche Musik.

Er zog Agnes auf einen Stuhl neben sich hernieder und sagte, während er sie betrachtete:

»Du bist also der festen Ueberzeugung, daß Alles, was man über deinen Bruder und deinen Vater hinsichtlich Richardsons gesagt hat, unwahr ist?«

Agnes sah ihn sanft und bekümmert an.

»Ich habe bis zu Toms Ankunft diese Ueberzeugung gehabt.«

»Und was ist jetzt deine Meinung?«

»Daß du in deinen jüngeren Jahren auf irgend eine Weise dich Fritzens als eines Werkzeugs bedient hast, um Richardsons zu schaden. Wie sich die Sache verhält, will ich nicht wissen.«

»Fürchtest du, daß deine Anhänglichkeit an mich sich vermindern würde, wenn du den wahren Sachverhalt wüßtest?«

»Arthur,« fiel Agnes ihm in die Rede, während sie sich an ihn anschmiegte: »welcher Art auch das Unrecht sein mag, das du Richardson zufügtest, so kann dies dennoch meiner Zuneigung zu dir keinen Eintrag thun. Deine früheren Handlungen mögen noch so unrecht gewesen sein: immerhin hast du in den letzten elf Jahren durch Strenge gegen dich selbst das Unrecht gut zu machen gesucht. Ich habe von dir nie etwas Anderes als Ehrenhaftes gesehen, und du bleibst stets mein geliebtester Bruder und meines Herzens Stolz und Freude.«

Arthur strich das Haar von der bleichen Stirne und sagte in traurigem und ernstem Ton:

»Einmal in früherer Zeit erzählte ich, was zwischen mir und Richardsons vorgekommen ist. Ich war damals niedergeschmettert vor Scham und Reue. Mein Herz dürstete nach einem einzigen Worte der Liebe und der Versöhnung. Ich floh zu ihr, welche ich unter allen Frauen am meisten liebte und hochachtete; allein sie stieß mich mit Verachtung von sich und hatte kein einziges Wort der Versöhnung für mich. Seitdem sind meine Lippen verschlossen geblieben. Ich bin streng gegen mich selbst gewesen und habe es mir zum Lebensgrundsatz gemacht, durch ein gewissenhaftes und ehrbares Benehmen in meiner eigenen Achtung höher zu steigen. Dies ist mir auch gelungen, bis mir durch Toms Unglück zugerufen wurde: »Siehe die Folgen deiner begangenen Fehler: sie wirken nach und werden dies jederzeit thun. Du kannst dich von denselben nicht loskaufen, nicht frei von ihnen machen!«

Arthur schwieg, und Agnes konnte kaum athmen. Sie hatte Herzweh; sie bebte bei jedem einzelnen Worte Arthurs, weil dieselben eine Bestätigung des Umstandes enthielten, daß er das nicht gewesen sei, wofür sie ihn so viele Jahre lang gehalten hatte.

Die gefühlvolle Frau leidet stets darunter, wenn sie die Illusionen hinsichtlich dessen, den sie geliebt hat, zerstört sieht, denn sie möchte denselben stets in idealer Verklärung sehen.

Einige Augenblicke nachher ergriff Arthur ihre Hand und sagte: »Ich will dich jetzt auf die Probe setzen, Agnes, und sehen, wie groß deine Liebe zu mir ist und ob dein Herz die Probe ablegen kann, welche darin besteht, erfahren zu müssen, daß ich nicht so gewesen bin, wie du geglaubt und gehofft hast.«

Auf diese Worte hin entstand ein langes, langes Zwiegespräch. Arthur berichtete nicht nur über seine eigenen Handlungen, sondern ging zurück bis zu der ersten bedauerlichen Veranlassung, welche den Unwillen seiner Eltern gegen Magdalene Richardson und ihr Kind hervorgerufen hatte.

Wir halten es nicht für angezeigt, im jetzigen Augenblick den Leser mit dieser Beichte bekannt zu machen, sondern behalten uns vor, erst später darauf zurückzukommen.

Die Nacht war vergangen und der Morgen nahte, als Agnes in ihr Schlafzimmer eintrat.

Sie war so bleich, daß sie ganz unheimlich aussah. Eine brennende Lampe stand auf dem Nachttisch und warf einen schwachen Schimmer in das kleine Gemach. Ein Feldbett war ganz nahe an das Bett der Agnes gestellt worden, in ersterem schlummerte Margarethe.

Agnes blieb stehen und betrachtete das frische, blühende Angesicht. In jedem Zug drückte sich Friede und Ruhe aus. In dieser Brust hatten die Leidenschaften nie gekämpft; an diesem Herzen hatte kein heimliches, unterdrücktes Leiden genagt und gezehrt. Die Zeit (Margarethe war jetzt dreißig Jahre alt) und die Ereignisse waren spurlos vorübergegangen. Die Wangen waren noch ebenso voll, die Haut so durchsichtig, das volle Haar so üppig und die Arme noch immer so rund, wie im Alter von zwanzig Jahren. Agnes blieb lange im Anschauen dieser Schönheit versunken, welche sich gar nicht verändert hatte.

Die persönliche Abneigung mußte schweigen, und Agnes stellte Betrachtungen darüber an, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie Margarethens Charakter und Gemüth besessen hätte. Sie erhob endlich ihre Augen, blickte in den Spiegel, welcher ihr gerade gegenüber hing und erschrak vor dem Bild, welches ihren Blicken sich darstellte.

War dieses gelbliche, erregte, von einer verwirrten Haarmasse eingerahmte Gesicht das ihrige? Ja, dies war das Angesicht der Agnes Grattman.

Agnes bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und sank weinend auf die Kniee.

Sie weinte über den Bruder, welchen sie verlassen hatte und welcher ihr jetzt theurer als je war; sie weinte über sich selbst, ihre eigenen Fehler und die entschwundenen Täuschungen; sie weinte endlich über die Zukunft, welche ihr so dunkel und düster, ohne Hoffnung, Glück und Frieden zu sein schien.

Es gibt Gemüther, welche mit größter Fassung einem freudelosen Leben entgegensehen und die Gedanken von dieser irdischen Laufbahn zu einer höheren erheben können. Agnes gehörte nicht zu diesen Menschen. Sie war ein Kind der Welt, in welcher sie lebte und vermochte nicht, sich ohne Weiteres in ein trauriges Loos zu fügen. Mit einem energischen Willen ausgerüstet, hatte sie alle ihre Kräfte angespannt, um mit Arthur eine ökonomisch unabhängige Stellung zu erringen; jetzt aber, seitdem ihre Täuschungen und damit viele stille Hoffnungen vernichtet waren, mangelte ihr der Muth, und es ging ihr die Stärke ab, um die Verluste, welche sie erlitten hatte, ertragen zu können.

Agnes weinte im Stillen und hätte gewiß noch lange fortgeweint, wenn sich nicht ein weißer Arm um ihren Hals gelegt und eine warme Wange an die ihrige angeschmiegt hätte, während eine freundliche und schmeichelnde Stimme flüsterte: »Agnes!« Es war Margarethens Gesicht, welches Agnes erblickte, als sie emporsah.

Wir wollen hier abbrechen. Agnes befindet sich in einer solch guten Gesellschaft, daß wir nicht länger hier verweilen wollen.


Folke trat früh am Morgen in das Comptoir und traf Arthur in voller Thätigkeit an.

»Willkommen!« sagte Folke und drückte ihm die Hand. »Wie befindet sich der Kapitän?«

»Er schlief, als ich oben bei ihm war.«

»Ich möchte wissen, ob er heute wohl im Stande wäre, meinen Besuch anzunehmen.«

Arthur warf einen Blick auf Folke. Beide sahen einander schweigend an.

»Wir sind alte Bekannte, er und ich,« entgegnete Folke ganz ruhig. »Als ich zuletzt in England war, haben wir uns oft getroffen. Ich möchte gerne mich eine Weile mit ihm unterhalten.«

»Mein Bruder ist nach der Aussage des Arztes bald wieder hergestellt und kann jederzeit Besuche annehmen.«

Arthur schrieb weiter, und Folke suchte in einem Haufen Briefe nach einem solchen, den er nicht sogleich finden konnte.

Die Stunde, um welche die Comptoirbediensteten hätten anwesend sein sollen, hatte geschlagen, aber Agnes war nicht erschienen. So oft die Thüre aufging, sah Folke empor und zog die Augbrauen zusammen, wenn Niemand hereintrat. Als eine geraume Zeit über die bestimmte Stunde verstrichen war, fragte er: »Ist Fräulein Grattman krank?«

Plötzlich ging die Thüre von der Wendeltreppe her auf, und Agnes trat herein, um die Frage selbst zu beantworten. »Ich komme etwas spät,« sagte sie; »aber« – hier stockte sie einen Augenblick – »ich habe heute nicht pünktlich sein können.«

Folke betrachtete sie; ihr Aussehen ließ auf eine durchwachte Nacht und viele, viele vergossene Thränen schließen.

Arthur wagte nicht, seine Schwester anzusehen; das Demüthige in ihrer Stimme war ihm zuwider, und er konnte, ohne Agnes anzusehen, sich denken, welchen Ausdruck ihre dunkeln Augen angenommen hatten.

»Ich bitte, Fräulein Grattman, daß Sie sich nie wegen Unpünktlichkeit entschuldigen,« sagte Folke freundlich. »Sie arbeiten doppelt so viel, wie jede andere Person, und für Sie gibt es keinen Anfang und kein Aufhören. Heute wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie auf Ihre gewöhnliche Thätigkeit verzichteten. Sie sind bleich und haben frische Luft nöthig; machen Sie deshalb eine Spazierfahrt.«

Agnes lächelte betrübt und versicherte, sie habe dies nicht nöthig, sondern sie wolle auf dem Comptoir bleiben.

Folke erhob hiegegen keine Einwendungen. Jedes saß hierauf stille bei seinem Geschäft. Um elf Uhr verließ Folke das Comptoir.

Agnes legte die Feder weg, eilte auf ihren Bruder zu, reichte ihm ihre Lippen dar und flüsterte ihm Worte zu, welche von der heißesten Liebe Zeugniß ablegten.

Wer Agnes in diesem Augenblick gesehen hätte, würde in ihr schwerlich dieselbe Person wieder erkannt haben, welche vor einem Jahr nach Nygarda gekommen war. Damals war sie nur von der Betrübniß über den Wechsel in ihrem eigenen Leben erfüllt, während nunmehr ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Kummer ihres Bruders gerichtet war und sie an sich gar nicht dachte.

Es schlug zwölf Uhr. Die Arbeiter machten Mittag. Ein Schlitten fuhr in den Hof herein. Folke kam wieder in das Comptoir zurück, war aber in Pelz gehüllt.

»Fräulein Grattman wird wohl nichts dagegen haben, Margarethe nach Fjellboda zu begleiten, um bei Signe einen kurzen Besuch zu machen,« sagte er, indem er sich an Agnes wandte, welche sogleich die Feder weglegte und stillschweigend aufstand.

»Sie gehen also mit!« rief Folke ganz freudig aus.

»Ja.« Agnes eilte hinaus, um ihr Pelzwerk anzulegen.

Folke wartete auf dem Comptoir, bis sie angekleidet war und sprach inzwischen mit Arthur. Einige Minuten verstrichen, worauf Agnes in Margarethens Begleitung herunterkam.

Letztere verabschiedete sich ungemein herzlich von Arthur. Sie werde vor einigen Tagen nicht nach Nygarda zurückkommen, sondern hoffe, daß Arthur sie besuchen werde, denn sie habe etwas mit ihm zu sprechen, sagte sie. Hundern sei bemüht gewesen, Tom, welchen man für wieder hergestellt ansehen dürfe, so gut als möglich zu unterhalten.

Arthur gab Margarethen das Versprechen, nach Fjellboda zu kommen, sobald es die Geschäfte ermöglichten, wobei Agnes die Bemerkung zu machen glaubte, daß Folkes Gesicht sich verfinstere.

Agnes blieb eine Weile bei Signe und fuhr dann, nur von Folke begleitet, wieder nach Hause. Dieser kutschirte ganz langsam den Hügel hinunter.

Die Märzsonne warf blasse Strahlen auf die Schneemassen, welche unter dem Einflusse derselben bedeutend zusammenschrumpften.

»Kapitän Grattman und ich haben heute eine Unterredung mit einander gehabt,« bemerkte Folke, »welche ich Ihnen mittheilen möchte. Er hält nämlich die Luft zu Nygarda nicht zuträglich für Sie, sondern meint, daß ein Wechsel des Aufenthaltsortes nothwendig sei. Sind Sie auch dieser Ansicht?«

»Nein, dies ist nicht meine Meinung,« gab Agnes zur Antwort.

»Der Kapitän wird, sobald seine Kräfte es erlauben, Nygarda verlassen und wird dann gewiß verlangen, daß Sie mit ihm ziehen.«

»Das ist nicht wahrscheinlich.«

»Ihre Beschäftigung zu Nygarda,« fuhr Folke fort, »scheint ihm nicht passend für eine weibliche Person von Ihrer schwächlichen Körperbeschaffenheit zu sein, und er will nicht, daß Sie diese Beschäftigung fortsetzen. Kapitän Grattman ist ein sehr vermöglicher Mann.«

»Er muß auch ein solcher sein,« entgegnete Agnes, ohne den Sprechenden anzusehen. »Sein Charakter schickt sich nicht in Armut, Abhängigkeit und Arbeit.«

»Und dennoch hat er einst auf Reichthum verzichtet, um für seinen Unterhalt zu arbeiten.«

»Gewiß; allein er hat als Sohn eines reichen Mannes Arbeit und Abhängigkeit vorgezogen: dies ist doch viel mehr werth, als wenn man notgedrungen und für seinen Unterhalt arbeitet.«

»Dies beweist, daß der Kapitän einen ausgezeichneten und energischen Charakter besitzt, welcher sich selbst und nicht dem Geld seines Vaters seine Unabhängigkeit verdanken wollte. Ist Ihr Charakter auch so unabhängig?«

»Ich glaube.«

»Allein dessen ungeachtet werden Sie das Leben, welches Ihnen der Kapitän in Aussicht stellt, Ihrem jetzigen vorziehen, denn aller Sorglosigkeit und aller Zerstreuungen, woran Sie gewöhnt waren, werden Sie sich wieder zu erfreuen haben, und wer sollte Sie wohl tadeln können, wenn Sie für ein solches Dasein auf eine anhaltende und mühsame Arbeit verzichten würden?«

»Sie würden dies thun und wissen wohl, daß ich das Letztere nicht unternehmen werde.«

»Ich weiß nichts, sondern fürchte, daß Sie sich überreden lassen, mit dem Kapitän zu gehen.«

»Das ist bei Ihnen nicht der Fall.« Agnes sah empor und blickte in Folkes Augen.

»Ich danke; Sie glauben also, daß ich Sie verstehe.«

Agnes schwieg.

»Wenn dies der Fall ist,« bemerkte Folke weiter, »so können Sie mir wohl anvertrauen, was Sie gestern so angegriffen hat. Wie gerne ich Ihnen den leisesten Kummer ersparen möchte, können Sie sich nicht so leicht vorstellen, und dennoch ist es einer meiner Lieblingswünsche, ihr Angesicht vor Freude und Glück leuchten zu sehen.«

Es war etwas auffallend, den steifen Folke so sprechen zu hören. Agnes hatte heftiges Herzklopfen.

»Die Zuneigung zu Margarethen stimmt Sie mild gegen deren Anverwandte,« bemerkte Agnes.

Folke gab dem Pferd einen starken Schlag mit der Peitsche, und fort eilte der Schlitten. Agnes hüllte sich in den Pelz, und Beide schwiegen.

Als der Schlitten anhielt, hob Folke Agnes aus demselben und sagte in seinem freundlichen, knappen Ton: »Morgen verreise ich auf einige Zeit; kann ich darauf rechnen, daß Sie so lange auf Ihrer Stelle bleiben?«

»Das können Sie,« antwortete Agnes.

Er saß wieder in den Schlitten und fuhr in den Hof hinein.

»Er verreist,« murmelte Agnes. »Ja, es ist schon recht,« fügte sie in Gedanken bei. »Er wird mich bei seiner Rückkehr schon noch antreffen, selbst wenn er Jahre lang fort wäre. Wahrscheinlich werde ich die Stelle nie verlassen.«

Sie legte ihr Ueberkleid ab und ging zu Tom hinein, welcher in lebhaftem Gespräch mit Hundern begriffen war.

Tom empfing seine Schwester freundlicher als sonst und fragte, ob sie Margarethe begleitet habe und ob Richardson mitgegangen sei. Er gab ihr sodann einen Brief mit den Worten:

»Der Kauf des Hauses in Stockholm, das ich zu erwerben wünschte, ist jetzt abgeschlossen, und ich kann so bald als möglich mich in mein eigenes Heim begeben.«

»Es freut mich dies um deinetwillen,« gab Agnes zur Antwort.

Hundern verabschiedete sich. Bruder und Schwester blieben allein.

»Nun, meine kleine Krankenwärterin, sollst du belohnt werden für deine Geduld und alle deine Mühe,« sagte Tom und streckte die Hand aus. »Komme und setze dich hierher, damit wir mit einander sprechen können.« Agnes legte ihre Hand in die seinige und setzte sich.

Sie ahnte, was kommen werde, allein sie wußte auch, daß Tom auf ihren einmal gefaßten Beschluß von keinem Einfluß sein könne.

»Du wirst wohl einsehen,« begann Tom sehr freundlich, »daß ich stets die Absicht gehabt habe, dich von hier wegzunehmen. Deshalb, Agnes, reiste ich hierher. Durch eigene Kraft habe ich mir eine unabhängige ökonomische Stellung errungen, und meine Schwester hat es nicht nöthig, von Andern abhängig zu sein. Ich wollte dir auch den Vorschlag machen, bei meiner kleinen verwaisten Tochter Mutterstelle zu vertreten. Die Stelle, welche du auf Richardsons Comptoir inne hast, darfst du nicht beibehalten, und ich will nicht, daß du in Arthurs Nähe bleibst.« Tom runzelte die Augbrauen. »Wir haben einander nie geliebt, weil wir außerdem von zu verschiedenem Charakter sind, allein ich hegte ein brüderliches Interesse für ihn. Ich muß jedoch Arthur für einen ehrlosen Mann halten, welcher den Fluch über uns brachte, und in seiner Nähe darf meine Schwester nicht weilen. Er hat meine Achtung und Anhänglichkeit verscherzt. Möge er allein die Frucht seiner Handlungen büßen und einernten!«

»Tom, wir denken in diesem Falle verschieden,« fiel ihm Agnes in die Rede. »Ich liebe Arthur und schätze ihn hoch; er ist das Liebste, was ich auf Erden besitze, und wo er ist, will ich auch sein.«

»Dann weißt du nicht, wie schlimm er ist und welche schlechten Handlungen er aus der elendesten Rachgier begangen hat und zwar gegen Leute, gegen welche die ganze Familie Grattman Verbindlichkeiten hat. Du weißt nicht, daß …«

»In welcher näheren Beziehung Richardsons zu Grattmans stehen,« unterbrach ihn Agnes. »O ja, Tom, seit gestern weiß ich Alles. Arthur selbst hat mir die Entstehungsursache des Hasses mitgetheilt, welchen mein Vater gegen Richardsons empfand. Ueber unserem verstorbenen Vater wollen wir Beide den Stab nicht brechen. Wenn unser Bruder von dem Weg des Rechtes abgewichen ist, so hat er durch eine elfjährige, gewissenhafte Lebensführung gut gemacht, was er verbrach. Er befindet sich jetzt in Diensten seines ehemaligen Feindes und legt eine solch angestrengte Thätigkeit an den Tag, daß dieselbe dem früheren Gegner zu gut kommt. Ich will Arthur nicht verlassen und werde dies nie thun. Ich will von Niemand meinen Unterhalt beziehen, da ich selbst für mein Fortkommen sorgen kann und bleibe deshalb da, wo ich bin.«

»Also, Agnes,« fiel ihr Tom in die Rede und runzelte die Augbrauen: »ziehst du denjenigen, welcher einen feilen Diener zur Brandstiftung verleitet und diesen Unglückseligen ins Verderben gestürzt hat, dem vor, welcher nie eine unrechte Handlung beging und dazu noch durch Ersteren ein armer Krüppel geworden ist. Du wirst wohl einsehen, daß ich wegen meiner Schmerzen und des Verlusts meines Auges niemals den Fritz verantwortlich machen kann, sondern immer nur Arthur, den eigentlichen Urheber. Und bei diesem Bruder, der ein Mordbrenner ist, bleibst du! Und nicht genug damit, du willst noch immer bei einer Person bleiben, welche von deinem Vater und deinem Bruder übervortheilt worden ist. Bei seinem bloßen Anblick steigt mir die Schamröthe ins Gesicht!«

»Wenn Folke Richardson weiß, wie sehr man ihn übervortheilte, so hat immerhin des Ersteren ganzes Benehmen bewiesen, daß er es vergessen hat,« entgegnete Agnes.

»Dieser Mann vergißt nichts; wenn man aber, wie es bei ihm der Fall ist, ein Glied der Familie liebt, so übersieht man die Fehler aller Uebrigen; Margarethe ist der Talisman, welche den Folke dazu bestimmte, seinen größten Feind in seine Dienste zu nehmen.«

Diese Worte wurden in rauhem und schonungslosen Ton ausgesprochen.

Agnes schauderte. Es war, als ob ihr Herz nicht mehr hätte schlagen können. Tom bemerkte den Eindruck, welchen seine Worte gemacht hatten und fuhr nach kurzem Schweigen fort: »Nun, gibst du dem Arthur den Vorzug? Bleibst du hier, wo dir Alles die Missethaten deiner Eltern ins Gedächtniß ruft?«

»Ja, ich werde bleiben!«

Tom erhob sich heftig.

»Dann haben wir nichts weiter mit einander zu sprechen. Gib der Sara den Auftrag, meine Sachen zu packen. Ich begebe mich morgen schon nach Fjellboda und setze von dort die Reise nach der Hauptstadt fort.«

Agnes ging.

Sie fühlte sich matt und unglücklich.

Nachdem sie Sara zum Kapitän hineinzugehen beauftragt hatte, um beim Einpacken zu helfen, zog sie sich auf ihre Zimmer zurück.

Während der ersten Stunden nach der Unterredung mit dem Bruder war Agnes in einem Zustand, welcher ihr das Leben entleidet machte.

Wohin war jetzt der Friede entflohen, dessen sie sich erfreut hatte, bevor Tom nach Nygarda gekommen war? Wie sollte die Arbeit und die selbst erkämpfte Existenz das Verlorene ersetzen können? Ach, Agnes war der Meinung, einen größeren Verlust erlitten zu haben, als damals, wo sie, die vordem reich gewesen, arm geworden war! Alles, was sie getröstet und mit der Armuth ausgesöhnt hatte, war ihr genommen und jetzt – jetzt blieb für sie nichts mehr übrig!

»Margarethe, Margarethe,« stammelte Agnes und stützte den Kopf auf die Hände: »wie glücklich bist du! Alles, was den Stolz und die Freude des Lebens ausmacht, hast du dir zugeeignet, während ich nicht einmal mehr meine Illusionen übrig habe. Gewiß begreifst du selbst nicht, wie beneidenswerth du bist. Um das zu haben, was du besitzest, wäre ich gerne mein ganzes Leben hindurch arm geblieben. Nun …«

Es klopfte Jemand an der Thüre zwischen dem Schlafzimmer und dem Vorzimmer.

War dies Arthur? Dieser durfte sie nicht in aufgeregtem Zustand erblicken.

Agnes fuhr mit den Händen über die Stirne und warf einen Blick in den Spiegel, aber da bemerkte sie erst, daß es schon so dunkel geworden war, daß sie den Ausdruck in ihrem Gesichte nicht mehr deutlich erkennen konnte.

Sie beeilte sich, die Thüre zu öffnen. Eine hochgewachsene, männliche Gestalt stand vor ihr.

Agnes hatte kein Licht nöthig, um zu erkennen, wer es war. Wenn es auch dunkle Nacht gewesen wäre, so hätte sie dennoch erkannt, wer vor ihr stand.

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe,« erklang die wohlbekannte rauhe Stimme; »allein ich bin von meiner Mutter beauftragt worden; dieselbe wünscht heute Abend in Ihrer Gesellschaft zu sein, wenn Sie nicht verhindert sind.«

»Mein Bruder wird morgen abreisen,« sagte Agnes, »und …«

»Auch Sara geht mit ihm. Sie werden also der Lahmen das Vergnügen, Sie zu sehen, nicht versagen.«

»Das Vergnügen,« wiederholte Agnes und lächelte bitter; die Dämmerung verbarg das Lächeln, aber Folke überhörte den traurigen Ton, welcher in der Stimme lag, nicht.

»Es ist für sie ein Vergnügen, in Ihrer Gesellschaft zu sein, aber Sie wollten ihr diese Freude nicht oft bereiten. Sie werden wohl während meiner Abwesenheit sich öfter zeigen. Nun, kommen Sie?«

Folke hatte sich nicht getäuscht: Agnes flüsterte ein »Ja.«

Er entfernte sich sofort.

Agnes brachte ihre Toilette in Ordnung und begab sich zu Jane hinauf. Dieselbe war freundlich und sanft wie immer.

Die mit einem natürlichen feinen Gefühl ausgestattete Frau bemerkte sehr wohl, daß Agnes von einem innerlichen Schmerz gequält werde und daß ihr Herz leide.

Jane leitete ihr Gespräch auf ihren eignen Lebensgang, auf die Prüfungen, welche sie zu bestehen gehabt hatte und darauf, wie sie, als ihr das Leben eine schwere Last zu sein schien, gefunden habe, wie man den wahren Trost suchen und finden müsse.

Die Lehren unseres sanften und liebevollen Erlösers hatten in Janes Herzen tiefe Wurzeln geschlagen. Sie liebte Gott so herzlich, daß, wenn sie von dem Troste sprach, den die Heilige Schrift gewährt, es schwer wurde, das Herz dem Eindruck ihrer Worte zu verschließen.

Auf Agnes, welche für alle Regungen empfänglich war, übten Janes Worte eine wohlthätige Wirkung aus, und als sie die Engländerin verließ, war alle Verbitterung entschwunden, und in ihrem Inneren herrschte ein Gefühl des Friedens und der Ergebung.

Sie hatte Jane gute Nacht gesagt und ging in das Vorzimmer, wo ihr Folke begegnete.

»Wollen Sie gehen?« fragte er.

»Es ist zehn Uhr,« gab Agnes zur Antwort.

»Die Zeit ist so rasch vergangen, und dennoch bin ich sehr schnell von Qvarndammen hergeeilt, um Ihnen Lebewohl zu sagen.«

»Werden Sie lange abwesend sein?« fragte Agnes.

»Vielleicht.«

»Ich habe geglaubt, Sie würden recht bald wiederkommen. Sie haben Margarethen kein Wort davon gesagt, daß Sie verreisen; Sie werden übrigens gewiß morgen nach Fjellboda sich begeben?«

Wie kamen alle diese Worte über die Lippen der Agnes? Sie hätte sich selbst dafür bestrafen mögen, daß sie dieselben ausgesprochen hatte, allein es war nun zu spät.

»Aus welchem Grunde haben Sie das Letztere vorausgesetzt?« forschte Folke.

»Ich kann mir unmöglich denken, daß Sie abreisen, ohne Abschied von ihr zu nehmen, welche …« Agnes schwieg.

»Welche ich verehre und für welche ich den höchsten Grad von Zuneigung besitze, wollen Sie sagen?«

»Welche Sie lieben.«

Es war, als ob Agnes wider ihren Willen die Zunge gelüpft hätte: sie sprach aus, was sie verschweigen wollte. Ihre Wangen erglühten aus Schmerz über das, was sie gesagt hatte.

Folke sah sie an. Ihr Blick war gesenkt, und dennoch drückten sich in jedem Gesichtszuge Gefühle aus, welche gegen Vernunft und Stolz sich aufbäumten. Folke ergriff die Hand der Agnes und schloß sie in die seinige.

»Lieben!« wiederholte er – »Agnes weiß, daß ich Margarethe nicht liebe.«

Wer war es, welcher Agnes die Hand küßte? Konnte dies der kalte Folke sein? Agnes sah rasch empor, und Folke ließ ihre Hand los.

»Leben Sie wohl,« sagte er: »wir werden uns lange nicht wiedersehen.«

Agnes lächelte halb wehmüthig, halb freudig und flüsterte: »Glückliche Reise; auf Wiedersehen!«

Die Thüre nach der Treppe zu ging auf; Agnes eilte zu derselben hinaus.

Folke hatte ein heiteres Gesicht, als er zu seiner Mutter hineinging. Es war ihm ein inneres Licht aufgegangen, das sich in seinen Gesichtszügen abspiegelte und denselben einen edleren Ausdruck verlieh, als sie sonst an sich hatten.


Vorwärts, vorwärts! ist die Losung der Zeit.

Der Schnee schmolz, der Winter nahm Abschied, und die Erde kleidete sich wieder in den Schmuck des Frühlings. Die Anemonen leuchteten so weiß in dem grünen Grasteppich; das zarte Laub zitterte leicht im Winde, und die Vögel schlugen ihre Triller. Alles athmete neuerwachte Hoffnung.

Die Brust der Menschen erweitert sich, seine Sorgen schwinden, die Hoffnung erhebt ihr blumengeschmücktes Haupt und lächelt trügerisch, aber aufmunternd, wenn der Frühling seinen Einzug hält.

Den Jungen flüstert der Lenz von der Seligkeit der Liebe, dem reifen Alter von Glück und Erfolg, den Alten von Freude in Gott. Das Grab bedeckt sich mit Blumen, und selbst der Tod erscheint in minder düsterer Gestalt. O, du herrlicher Frühling, wie bist du so reich an Versprechungen; wenn aber der Herbst und der Winter kommt: wie hast du dann deine schönen Verheißungen erfüllt?

Es war also wieder Frühling, und die Umgegend von Nygarda stand im entzückenden Schmuck des Lenzes. Es wollte manchmal scheinen, als ob das Thun und Treiben zu Nygarda einen fröhlicheren Anstrich gehabt hätte, als den Winter vorher.

Folke war noch immer abwesend, und es war nicht bekannt, wann er wiederkommen würde; man hielt es übrigens für sicher, daß er im Frühjahr zurückkommen werde.

Im Monat April war der Auftrag von ihm eingelaufen, man solle den großen Pavillon, welcher unbenützt war, herrichten und für eine kleine Wohnung in Stand setzen lassen. Im Mai kamen für die neue Wohnung Möbel an, und es hieß allgemein, Folke wolle sich verheiraten und werde gewiß mit seiner Braut zurückkehren.

Der Monat Mai ging zu Ende. Alles war in Ordnung, allein Folke kehrte nicht zurück.

Es wurde Juni. In der letzten Zeit war es sehr warm gewesen.

Die Fabrikglocke zu Nygarda machte bekannt, daß der Tag, nein, die Woche zu Ende sei und Jeder das Recht habe, nach Hause zu gehen und im Genusse seiner Freiheit zu schwelgen.

Das Comptoir wurde geschlossen, und Agnes, von Arthur begleitet, machte einen Ausritt nach Fjellboda.

Agnes schien ihrem Aeußern nach ruhig zu sein, allein gleichwohl wollte es manchmal scheinen, als ob ihr Inneres nicht so ruhig wäre. Arthur dagegen schien zufriedener zu sein, als damals, wo wir ihn zuletzt gesehen haben.

Er sprach mit Agnes über gleichgültige Dinge. Endlich sagte Arthur:

»Ich wünschte, daß Richardson bald heim käme, ich habe einige erfreuliche Nachrichten für ihn und muß gestehen, daß in den zwei Jahren, so lange ich auf dem Comptoir bin, die Geschäfte bedeutend zugenommen haben. Die Fabrik wirft fünfzehn Procent mehr ab, als zu der Zeit, wo ich meine Stelle angetreten habe. Noch einige Jahre und ich habe den Verlust, welchen ich in meinem Hasse dem Richardson zugefügt habe, vollständig ersetzt. Wenn dies geschehen ist, dann ist es an der Zeit, an seine eigene Selbstständigkeit zu denken. Dank der klugen und sparsamen Lebensweise, welche wir geführt haben, ist es mir gelungen, Ersparnisse zu machen, so daß ich in einigen Jahren ein kleines Kapital habe, um damit etwas anfangen zu können. Dann wirst du mein Buchhalter, und wir werden eine neue Firma gründen, welche Grattman und Grattman heißen wird.«

Arthur lächelte und blickte Agnes an, welche bei diesen Aussichten nicht aufgeheitert zu werden schien, allein trotzdem half sie dem Bruder Luftschlösser zu bauen. Schließlich fragte Agnes: »Aber wohin reitest du, lieber Arthur?«

»Nach Fjellboda, wohin du dich jetzt wohl auch gerne begibst.«

»Deshalb, weil es dir Vergnügen macht.«

»Du willst wohl nicht behaupten, daß du ungerne dorthin gehst?«

»Gewiß nicht. Ich verehre Signe, wie wenn sie meine Mutter wäre, und meine Eifersucht auf Margarethe ist jetzt bedeutend geringer, als es der Fall war.«

»Eifersucht?« wiederholte Arthur. »Weshalb hast du sie beneidet?«

»Wegen Allem, hauptsächlich wegen ihrer Schönheit; doch wollen wir nicht davon reden. Ich habe mich in neuerer Zeit ernstlich bemüht, ähnlichen Gefühlen keinen Raum zu geben und habe jetzt ein so großes Verlangen, eine gute Christin zu werden, daß es mir schließlich auch gelingen wird.«

Während die Geschwister in aller Gemächlichkeit des Weges weiter reiten und sich Fjellboda nähern, wollen wir denselben vorauseilen und in Erfahrung bringen, was daselbst sich zugetragen hat.

Margarethe hatte, nachdem das Mittagessen vorüber war, sich allein in den Pavillon gesetzt und überließ sich einer vollständigen Unthätigkeit. Sie drehte einen erbrochenen Brief in der Hand herum und schien in Folge des Lesens desselben in Gedanken versunken zu sein. Nach längerer Pause entfaltete sie den Brief wieder und las halblaut:

 

»Theuerste Margarethe!

»Deinem Wunsche gemäß werde ich den Weg über Fjellboda einschlagen und dich besuchen, ehe ich mich nach Nygarda begebe.

»Ich bin nun über ein Jahr abwesend gewesen, und wie sehr es mich verlangt, wieder nach Hause zu kommen, kann ich gar nicht sagen, weil ich da Gefühle verrathen würde, welche du niemals bei mir gesucht hast. Doch, wenn wir uns wieder treffen, so will ich dir mein Herz anvertrauen. Ich hoffe, am Samstag um vier oder fünf Uhr in Fjellboda zu sein.

Dein ergebener
Folke Richardson.«

 

Margarethe faltete den Brief wieder zusammen, legte ihn auf den Tisch und murmelte: »Sein Herz anvertrauen!« Sie erhob sich plötzlich und sagte mit lauter Stimme: »Ja, die Zeit hätte uns in der That Vertrauen einflößen und genießen lassen sollen.«

Sie verstummte plötzlich. Aus der Entfernung hörte man einen Wagen nahen.

»Das ist Folke,« dachte Margarethe.

Sie hatte richtig vermuthet, denn kurz darauf kam Folke mit freudestrahlendem Gesichte herein. Die Beiden wechselten herzliche Grüße mit einander. Es folgten sodann die gewöhnlichen Fragen, welche man an einen Freund richtet, der lange abwesend gewesen ist. Folke hatte in den letzten zwei Wochen fortwährend seinen Aufenthaltsort gewechselt, so daß er nichts von Nygarda erfuhr. Er wünschte nun zu wissen, wie es dort stehe, ob Arthur und Agnes oft nach Fjellboda gekommen seien u. s. w. Margarethe gab hierüber und auch über andere Dinge Auskunft. Endlich fragte sie:

»Was hast du über meinen Brief gedacht, als ich dich bat, zuerst hierher zu kommen?«

»Ich nahm an, daß du mir eine angenehme Mittheilung zu machen hast, nachdem du mich versichert gehabt, daß dieselbe nicht von beunruhigender Art sei.«

»Und du hast dich nicht in Vermuthungen erschöpft?«

»Wenn ich dies auch gethan habe, so erlaube mir, daß ich diese Vermuthungen für mich behalte.« Folke lächelte.

Margarethe dachte einen Augenblick nach.

»Ich habe nicht geglaubt, daß es mir so schwer werden würde, aufrichtig mit dir zu reden,« sagte sie, – »und dennoch ist es so.« Margarethens helle blauen Augen waren auf Folke gerichtet.

»Besitze ich nicht mehr das Glück, für Margarethens Freund gehalten zu werden? Für einen redlichen, treuesten Freund, welchem Margarethe Alles sagen kann, was sie denkt und empfindet?«

»Freund und Freundschaft!« rief Margarethe aus. »Das ist es, Folke, worüber wir reden wollen. Sage mir, welchen Grad von Zuneigung für Richardson ich deiner Meinung nach empfinde und ob dies Freundschaft oder – Liebe ist?«

So hell wie der Himmel über Beiden war der Ausdruck in Margarethens Augen, als sie diese Frage stellte.

»Margarethe hat mich wohl noch nie für einen eingebildeten Narren angesehen, welcher die Neigung, die du für mich empfandest, mißdeuten konnte.«

»Mißdeuten – dies hätte vielleicht heißen sollen: verstehen, wenn du einen andern Ausdruck gewählt hättest, als ›Freundschaft‹«.

Folke sah schweigend in die blauen Augen, aber es war ebenso vergeblich zu ergründen, was dieselben wiederspiegelten, wie es vergeblich ist, die klare Luft zu durchdringen und etwas dahinter entdecken zu wollen.

»Margarethe,« sagte Folke, – »wozu diesen Scherz?«

»Hier handelt es sich nicht um Scherz, sondern um Ernst,« sagte Margarethe. »Bedenke einen Augenblick, daß ich dir seit meinem neunzehnten Jahr mit treuer, heißer Liebe zugethan war; berücksichtige ferner, daß ich zwölf Jahre lang alle anderen Anträge ausgeschlagen und den Bitten meines Vaters nicht entsprochen habe, welche dahin gingen, ich solle heiraten; und dies nur aus dem Grund, weil ich dich liebte; bedenke ferner, daß ich meine und deine materiellen Interessen zu verbinden wußte in der alleinigen Hoffnung, dich dadurch an mich zu ketten, das Vorurtheil gegen meinen Reichthum verschwinden zu lassen und dir Neigung zu mir einzuflößen; setze voraus, daß ich geduldig erwartet habe, bis dein Herz sich mir zuwenden würde, und daß ich nunmehr, über deine Gefühle im Unklaren, den entscheidenden Schritt thue und dich, Folke Richardson, frage: ob du Margarethe für würdig hältst, deine Frau zu werden? Welche Antwort würdest du mir da geben?«

Folke warf sich vor Margarethen auf die Kniee, erfaßte ihre Hand und sagte in höchst ernstem Ton: »Margarethe, meine Antwort würde die sein: ›Ich bin dieses Glückes unwürdig, welches mir niemals zu Theil werden kann, ich …‹«

»Agnes und Arthur sind da,« sagte Signe, welche hereintrat. Folke erhob sich rasch, aber nicht schnell genug, als daß es den beiden Geschwistern hätte entgehen können, wie er aus kniender Stellung emporgesprungen war.

Allgemeine Ueberraschung!

Folke fühlte sich sehr unbehaglich bei dem Gedanken, in dem Augenblick überrascht worden zu sein, als er die Kniee vor einem weiblichen Wesen gebeugt hatte. Signe war bestürzt darüber, daß Margarethe eine solche Ungehörigkeit hatte zulassen können. In Arthurs Gesicht drückte sich Stolz aus, und Agnes war todesbleich. Margarethe ging ihren Besuchern mit Freimuth entgegen und bewillkommnete sie. Sie bedauerte, daß sie in einem Augenblick gekommen sei, wo Folke das Geschenk ausgeschlagen, welches sie ihm zu machen beabsichtigt habe.

»Zwar geschah dieses Ausschlagen in Form einer Kniebeugung,« sagte Margarethe; »allein gleichwohl war es ein Ausschlagen, was immerhin mehr oder minder unangenehm ist. Wir wollen uns übrigens nicht weiter dabei aufhalten. Folke wird seine Weigerung begründen, und dann wird Alles zwischen mir und ihm wieder im Reinen sein.«

Arthur wiederholte in Gedanken die Worte, welche Margarethe einst selbst ausgesprochen hatte: »Wenn ich heirate, so nehme ich gewiß einen Solchen, um welchen ich selbst freie.«

Sie hatte gefreit und er mit »Nein« geantwortet. Arthur betrachtete Margarethe. War es denn in der That möglich, einer solchen Person einen Korb zu geben? Unmöglich!

Was Agnes dachte, wollen wir nicht weiter berühren. Kalt und steif erwiderte sie Folkes freundliche Begrüßung.


»Reite damit nach Fjellboda,« befahl der Herr zu Nygarda dem Stallknecht und trat alsdann in das Comptoir. Sein Aussehen war streng, seine Begrüßung kalt. Sonst pflegte er gewöhnlich mit Arthur einige freundliche Worte zu wechseln; aber jetzt, nachdem er nach einjähriger Abwesenheit seinen Platz am Pult einnahm und viel zu sagen gehabt hätte, blieben seine Lippen verschlossen.

Auch Arthur schien nicht geneigt zu sein, ein Gespräch anzuknüpfen, sondern fuhr fort zu schreiben; Agnes hatte kaum von ihrer Arbeit aufgeblickt, als Folke grüßte.

Nach Verfluß einiger Minuten äußerte Folke: »Ich wünschte mit Herrn Grattman zu sprechen.« Er ging in das vor dem Comptoir befindliche Gemach und Arthur folgte ihm.

Agnes warf die Feder weg und stützte ihren Kopf mit der Hand. Sie hätte in Thränen ausbrechen mögen; weshalb?

Weil sie bei dem rohesten und ungehobeltsten Menschen von der Welt arbeiten mußte!

Ja, so war es: er war roh und ungehobelt, und es konnte sie nicht schmerzen, daß er seine Kniee vor Margarethen gebeugt hatte; ebenso wenig konnte es sie berühren, daß er an ihre Cousine einen Brief geschrieben hatte. Es war die alte Abneigung gegen seine Person, welche wieder erwachte. Aus dem inneren Zimmer hörte man etwas, wie ein verworrenes Geflüster von zusammensprechenden Stimmen. Sie konnte die Worte nicht unterscheiden, wohl aber die ungleichen Stimmen ihres Bruders und Folkes. Des Letzteren Stimme war gemessen, während die des Ersteren kalt und ruhig war.

Nach einiger Zeit wurde Folke herausgerufen. Als er sich entfernen wollte, sagte er zu Arthur: »Ich hoffe, daß Sie mir den Gefallen thun werden, sich die Sache zu überlegen. Wir wollen eine Woche darüber hingehen lassen; nach Verfluß dieser Zeit werden Sie mir Ihren Entschluß mittheilen.«

Folke verließ eiligst das Comptoir. Er würdigte Agnes kaum eines flüchtigen Blickes.

Das junge Mädchen konnte ihre Neugierde nicht bezähmen und wünschte zu erfahren, was Arthur auszumachen hatte. Sie wartete mit einer gewissen Ungeduld, bis ihr Bruder den Platz an seinem Pulte wieder einnehmen würde; aber als dies endlich der Fall war, deutete seine Miene darauf hin, daß Agnes auf keine ihrer Fragen Antwort bekommen würde.

Nachmittags arbeitete Agnes nicht auf dem Comptoir.

Das Mittagessen war vorüber. Sie nahm ein Buch und begab sich in den Park hinunter, um das schöne Wetter zu genießen. Agnes hoffte dadurch ihr ganz aus dem Gleichgewicht gerathenes Innere wieder in die richtige Fassung zu bringen.

Sie wanderte durch den Park, ohne einen passenden Platz zum Ausruhen zu finden; endlich gelangte sie an den neuhergerichteten Pavillon. Derselbe war sowohl im Aeußern wie im Innern bedeutend verschönert worden. Sie setzte sich an eine Hecke und betrachtete den Bau.

Alles war so ruhig und stille auf diesem Platz, nur das Geräusch eines künstlichen, durch Aufdämmung hergestellten Wasserfalls unterbrach die Stille. Durch die geschmackvoll hergerichteten Anlagen schlängelte sich der Fluß wie ein silbernes Band. Agnes hatte oftmals, wenn sie da saß und den Pavillon betrachtete, sich denselben zu ihrer Wohnung gewünscht. Wie oft war sie nicht an dem gleichen Platze gesessen und hatte dabei gedacht, daß sie dieses kleine Gebäude zu besitzen wünschte, wenn es ihr möglich wäre, von dem Vermögen ihrer Eltern wieder einen Theil zu bekommen. Sie hatte sich in Gedanken Alles so zurechtgelegt, wie es jetzt war.

Der Traum hinsichtlich der Einrichtung war verwirklicht worden, allein der Pavillon war nicht ihr Eigenthum und sie konnte denselben nicht bewohnen. Niemals hatte es Agnes tiefer als in diesem Augenblick gefühlt, wie sehr sie für diesen Platz eingenommen war. Ein dichter Schleier von Betrübniß hatte sich über sie ausgebreitet. Sie fühlte, daß sie einen großen Verlust erlitten habe, weil sie nicht mehr von dem Pavillon als ihrem künftigen Eigenthum träumen konnte. Sie erhob sich endlich, um zu gehen, zog sich aber eiligst hinter einige Büsche zurück.

Sie hatte zwei männliche Gestalten bemerkt, welche sich zu nähern im Begriff waren, und erkannte in denselben sogleich Folke und Hundern.

»Es hat mich gewundert, daß dir nicht mehr daran gelegen war, den Pavillon in seiner jetzigen Gestalt zu sehen,« bemerkte Hundern.

»Ich habe keine Zeit gehabt; ich arbeitete gestern den ganzen Tag,« antwortete Folke gleichgültig.

Derselbe richtete jetzt seinen Blick auf das Gebüsch, hinter welchem Agnes unbemerkt zu sein glaubte. Sie sah, daß er sie beobachtet hatte und trat deshalb hervor, um an den Beiden vorüberzugehen, allein Folke hielt sie auf mit den Worten: »Sind Sie in Ihrer Zeit beschränkt, Fräulein, oder wollen Sie uns mit Ihrer Gesellschaft beehren?«

»Miß Grattman wird mir gewiß die Güte erweisen und mich davon erlösen, mit diesem Bären da allein einen Gang durch den Pavillon zu machen,« sagte Hundern und deutete auf Folke. »Ich hoffe, das Vergnügen zu haben, einige anerkennende Worte über die Einrichtung der Zimmer zu hören, da ich alle Ursache zu der Annahme habe, daß Folke sich nicht die Mühe nehmen wird, in dieser Richtung ein Urtheil abzugeben.«

Agnes gab Hundern die Versicherung, daß sie seinem Wunsche gerne willfahren werde. Sie betonte es stark, daß sie »seinem« Wunsche entspreche.

Folke, nachdem er sie angeredet hatte, sah aus, als ob er sich ihrer Gegenwart nicht mehr erinnere. Der Engländer war außerordentlich gesprächig.

»Gefällt dem Fräulein die Lage des Pavillons?« fragte Folke plötzlich, als man im Begriffe war, hineinzugehen.

»Sehr,« gab Agnes zur Antwort.

»Sie haben einen sehr guten Geschmack,« meinte Folke, worauf sie die Treppe zur Veranda hinaufgingen.

Ein Bursche kam um den Bau herum und ging auf Hundern zu. Er berichtete dem Engländer, daß der Werkführer von Qvarndammen zu Nygarda sei und nothwendig mit Herrn Hundern zu sprechen habe. Letzterer brummte etwas davon, wie vergeßlich er sei und daß er nicht mehr daran gedacht habe, selbst nach dem Werkführer zu schicken.

An Agnes sich wendend, versicherte er, daß er sehr bedaure, auf ihre Gesellschaft verzichten zu müssen, allein die Pflicht rufe ihn.

Hundern ging. Agnes und Folke blieben allein.

»Wollen Sie mir den Gefallen thun und, trotzdem daß Hundern sich entfernt hat, die innere Einrichtung des Pavillons besichtigen?« fragte Folke.

Agnes war hiezu zwar nicht Willens, konnte aber doch keine verneinende Antwort geben und sagte: »Wenn Sie wünschen.«

Folke lächelte. »Ich habe durch mein Ansinnen meinen Wunsch ausgesprochen. Der Grund, warum ich dieses Verlangen stellte, war der, weil ich Sie über die Einrichtung urtheilen hören wollte. Eine Frau versteht diese Sachen besser als ein Mann. Das Hauswesen ist ihre Welt.«

»Wenn aber der Eigenthümer dieser Wohnung solche selbst besichtigt, so muß er es am besten beurtheilen können, ob die Sache nach seinem Geschmack ist.«

»Er kann nur als Mann urtheilen, aber nicht darüber, wie die Frauenwohnung eingerichtet sein muß.«

»Das Gerücht ist somit begründet, wornach …«

»Dieser Pavillon wird von einer Frau bewohnt werden,« unterbrach Folke; »und nun, mein Fräulein, werden Sie gewiß die Güte haben und mir sagen, ob etwas fehlt, damit die kleine Wohnung hübsch und angenehm für diejenige, welche darin wohnen wird, eingerichtet ist.«

Agnes nickte mit dem Kopf zum Zeichen der Zustimmung.

Die Zimmer waren möblirt und mit vielem Geschmack ausgerüstet, aber ohne jeden überflüssigen Luxus, welcher dieselben in ein Magazin von unnöthigen und zwecklosen Gegenständen verwandelt hätte. Alles zeichnete sich durch kostbare Einfachheit aus, wodurch das Geschmackvolle der Anordnung hervorgehoben wurde. Alles war auf Behaglichkeit und Bequemlichkeit berechnet.

Agnes hatte wenige Bemerkungen zu machen. Sie fand, daß einige Möbel nicht richtig gestellt seien. Folke rückte dieselben sofort bei Seite. Ein Gemälde hing zu hoch und ein Kranz zu nieder: damit waren die Bemerkungen zu Ende.

Folke und Agnes gelangten endlich in ein Kabinett, welches zwischen dem Saal und dem Salon gelegen war. Am Fenster stand ein Schreibtisch.

»Ist dieses Zimmer für Ihre Frau bestimmt?« fragte Agnes.

»Meine Frau?« wiederholte Folke. »Sie setzen, wie es scheint, voraus, daß ich heiraten werde?«

»Ich wiederhole nur, was Alle sagen.«

»So? Mit wem behauptet man, daß ich mich verheiraten werde?«

»Mit Margarethe Grattman natürlich.«

»Wie lange war ich abwesend?« fragte Folke.

»Etwas länger als ein Jahr.«

»Dies ist in der That eine lange Zeit, und es hat sich seither viel verändern können. Sie zum Beispiel haben sich sehr verändert, denn Ihr Aussehen ist frischer geworden, und Ihr Wesen hat mehr Ruhe gewonnen. Ich bringe Ihnen in Erinnerung, daß wir uns in dem Vorzimmer meiner Mutter Lebewohl gesagt haben.«

Agnes konnte trotz aller Anstrengung nicht verhindern, daß ihr eine Röthe aufstieg. Sie erinnerte sich lebhaft an die Antwort, welche Folke gegeben hatte, als sie die Andeutung machte, daß sie der Meinung sei, er liebe Margarethe. Agnes meinte, sie müsse noch die Wärme seiner Lippen auf der von ihm geküßten Hand empfinden.

»Sie haben unsern Abschied noch nicht vergessen, wie ich bemerke: dies freut mich.«

Agnes erröthete noch mehr, aber es berührte sie sehr schmerzlich, daß er sich zutraute, in ihrem Herzen lesen zu können. Er erinnerte sich zwar noch genau an ihren Abschied, aber am allerwenigsten wollte sie, daß dieser Folke, welcher zwei Tage zuvor vor Margarethen die Kniee gebeugt hatte, von der Richtigkeit seiner Beobachtung überzeugt sein sollte.

»Sie fragten mich, ob dies für meine Frau bestimmt sei, nicht wahr?«

»Ich habe in der That diese Frage gestellt.«

»Und Sie haben auch diesen Gedanken gehabt?« Folke schob einen Ruhesessel her, und Agnes setzte sich.

»Ich hätte sonst nicht gefragt.«

»Diese Antwort betrübt mich,« sagte Folke und legte die Hand auf die Lehne des Sessels.

Agnes glaubte, sie müsse vergehen, so heiß wurde ihr. Sie mißbilligte übrigens die Schwäche gar sehr, in eine solche Aufregung gekommen zu sein, so daß sie sich zu bemeistern versuchte. Agnes erhob ihr etwas gesenktes Haupt und blickte Folke an, während sie ganz ruhig sagte: »Wie ist es möglich, daß meine Antwort Sie betrübt?«

»Sie werden es sofort verstehen. Ein Jahr lang haben wir zusammen gearbeitet, haben aber nicht viele Worte gewechselt; dies ist richtig; wir haben uns jedoch beobachtet und, mein Fräulein, dies hat mir die feste Ueberzeugung beigebracht, daß Sie meinen Charakter besser beurtheilen, als sonst Jemand. Mit dieser Ueberzeugung reiste ich ab, und ich finde zu meinem Bedauern, daß ich mich geirrt habe. Sie haben nie die Gewalten verstanden, welche in meinem Herzen mächtig sind, und ich muß bedauern, daß es so ist. Wir werden weiter darüber reden.«

Folkes Gesicht, welches während des Sprechens weniger ernst gewesen war, nahm bei den letzten Worten seinen strengen Ausdruck wieder an.

Agnes hatte eine Art von Flamme aus diesen Augen leuchten sehen, wodurch jeder Gesichtszug lebhafter wurde. Die Stimme des Herzens rief Agnes zu: »Sage, daß du ihn verstanden habest, daß du nur durch ein vorübergehendes Mißtrauen dich habest täuschen lassen!« allein der Stolz hielt sie davon ab, der Stimme des Herzens zu gehorchen.

»Ach, es ist wahr,« fuhr Folke fort: »ich schulde Ihnen eine Antwort auf die Frage, welche Sie an mich gerichtet haben, ob meine Frau das Kabinett benützen werde. Dasselbe ist in der That für eine weibliche Person bestimmt, welche übrigens meine Frau nicht werden wird.«

»Ihre Mutter wird demnach hier wohnen?«

»Sie kennen meine Mutter und wissen, daß dieselbe kein Schreibzimmer nöthig hat: es ist also für jemand Anderes. Den Namen dieser Person zu nennen ist mir für den Augenblick nicht möglich. Haben Sie an diesem Zimmer etwas auszusetzen?«

»Es ist mir nur aufgefallen, in einem Frauengemach einen Schreibtisch statt eines Nähtisches zu finden. Letzterer wäre mehr am Platz gewesen.«

»Das bezweifle ich. Diejenige, welche hier wohnen wird, beschäftigt sich mehr mit Schreiben als mit Nähen, so daß der Schreibtisch da ist und ein Nähtisch fehlt.«

Agnes machte Miene aufzustehen. Es ging aus Folkes Ton hervor, als ob er das Gespräch abzubrechen gewünscht hätte.

»Haben Sie die Güte, noch einen Augenblick Platz zu behalten,« sagte Folke. »Ich muß Ihnen etwas sagen.«

Agnes setzte sich wieder.

»Sie haben vielleicht schon von Ihrem Bruder erfahren, daß es sich darum handelt, ob wir uns trennen sollen.«

Agnes verlor sofort ihre lebhafte Gesichtsfarbe wieder. Folke bemerkte diese Erscheinung sehr wohl.

»Was ist zwischen Euch vorgefallen?« fragte Agnes.

»Nichts, was ihn berechtigen könnte, Nygarda zu verlassen,« gab Folke zur Antwort; »allein er hat, wie Sie auch, einen übermäßigen Stolz. Dieser Stolz ist nun der Grund des Zwiespalts zwischen uns. Mein Charakter ist schroff und mein Wille unbeugsam; ich kann nicht nachgeben: Alles hängt von Ihnen ab.«

»Von mir?« Agnes sah den Folke fragend an.

»Ich vermuthe, daß Sie, die Sie Ihren Bruder lieben, einen großen Einfluß auf denselben haben. Die Zuneigung verleiht der Frau stets Macht. Nun gut, ich bitte Sie, benützen Sie Ihren Einfluß dazu, daß Sie ihn zu dem Eingehen auf den Vorschlag, welchen ich ihm gemacht habe, bewegen. Thut er es nicht, dann können wir nicht länger zusammen arbeiten, und weil er alsdann Nygarda verläßt, so müssen Sie ihm folgen.«

Die letzten Worte wurden mit eigenthümlichem Nachdruck ausgesprochen. Agnes schüttelte den Kopf.

»Um ihn überreden zu können, auf Ihren Vorschlag einzugehen, muß ich Kenntniß von dem letzteren haben.«

»Die Sache ist kurz die, daß ich die Arbeitskraft Ihres Bruders und seine außerordentlichen Talente nicht verwenden kann, wenn er immer nur als Lohnarbeiter beschäftigt ist. Es wäre dies ein Mißbrauch seiner Fähigkeiten. Ich habe ihm deshalb den Vorschlag gemacht, als Theilhaber einzutreten. Er hat zwar kein Geld einzulegen, aber trotzdem besitzt er das größte Kapital in seinem Geschäftsgeist. Der Vorschlag ist einfach und natürlich, aber dessen ungeachtet hat Ihr Bruder denselben nicht angenommen. Ich habe ihn veranlaßt, sich die Sache acht Tage lang zu überlegen. Ein Mann, wie er, ist berechtigt, seine Intelligenz als ein sehr gewinnbringendes Kapital zu betrachten, und wenn er dieses in ein Geschäft einlegt, so muß er den gleichen Nutzen daraus ziehen, als wie wenn er Geld einlegen würde. Ich meinerseits kann seine Arbeitskraft nicht mehr so verwenden, wie in den letzten zwei Jahren, und deshalb muß Herr Grattman Theilhaber werden. Er hat überdies von Hamburg ein ehrendes Anerbieten erhalten und soll Comptoirchef in einem der bedeutenderen Häuser daselbst werden. Er hat die Stelle nicht angenommen, sondern ist hier geblieben gegen eine Bezahlung, welche noch nicht einmal den dritten Theil dessen beträgt, was ihm dort angeboten worden ist. Die Stelle in Hamburg ist immer noch offen für ihn. Er muß sich also entscheiden, entweder unser Theilhaber zu werden oder das Anerbieten von Hamburg anzunehmen. Letzterer Umstand wäre ein harter Schlag für uns, und deshalb müssen Sie ihn überreden, sich für das Erstere auszusprechen. Wollen Sie Ihren Einfluß zu Gunsten Nygardas geltend machen?«

»Ich fürchte, daß mein Einfluß sehr gering ist,« antwortete Agnes betrübt; »ich bezweifle sehr, ob ich viel werde ausrichten können. Margarethe wird wohl die Einzige sein, welche ihn zu überwinden vermöchte.«

»Sie täuschen sich,« fiel ihr Folke lebhaft in die Rede. »Arthur Grattman liebt Margarethe: Männer von seinem Charakter räumen Frauen, welche einmal die Liebe solcher Männer verschmähten, keinen Einfluß ein. Nein, Sie sind es, welche ihm zusprechen und auf seine Entschlüsse einwirken können.«

»Herr Richardson, Sie kennen meinen Bruder nicht, wie ich bemerke.«

»Aber ich kenne Sie,« unterbrach Folke; »und über denjenigen, welchen Sie lieben, besitzen Sie eine unbeschränkte Macht. Ich zähle auch darauf.«

Agnes und Folke verließen das Kabinett und begaben sich auf den Heimweg. Sie sprachen wenig. Folke war gedankenvoll, und Agnes mußte ihr Möglichstes thun, um hinter einer scheinbaren Ruhe ihre große Aufregung zu verbergen.


Der folgende Abend war schön, und da Agnes ihren Bruder Arthur nicht antraf, sondern erfuhr, daß er zu Qvarndammen sei, so beschloß sie, nach Fjellboda zu fahren.

Es war ihr sehr daran gelegen, Signe zu treffen. Stets wollte es scheinen, als ob Agnes in Signes Nähe ruhiger würde, aber jetzt fühlte Erstere sich nichts weniger als beruhigt in ihrem Herzen. Dasselbe war von einer eigenthümlichen Mischung von Unruhe, Schmerz und Freude erfüllt. Furcht und Hoffnung wechselten beständig mit einander ab. Agnes würde, wenn sie die Gewißheit gehabt hätte, daß Folke in Margarethe nicht verliebt wäre, sich gerne darein gefunden haben, noch zehn Jahre lang in seinen Diensten zu Nygarda bleiben zu müssen; allein diese Gewißheit hinsichtlich Folkes ging ihr ab.

Agnes hatte nicht die Absicht, ihre Empfindungen der Signe anzuvertrauen; auch brauchte sie dies nicht zu thun, um sich durch deren Zuspruch beruhigen zu lassen, weil Signe stets direkt zu dem Verstand sprach und die Gedanken der Agnes gleichsam zu einer klaren Auffassung des Wahren und Rechten erweckte. Vielleicht aber hatte Agnes an diesem Abend einen andern Beweggrund zu ihrem Entschluß, obgleich sie dies nicht einsehen wollte.

Margarethe war nicht zu Hause, als Agnes nach Fjellboda kam, und sie hatte somit das Vergnügen, Signe allein anzutreffen.

»Wir haben denselben Gedanken gehabt!« rief Signe ihr entgegen; »ich habe gerade gewünscht, daß du hierherkommen möchtest.«

Agnes gab Signe die Hand und versicherte, sie freue sich, zu sehen, daß sie wieder zurückgekehrt sei.

»Einer meiner Gründe,« sagte Signe, »warum ich gerade heute mit dir habe sprechen wollen, ist der, daß ich zu erfahren wünschte, was Arthur auf den ihm von Richardson gemachten Vorschlag geantwortet hat.«

»Arthur hat mir kein Wort davon gesagt,« antwortete Agnes.

»Du weißt es also nicht?«

»Ja, doch, aber nicht von ihm.«

»Durch Richardson demnach?«

Agnes gab dies zu.

»Nun, Agnes, welche Wahl, glaubst du, wird Arthur treffen: wieder zu Nygarda bleiben oder sich nach Hamburg begeben?«

Diese Frage hatte Agnes sich selbst noch nicht vorgelegt, allein jetzt, wo sie gefragt wurde, glaubte sie bestimmt zu wissen, wofür sich ihr Bruder entscheiden werde.

»Arthur geht nach Hamburg,« sagte Agnes.

»Aber dies soll er nicht thun!« rief Signe aus; »dies wäre nicht recht, und du mußt es verhindern.«

»Die Tante kann doch wohl nicht glauben, daß Arthur, falls er seinen Entschluß gefaßt hat, sich in demselben durch mich wankend machen läßt.«

Signe ging einige Schritte auf und ab und bemerkte alsdann: »Folke hat Unrecht gehabt, diesen Vorschlag zu machen, ehe er gewiß war, wie Arthur denselben aufnehmen würde. Ich habe Richardson gesagt, daß er sich nur eine Blöße gibt, wenn Arthur seine Stelle verläßt, allein er wollte nicht auf meine Worte hören.«

»Herr Richardson hat wohl nicht anders handeln zu können geglaubt,« wandte Agnes ein. Signe schwieg, und es entstand eine kurze Pause.

»Sage mir,« fuhr Signe nachher wieder fort: »was hältst du davon, daß Folke vor Margarethen auf die Kniee gefallen ist?«

»Gar nichts,« erwiderte Agnes, erröthete jedoch.

»Jetzt bist du nicht aufrichtig, und es wäre vielleicht zu viel verlangt, wenn du dies in einem so kitzlichen Punkt sein solltest. Ich bitte dich übrigens dennoch, keine zu voreiligen Schlüsse zu ziehen.«

Signe wurde von einer Dienerin unterbrochen, welche bat, sie möchte herauskommen.

Als Signe wieder hereinkam, wurde das unterbrochene Gespräch fortgesetzt, obgleich Agnes in ihren Gedanken einen fortwährenden Kreisgang um den besprochenen Kniefall machte.

Margarethe kam freudestrahlend nach Hause. Sie überbrachte Grüße von Folke und von Arthur. Sie hatte Beide in Qvarndammen, wo sie gewesen war, getroffen.

Das Gespräch wurde sofort auf Arthurs Teilhaberschaft gelenkt, und Margarethe sagte, nachdem eine Weile über diesen Gegenstand gesprochen worden war:

»Agnes, du mußt deinem Bruder vorstellen, daß er, wenn er sich für Hamburg entscheidet, als Egoist handelt, denn in Schweden ist er am rechten Platz, wo er als Geschäftsmann mit Nutzen wirkt und woselbst er auch seine Thätigkeit entfalten muß: er sollte nicht fremden Interessen dienen. In diesem Falle sollte ihm das Persönliche über das Allgemeine gehen: vergiß dies nicht und benütze deinen Einfluß auf ihn, um ihm diese Wahrheit beizubringen.«

Ob Agnes wohl gewillt war, ihren Bruder zum Bleiben zu veranlassen? Wir wissen es nicht; nur dies ist uns bekannt, daß sie Margarethen versprechen mußte, zu thun, was in ihrem Vermögen stehe.

»Es wäre übrigens immerhin möglich, daß Arthur bereits seine Entscheidung getroffen hätte, ohne mir davon etwas mitzutheilen,« sagte Agnes.

»Sehr wahrscheinlich,« meinte Margarethe lächelnd.

»In diesem Falle kann ich nichts thun,« erklärte Agnes.

»Hierin hast du Unrecht, denn du wirst ihm diesen Abend noch ohne alles Weitere sagen, daß ich dir das Anerbieten, welches ihm Richardson gemacht hat, mittheilte, und alsdann wirst du deine Ansichten auseinandersetzen.«

»Dies soll soviel heißen, als die Ansichten von dir und Richardson,« entgegnete Agnes etwas gereizt. »Ich fürchte übrigens, daß ein ganz anderes Gefühl als Stolz meinen Bruder verhindert, das Anerbieten anzunehmen.«

»Diese Furcht ist unbegründet,« versicherte Margarethe. »Arthurs Stolz allein ist daran schuldig, wenn er nicht einwilligt.«

Als das junge Mädchen Fjellboda verließ, war dasselbe nichts weniger als ruhig im Herzen. Agnes war sich noch nicht klar darüber, welchen Entschluß ihres Bruders sie herbeiwünschen solle. In dem einen Augenblick wollte sie fort von Nygarda, weit, weit fort; im nächsten Augenblicke dagegen wollte es ihr scheinen, daß sie nicht leben könne, wenn sie nicht mehr daselbst verweile und daß es nur auf diesem Theil des Erdbodens Luft und Sonne für sie gebe. Als aber der Gedanke an den Tag auftauchte, an welchem eine Frau zu Nygarda ihren Einzug halten würde, da – da ging für die arme Agnes die Sonne auf immer unter, weshalb es am besten schien, fortzugehen. Aber dann hätte sie diese knappe, befehlende Stimme nicht mehr gehört, das strenge, männlich schöne Gesicht und dessen leuchtende, durchdringende Augen nicht mehr gesehen, und dies hätte soviel geheißen, als ihr das Leben nehmen. Nein, Agnes wollte, ehe sie hierauf verzichtete, sich lieber allem Anderen unterziehen.


Arthur stand an dem offenen Salonfenster und blickte hinaus, als Agnes hereintrat.

»Ich habe mit Ungeduld deine Zurückkunft erwartet,« sagte er, indem er sich gegen sie wandte. Im Gesicht des Bruders drückte sich Ruhe und Freundlichkeit aus.

»Du hast mir wohl etwas Besonderes zu sagen?« fragte Agnes und reichte ihm ihre Stirne zum Kusse dar.

»Gewiß. Der Abend ist schön, und wenn du willst, so setzen wir uns auf die Terrasse hinunter und sprechen mit einander.«

Die beiden Geschwister setzten sich auf ein Bänkchen unter einem üppigen Kastanienbaum.

»Würdest du Nygarda gerne verlassen?« fragte Arthur, während er eine Cigarre anzündete.

»Nicht sehr.«

Arthur nahm die Cigarre aus dem Mund und blickte seine Schwester an.

»Und ich habe geglaubt, du würdest mit stiller Sehnsucht den Tag erwarten, wo du von hier abgehen könntest.«

»Deine Voraussetzung war unrichtig. Von allen Orten auf dem Erdboden ist mir dieser der liebste, wo wir jetzt unsere Heimat haben. Es würde mir sehr leid thun, wenn ich genöthigt wäre, denselben zu verlassen.«

»Deine Erklärung ist mir unlieb, weil wir im Herbst von hier fort müssen.«

»Und weshalb?« Man konnte es Agnes im Gesichte ansehen, daß sie fürchtete, daß ihre Sonne sich nunmehr verfinstern werde.

»Aus dem Grund, weil ich es so beschlossen habe.«

Arthur rauchte, und Agnes kämpfte im Stillen mit ihren Gefühlen, um derselben Herr zu werden und es über sich zu bringen, dem Bruder vorzustellen, daß der von ihm gefaßte Beschluß übereilt sei.

»Richardson will heiraten,« fuhr Arthur fort, »und ich glaube, daß es in diesem Falle weder für dich, noch für mich besonders angenehm wäre, hier zu bleiben. Ich halte es deswegen für das Beste, den Antrag anzunehmen, welcher mir schon vor einigen Monaten von Hamburg aus gemacht worden ist, auf Richardsons Vorschlag dagegen, Theilhaber der Fabrik zu werden, nicht einzugehen.«

»Und der Grund deiner Weigerung wäre Richardsons Verheiratung?« Agnes hatte ihre volle Selbstbeherrschung wieder erlangt.

»Ja, wir wollen einstweilen annehmen, daß es so ist.«

»Kann dieser Umstand bestimmend für dich sein?« rief Agnes aus. »Nein, Arthur, du thust dir selbst Unrecht oder du willst den wahren Grund nicht angeben. Als du die Stelle hier, ohne dazu genöthigt zu sein, annahmst, geschah dies darum, weil du glaubtest, eine Schuld heimzahlen zu müssen. Du sahst selbst ein, daß du durch den Nutzen, den du der Fabrik gewährest, die Gelegenheit haben werdest, die Rechnung zwischen dir und Richardson auszugleichen, und du hast den Schritt ohne Rücksicht auf deine eigenen Gefühle unternommen. Jetzt willst du diese Stelle aufgeben, auf welcher du, wie du wußtest, mit Nutzen gewirkt hast, und was war der Grund? Weil Margarethe sich mit Richardson verheiraten will! Wenn du dich von solchen Beweggründen leiten lassen würdest, so wäre dies ein Hohn auf deine schönen Vorsätze und ein Aufgeben des Ziels, welches du mit Sicherheit erreichen wolltest. Arthur, deine Gefühle mögen sein, welche sie wollen: du mußt dennoch hier bleiben, denn du kannst nicht der Meinung sein, in diesen zwei Jahren das Unrecht, welches Richardson erduldete, gut gemacht zu haben.«

»Ist es Agnes, welche so spricht? Du, welche einst in Zorn gerieth, weil ich die Stelle angenommen habe?« fragte Arthur.

»Zwischen jener Zeit und der Gegenwart liegen zwei Jahre. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, daß du dem Ziel, welches du nun einmal deinem Streben gesetzt hast, ohne Rücksicht auf deine Gefühle treu bleiben mußt.«

»Soll ich dein Glück auch außer Acht lassen?«

»Ja, auch. Uebrigens besteht mein Glück darin, Arthur, daß wir unsere moralische Schuld bezahlen und daß wir bleiben, wo wir sind. Verlasse Nygarda, nimm mich fort von hier, und ich werde auf dieser Erde keinen Frieden und keine Ruhe mehr finden.«

»Gut, ich werde dessen eingedenk sein, aber höre mich jetzt an, Agnes. Wir alle jetzt lebenden Angehörigen der Familie Grattman sehen ein, daß wir eine alte Verbindlichkeit gegen Richardson haben. Wie können wir somit ein Geschenk von ihm annehmen, welches zu unserem Vortheil und ein edelmüthiges Anerbieten von seiner Seite wäre?«

Agnes gab keine Antwort, und Arthur fuhr fort: »du willst diese Frage nicht beantworten, aber ich nehme an, daß du mir Recht gibst. Richardson hat mir gesagt: ›Wir können Ihre Fähigkeiten und Ihre Tüchtigkeit nicht für die Fabrik in Anspruch nehmen, wenn Sie nicht auf den Vorschlag eingehen, unser Theilhaber zu werden.‹ Weißt du auch, was er damit eigentlich erklärt hat? Das, daß sein Stolz nicht zugebe, daß ich durch meine Befähigung meine Schuld an ihn zu tilgen suche. Er will, daß Klas Henrik Grattmans Kinder seine Schuldner bleiben. Ich meinerseits kann sein vortheilhaftes Anerbieten nicht annehmen, weil ich dadurch eine neue Verbindlichkeit eingehen würde. Richardson legt Edelmuth an den Tag, wenn er mich auf einmal von seinem ersten Angestellten zu einem seiner Theilhaber macht, als welcher ich so viel zu sagen habe, wie er und die gleichen Einkünfte beziehe, wie er selbst, aber dieser Edelmuth würde unsere Rechnung gar zu ungleich machen, und deshalb kann ich nicht auf die Sache eingehen.«

»Was hast du denn beschlossen?« fragte Agnes.

»Daß wir von hier fort müssen, wenn ich meine Stelle als Comptoirchef nicht behalte.«

»Alles, nur dies nicht!« rief Agnes lebhaft aus; »du darfst und wirst deine Interessen von denen Richardsons nicht trennen; du mußt, so lange du lebst, dieselben unauflöslich vereinigt lassen.«

»Agnes,« sagte Arthur ernst, »ich werde nie aufhören, Richardson zu nützen, und ich danke dir, daß du mich daran erinnerst, daß dies meine Pflicht ist. Er wird deshalb genöthigt sein, mich auf seinem Comptoir zu behalten und Alles beim Alten zu lassen. Ich hoffe, ihn hiezu bewegen zu können.«

»Kannst du, Arthur, wenn der Herbst kommt, es verhindern, daß die Bäume ihr Laub verlieren?« fragte Agnes. »Nein, und ebenso unmöglich wird es dir sein, Richardson zu vermögen, von einem einmal gefaßten Entschluß abzustehen.«

»In diesem Fall müssen wir fort, denn auch ich bleibe fest in meinen Entschließungen.«

Agnes öffnete die Lippen, um eine Einwendung zu erheben, aber ihr Bruder hielt ihr den Mund zu.

»Kein Wort weiter heute Abend,« sagte er. »Wenn ich mit Richardson gesprochen haben werde, wollen wir weiter reden. Er wünscht, daß ich mir die Sache eine Woche lang überlege und daß wir während dieser Zeit keine Worte darüber verlieren. Er soll seinen Willen haben.«

Agnes und Arthur verabschiedeten sich. Jedes ging in seine Gemächer, um zu schlafen und zu vergessen. Agnes konnte weder schlafen, noch vergessen. Sie setzte sich an das Fenster des Vorzimmers und versank in Gedanken, welche Schatten über das bleiche Gesicht ausbreiteten.

Die Juninacht dagegen war frei von Schatten: der Himmel war hell und unbewölkt, allein Agnes beachtete diese Helle und Klarheit nicht, denn ihr Blick war nach innen gerichtet.

Auch der Nachtwächter hatte seine Augen der Schönheit der Nacht verschlossen und sich am Fuß eines Baumes zur Ruhe begeben, woselbst er den Schlaf des Gerechten schlief.

Plötzlich fuhr Agnes, wie aus dem Traume erwachend, in die Höhe und erblickte zwei männliche Gestalten, welche dem linken Flügel des Gebäudes entlang einherschlichen, um nach dem Thurme zu gelangen.

Der Gang und die Bewegungen der Beiden flößten Agnes Verdacht ein. Ein Paar Fabrikarbeiter, wenn sie nicht auf unrechten Wegen begriffen waren, hätten sich nicht auf diese Art benommen. Sie entschlug sich augenblicklich aller Gedanken, welchen sie nachgehängt hatte, um den Nachtwandlern ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sie bemerkte, daß dieselben vor dem Thurme stehen blieben, weil sie von der verschlossenen Hausthüre, die sie zu öffnen versuchten, aufgehalten wurden.

Sie wollten also dort hinein, aber was war denn ihre Absicht? Agnes erinnerte sich jetzt zu ihrem Schrecken, daß Folke den Abend zuvor eine größere Geldsumme einkassirt hatte, welche er mit sich nahm, als er das Comptoir verließ.

Agnes eilte zu Arthur hinein. Er schlief. Sie weckte ihn und sagte ihm in größter Eile, was sie befürchtete, worauf sie in den Hof hinuntereilte. Die Kerle waren verschwunden, und somit mußten sie in den Thurm hinein sein. Agnes rüttelte den Nachtwächter auf und begab sich mit demselben zum Eingang des Thurmes. Die Thüre war zu, aber nicht verschlossen. Der aus dem Schlaf aufgescheuchte Nachtwächter trat mit ihr in die Hausflur ein. Alles war ruhig, und man vernahm nicht den leisesten Laut.

»Hier ist ja nicht einmal eine Katze, geschweige denn ein Mensch,« meinte der Nachtwächter mürrisch.

»Sie sind die Treppe hinaufgegangen,« flüsterte Agnes. Ehe er Zeit fand, ein Wort zu sagen, war Agnes schon ziemlich weit die Treppe hinaufgekommen. Arthur und der Nachtwächter waren somit genöthigt, ihr zu folgen. Sie gelangte in den ersten und auch in den zweiten Stock, ohne Jemand zu begegnen, allein sie hielt sich nicht auf, sondern eilte die dritte Stiege hinauf. Als sie die oberste Stufe betrat, hatte sie zwei verdächtige Gestalten vor sich. Einer der Kerle packte sie am Arm und flüsterte: »Bei dem ersten Schrei schließe ich Ihnen den Mund für immer.« Er ließ seine Beute jedoch sogleich wieder los, als er Arthurs und des Nachtwächters ansichtig wurde. Die Kerle zogen sich zurück, da aber Arthur und der Nachtwächter denselben zu Leib gingen, so entstand ein heftiger Kampf. Der Eine der Uebelthäter stürzte auf Arthur los, und der Andere gab dem Nachtwächter einen Schlag auf den Kopf, so daß derselbe beinahe gefallen wäre; der Bösewicht suchte die Treppe zu gewinnen, allein der Nachtwächter, welcher durch den Schlag gereizt worden war, faßte den Kerl an der Kehle, und so entstand ein Ringen. Agnes riß Folkes Thüre auf und rief ihm mit lauter Stimme. Er schlief fest, so daß er erst nach mehrfachen Rufen erwachte; als dies jedoch geschehen, war er sofort bei der Hand, um den Kämpfenden beizustehen. Das Ringen war schnell zu Ende. Die Banditen wurden übermannt und eingeschlossen, worauf man den Nachtwächter fortschickte, um Leute zu holen, damit die Gefangenen in ein besseres Haftlokal verbracht werden könnten.

Arthur hatte eine leichte Verletzung an der linken Hand erhalten.

Agnes, welche sich nicht mehr auf den Füßen halten konnte, sank auf einen Stuhl in dem äußern Zimmer Folkes nieder. Schrecken und Angst hatten ihre Nerven angegriffen.

»Wie ist es, Herr Grattman?« hörte sie Folke sagen – »ich fürchte, daß Sie einen Messerstich bekommen haben, denn Sie bluten ja.«

Agnes gelangte sofort wieder in den Besitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte und eilte zu Arthur hinaus.

»Bist du verwundet?« rief sie aus.

»Nur eine unbedeutende Schramme an der Hand,« antwortete Arthur und band sich das Taschentuch um die blutende Wunde.

»Sie haben dieselbe immerhin meinetwegen erhalten,« bemerkte Folke. »Wie soll ich es Ihnen danken, daß Sie mir das Leben gerettet haben?« Folke reichte Arthur seine linke Hand.

»Es ist nicht mein Verdienst,« antwortete Arthur, »sondern das meiner Schwester. Sie sah die Kerle im Hofe herumstreichen, weckte mich, und dann haben wir dieselben verfolgt; das Uebrige wissen Sie.«

»Demnach bin ich Ihr Schuldner, Fräulein Agnes. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Wenn diese Kerle hereingekommen wären und mich schlafend angetroffen hätten, so würden sie der Versuchung nicht haben widerstehen können, mich auf die Seite zu schaffen, ehe sie meinen Sekretär erbrochen hätten. Sie haben mich also vom sicheren Tod errettet. Es scheint, als ob ich jeden Tag meines Lebens in größere Verbindlichkeit gegenüber den jetzt lebenden Mitgliedern der Grattmanschen Familie gerathen würde. Ihr Bruder hat meine Mutter den Flammen entrissen, und Sie haben ihn veranlaßt, dem Folke Richardson beizustehen. Ich werde dies nie vergessen.«

Er küßte Agnes die Hand, welche er mit seiner linken umfaßte; die rechte hatte er auf den Rücken gelegt.

Weder Arthur noch Agnes legten auf diesen Umstand Gewicht, sie entfernten sich vielmehr, wobei Folke Agnes ermahnte, auf Arthurs verwundete Hand Acht zu haben.


Der Vormittag des nächsten Tages verging, ohne daß Folke auf dem Comptoir sich gezeigt hätte. Man hatte nach dem Bezirksvorsteher geschickt; den einen Gefangenen verbrachte man von Nygarda weiter, indeß der Andere während des Ringens einen so kräftigen Schlag auf den Kopf erhalten hatte, daß er zu schwach war, um transportirt werden zu können. Er mußte zunächst in ärztlicher Behandlung bleiben.

Nachmittags ging Agnes zu Jane hinauf. Beim Eintreten rief ihr Jane entgegen: »Fräulein Grattman, wenn ich nicht den ganzen Vormittag über in Anspruch genommen gewesen wäre, so hätte ich mich zu Ihnen tragen lassen, um Ihnen meinen Dank abzustatten. Sie haben meinen Sohn gerettet und wissen dabei nicht, was für ein ausgezeichneter Sohn er stets gewesen ist. Sie haben ein Vorurtheil gegen ihn, und deshalb haben Sie sich nie die Mühe gegeben, zu ergründen, welche Hochherzigkeit unter seinem zugeknöpften Wesen verborgen ist. Gott segne Sie aber dennoch für das, was Sie gethan haben.«

Jane, welche mit äußerlichen Gunstbezeugungen sparsam war, zog Agnes zu sich her und umarmte sie.

Agnes dachte dabei: »Ist es wirklich so, daß sie zu mir sagt, ich wisse nicht, wie edel und hochherzig er sei?«

»Wir haben heute den Herrn Richardson nicht auf dem Comptoir gesehen,« sagte Agnes nach einer Weile.

»Er hat mein Zimmer, wo er bis auf Weiteres untergebracht ist, nicht verlassen können. Sein rechter Arm wurde ihm während des Ringens aufgeritzt, und er hätte sicherlich einen Messerstich in die Brust bekommen, wenn es dem Herrn Grattman nicht gelungen wäre, dem Banditen das Messer aus der Hand zu nehmen. Folkes Verwundung erfordert, daß er sich mehrere Tage lang ruhig verhalten muß. Der Arzt hat ihn verbunden, allein der Blutverlust ist so stark gewesen, daß er einige Tage im Bett zubringen muß. Ich habe ihn zu mir bringen lassen, damit ich nach ihm sehen kann. Er ist diesen Vormittag unruhig gewesen und war sehr ungeduldig, weil er nicht auf das Comptoir gehen konnte.«

Agnes sagte kein Wort. Sie wagte es nicht, zu sprechen, aus Furcht, die Empfindungen ihres Herzens zu verrathen. Bei der Mittheilung, daß Folke eine schwerere Verletzung erhalten habe, bekam sie einen solchen Blutandrang nach dem Herzen, daß ihre Wangen todesblaß wurden. Wieviel hätte Agnes nicht darum gegeben, wenn sie ihn hätte verpflegen dürfen!

»Ist die Armwunde ernstlicher Natur?« fragte sie endlich.

»Sie ist sehr tief und erstreckt sich von der Schulter bis zum Gelenk herunter, so daß die ganze Innenseite des Armes aufgerissen ist,« antwortete Jane. »Sie können jedoch aus meiner Beruhigung entnehmen, daß die Sache nicht lebensgefährlich ist.«

Ein Klingeln wurde aus dem inneren Zimmer vernommen. Frau Richardson faßte die Kurbel am Stuhle, um sich nach der Thüre zu begeben, welche in das Zimmer führte.

»Er ist erwacht und Anna, welche ich zu Hundern hinabgeschickt habe, ist noch nicht zurück,« sagte Jane; »ich muß sehen, was er will.«

»Erlauben Sie mir,« sagte Agnes und ergriff Janes Hand, »daß ich mich erkundige, was Herr Richardson will; es würde mir Vergnügen machen, wenn ich ihm mit etwas dienen könnte.« Ohne Janes Antwort abzuwarten, eilte Agnes nach der Thüre und öffnete sie sofort.

Die Mittagssonne schien in das große, helle Zimmer und fiel auf Folke, welcher in einen Schlafrock eingehüllt war und den verwundeten Arm verbunden hatte. Die Sonnenstrahlen beschienen sein bleiches Gesicht. Agnes war der Meinung, daß er ihr noch nie so schön vorgekommen sei. Sein Gesicht hatte jetzt den steifen Ausdruck nicht mehr. Der körperliche Schmerz hatte einen leichten Schatten darüber ausgebreitet, und als seine Augen auf die Eintretende sich richteten, da nahm dieses Gesicht einen herzlichen und lebhaften Ausdruck an.

»Frau Richardson hat mich beauftragt zu fragen, ob Sie etwas wünschen und ob ich Ihnen zu Diensten sein kann, da Anna nicht da ist.«

Folke streckte die linke Hand aus und sagte lächelnd: »Was ich schon den ganzen Tag über gewünscht habe, ist in Erfüllung gegangen, weil ich Sie sehe. Ich danke Ihnen dafür, daß Sie kommen. Setzen Sie sich, ich habe großes Verlangen, Sie zu sehen.«

Agnes erröthete. Sie gab ihm ihre Hand und setzte sich neben ihn.

»Wie befinden Sie sich?« fragte sie.

»Jetzt gut.« Folke hielt ihre Hand in der seinigen.

»Sie haben wohl dessen ungeachtet heute schon Schmerzen gehabt?« Agnes wagte nicht, ihn anzusehen.

»Das habe ich vergessen. Ich glaube, daß es mir den größten Schmerz verursacht hat, nicht auf das Comptoir kommen zu können. Ich hätte Sie so gerne angetroffen.«

»Mich? Margarethe ist also nicht da gewesen?« Agnes erinnerte sich hiebei an die Zeilen, welche sie in Folkes Brief an Margarethe gelesen hatte.

Folke ließ ihre Hand los; sein Gesicht nahm einen veränderten Ausdruck an, und er sagte kalt: »Will das Fräulein nicht die Rouleaux herunterlassen, da mir die Sonne lästig ist?«

Agnes that, wie er sie geheißen hatte.

»Wünschen Sie sonst noch etwas?« fragte sie.

»Nein,« war die kurze Antwort. Agnes ging nach der Thüre.

»Wollen Sie fortgehen?« rief Folke.

»Wünschen Sie, daß ich da bleibe?«

»Ich will, daß Sie thun, wie es Ihnen beliebt,« entgegnete Folke.

Agnes ließ den Drücker der Thüre wieder los. Sie wollte zu Folke zurück, mußte aber davon abstehen, da die Thüre aufging und Margarethe hereinkam.

Die Weiße des Schnees wechselte mit Purpurglut auf den Wangen der Agnes ab. Sie eilte hinaus, während sie ihrer Cousine im Vorbeigehen zunickte. Es sauste ihr in den Ohren, als sie auffing, wie Margarethe zu Folke sagte: »Welche Angst hast du mir eingejagt; ich konnte gar nicht schnell genug hierherkommen! Aber sage mir, Folke, warum hast du mich nicht benachrichtigt, daß du verletzt bist?«

Was Folke zur Antwort gab, hörte Agnes nicht, wohl aber, daß seine Stimme fröhlich und freundlich klang. Ach, es war gar kein Zweifel, daß er Margarethe und keine Andere liebte!

Agnes besaß übrigens so viel Selbstbeherrschung, daß sie trotz ihrer Aufregung sich noch eine Weile bei Jane aufhielt, allein sie brach dennoch früher auf, um Margarethen aus dem Wege zu gehen.

Eifersucht, Kummer und Betrübniß verfolgten Agnes in ihr Zimmerchen, woselbst sie sich auf das Sopha warf und ausrief: »O, wie habe ich mich bethören lassen. Wie habe ich der Meinung sein können, als ob ich sein Herz ergründet hätte, und wie habe ich dasselbe Gefühl, das mich an ihn fesselt, bei ihm suchen wollen!«

Agnes weinte nicht, aber sie wünschte, aus ihrer Brust ein Gefühl verbannen zu können, welches ihr so manche bittere Schmerzen bereitet hatte und ihr nie Glück und Freude gewähren konnte.

»Was ist's; ist es dir nicht gut?« ertönte eine Stimme unter der Thüre, und Margarethens blühendes Gesicht blickte auf die auf dem Sopha ausgestreckt liegende Agnes.

»Ich bin vollkommen wohl,« gab Agnes kalt zur Antwort; »aber ich bin müde nach einer durchwachten Nacht.«

»Du erlaubst wohl, daß ich hereinkomme?« Margarethe trat ein, und Agnes erhob sich aus ihrer liegenden Stellung.

»Bist du bei dem kranken Gefangenen unten gewesen?« fragte Margarethe.

»Nein, dies war nicht der Fall, und ich sehe auch nicht ein, warum ich zu demselben gehen sollte. Herr Richardson hat überdies Befehl gegeben, daß man den Mann sorgsam verpfleget.«

»Weißt du, wer der Kerl ist?«

»Ich habe unter derartigen Leuten keine Bekannte. Er soll Paulson heißen.«

»Er hat sich allerdings in letzterer Zeit so genannt, aber dieser Paulson ist der frühere Bediente Fritz, welcher bei deinem Vater war. Dies habe ich jedoch nur in vertraulicher Weise von dem Bezirksvorsteher erfahren. Der Mitschuldige des Fritz ist ein Arbeiter von Qvarndammen, welcher während Folkes Abwesenheit von Hundern eingestellt worden ist. Sein Name ist Löfdal, und man kann mit Grund annehmen, daß Fritz, welcher sich unter dem Namen Paulson in der Gegend umhergetrieben hat, den Armen zur Theilnahme an dem vereitelten Diebstahl aufgehetzt hat. Löfdal wußte, daß Folke am Abend vorher von Qvarndammen eine größere Geldsumme mitgebracht und dieselbe zu sich hinaufgenommen habe, denn Löfdal war mit Folke im Auftrag des Werkführers gegangen. Der unglückliche Verführte ist ein armer junger Mensch aus X–stadt und erhielt auf meine Fürbitte Arbeit in der Fabrik, weil ich hoffte, daß aus ihm ein braver Arbeiter werden könnte, wenn er unter ordentliche Kameraden komme. Er fand dies jedoch für zu mühsam und horchte auf Fritzens Lockungen. Jetzt bereut er es, aber leider zu spät. Fritz liegt schwer krank hier. Es ist sehr zweifelhaft, ob er davonkommt, weshalb ich dir vorschlagen möchte, nach dem Bedauernswerthen zu sehen. Ich war bei ihm, ehe ich zu Folke hinaufging. Ob ihn Folke wiedererkannt hat, weiß ich nicht, aber sicher ist, daß dies bei Arthur nicht der Fall war. Es ist unnöthig, ihn darüber aufzuklären. Stirbt der Kerl, so braucht Arthur nicht zu wissen, wer derselbe gewesen ist.«

Agnes senkte den Kopf und dachte: »Wie zeigen sich doch manchmal die Folgen unrechter Handlungen immer wieder: sie gehen Einem das ganze Leben hindurch nach!«

Nachdem Margarethe sich entfernt hatte, eilte Agnes zu dem Gefangenen.

Derselbe lag betäubt da und athmete schwer. Eine ältere Frau saß bei ihm und wechselte seinen Verband. Agnes blieb lange stehen und betrachtete sein bleiches, von einem struppigen Barte eingerahmtes Gesicht. Sie konnte nur mit Mühe den Mann wiedererkennen, welcher sie vor zwei Jahren im Park angeredet hatte.

»Wann ist der Doktor zuletzt dagewesen?« fragte Agnes nach einer Weile.

»Vor einem Augenblick, und da meinte er, daß Paulson – bei diesen Worten deutete die Frau auf den Verletzten – es nicht lange mehr treibe.«

»Ist er die ganze Zeit über so dagelegen?«

»Nein, er war bei vollem Bewußtsein bis zum Mittag, wo er einschlummerte. Der Doktor sagte, es sei etwas ganz Anderes, woran er zu leiden habe; es sei ein altes Uebel.«

Agnes entfernte sich nach einiger Zeit. Das Erste, was sie am folgenden Morgen that, war, zu Paulson zu gehen. Derselbe hatte in der Nacht sein abenteuerliches Leben geendigt.

Agnes fühlte herzlichen Dank gegen Gott dafür, daß dieser Mann, welcher eine lebendige Erinnerung an die Vergangenheit war, nicht mehr existirte.

Als Agnes ins Comptoir eintrat, traf sie den Bruder bereits in voller Thätigkeit an.

»Weißt du, wie sich Folke heute befindet?« fragte Agnes.

»Er hat heute Nacht Fieber gehabt, schlief aber, als ich oben war.«

»Nun, und wie geht es dem kranken Dieb?« Agnes sah ihren Bruder verstohlen an, um zu entdecken, ob dieser hinsichtlich Paulsons im Klaren sei.

»Er ist heute Nacht gestorben und wohl ihm,« sagte Arthur in gleichgültigem Ton. »Für einen solchen Menschen, welcher Zwangsarbeit verdient hat, ist der Tod ein Gewinn. Gut wäre es, wenn auch der andere Strolch auf diese Weise seiner Strafe entginge.«

»Weiß man etwas von dem Gestorbenen?«

»Nur das, daß er Paulson heißt und sich hier eine Zeitlang mit einer Bande von Landstreichern herumgetrieben hat. Man fand keine Papiere bei ihm, und sein Mitschuldiger kennt ihn nicht näher. Sie haben sich in der Dorfschenke getroffen und daselbst verabredet, Richardson zu ermorden und zu berauben.«

Agnes fragte nicht weiter, sondern entfernte sich bald darauf und ging zu Jane hinauf.

Folke hatte Fieber gehabt. Bei dieser Nachricht traten alle eifersüchtigen Empfindungen in den Hintergrund. Wie konnte es jetzt in Betracht kommen, wen er liebte? Es genügte zu wissen, daß er leidend sei. Sie würde nichts dagegen gehabt haben, daß er Margarethe liebte, wenn sie ihn nur wiederhergestellt gesehen hätte. So dachte das arme Kind, als sie die Treppe zu Janes Wohnung hinaufstieg. Sie ging in den Saal hinein. Jane saß nicht darin, aber Anna hatte deren Platz eingenommen.

»Wie geht es dem Herrn Richardson?« fragte Agnes.

»Ach, es ist schlecht genug heute Nacht gegangen,« antwortete Anna; »er hat Fieber gehabt, aber jetzt schläft er.«

»Ist die Frau bei ihm innen?«

»Ja. Sie hat die ganze Nacht gewacht, und Gott weiß, wie es ihr gehen wird, da sie so schwach ist.«

Ohne sich weiter aufhalten zu lassen, öffnete Agnes die Thüre des Krankenzimmers. Dieselbe ging leise auf, und Agnes trat ein.

Jane saß da und hatte den Rücken der Thüre zugekehrt. Sie hörte es nicht, daß Agnes hereinkam und bemerkte auch nicht, daß diese einige Schritte vorwärts ging, um das Gesicht des Schlafenden zu betrachten.

Jetzt empfand Agnes, wie sehr sie ihn liebe, als sie ihn bleich und leidend daliegen sah. Augenblicklich kam ihr der Gedanke, wie es wohl wäre, wenn diese Augenlider sich nicht mehr öffnen würden.

Folke sah plötzlich auf. Er schaute in ihre Augen, welche große Angst ausdrückten. Was lag denn eigentlich in diesen betrübten Blicken, welche die Macht besaßen, sein Gesicht zu beleben? Wir können dies nicht erklären, nur das wissen wir, daß er ihr sanft lächelnd die unverletzte Hand darreichte. Agnes beeilte sich, ihm die ihrige zu geben.

»Sie haben eine schlimme Nacht gehabt?« stammelte sie.

»Auf welche ein guter Morgen folgte. Ich danke Ihnen für denselben.«

Agnes hätte die Hand küssen mögen, welche die ihrige umfaßt hielt. Sie that dies jedoch nicht, sondern wandte sich um und begrüßte Jane.

Zwischen Agnes und Folke wurden weiter keine Worte gewechselt, ehe Agnes die Bitte an Jane gerichtet hatte, sich einige Ruhe zu gönnen. Folke schloß sich dieser Bitte an. Die lahme Frau hatte die ganze Nacht gewacht, und ihr Aussehen bewies, daß die Anstrengung den schwachen Körper angegriffen hatte.

»Ach,« sagte Agnes mit herzlich flehender Stimme, »gehen Sie, ich verspreche Ihnen, bei Ihrem Sohne zu bleiben. Ich werde hernach um so fleißiger auf dem Comptoir arbeiten, damit ich das jetzt Versäumte nachhole.«

Jane gab schließlich nach und ließ sich von Anna hinausführen. Agnes blieb bei Folke.

»Sie können sehr gut sein, wenn Sie ihr Herz reden lassen,« sagte Folke.

»Wenn,« wiederholte Agnes; »dies heißt soviel, als ob ich dies nicht immer thun würde; aber,« setzte sie hinzu, »Sie haben Fieber, und ich glaube, daß wir am besten thun, wenn wir nicht mit einander sprechen. Ein Fieberkranker muß still und ruhig daliegen.«

Folke lächelte.

»Sie fürchten, daß ich Ihre Frage beantworten werde,« sagte er.

»Ich fürchte nur das Eine,« versicherte Agnes: »daß Ihr Zustand sich verschlimmert. Das Fieber in der Nacht kam bestimmt davon her, daß Sie gestern so viele Besuche bekommen haben.«

»Dies bezweifle ich; dagegen nehme ich an, daß Sie es sind, welche meinen Zustand verschlimmert haben.«

»Ich, und warum?«

»Denken Sie nach, und Sie werden einsehen, daß ich Recht habe. Es ist nicht das erstemal, daß Ihre Worte mir Fieber verursachten, und sicherlich ist es auch nicht das letzte Mal.«

Agnes antwortete nicht.

»Wollen Sie, daß ich gesund werden soll?« fragte Folke.

»Brauche ich hierauf zu antworten?«

»Dies haben Sie nicht nöthig; ich kenne Sie und weiß deshalb, daß Sie mit Aufopferung Ihrer eigenen Gesundheit mich von meinen Schmerzen erlösen würden, allein hierüber wollen wir nicht reden. Sie wünschen also, daß ich unerwartet gesund werden soll. Wollen Sie hiezu beitragen?«

»Gerne.«

»In diesem Falle versuchen Sie es, mich zu verstehen. Gestern haben Sie dies nicht gethan. Sie gingen fort, obgleich Sie wußten, daß ich nichts sehnlicher wünschte, als daß Sie geblieben wären. Dies reizte und schmerzte mich so, daß ich Fieber bekam.«

»Das will heißen,« bemerkte Agnes lächelnd, »daß man Ihnen nicht zuwiderhandeln soll; denn wenn man es thut, so werden Sie krank. Ich werde mir dies zu merken suchen.«

»Handeln Sie in Uebereinstimmung mit sich selbst, wenn Sie meinen Wünschen nicht entsprechen?«

»Mitunter.« Agnes lächelte abermals. Ihr gelbliches Gesicht wurde schön durch dieses Lächeln.

»Warum lächeln Sie so seltsam?« fragte Folke.

»Weil ich umgekehrt wünsche, daß Sie mir dieselbe Frage, welche Sie mir vorlegen, hinsichtlich meiner Wünsche und Handlungen beantworten,« sagte Agnes.

»Reden Sie nicht von mir!« rief Folke aus: »Das Eisen ist kalt und hart und wird nicht anders.«

»Es kann glühend gemacht, wird weich und kann nach dem Willen Dessen, der es verarbeitet, geformt werden.«

»Glühend gemacht, ja; aber wehe dem, welcher es anrührt. Ich gehöre eben nicht zu den Glücklichen, welche dafür geschaffen sind, um den Wünschen Anderer Rechnung zu tragen: ich muß meine eigenen befriedigen.«

Der Arzt trat ein, und das Gespräch wurde unterbrochen. Agnes ging in den Saal hinaus, so lange der Arzt bei dem Kranken war. Als sie wieder zu demselben hineinging, war er etwas matt, so daß es Agnes für das Rathsamste hielt, sich an eines der Fenster zu setzen. Sie sagte ihm, daß der Doktor Ruhe angerathen habe. Folke protestirte zwar gegen diese Vorschrift, aber Agnes blieb fest, und so schlummerte Folke endlich ein und schlief sehr ruhig, während Jane ihren Platz wieder einnahm, als Agnes sich entfernte. Letztere versprach übrigens, Abends wiederzukommen.

Folkes Genesung ging sehr rasch vor sich. Bald konnte er das Bett verlassen und Stunden lang auf dem Sopha sein. Agnes war mehrmals täglich bei ihm. Sie suchte so wenig als möglich seinen Wünschen entgegen zu sein und war stets freundlich und sanft. Es war nicht so schwer, Folke ins Bett zu bringen, und er hatte keinen andern Wunsch als den, sie zu sehen.

Margarethe kam täglich nach Nygarda und verbrachte stets einige Stunden bei Folke und Jane.

Eines Abends, als Agnes zu ihm hereinkam, sagte er zu ihr: »Sagen Sie es mir aufrichtig, mein Fräulein, warum Sie Margarethen ausweichen? Daß Sie dies thun, können Sie nicht bestreiten.«

»Sie behaupteten vor einigen Tagen, daß Sie mich kennen,« gab Agnes zur Antwort; »wenn dies richtig ist, so werden Sie auch den Grund einsehen.«

»Ich glaube denselben zu wissen, befürchte jedoch, daß ich mich täuschen könnte.«

»Was hat dies zu bedeuten, da Ihr Irrthum mich nie beleidigen kann?«

»Nicht?«

»Nein; Sie werden mir dies nie sagen.«

»Da täuschen Sie sich, mein Fräulein,« versicherte Folke. »Wenn Sie meine Frage nicht beantworten, dann zwingen Sie mich, Ihnen mein Urtheil über Ihr Benehmen bekannt zu geben.«

»Aber Sie begreifen, daß ich nicht sagen werde, warum ich Margarethen aus dem Wege gehe.«

»Ihr Stolz hält Sie vielleicht davon ab, eine Schwäche einzusehen. Ich wiederhole, was ich früher schon gesagt habe: es sei schade, daß der Stolz bei Ihnen so sehr vorherrsche.«

»Sagen Sie lieber, es sei ein Glück. Wenn ich weniger stolz wäre, so würde meine Schwäche noch größer sein. Dann, Herr Richardson, hätte der Stahl in meinem Charakter die Feuerprobe nicht bestanden.«

»Sie haben ein gutes Gedächtniß.«

»Wie Sie auch.«

»Wir wollen sehen. Was ist morgen für ein Tag?«

»Der Johannisabend.«

»Ich habe nicht hieran, sondern an etwas ganz Anderes gedacht, daran nämlich, daß Ihr Bruder mich morgen wissen lassen soll, ob er darauf eingehen will, mein Theilhaber zu werden. Haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Schon an dem Tage, an welchem Sie diesen Wunsch ausgedrückt haben.«

»Und was glauben Sie, daß sein Entschluß sein wird?«

»Er wird Ihr Theilhaber nicht. Er wünscht seine jetzige Stelle zu behalten.«

Folke runzelte die Augenbrauen.

»Ich kann diese Halsstarrigkeit schwer begreifen und bedaure sie. Ich kann den Beschluß, welchen ich ihm mitgetheilt habe, nicht ändern.«

»Dann werden wir Nygarda verlassen.«

Die Stimme der Agnes hatte einen eigenthümlichen Klang, als sie diese Worte sprach. Folkes Gesicht hellte sich auf.

»Sagen Sie mir diese Worte noch einmal,« bat er, aber Agnes that es nicht. Sie hatte etwas Widerspenstiges in ihrem Wesen, was nicht leicht überwunden werden konnte, weshalb sie mit ganz anderer Betonung sagte: »Mein Bruder kann nicht anders handeln, wenn Sie auf Ihrem Beschlusse beharren.«

Folke, welcher auf dem Sopha lag, erhob sich hastig und zwar mit einer sehr unruhigen Bewegung, welche ihm Schmerzen im Arm verursachte, so daß er die Zähne zusammenbiß.

»Sie dürfen nicht so heftig sein!« rief Agnes aus; »Sie schaden sich dadurch.«

»Was hätte dies zu bedeuten?« gab Folke zur Antwort, indem er Agnes bei der Hand nahm. »Es gibt andere Dinge, welche mir größere Schmerzen verursachen, aber dies kümmert Sie wenig. Glauben Sie denn, daß ich nicht einsehe, warum Sie sich unlängst geweigert haben, mir meinen Willen zu thun? Ach, Sie können mir nicht das geringste Opfer bezüglich Ihres Stolzes vergönnen!« Agnes blickte in seine strengen Augen. Folke ließ ihre Hand los.

»Zwischen Ihnen und mir hat ein langer Kampf stattgefunden. Sie wollen denselben noch eine Zeit lang fortsetzen. Ihr Wunsch kann erfüllt werden; aber wer von uns als Sieger aus dem Streit hervorgeht, ist noch nicht ausgemacht. Für mich handelt es sich darum, ein Mann zu bleiben.«

»Und für mich darum, es nicht zu vergessen, daß ich ein Weib bin.« Agnes lächelte ihn so freundlich an, daß jeder Schatten von Folkes Gesicht verschwand und daß er murmelte: »Sie vergessen es nie, und der Streit wird noch eine Zeit lang fortgehen.«


Am folgenden Morgen, als Agnes ihren Bruder zu Folke hinaufgehen sah, empfand sie eine heftige Unruhe. Sie begab sich in das Comptoir hinunter, während ihr das Herz vor Angst über das Ergebniß der Besprechung zwischen diesen beiden gleich stolzen und gleich unbeugsamen Männern schwoll. Zu ihrer nicht geringen Ueberraschung fand sie Folke an seinem Pulte mit dem verbundenen, verletzten Arm sitzen. Als Agnes die Thüre zumachte, drehte er sich rasch herum. Er war bleich, und aus dem Ausdruck seines Gesichts konnte man sehen, daß der Arm ihm großen Schmerz verursache.

»Mein Gott, Herr Richardson, warum sind Sie da? Hat der Arzt Ihnen erlaubt, Ihre Zimmer zu verlassen?«

»Ich kann dem Arzt nicht gehorchen, nicht unbeschäftigt sein und mich nicht damit begnügen, Sie nur auf kurze Augenblicke zu sehen. Ich muß deshalb meine Arbeit hier wieder aufnehmen.«

Agnes zeigte auf den Hof und sagte, indem sie ihr Gesicht von ihm abwandte: »Wären Sie bei Ihrer Mutter oben geblieben und hätten dem Arzte gehorcht, so wären Sie belohnt worden. Sie macht ja stets um diese Zeit Besuch bei Ihnen.«

Margarethe stieg eben aus dem Wagen und wollte sich in den Thurm begeben.

Folke bemerkte es, denn er lenkte seine Blicke nach der von Agnes angedeuteten Richtung.

»Wo ist Ihr Bruder?« fragte er ganz kurz.

»Er wollte zu Ihnen und spricht jetzt mit Margarethe, welche ihm begegnete.«

Abermals warf Folke einen Blick durch das Fenster. Sein Gesicht verfinsterte sich und zeigte keine Spur mehr von Freundlichkeit.

»Es gefällt ihm nicht, daß Arthur mit Margarethe spricht,« dachte Agnes bei sich selbst und beugte sich über das aufgeschlagene Buch. Folke schüttelte den Kopf bedenklich.

»Sie täuschen sich, mein Fräulein,« sagte er; »ich bin nicht eifersüchtig auf Ihren Bruder.«

Agnes schauderte. Besaß denn dieser Mann die Gabe, ihre geheimsten Gedanken zu errathen?

»Sehen Sie mich an, und bestreiten Sie dann, ob es möglich ist, daß Sie glauben konnten, ich sehe es nicht gern, wenn Ihr Bruder sich mit Margarethe abgibt.«

»Warum sollte ich es in Abrede ziehen? Ich glaube in der That, ohne einen Irrthum befürchten zu müssen, daß Ihnen dies mißfällt.«

»Sie glauben also immer noch, daß ich diese liebe?«

»Ich weiß, daß es so ist.«

»Nein, Agnes, Sie wissen etwas ganz Anderes, aber Sie wollen es nicht zugestehen. Ist es nach der Art und Weise, wie Sie die Dinge beurtheilen, recht, daß Sie sich mir gegenüber unwissend stellen?«

»Unwissend?« wiederholte Agnes.

»Ich nehme dieses Wort nicht zurück. Margarethe geht zu meiner Mutter hinauf, Ihr Bruder kommt jetzt, und da wollen wir mit einander sprechen.«

Arthur ging mit Folke in das innere Zimmer hinein.

Ein heftiges Herzklopfen war die Ursache, daß Agnes nicht mehr weiter schreiben konnte. Sie stützte den Kopf auf die Hände und dachte: »Weiß ich es denn, daß er Margarethe nicht liebt? Ja, jetzt weiß ich es, jetzt – und jetzt soll ich von hier fort! Ich, die Tochter des Mannes, welcher den Tod seiner Mutter beschleunigt hat, kann nicht bleiben, nicht des Glückes theilhaftig werden … O mein Gott, wie unaussprechlich glücklich und wie namenlos unglücklich bin ich nicht in einem und demselben Augenblick!«

Die Besprechung zwischen Folke und Arthur dauerte nicht lange. Als dieselben wieder in das Comptoir herauskamen, konnte man ihnen ansehen, daß der Würfel gefallen sei und daß mit demselben kein neuer Wurf gewagt werde.

Nach einer Weile entfernte sich Folke und ging zu seiner Mutter hinauf, vermuthlich um Margarethen mitzutheilen, welche Antwort Arthur gegeben habe.

Im Fortgehen sagte Arthur zu Agnes: »Wir verlassen Nygarda im Herbst; als Comptoirist will er mich nicht behalten, und als Theilhaber kann ich nicht bleiben.«

»Noch ist die Sache nicht entschieden,« dachte Agnes.

Kurz darauf kam Margarethe in das Comptoir, um sich von ihrer Cousine zu verabschieden. Sie wollte zu ihrem Vater reisen und einige Wochen bei ihm zubringen.


Folke verweilte den ganzen Vormittag auf dem Comptoir. Agnes schrieb sämmtliche Briefe nach seinem Diktat. Zwischen Beiden wurde selten etwas anderes gesprochen, als was auf die Arbeit Bezug hatte.

Eines Morgens, als Arthur und Agnes Kaffee tranken, äußerte Ersterer: »Heute werde ich nach Hamburg schreiben; wenn ich länger warten wollte, so hieße dies soviel als Gefahr laufen, die Stelle zu verlieren.«

»Also heute noch muß es geschehen,« sprach Agnes ganz entschlossen bei sich selbst.

Das Mittagessen war vorüber. Agnes hatte an diesem Nachmittag nichts auf dem Comptoir zu thun. Sie besuchte Jane.

»Ist Herr Richardson oben in seiner Wohnung?« fragte sie, nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatte.

»Mein Sohn ist nach dem Pavillon gegangen. Wünschen Sie ihn zu sprechen?«

»Ja, ich möchte ihn um etwas bitten.«

»Dann suchen Sie meinen Sohn dort auf, wo er jetzt ist, oder wünschen Sie vielleicht, daß ich ihn rufen lasse?«

»Nein, ich will mich nach dem Pavillon begeben.« Agnes ergriff Janes Hand und setzte mit sanfter Stimme hinzu: »Glauben Sie, er werde mir meine Bitte abschlagen?«

»Nein, mein Fräulein, dies glaube ich nicht. Wenn es in seinem Vermögen steht, dieselbe zu erfüllen, so wird er es auch thun. Seine Verbindlichkeit macht es ihm zur Pflicht.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Mittheilung. Ihre Worte haben mir meinen Muth, den ich fast verloren hatte, wieder eingeflößt.«

Agnes eilte von Jane hinweg nach dem Pavillon.

Folke lag auf einem Sopha auf der Veranda und schien in Gedanken versunken zu sein. Er ließ seinen verwundeten Arm auf einem neben ihm stehenden Stuhl ausruhen, hatte den Kopf zurückgelehnt und folgte mit den Blicken den vorübereilenden Wolken. Es war der letzte Juni, und Alles prangte im Schmucke des Sommers. So lange Agnes auf dem Grasboden ging, waren ihre Schritte lautlos, wurden aber vernehmbar, sobald sie die mit Sand bestreute Stiege betrat. Folke richtete seine Blicke sofort auf die Herannahende und erhob sich schnell aus seiner ruhenden Stellung, um Agnes entgegenzugehen.

»Ist es die Vorsehung, welche gerade in diesem Augenblicke Ihre Schritte hierherlenkt?« fragte er.

»Nein, ich habe mir gewünscht, Sie zu treffen,« antwortete Agnes.

»Sie können also auch diesen Wunsch hegen?«

»Ja, wie Sie sehen, allein diesmal liegt meinem Wunsch eine große Selbstsucht zu Grunde.«

»Diesmal! Es kommt also auch sonst vor, daß Sie mich besuchen, ohne daß die Selbstsucht ins Spiel kommt?«

»Dies ist am öftesten der Fall.«

Folke betrachtete sie mit prüfendem Blicke. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte sich Agnes auf ein Sopha auf der Veranda und fuhr fort:

»Es ist schon lange her, seitdem sie sagten, daß zwischen Ihnen und mir Streit bestehe. Sie sprachen davon, daß die Zukunft lehren werde, wer als Sieger aus diesem Streit hervorgehe. Ach, Herr Richardson, ich fühlte mich bereits damals überwunden, und jetzt bin ich gekommen, um Ihnen zu zeigen, daß es so ist. Ich komme, um Sie um ein großes Opfer zu bitten.«

»Sie!«

»Ich, die ich mit solchem Widerstreben Ihre Wünsche erfüllte!«

»Fräulein Agnes, Sie können von mir verlangen, was Sie wollen, denn Sie wissen zum Voraus, daß ich Ihnen ohne alles Bedenken jedes Opfer bringen werde. Sie sind nicht besiegt; Sie sind im Gegentheil Ihres Sieges gewiß.«

»In dem Umstand, daß ich Sie bitte, liegt eine Niederlage für mich und ein Sieg für Sie.«

»Halten Sie es für eine Niederlage, wenn Sie mich um etwas bitten?«

»Beinahe, und doch bin ich hier, obwohl ich mit Bangen einer ablehnenden Antwort entgegensehe.«

»Fordern Sie ein großes Opfer?«

»Ein sehr großes.«

»Aber nicht größer, als ich es Ihnen zu bringen vermag?«

»Sie können es, aber es ist ungewiß, ob Sie wollen.«

»Zweifeln Sie nie an meinem Willen, wenn es sich um Ihre Wünsche handelt!«

»Nun gut, dann bitte, dann flehe ich Sie an: lassen Sie meinen Bruder auf der Stelle, welche er jetzt inne hat.«

»Fräulein Grattman, dies ist mehr, als ich vermag!« rief Folke aus. »Ich würde da mein einmal gegebenes Wort brechen. Ich habe gesagt, daß er und ich nur als Gesellschafter fernerhin mit einander arbeiten können. Alles Andere mögen Sie verlangen, nur Das nicht!«

»Sie schlagen es ab!« sagte Agnes mit schwankender Stimme. »Sie berauben mich somit dessen, was mein Glück und meine Freude ausmachte. Auch ich werde Nygarda verlassen und nie mehr zurückkehren. Sie trennen Ihre Lebensbahn von der meinigen; nun gut: unsere Wege werden sich nie mehr vereinigen!«

»Ruhig, Agnes, reden Sie nicht weiter: Ihr Wunsch ist erfüllt,« unterbrach sie Folke in leidenschaftlichem Tone, worauf er in tiefem Ernst hinzusetzte: »Folke Richardson nimmt sein Wort zurück: Ihr Bruder soll seinen Wunsch erfüllt sehen. Sie und ich können nicht getrennt werden: eher würde ich mich selbst verläugnen. Sind Sie zufrieden?«

»Zufrieden!« stammelte Agnes erregt: »Ich bin glücklicher, als Worte es auszudrücken vermöchten.« Agnes hatte seine Hand erfaßt, und Folke hielt die ihrige in der seinen; er betrachtete ihr vor Zufriedenheit strahlendes Gesicht und sagte: »Agnes, benützen Sie niemals Ihre Gewalt über mein Herz dazu, daß Sie mich veranlassen, etwas zurückzunehmen, was ich einmal gesagt habe.«

Er ließ ihre Hand los und fügte bei: »Sagen Sie Ihrem Bruder, daß alles so bleiben soll, wie er es wünscht.«

Folke verbeugte sich und ging.

Agnes sah ihm nach. Was würde sie in diesem Augenblicke nicht darum gegeben haben, wenn sie es hätte wagen können, ihn zurückzurufen! Sie sah ein, daß seine Nachgiebigkeit ein größeres Opfer gewesen sei, als sie gedacht habe, und daß es seinem Stolze schmerzlich gewesen, dies Opfer zu bringen; deshalb hatte er sich auch entfernt.


Agnes eilte geflügelten Schrittes von dem Park in das Comptoir. Sie riß die Thüre auf und kam so eilig hereingesprungen, daß Arthur, welcher am Pulte saß und Hundern, welcher auf dem Sopha im Comptoir in halbliegender Stellung sich befand, in die Höhe fuhren.

»Was gibt's!« rief Arthur aus.

Tief erröthend erklärte Agnes, daß es nichts gebe, sondern daß sie nur ihrem Bruder einige Worte zu sagen habe.

»Ich komme sogleich hinauf,« fügte Arthur.

»Du mußt mit mir reden, ehe die Post abgeht,« erklärte Agnes.

»Entschuldigen Sie, Fräulein,« bemerkte Hundern; »es wäre am Platze, daß ich ginge, allein auch ich habe dem Herrn Grattman vor Abgang der Post etwas Wichtiges mitzutheilen. Ich verspreche übrigens, ihn nicht länger, als es nothwendig ist, aufzuhalten, um so mehr, da wir nur das Gespräch, in welchem wir begriffen waren, als Sie hereinkamen, zu Ende führen wollen.«

Agnes entfernte sich.

»Sie wollen also Richardsons Theilhaber nicht werden?« fragte Hundern, als er mit Arthur allein war.

»Ich habe meine unmaßgeblichen Gründe auseinandergesetzt. Ich kann mir von Richardson keinen Vortheil zuwenden lassen.«

»Dies lautet sehr schön, nur ist der Fehler der, daß diese Worte keinen Werth haben. Sie sind von einem unbezwinglichen Hochmuth beherrscht; Sie lassen sich auch dann und wann von demselben einen Possen spielen, weil Sie der Sklave eines höchst selbstsüchtigen Gefühls sind. Aber dennoch ist es sonderbar, daß der Mensch nicht so weit in der Bildung kommen kann, daß er Herr über solche Regungen wird. Wenn Sie es über sich bringen könnten, den Hochmuth in diesen Pult einzuschließen, und wenn Sie sodann sich hinsetzen würden, um den Vorschlag, welcher Ihnen gemacht worden ist, mit kaltem Blute zu überlegen, so würden Sie zu einem ganz anderen Ergebniß kommen und weit edler handeln, als Sie jetzt thun.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich dies bezweifle.«

»Sie zu überzeugen kann nicht schwer sein. Um den Anfang zu machen: warum schlägt Ihnen Richardson vor, sein Theilhaber zu werden?«

»Um meine ökonomische Lage zu verbessern und zu zeigen, daß der Sohn des Tischlergesellen in der That edelmüthig sein kann.«

»Wie kann ein Mann mit Ihrem Kopf und Ihrer Erfahrung so in den Tag hineinreden? Sie hätten es schon lange vorher einsehen sollen, daß der praktische Richardson alle alten Zwistigkeiten vergessen hat. Er verfolgte mit seinem Vorschlag nur den Zweck, an die Fabrik eine Person zu fesseln, welche so tauglich ist, wie Sie und somit der Fabrik jetzt und für immer von Nutzen sein kann. Wenn er den Edelmüthigen hätte spielen wollen, so hätte er ja schon im ersten Jahre Ihren und Ihrer Schwester Gehalt verdoppeln können. Das ist aber seine Absicht nicht gewesen. Er hat, ehe er Ihnen seinen Vorschlag machte, berechnet, wie die Geschäfte besorgt wurden, ehe Sie Ihre Stelle versahen, und wie dieselben in dem Laufe des Jahres gingen, während dessen Sie Ihren Platz ausfüllten. So und so viele Prozente warf die Fabrik damals ab, und soviel wirft sie jetzt ab. »Nun gut,« dachte Richardson, »ein Geschäftsmann, wie Grattman, ist uns unter solchen Umständen von größerem Nutzen, als einer, welcher seine Kapitalien flüssig gemacht hätte.« Richardsons Rechnung ist richtig, das aber kann man von Ihnen nicht sagen. Sie haben sich wie ein Thor betragen. Entschuldigen Sie, daß ich dies gerade heraussage. Sie lassen alte Vorkommnisse herumspuken und geben Ihrem Hochmuth Raum, so daß er Ihnen einflüstern darf: »Nimm nichts von Demjenigen an, welchem du zu nahe getreten bist.« Dies, Herr Grattman, kann in einem Roman vorkommen, paßt jedoch nicht für die Wirklichkeit, wo man jedes Ding nach seinem wahren Werthe beurtheilt. Derjenige, welcher Geld hat, will Interesse daraus ziehen; ein Mann mit Ihrem Kopf erwirbt sich mit demselben Vermögen. Ueberlassen Sie es den Weibern und Kindern, sich von Gefühlen leiten zu lassen, aber verschmähen Sie es als Mann, von Gefühlen sich Gesetze vorschreiben zu lassen, welche Ihr Verstand nicht billigen kann. Uebrigens erweisen Sie der Fabrik, Richardson und Fräulein Margarethe einen weit größeren Dienst, wenn Sie den Antrag annehmen, als Sie selbst Vortheile dabei haben. Vergessen Sie deshalb, daß Sie der Sohn des Großhändlers Grattman sind und daß Richardson von dem Tischlergesellen abstammt; denn dies sind Umstände, welche mit der Gegenwart nichts zu schaffen haben. Betrachten Sie Richardson einzig nur als einen Mann, welcher ein Interesse und einen Nutzen dabei hat, Sie als Theilhaber zu gewinnen. Damit ist meine Predigt zu Ende, und möchte bloß noch hinzufügen, daß ein wahrhaft stolzer Mann sich nie herabläßt, hochmüthig zu sein. Sie, Herr Grattman, sind hochmüthig, weil Sie sich weigern, der Geschäftstheilhaber von Folke Richardson zu werden.«

Hundern nahm seinen Hut und ging. Als er fort war, langte Arthur nach einem Brief, welcher auf dem Pult lag und nach Hamburg adressirt war. Er zerriß das Schreiben, verschloß das Pult und verließ das Comptoir.

Einen Augenblick später schaute Agnes in dasselbe herein. Arthur war nicht mehr da.

Sie setzte sich an ihr Pult und wartete. Die Zeit verging, und der Bruder erschien nicht.

Der Bursche kam, um die Post zu holen, aber dieselbe war noch nicht in Ordnung. Die Schreiber im äußeren Zimmer fragten nach Arthur, ohne daß Agnes hätte sagen können, wo er zu finden wäre. Endlich kam er zurück und hatte große Eile, die Briefe, welche abgehen sollten, expediren zu lassen.

Agnes fragte, ob er nach Hamburg geschrieben habe.

»Heute nicht,« gab er zur Antwort. Als die Post fertig war, ging er mit Agnes in die Wohnung hinauf.

»Du wolltest mir ja etwas sagen,« bemerkte Arthur und ließ sich auf das Sopha im Vorzimmer nieder.

»Du möchtest wohl deine hiesige Stellung behalten?« fragte Agnes.

»Ueber diesen Gegenstand wollen wir nicht mehr weiter reden. Ich verlasse meinen Posten: das ist mein unwiderruflicher Beschluß.«

»Arthur, ich verstehe dich nicht! Du sagtest doch vor einiger Zeit, daß …«

»Ich meine Stelle hier beizubehalten wünschte: dies ist wahr, aber seitdem hat sich Vieles geändert, und ich habe schon vor einiger Zeit darein gewilligt, der Geschäftstheilhaber Richardsons zu werden.«

Agnes starrte ihren Bruder an.

»Hat Margarethe dich dazu vermocht?«

»Margarethe ist ja bei ihrem Vater und hat mich folglich nicht dazu veranlassen können. Nein, es ist ein Mann gewesen, der es jederzeit versteht, die menschlichen Schwächen zu geißeln, so daß die Vernunft allein das Wort führt. Hundern ist es, welcher mich auf andere Gedanken gebracht hat, und jetzt fühle ich mich dadurch befriedigt, daß ich so gehandelt habe, wie es der Fall war.«

Agnes war glücklich. Sie konnte jetzt unter allen Umständen zu Nygarda bleiben. Dies war ihr das Höchste.


Mit Folkes Art und Weise war, seitdem er Agnes nachgegeben hatte, eine vollkommene Veränderung vorgegangen. Er war wieder steif und ungeduldig geworden. Man konnte ihm unmöglich etwas recht machen. Er selbst konnte nicht schreiben, sondern Agnes mußte ihm als Privatsekretär Dienst leisten, und diesen Dienst konnte sie nicht zu seiner Zufriedenheit versehen. Zwar hatte er, seitdem Arthur sein Geschäftstheilhaber geworden war, nicht mehr viel auf dem Comptoir zu thun, aber er arbeitete trotzdem einige Stunden täglich daselbst; außerdem hatte er eine Privatcorrespondenz, bei deren Führung ihn Agnes unterstützen mußte, und hier war Folke besonders widerwärtig.

Seine Ausbrüche schlechter Laune beunruhigten Agnes nicht, vielmehr schien es, als ob sie ganz zufrieden und geduldig hätte bleiben können, wenn er sich am unerträglichsten zeigte. Ihr Aussehen ließ auf innere Zufriedenheit schließen, welche bewies, daß Folke sie in keine schlechte Laune versetzen könne.

Eines Tages, als Agnes nach Folkes Diktat einen langen englischen Brief schrieb, wurde er beim Durchlesen desselben sehr ärgerlich darüber, daß ein Wort ausgelassen war. Die Beiden waren zufällig allein.

»Es ist unbegreiflich, daß das Fräulein immer so nachlässig arbeitet,« ließ Folke sich aus. »Es ist nicht möglich, einen einzigen Brief richtig geschrieben zu bekommen.«

»Es wäre deshalb vielleicht am besten, wenn Sie für Ihre Privatcorrespondenz jemand Anderes verwendeten,« bemerkte Agnes ganz ruhig und setzte das ausgelassene Wort ein.

»Dies soll mit andern Worten heißen, daß Sie meine unausstehliche Empfindlichkeit satt haben!«

»Durchaus nicht. Sie können mich nicht aus der Fassung bringen.«

»Und dennoch möchte ich wünschen, daß Sie ärgerlich würden, wenn ich Ihnen den Anlaß dazu gegeben habe.«

»Das ist ein Wunsch, Herr Richardson, welcher nie in Erfüllung gehen wird. Ich werde niemals böse auf Sie sein. Wenn Sie mich als Schreiber los werden wollen, so müssen Sie andere Mittel anwenden.«

Agnes überreichte den Brief und blickte Folke dabei an. Er ging auf sie zu.

»Können Sie mir verzeihen?« fragte er.

»Ich habe nichts zu verzeihen. Ich sehe ein, daß es Sie kränken muß, weil ich Sie veranlaßte, von einem gefaßten Entschluß abzustehen und daß Sie deshalb ärgerlich werden, so oft Sie mich sehen. Das erinnert Sie daran, daß Sie der Bitte einer weiblichen Person nachgegeben haben.«

»Faßten Sie mein widerwärtiges Wesen in dieser Art auf?«

Agnes schlug die Augen nieder.

»Wie sollte ich mir die Sache anders erklären?« sagte sie mit sanftem Lächeln.

»Als die Folge innerer Unruhe. Wenn es mir gelungen wäre, Sie zu reizen, so hätte ich wenigstens die Genugthuung gehabt, daß Sie mir mein Benehmen vorgeworfen hätten, und ich hätte daraus ersehen können, daß Sie nicht unempfindlich gegen meine Auslassungen gewesen wären, so aber …«

»Erlauben Sie, daß ich Sie unterbreche,« rief Agnes aus. »Sie haben einmal gesagt, Sie kennen mich. In diesem Falle müssen Sie einsehen, warum Ihre Manier mich nicht beleidigen konnte.«

»In meinem augenblicklichen Geisteszustand mißtraue ich meinen eigenen Wahrnehmungen. Wollen Sie die Güte haben und diesen Brief adressiren.«

Agnes that dies und Folke verließ das Comptoir. Sie blickte ihm nach und flüsterte: »Er will das erste Wort aus mir herauspressen, aber es soll ihm nicht gelingen. Ich bin entschlossen, ihn zuerst zum Sprechen zu bringen. Wir wollen sehen, Folke Richardson, wer von uns nunmehr als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen wird.«

»Anders!« rief Jemand im Hofe, »spanne die Droschke ein, der Herr will nach Fjellboda fahren.«

»Margarethe!« stammelte Agnes.

Jetzt erwachte die Eifersucht der letzteren wieder ganz und gar. Es war, als ob plötzlich ihre liebsten Träume zu nichte geworden wären. Mit der Erfindungsgabe der Eifersucht, das Schlimmste herauszufinden, hielt es Agnes für eine ausgemachte Sache, daß Margarethens Abwesenheit Folkes Ungeduld hervorgerufen habe. Konnte dies aber möglich sein? Er hatte ja gesagt … was hatte er eigentlich gesagt? Gar nichts, nur damit Agnes nicht anders glauben soll, als daß er Margarethe liebe.

Sie sah Folke wegfahren, und fort mit ihm enteilte auch ihr Friede. Sie warf die Feder bei Seite und verschloß das Pult. Es war ihr nicht möglich, zu bleiben, sie mußte in die frische Luft. Agnes schlug den Weg nach dem Parke ein. Hastigen Schrittes eilte sie vorwärts, wie wenn sie gehofft hätte, durch Bewegung die entschwundene Ruhe wiederzufinden.

Sie schlug den Weg ein, der zu dem Pavillon führte. Plötzlich wurde sie durch eine Stimme aufgehalten, welche ausrief: »Was Teufels, Herr Hundern, machen Sie? Ich glaube, bei Gott, daß Sie daran sind, einen Schatz zu vergraben.«

Agnes blickte nach der Richtung, von woher der Ruf kam und bemerkte da den Ortsvorsteher, welcher am Fuß eines Baumes nicht weit entfernt von Hundern stand. Der letztere war damit beschäftigt, eine Grube zu graben. Die beiden Männer waren nicht weit von Agnes entfernt.

»Ach, sind Sie es, Herr Rundberg?« antwortete Hundern und ließ den Spaten ruhen. »Ich vergrabe in der That einen Schatz,« fuhr er fort, »meinen treuen Hund nämlich: derselbe ist heute morgen mit Tod abgegangen.«

»Ich beklage den Verlust: er war vielleicht für Sie größer, wie der, welchen das Gemeinwesen heute Nacht erlitt, als der Mitschuldige Paulsons im Bezirksgefängnisse in Folge eines in Gefängnissen häufig auftretenden Fiebers verstorben ist. Der Verbrecher ist somit der gesetzlichen Strafe entgangen.«

»Dies war ganz gut,« meinte Hundern, »und es wäre zu wünschen, wenn alle Verbrecher denselben Weg gingen. Der Staat brauchte sie dann nicht zu unterhalten.«

»Gewiß, allein in diesem Fall hätte man keinen Richter und Vorsteher nöthig,« scherzte Rundberg; »aber ich bin nicht gerade deshalb hierhergekommen, sondern ich wollte den Herrn Richardson treffen.«

»Er ist nach Fjellboda.« Hundern fuhr mit seiner Grabarbeit fort.

»Ach, ich verstehe, Fräulein Grattman kam gestern zurück und wollte Sie durchaus sprechen. Nun, wann soll denn die Hochzeit sein?

»Fragen Sie Richardson,« gab Hundern zur Antwort.

»Der Tausend, wie sind Sie so zurückhaltend, Herr Hundern; Sie sehen doch, daß ich schon längst das thatsächliche Verhältniß herausgefunden habe. Der Grund, warum Richardson den Galgenvogel Fritz stets rückenfrei ließ, war der, daß er den Arthur Grattman davor bewahren wollte, schwer kompromittirt zu werden. Nun, nun, es war dies nicht mehr als billig, da Richardson in Fräulein Margarethe verliebt ist. Die Sache geht mich auch nichts an. Ich zerbreche mir nicht gerne unnöthig den Kopf. Nun aber hat es das Schicksal gewollt, daß dieser Fritz dem Richardson abermals in den Weg kam und daß er die freundliche Absicht hatte, Mord und Diebstahl zu Nygarda zu begehen. Er wurde ertappt und festgenommen. Man ließ mich holen, und seine Kleider wurden untersucht. Wir fanden keine Papiere darin. Ich erkannte den Kerl sofort wieder trotz seines großen Bartes, aber ich ließ nichts merken, sondern dachte: »Wir wollen sehen, wie Herr Richardson sich jetzt verhalten wird.« Fritz starb; der Herr schickt nach mir und sagt: ›Hier sind Paulsons Papiere; wollen Sie dieselben haben? Er ist jetzt todt und ich wünsche, daß sein wahrer Name nicht bekannt werde.‹ ›Behalten Sie die Papiere oder vernichten Sie dieselben,‹ sagte ich; ›das Gesetz hat mit einem todten Spitzbuben nichts zu thun.‹ Der Herr verbrannte sämmtliche Papiere in meiner Gegenwart. Der Kerl ist begraben worden, und Herr Arthur braucht sich nicht mehr darüber zu beunruhigen, daß er möglicherweise durch die Rache seines ehemaligen Bedienten bloßgestellt werden könnte. Meine Aufgabe ist es heute auch nicht, an diese unangenehmen Dinge zu erinnern, sondern ich möchte Richardson und Fräulein Margarethe vorschlagen, Löfdals armen Eltern eine Unterstützung zukommen zu lassen. Sie leben in äußerster Noth und sind überdies betrübt über die Theilnahme ihres Sohnes an Fritzens beabsichtigter That.«

Hundern versicherte, daß Folke für die unglücklichen Eltern sorgen werde und daß er gleich nach dessen Rückkehr denselben von der Bitte des Vorstehers in Kenntniß setzen wolle.


Es war Abend und das Comptoir unbesetzt. Arthur war nach Qvarndammen geritten.

Hundern saß in seinem Zimmer bei der Sherryflasche, als Folke zu ihm hereinkam.

»Der Onkel hat mit mir zu sprechen verlangt,« sagte Folke.

Hundern that einen gewaltigen Zug aus der Cigarre, blies langsam den Rauch hinaus, nahm dann die Cigarre aus dem Mund und theilte Folke mit, was der Ortsvorsteher gesagt hatte.

»Es ist klar, daß ich für die alten Leute sorgen werde,« antwortete Folke. »Morgen reite ich zum Vorsteher hinüber und bringe die Sache in Ordnung.«

»Ich habe ihm dies versprochen,« bemerkte Hundern phlegmatisch; »wir wollen aber jetzt von etwas Anderem reden. Ehe der Vorsteher sein Begehren vorbrachte, schwatzte er eine Masse von Dummheiten über dich und Margarethe, welche nicht zur Sache gehörten, und Fräulein Agnes stand dabei und hörte das ganze Gespräch mit an, ohne daß wir ihre Gegenwart bemerkten.«

»Nun, was sagte er da von mir und Margarethen?« fragte Folke und stellte sich an das Fenster, um zu verhindern, daß ihn Hundern beobachte.

Hundern wiederholte wortgetreu, was der Vorsteher gesagt hatte.

»Er ist, wie die Andern auch,« schloß Hundern seine Rede; »er sucht die Ursachen da, wo man sie nicht suchen soll; aber dumm war es, daß das Mädchen sein Geschwätz gehört hat. Wenn ich es bemerkt hätte, so würde ich dem Schwätzer den Mund gestopft haben. Es ist genug für das arme Kind, daß es von einem Bären, wie du einer bist, jeden Tag Vorwürfe bekommt; es ist also nicht nöthig, daß man die Dummheiten des Bruders wieder auf das Tapet bringt. Jetzt kannst du deiner Wege gehen,« setzte Hundern hinzu. »Ich habe mich müde gesprochen, und dabei ist mir die Cigarre ausgegangen.«

Folke begab sich nach der Thüre.

»Ist Fräulein Grattman oben?«

»Nein, sie ist wahrscheinlich noch im Park.«

Als die Thüre sich hinter Folke geschlossen hatte, machte der Engländer eine Grimmasse, welche ein Lächeln hätte vorstellen sollen.

»Der alte Hundern hat gute Augen, mein Junge, und du hintergehst ihn nicht so leicht.«


Agnes war noch im Park. Die Ruhe und Stille war so groß, daß man die Bewegung eines Laubes hören konnte; um so weniger konnten Schritte unbemerkt bleiben. Agnes hörte denn auch, daß sich aus der Ferne Jemand näherte und erkannte, wer es war. Sie schien nicht im Geringsten überrascht, als Folke herankam. Sie war übrigens, als sie seiner ansichtig wurde, nicht mit sich im Reinen, wie sie sich verhalten solle.

Als sie seine klaren, durchdringenden Augen gewahrte, schien es ihr, als ob alle Zweifel verscheucht und alle ihre Träume verwirklicht worden wären.

»Ich wußte gewiß, daß ich Sie hier finden würde,« sagte Folke.

»Sie suchten mich demnach?«

»Ich suche Sie stets, aber finde Sie selten,« antwortete Folke lächelnd. »Es müßte übrigens sonderbar zugehen, wenn es mir zuletzt nicht doch gelingen sollte, Sie immer zu treffen.«

Er blickte sie so gütig und freundlich an, daß Agnes aus seinen Blicken allen den Edelmuth ersah, welcher diesem Charakter im Grund innewohnte.

»Ich könnte entgegnen,« sagte Agnes, »daß ich Sie immer erwarte, jedoch vergebens.«

»Wollen Sie den Grund wissen?«

»Ja wohl.«

»Weil Sie warten, wenn Sie suchen sollen; ich suche, wenn ich warten sollte.«

»Aber heute Abend haben wir am besten daran gethan, unseren Gewohnheiten treu geblieben zu sein. Ich wartete, und Sie suchten.«

»Sie haben also gewünscht, daß ich kommen soll?«

»Ich hoffte es. Ach,« fügte Agnes bei, »ich habe das Bedürfniß gehabt, mit Ihnen zu sprechen, um Ihnen zu danken. Erst heute erfuhr ich, wie viel Sie gethan haben, um die Ehre meines Bruders in Schutz zu nehmen.«

»Fräulein Grattman, ich beschwöre Sie, sprechen Sie nicht so. Sie wissen, wie viel ich meinerseits gut zu machen hatte, und ich bitte Sie, lassen Sie uns das Vergangene für immer vergessen. Was gewesen ist, liegt hinter uns und berührt uns nicht mehr; wir müssen uns mit Dem beschäftigen, was jetzt ist, und deshalb habe ich Sie aufgesucht.«

»Sie wollten mir eine Neuigkeit mittheilen?«

»Ja, eine solche, welche bereits alt ist. Dieser Pavillon wird jetzt eine Eigenthümerin bekommen.«

»Sie heiraten demnach, Herr Richardson?«

»Agnes!« Mehr sagte Folke nicht, aber in seinem Tone lag ein ernstlicher Vorwurf. Es entstand Schweigen, welches Folke endlich mit den Worten unterbrach: »Dieser Pavillon ist für meinen Compagnon und dessen Schwester hergerichtet worden. Sie können es unmöglich ablehnen, diese Wohnung mit Ihrer jetzigen zu vertauschen. Sie können einen Mann, welcher auf Ihre Bitte hin sein Wort gebrochen hat, dieses Verlangen nicht abschlagen.«

Agnes vermochte nicht zu antworten, und Folke fuhr fort: »Das ist nur ein Wohnungswechsel, sonst nichts. Der Pavillon gehört ebensogut zur Fabrik, wie der Seitenflügel; Ihnen ist der Pavillon lieber und wir haben die Flügel nöthig. Der Pavillon stand schon gar lange bereit, damit Sie denselben in Besitz nehmen, und ich hoffe, daß dies jetzt so bald als möglich der Fall sein wird.«

»War denn der Pavillon nicht zu Ihrer Wohnung bestimmt?« rief Agnes aus.

»Niemals.«

»Gedenken Sie ledig zu bleiben?« Agnes bekam starkes Herzklopfen.

»Es scheint, als ob es das Schicksal beschlossen habe, daß ich nie dazu kommen würde, eine Frau zu nehmen.«

»Aber Margarethe …« Agnes stockte.

»Sie haben Recht, ich liebe.« Folke erhob sich. »Es ist spät,« sagte er; »ich will Sie bis zum Gatterthor begleiten. Morgen hoffe ich Sie in Ihrer neuen Wohnung zu begrüßen.«

Morgen! Was wissen wir vom morgigen Tage?


Agnes fand, als sie in ihre Wohnung kam, Briefe vor, welche mit der Abendpost gekommen waren. Einer war von Tom und lautete folgendermaßen:

 

»Meine liebe Agnes! Du mußt sogleich nach Empfang dieses Briefes in die Hauptstadt reisen. Die Veranlassung ist Richardsons Großmutter. Die Kräfte der alten Frau haben vor kurzer Zeit abzunehmen begonnen; sie fühlt ihren Tod herannahen, allein sie wünscht vor ihrem Abscheiden noch mit dir zu reden. Richardson soll übrigens von ihrem Wunsche nichts erfahren, so will es die Alte.

Ich kenne zwar die Beweggründe ihres Verlangens, dich sehen zu wollen, nicht, aber ich hoffte, daß du den Wunsch der sterbenden alten Frau erfüllen wirst.

Ich schreibe wegen deiner Reise selbst an Arthur. Vergiß nicht, daß du mit Ungeduld erwartet wirst von Magdalenen und deinem Bruder

Tom.«

 

Dies war der erste Brief, welchen Agnes von Tom erhielt, seitdem dieser Nygarda verlassen gehabt. Sie hatte mehrmals an ihn geschrieben, ohne eine Antwort zu bekommen. Agnes fiel es jedoch nicht ein, ihm einen ablehnenden Bescheid zu geben. Nein, sie wollte abreisen, obwohl es ihr schwer fiel, gerade jetzt fortzugehen; aber es galt ja Folkes Großmutter, welche von dem Vater der Agnes am schwersten gekränkt worden war.

Am andern Morgen war Sara vollauf mit Einpacken beschäftigt, denn Agnes wollte am Mittag abreisen.

Agnes war selbst zu Jane hinaufgegangen, um derselben Lebewohl zu sagen und Folke von der Abreise in Kenntniß zu setzen. Derselbe stand bei seiner Stiefmutter und hielt ihre Hand in die seinige geschlossen. Beide waren aufgeregt, als Agnes hereinkam, aber die Erregung, welche sich auf deren Gesichtern abspiegelte, ließ auf freudige Empfindungen schließen.

Es schien, als ob der Sohn seiner Mutter gegenüber ein Vertrauen an den Tag gelegt hätte, welches dieselbe erfreuen mußte.

Als Folke Agnes gewahr wurde, strahlte sein Gesicht vor Freude, und sie ersah aus seinem Blick alles, was sie gern hätte wissen mögen.

»Welcher Engel hat Sie gerade in diesem Augenblick hierhergeführt!« rief er aus und ergriff ihre Hand; »Ihre Anwesenheit macht mich jetzt überglücklich.«

»In diesem Fall kann ich hoffen, daß Sie mir zugestehen, um was ich Sie ersuche. Wenn ich Sie aufsuche, komme ich stets mit einer Bitte.«

»Gäbe Gott, daß Sie oft eine Bitte an mich hätten,« antwortete Folke; »ich werde es stets als ein Glück betrachten, wenn ich Ihre Wünsche erfüllen kann.«

»Wollen Sie mir einen Augenblick allein Gehör schenken?« fragte Agnes und wandte sich sodann an Jane mit dem Ersuchen, sie möchte entschuldigen, daß ihr Sohn in Anspruch genommen werde.

Folke führte Agnes in das Zimmer seiner Mutter und schloß dann die Thüre hinter sich zu. Agnes begab sich an ein Fenster, ohne ein Wort zu sprechen.

»Um was haben Sie mich bitten wollen?« fragte Folke.

»Um Ihre Erlaubniß, daß ich verreisen kann.« Agnes hatte eine zitternde Stimme.

»Sie können mich nicht darum bitten!« rief Folke aus.

»Ich muß es.« Agnes flüsterte diese Worte.

»Sie reisen; Sie reisen von hier ab, und dies soll ich zugeben?«

»Vergangenes Jahr sind Sie verreist, und ich konnte Sie nicht abhalten, Nygarda zu verlassen.«

»Sagen Sie lieber, Sie haben keinen Versuch gemacht, dies zu thun. Ich kann Sie zum Bleiben zwingen, und ich werde dies auch thun. Zunächst können Sie Ihre Stelle auf dem Comptoir nicht verlassen, weil Sie daselbst unentbehrlich sind.«

»In diesem Falle bin ich genöthigt, die Stelle aufzugeben: ich werde abreisen.«

»Haben Sie überlegt, was Sie gesagt haben? Es gibt Worte, welche nie über die Lippen kommen sollten. Sie haben mir solche Worte entgegengeschleudert. Wenn Sie Ihre Arbeit auf dem Comptoir aufgeben wollen, so werde ich Sie auch nicht überreden, da zu bleiben. Reisen Sie ohne meine Einwilligung, Sie haben es so gewollt, und wir sind geschiedene Leute.«

»Nicht so!« rief Agnes lebhaft aus. »Meine Pflicht erfordert es, daß ich mich auf einige Zeit entferne, und ich muß dieser Pflicht gehorchen.«

»Sprechen Sie nicht von Pflicht, wenn es sich um die Frage handelt, ob Sie bleiben oder gehen sollen. Es gibt keine Pflicht, welche Sie auffordert, Nygarda zu verlassen. Nein, Agnes, ich verstehe das Gefühl, welches sie so benennen, leider nur zu gut: man nennt es sonst Stolz. Sie fürchten, das Gefühl nicht unterdrücken zu können, das Ihres Hochmuthes ungeachtet Ihr Herz einem Manne zuwendet, welchen Sie Ihrer unwürdig erachten, und Sie wollen eine Schwäche, welche Sie mißbilligen, überwinden. Nun gut, reisen Sie. Folgen Sie der Stimme des Stolzes; ich werde Sie nie davon überzeugen können, wie unedel es ist, der Sklave dieser Leidenschaft zu sein. Mag Ihr Herz unter dieser Tyrannenmacht erfrieren: es wird ein Tag kommen, wo Sie einsehen, daß Sie Ihr eigenes Glück einer elenden Leidenschaft zum Opfer gebracht haben. Leben Sie wohl, Fräulein Grattman, Sie sind frei; reisen Sie ab, wann Sie wollen.«

Folke ging auf die Thüre zu.

»Bleiben Sie!« rief Agnes laut. »War ich stolz, als ich bat, daß mein Bruder bleiben solle; war ich stolz, als ich Sie bat, Sie möchten Ihr Wort zurücknehmen, weil ich nicht getrennt von Ihnen leben konnte? Sie wissen, daß in meinem Herzen kein Stolz Raum hat, wenn es sich darum handelt, in Ihrer Nähe zu sein. Weshalb also alle diese ungerechten Worte von Ihnen, da Sie doch in meinem Herzen lesen konnten schon lange vorher, ehe ich mir selbst bewußt war, daß ich Sie liebe?«

»Agnes!« rief Folke aus, stürzte auf sie zu, führte leidenschaftlich ihre Hand an seine Lippen und stammelte: »Ich bin …«

»Sieger,« flüsterte Agnes, »denn Sie haben mir das Geständniß herausgepreßt, welches nie über meine Lippen hätte kommen sollen!«

»Nie!« unterbrach sie Folke lebhaft, »und dennoch hast du zuerst sprechen müssen. Ich habe nicht zu sagen gewagt, daß du dem steifen, eisenfesten Mann, welcher jetzt vor dir steht, alles bist. Ohne dich hat das Leben keinen Reiz für mich; ohne dich hat die Arbeit ihren Werth verloren; ohne dich hat die Sonne kein Licht und ihr Schein ist werthlos; ohne dich hört das Herz zu schlagen auf, und seine Kraft ist dahin. Ja, Agnes, von ganzem Herzen liebe ich dich. Ich würde dies auch thun, wenn ich in das Grab steigen müßte, ohne dir zuflüstern zu können, wie sehr ich dich liebe, wofern du nur zugestehen wolltest, daß ich dir lieb wäre. Der stolze Sohn des einfachen Arbeiters konnte nicht anders handeln.«

»Gegen die Tochter des Mannes, der …«

»Lasse doch die Vergangenheit begraben sein, und versuche es, meine Gefühle und mein Betragen zu verstehen. Ich beabsichtigte nicht etwa einen Triumph, sondern weit mehr; ich wollte die feste Ueberzeugung gewinnen, daß das in deinem Herzen verborgene Gefühl stärker als alle anderen Gefühle ist und mehr für dich bedeute, als eingesogene Vorurtheile und Stolz. Wenn ein Mann von meinem Charakter liebt, so ist es ihm so sehr Ernst damit, daß er nur zwischen Liebe und Tod die Wahl hat. Er kann seine Zukunft nicht auf den unsicheren Wurf eines Ja oder Nein setzen. Er muß wissen, muß sehen, muß überzeugt sein, ob er ihr so lieb ist, wie sie ihm. Nun gibt es keine Macht auf Erden, Agnes, welche mich von deiner Seite nehmen kann; denn wenn ich auch mein Blut tropfenweise verrinnen lassen müßte, um dir zu zeigen, wie sehr ich dich liebe, so würde ich es thun: du kannst nicht mehr von mir weggenommen werden!«

Er zog Agnes an seine Brust. Sie schmiegte sich vertraulich an das Herz, welches ihr so ausschließlich gehörte und dessen Besitz ihr Glück ausmachte. Die Wonne des Augenblicks ließ sie vergessen, daß sie einige Stunden später weit fort von ihm sein werde. Sie lauschte mit einem von Seligkeit erfüllten Herzen auf die Worte, welche er ihr zuflüsterte.

»Nun reisest du nicht,« sagte Folke endlich und schloß seine Arme noch fester um ihren Leib.

Diese Worte weckten sie aus dem Taumel und versetzten sie in die Wirklichkeit, welche ihr zurief: »Du kannst nicht hier bleiben!«

»Ich muß,« sprach Agnes.

Folke ließ seine Arme los.

»Ich kann den Gedanken nicht fassen, daß dich irgend etwas zwingen kann, mich zu verlassen.«

»Du wirst es begreifen, wenn ich sage: ›Folke, eine heilige Pflicht ruft mich; ich reise, aber ich komme bald wieder und mein Herz bleibt bei dir.‹«

»Du willst nicht sagen, welche Pflicht dich ruft?«

»Wenn ich wiederkomme.«

Die Saalthüre ging auf und Jane kam herein.

»Meine Mutter!« rief Folke aus, »alles, was ich dir vor einer Stunde anvertraute, habe ich ihr jetzt gesagt.« Er drückte die Hand der Agnes an seine Lippen, setzte jedoch hinzu: »Sie verläßt mich dessen ungeachtet; sie reist fort von hier!«

»Nur um recht bald wieder zu kommen,« bemerkte Agnes und ließ sich von Jane umarmen.

Einige Stunden später fuhr das Reisewägelchen von Nygarda ab.

Folke selbst saß an des Kutschers Platz und lenkte den Wagen. Er hatte nicht erlaubt, daß sonst Jemand Agnes nach X–stadt geführt hätte, von wo aus sie mit der neueröffneten Eisenbahn die Reise nach der Hauptstadt fortzusetzen gedachte.


Was war dies für ein Stoßen und Drängen auf dem Bahnhof in Stockholm! Der Schnellzug war angekommen. Es war eine Bewegung mit Koffern und Reiseeffekten, ein Rufen nach Droschken und Trägern, bis die Angekommenen ihre Sachen zur Hand bekommen hatten.

Tom war seiner Schwester entgegen gegangen, und nachdem dieselbe nebst Reisesack und Hutschachtel in einem Wagen untergebracht war, fuhren Beide ab und hielten erst am Königshügel, wo Tom in seinem eigenen Hause wohnte. Er war voll Güte gegen seine Schwester und fragte nach Arthur; es machte ihm großes Vergnügen, als er erfuhr, daß der Bruder der Geschäftstheilhaber Richardsons geworden sei. Sein Widerwillen gegen Arthur schien verschwunden zu sein, und es war, als ob er das, was diesen Widerwillen hervorgerufen hatte, vergessen gehabt hätte.

Kapitän Grattman war reich, lebte von seinen Renten und für sein einziges Kind. Er fühlte sich glücklich und dachte so wenig als möglich an sein verlorenes Auge. Das ruhige Gemüth stimmte ihn versöhnlich. Es freute ihn sehr, Agnes wiederzusehen und dieselbe bei sich zu haben; er äußerte auch den Wunsch, daß sie längere Zeit bei ihm bleiben möchte, worauf Agnes sogleich mit der Erklärung antwortete, daß sie sobald als möglich wieder nach Nygarda müsse.

Agnes fuhr, von Tom begleitet, nachdem sie zuvor die Tochter ihres Bruders, ein kleines reizendes Mädchen, umarmt hatte, noch am gleichen Abend zu Magdalenen.

Der Wagen, welcher sie zu Magdalenens Wohnung führte, hielt vor dem Haus in der Regierungsstraße, das früher den Eltern der Agnes gehört hatte. Zwei und ein halbes Jahr waren seit dem Tage verflossen, an dem sie dieses Haus verlassen hatte, um mit ihrem Bruder eine neue Laufbahn zu beginnen.

Wie sehr aber hatte sich Agnes in diesen letzten zwei Jahren verändert! Sie betrachtete jetzt ihre Lebensstellung mit ganz andern Augen.

Sie ging zwar mit einem Seufzer, welcher dem Andenken ihrer Eltern galt, durch das Thor und trat in den Hof ein; aber sie fühlte sich auch dankbar gegen die Vorsehung gestimmt und stellte Vergleichungen zwischen der Vergangenheit und Gegenwart an. Hätte sie wohl gewünscht, daß alles so geblieben wäre, wie es vor dem Tode des Vaters war? Nein, tausendmal nein! sie hätte ja alsdann den Folke nicht kennen gelernt, und für dieses Gluck verzichtete sie gern auf alle Reichthümer der Welt. Seine Liebe machte ihr Glück, ihre Zufriedenheit, ihren Reichthum aus; durch ihn hatte sie einsehen gelernt, daß es ein höheres und besseres Streben gebe, als dasjenige, welches durch Eigennutz und Eitelkeit bewirkt wird.

Tom hatte, während die beiden über den Hof gingen, nichts gesagt; als sie aber vor Magdalenens Thüre standen, äußerte er sich folgendermaßen: »Wenn du zu der Alten hineinkommst, so erinnere dich, daß wir Kinder des Mannes sind, welcher dieselbe einst ungerechterweise aus dieser ihrer Wohnung vertrieben hat, während sie durch unsern Onkel wieder in dieses Haus kam. Du weißt ja, daß John Grattman dieses Haus besaß. Vergiß nicht, daß unser Vater es war, welcher den Tod der Schwiegertochter Magdalenens, der Mutter von Folke Richardson, herbeigeführt hat.«

Tom machte die Thüre auf, und Agnes befand sich in einem hübschen Zimmer mit weiß angestrichenen Möbeln. Es war so nett und geordnet in dem großen geräumigen Zimmer, daß man sich ganz behaglich fühlte. An einem Fenster saß eine junge Frau und arbeitete. Sie war mit einem gewissen Geschmack gekleidet, und man sah es ihr sogleich an, daß sie nicht zu der dienenden Klasse gehöre.

Die Frau stand auf und kam den Beiden mit einem verbindlichen Lächeln entgegen, welches ersehen ließ, daß sie eine Person von Bildung sei.

»Meine Schwester; Frau Richardson, eine Verwandte Magdalenens,« sagte Tom vorstellend. Er fragte alsdann, wie es der Alten gehe.

»Ihre Kräfte nehmen sehr schnell ab,« entgegnete Frau Richardson. »Sie hat keine Schmerzen, allein sie befürchtet, sie müsse sterben, ohne Fräulein Grattman gesehen zu haben.«

»Wollen wir hineingehen?« fragte Agnes. Frau Richardson bat die Beiden, hineinzugehen.

Auf einem großen, altmodischen Ruhesessel saß, in Kissen eingebettet, eine Greisin mit schneeweißem Haar und vom Alter gebleichten Gesichtszügen. Das Kinn war weiß, die Lippen entfärbt, und über die Stirne hatte der Tod bereits einen kalten, blassen Schatten ausgebreitet, obgleich die Augen noch von Furcht und Hoffnung strahlten. Aus denselben leuchtete eine Energie, welche weder von den Jahren, noch von dem herannahenden Tod niedergehalten wurde. Die Alte richtete den Blick auf Agnes, und ein dankbares Lächeln belebte ihre Züge.

»Agnes Grattman,« sagte sie mit klarer Stimme, »Gott ist gnädig gewesen, daß er mich so lange am Leben ließ, bis Sie kamen.« Sie streckte ihre zitternden Hände nach Agnes aus. »Ich fühle,« fügte sie hinzu, »daß ich mit jedem Augenblick dem Grabe näher komme, und deshalb bitte ich Sie, Tom, lassen Sie das Mädchen allein bei mir, bis alles vorüber ist.«

Tom näherte sich der Thüre, aber Magdalene rief ihn zurück.

»Geben Sie mir Ihre Hand,« sagte sie, »und haben Sie Dank für alle Ihre Freundlichkeit gegen die alte Magdalene. Wenn auch Klas Henrik großes Unrecht an mir begangen hat, so hat sein Sohn dieses Unrecht gut gemacht; möge Gott Sie segnen. In diesem Leben sehen wir uns nicht mehr.« Dabei drückte sie dem Tom die Hand.

Als sich die Thüre hinter demselben geschlossen hatte und Agnes bei der Alten allein war, zog Letztere Agnes näher zu sich heran und sah ihr lange mit forschendem Blick ins Gesicht, ohne ein Wort zu sprechen.

»Ich habe dich rufen lassen, Kind,« flüsterte sie nach einer Weile, »weil ich dich sehen und in deinem Gesicht lesen mußte, ob du meines Folkes würdig seist. Daß er dich liebe, sagte er mir bei seinem letzten Besuch; er glaubte, der arme Junge, daß die alte Großmutter noch Groll hege und wollte mich damit vertraut machen, daß Klas Henriks Tochter die Frau meines Enkels werden sollte. Ach, er wußte nicht, wie sehr es der heißeste Wunsch meines Herzens war, daß der alte Familienzwist sich in herzliche Freundschaft verwandeln möchte. Ehe jedoch die Liebe eine Grattman mit einem Richardson verband, mußte die alte Magdalene Erstere vorher sehen und auf deren Gesicht lesen, ob sie es sei, welche das Band der Versöhnung schlingen könnte. Ich mußte ihr sagen, daß Magdalene vergessen und verziehen habe, daß Magdalene auf dem Todtenbette sie als Tochter bewillkomme und deren Händen das Glück des geliebten Kindes anvertraue. Agnes Grattman, du wirst seine Wonne ausmachen und mir vor Gott für sein Glück einstehen,« setzte die Alte mit großem Nachdruck hinzu, worauf sie in die Kissen zurücksank, und als Agnes sich niederbeugte, um dieselben zurecht zu machen, legte Magdalene ihre zitternde Hand der Agnes auf den Kopf und stammelte: »Gott segne dich, Kind. Nun, Klas Henrik,« setzte sie hinzu, indem sie gleichsam mit einer andern Person zu sprechen schien, »jetzt sollst du Ruhe in deinem Grabe haben; ich habe die Verbindung deiner Tochter mit meinem geliebten Enkel gesegnet.«

Die Alte schloß die Augen und Agnes stand auf, aber da öffneten sich die matten Augenlieder aufs Neue, und Magdalene sagte mit wunderbar heller Stimme: »Du darfst nicht gehen, Kind, du mußt bleiben; ich habe nicht sterben können, ehe du kamst, und nun sollst du meinen letzten Seufzer hinnehmen, wie ich es bei deinem Vater gethan habe. Es wird da alles so, wie ich mir die Versöhnung zwischen den beiden Aesten einer und derselben Familie vorgestellt habe.«

»Ich werde nicht von Ihrer Seite weichen,« flüsterte Agnes, ergriff eine Hand der Alten und führte dieselbe an die Lippen.

»Danke!« Magdalene athmete etwas schwer, aber nach einer Weile sagte sie: »Gib mir deine Hand, und sage mir, ob du Folke so liebst, daß dir seine Zufriedenheit mehr gilt, als die deinige und sein Leben mehr, als das deinige.« Sie richtete sich auf und blickte Agnes an, indem sie hinzufügte: »Du antwortest einer Sterbenden, welche in wenigen Stunden bei Gott sein wird.«

»Ich liebe ihn mehr, als alles auf dieser Welt,« versicherte Agnes, welche neben der Alten auf die Kniee niedersank und nun in die vom Tode etwas umschleierten Augen schaute.

»Gott, ich danke dir,« flüsterte Magdalene, indem sie sich gegen die Kissen zurücklehnte und hinzufügte: »Meine Tochter, überbringe ihm meinen letzten Gruß und meinen Segen.«

Jetzt schlossen sich Magdalenens Augen wieder, und sie versank in einen ruhigen Schlummer.

Agnes lag noch auf den Knieen und hielt Magdalenens Hand in der ihrigen. Sie wagte es nicht, sich zu rühren, aus Furcht, den Schlummer der Alten zu stören. Innig und herzlich war die Bitte, welche Agnes zu Gott sandte, damit sie im Stande sein möchte, den Mann, welcher ihr theurer war, als alles, was sie auf dieser Erde liebte, recht lieben zu können.

Das Thürschloß klirrte, und Agnes sah empor. Wurde sie von einer Täuschung irre geführt oder war es möglich, daß sie recht gesehen hatte? War es wirklich Folke, welcher da stand? Ja, er war es und kein Anderer. Mit sanftem, bekümmertem Ausdruck betrachtete er die Großmutter und warf alsdann auf Agnes einen Blick voll Herzlichkeit.

»Mein Kind,« flüsterte Magdalene, indem sie die Augen öffnete. Folke eilte auf sie zu. Er kniete neben Agnes nieder, umarmte Magdalene und sagte in vorwurfsvollem Ton: »Du hast also scheiden wollen, ohne Abschied von mir zu nehmen, ohne deinen Enkel herbeizurufen, damit er dir die Augen schließe!«

»Sie war bei mir.« Dabei deutete Magdalene auf Agnes; »ich habe dir mein letztes Lebewohl gesagt, als du im Frühjahr hier warst. Gott hat jetzt meinen liebsten Wunsch erfüllt; ich weiß, daß er dein Glück ausmacht. Der Herr wird Euch so glücklich machen, daß Euer Glück und Eure Liebe allen alten Groll auslöschen werden. Friede, Friede über uns … Allm… Gott … segne … meines … Sohnes … Kinder!«

Abermals schloß die Alte die Augen, abermals schlummerte sie ein. Die Nacht verging, und als der Tag graute, schlief Magdalene den langen Schlaf des Todes. Die beinahe achtzigjährige Frau war schmerzlos verschieden, nachdem ihr Stundenglas abgelaufen war. Sie wurde in das nämliche Grab gebettet, in welchem etliche zwanzig Jahre vorher ihre Schwiegertochter zur Ruhe bestattet worden. Folke, John Grattman und Tom nebst einigen alten Verwandten Richardsons begleiteten die Alte zu ihrer letzten Ruhestätte.


Spät am Samstag Abend kam Agnes, von Folke und Tom begleitet, zu Nygarda an.

Am Sonntagmorgen versammelten sich die drei Geschwister im Saale, und Tom, an Arthur sich wendend, sagte nach beendigtem Frühstück: »Ich bin hierhergekommen, mein Bruder, um dir und Agnes Magdalenens Geschichte zu erzählen und dir zugleich den Grund meiner Erbitterung gegen dich während meines letzten Hierseins mitzutheilen. Du kennst durch mich, Arthur, die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Richardsons und Grattmans, aber bei Agnes ist dies nicht der Fall, und ich erachte es für nothwendig, daß sie jetzt davon in Kenntniß gesetzt wird.«

Tom zog aus der Brusttasche einige vollbeschriebene Blätter hervor. »Bevor ich Euch Magdalenens Schilderung ihres vergangenen Lebens vorlese,« sagte er, »will ich zuerst erwähnen, aus welchem Anlasse sie mir ihre Aufzeichnungen übergeben hat. Als ich in meinen Jünglingsjahren die erste Reise ins Ausland machte, hielt ich mich mit meinem Hofmeister längere Zeit in London auf, um, unseres Vaters Wunsch entsprechend, das dortige Geschäftsleben kennen zu lernen. Dies that ich jedoch am wenigsten, sondern beschäftigte mich mehr mit dem, was die große Stadt an Vergnügungen, edleren sowohl als schlimmeren, zu bieten hatte. Alles war mir neu, und selbst das Laster hatte deshalb seine Anziehungskraft. Eines Abends, als ich einen sehr berüchtigten Ort besuchte, wurde ich von ein paar Spitzbuben überfallen. Ich rief laut um Hilfe, und es kamen zwei Personen zu meinem Beistand. Eine derselben war ein kräftiger Mann, die andere ein Jüngling. Sie befreiten mich von meinen Angreifern, indem sie dieselben in die Flucht jagten. Ich hatte mich übrigens so sehr in dem Straßenlabyrinth der großen Stadt verirrt, daß ich den Weg nach Haus nicht mehr fand. Ich bat den Mann, welcher mir zu Hilfe gekommen war, mich nach dem von mir bezeichneten Hotel zu begleiten. Unterwegs sagte ich ihm meinen Namen und bat ihn um den seinigen.

›Ich werde Ihnen denselben mittheilen, wenn wir uns trennen,‹ antwortete der Mann, welcher jetzt schwedisch sprach.

Als wir am Eingang des Hotels standen, wollte ich ihm die Hand geben, aber er zog die seinige zurück, indem er sagte: ›Mein Name ist Richardson, und ich gebe einem Grattman die Hand nicht. Wenn Sie heimkommen, so sagen Sie Ihrem Vater, daß Ihnen der Sohn Magdalenens das Leben gerettet hat und zwar zum Lohne dafür, daß Klas Henrik Grattman das Testament verbrannt hat, welches meiner Mutter, seiner Base, den dritten Theil des Grattmanschen Vermögens zusicherte; und nun leben Sie wohl.‹

Ich wollte ihn zurückhalten, aber er eilte mit dem Jüngling fort.

Der Name Richardson war mir wohl bekannt; aber war es denn möglich, daß seine Mutter die Base meines Vaters sein konnte? Was meinte er wohl mit dem verbrannten Testament und dem Drittheil des Vermögens? Indem ich hierüber nachgrübelte, trat ich in mein Zimmer; allein ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Die Worte des Mannes klangen unaufhörlich in meinen Ohren und raubten mir meinen inneren Frieden.

Während der übrigen Zeit unseres Aufenthalts in London that ich nichts anderes, als Nachforschungen nach diesem Richardson anstellen, aber meine Bemühungen blieben fruchtlos, denn der Mann war nicht aufzufinden.

Die abscheuliche Anschuldigung meines Vaters veranlaßte mich, da alle Nachforschungen vergeblich waren, früher als beabsichtigt gewesen, nach Schweden zurückzukehren.

Alles Andere war mir jetzt gleichgültig geworden: ich wollte nur noch klar darüber sein, auf was Richardson angespielt hatte.

Ich berichtete dessen sonderbare Beschuldigung meinem Vater ganz getreulich, welcher darüber erbleichte und Entsetzen verrieth, aber einen Augenblick nachher seine Fassung wieder erlangte. Er verbot mir dann ernstlich, den Namen dieses Menschen zu nennen und verweigerte jede Auskunft über die Anschuldigungen, welche ein wahnsinniger und rachesüchtiger Mensch gegen ihn schleudere. Dieser Richardson habe jederzeit durch lügenhaftes Geschwätz den Grattmanschen Namen zu verunglimpfen gesucht, und zwar nur aus dem Grunde, weil er nicht in meines Vaters Haus habe wohnen dürfen; so wenigstens behauptete unser Vater. Ich schenkte jedoch seinen Worten keinen Glauben und suchte die alte Magdalene auf. Ich forderte sie zuerst bei Allem, was heilig ist, auf, mir die Wahrheit zu sagen, aber sie verweigerte dies. Da drohte ich ihr, es öffentlich in allen Zeitungen der Welt zu verkündigen, daß ihr Sohn der niederträchtigste Verleumder sei; diese Drohung reizte die Alte; sie brachte nun diese Aufzeichnungen hervor und übergab mir dieselben mit den Worten:

›Ich habe meine Lebensschicksale niedergeschrieben, als mein Sohn fortzog und mich allein ließ. Ich habe seither versucht, zu vergessen und zu verzeihen, was Klas Henrik an mir verbrochen hat; aber jetzt, da sein Sohn kommt und das Wohl meines Kindes zu schädigen droht, so soll derselbe auch das Unrecht kennen lernen, welches ich erduldet habe. Gut wäre es gewesen, wenn Ove die Anschuldigung gegen Ihren Vater nicht ausgesprochen und die alte Wunde nicht wieder aufgerissen hätte. Lesen Sie also und urtheilen Sie dann, wer am schlechtesten gehandelt hat: der reiche Mann oder der arme Arbeiter.‹

Ich ging, um mich in mein Zimmer einzuschließen und diese Blätter zu lesen, welche die Schande unserer Familie verkündigten.

Nach dem Lesen kam mir der Entschluß, auf die See zu gehen. Ich wollte nichts von dem Vermögen haben, welches mein Großvater durch ein Verbrechen erworben und von welchem mein Vater einen großen Theil durch eine unrechtmäßige Handlung sich erhalten hatte, und dies sagte ich meinen Eltern geradezu in das Gesicht. »Dir Arthur, habe ich anvertraut, daß Richardsons mit uns verwandt sind und daß dieselben viel durch unsern Vater erdulden mußten; ich habe dich gebeten, wenn du mit denselben in Berührung kommest, gut zu machen, was sich gut machen lasse. Deshalb gerieth ich in Erbitterung, als ich erfuhr, daß auch du dieselben meiner Mahnung ungeachtet verfolgest.«

Tom schwieg und es entstand eine Pause. Endlich begann er, Magdalenens Aufzeichnungen vorzulesen, welche also lauteten:

»Ich bin auf einem Hof in der Nähe von Boras, Grytarch geheißen, aufgewachsen. Meine Mutter war eine gottesfürchtige und fleißige Frau, mein Vater ein mißvergnügter, fleißiger und geiziger Mann, welcher von frühester Jugend auf keine andere Beschäftigung hatte als Weberei.

Als er sich verheiratete, erwarb er Grytarch durch seine Frau; daselbst bin ich mit meinem Bruder Lars auferzogen worden. Lars kam frühzeitig fort und lebte von da an fern von zu Hause, ohne etwas von sich hören zu lassen.

Ich war noch nicht sehr alt, als meine Mutter starb. Mein Vater grämte sich so sehr über ihr Hinscheiden, daß er wahnsinnig wurde. Es wäre sehr schlimm gewesen, wenn nicht gute Menschen sich meiner angenommen hätten. Der Bürgermeister besonders war es, welcher für uns sorgte. Mein Vater kam ins Hospital, Grytarch verpachtete man, und ich wurde bei dem Bürgermeister erzogen. Ich lernte lesen, schreiben, rechnen und nähen. Im Alter von sechszehn Jahren kam ich als Kindsjungfer zu General G.s, welche Sommers auf einem Gut einige Meilen von Boras, des Winters aber in der Hauptstadt verweilten, woselbst sie in der Regierungsstraße im Hause des Großhändlers Grattman wohnten. Richardson war damals Kutscher bei dem Großhändler. Wir wurden bekannt, und mit einundzwanzig Jahren heiratete ich den Kutscher.

Der Großhändler, ein hochmüthiger und sonderbarer Herr, war trotzdem ein guter Hausherr. Richardson war bei ihm wohl angeschrieben, und deshalb gab er uns Geld, um Hochzeit zu halten. Nach einem Jahr gebar ich einen Sohn, welcher einige Wochen später starb. Zu gleicher Zeit bekam die Frau des Großhändlers ihr zweites Kind, Klas Henrik. Man wollte eine Amme haben, und ich wurde dazu ausersehen. Zum erstenmal stand ich dem stolzen Herrn von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er hatte vorher nie mit mir gesprochen. Damals war er ungefähr vierzig Jahre alt, von starkem, wenngleich nicht sehr hohem Körperbau und von schönem, aber ernstem Gesicht. Er sah mich lange an, wie wenn er sich meiner hätte erinnern wollen.

›Wie heißt du; woher bist du?‹ fragte er.

›Ich heiße Magdalene Olsdotter und stamme von einem Hof in der Nähe von Boras, welcher Grytarch heißt,‹ gab ich zur Antwort.

›Aus Westergötland also. Das kann man dir an deinem Gesicht ansehen. Wie alt bist du?‹

›Vierundzwanzig Jahre.‹

›Leben deine Eltern noch?‹

›Meine Mutter starb, wie es heißt, vor Schrecken darüber, daß man ihrem Manne sein Geld gestohlen hat, und mein Vater wurde aus Kummer wahnsinnig, so daß er jetzt schon viele Jahre im Hospital zu Boras sich befindet.‹

Der Großhändler stand auf und wärmte seine Hände am Feuer.

›Wer hat dich erzogen?‹ fragte er.

›Der Bürgermeister.‹

›Hast du keine Geschwister?‹

›Ich hatte einen Bruder; aber von diesem haben wir seit vielen, vielen Jahren nichts mehr gehört; er ist gewiß todt, da er auf die Aufforderungen in den Zeitungen nicht geantwortet hat.‹

Ich wurde hierauf als Amme des neugeborenen Sohnes angenommen. Mein Wochenlohn war sehr groß, und der Großhändler erhöhte den Monatslohn Richardsons derart, daß wir es sehr gut hatten. Im folgenden Frühjahr erhielten wir drei Zimmer im Hof, dieselben, welche ich seither bewohnt habe. Einige Jahre später kam Ove zur Welt, und da setzte mir der Großhändler zur Erziehung des Kindes einen kleinen jährlichen Beitrag aus. Die Jahre vergingen, der Vater starb, und wir ererbten Grytarch. Mit der Zeit kam ein Brief meines Bruders an, welcher im Ausland lebte; er verzichtete auf jede Erbschaft von Seiten seiner Eltern zu meinen Gunsten.

Als Ove zwanzig Jahre alt war, starb Richardson. Der Großhändler gab mir als Wittwe einen jährlichen Beitrag, und mein Sohn und ich konnten ruhig und sorgenfrei leben.

Klas Henrik heiratete eine reiche Kaufmannstochter, und der Großhändler beschenkte bei dieser Gelegenheit alle seine Diener mit Geld. Mir gab er hundert Reichsthaler. Die Neuvermählten bezogen die Wohnung, welche der General bewohnt hatte. Ein paar Jahre später wurde der Großhändler Wittwer, und noch einige Jahre nachher heiratete Ove eine arme Schmiedstochter. Der Großhändler gab dem Ove eine Summe Geldes, um Hochzeit zu halten, und Oves Hochzeit war deshalb auch sehr flott; sie wurde zu Hause bei Annas Eltern gefeiert, die Freude hatte einen hohen Grad erreicht, als der Großhändler nach mir schickte; er wollte mich sogleich sprechen. Er war längere Zeit krank gewesen, und sein Zustand hatte sich jetzt verschlimmert.

Ich eilte unverzüglich von der Hochzeit weg. Als ich zu dem Kranken hineinkam, waren beide Söhne bei ihm.

Der ältere, John, hatte nie mit seinem Vater harmonirt; die Ursache erfuhr ich noch in derselben Nacht. Der jüngere, Klas Henrik, besaß des Vaters Liebe und sein volles Vertrauen.

Als ich hereinkam, entfernten sich die Söhne sogleich.

Was er mir darauf sagte, war sehr interessant. Er gab sich mir als den vermißten Bruder zu erkennen. Nicht genug damit: er erzählte auch, daß er der Dieb gewesen sei, welcher unserem Vater sein erspartes Geld im Betrag von ungefähr zweitausend Reichsthalern gestohlen habe. Lars erzählte, daß, nachdem er den verborgenen Schatz genommen hatte und forteilen wollte, unsere Mutter vor ihm gestanden und ihm in den Weg getreten sei. Es habe sodann einen Auftritt zwischen ihnen gegeben. Sie habe zuerst befohlen, später gedroht und ihn zuletzt gebeten, er möge die niederträchtige Handlung, seinen eigenen Vater zu bestehlen, unterlassen; als aber Lars nicht zu bewegen gewesen sei, habe sie sich auf ihn geworfen und gerufen: ›Ehe mein Sohn als Dieb von hier weggeht, erwürge ich ihn lieber!‹

Bevor sie den Lars an der Kehle fassen konnte, hatte er sie mit Gewalt auf die Seite gestoßen. Sie fiel hin und er eilte davon, verfolgt von dem herzzerreißenden Geschrei, welches die unglückliche Mutter erhob.

Mit dem auf diese Weise erworbenen Geld legte Lars den Grund zu seinem Reichthum, aber er hatte denselben um den Preis seines inneren Friedens erkauft. Er hörte fortwährend den Schmerzensschrei, welchen unsere unglückliche Mutter ausgestoßen hatte, und das Andenken hieran raubte ihm seine Seelenruhe. Ein rächendes Geschick fügte es, daß sein erstgeborener Sohn der Großmutter glich, und deshalb war dem Lars der Anblick des Knaben stets zuwider, denn dadurch wurde die Erinnerung an das begangene Verbrechen wieder lebendig.

Da das Schicksal mich ihm in den Weg geführt hatte, so beschloß er, mir im Stillen das Gestohlene zu ersetzen, besonders da er durch mich erfuhr, daß das begangene Verbrechen nicht nur der Mutter das Leben, sondern auch dem Vater den Verstand gekostet habe. Am gleichen Tag, an welchem ich Klas Henriks Amme wurde, errichtete dessen Vater ein Testament, in welchem mir freie Wohnung im Hause in der Regierungsstraße und ein jährliches Einkommen von fünfhundert Reichsthalern auf Lebenszeit zugesichert wurde; aber während der ganzen Zeit seiner Krankheit quälten ihn fortwährend Gewissensbisse, und die Vorstellung, daß ihm unsere Mutter nicht verzeihen könne, wenn er mir nicht ein größeres Kapital aussetze. Wenn ein Mensch von Gewissenspein gequält wird, so kommt er auf allerlei sonderbare Gedanken, und mein Bruder bildete sich ein, daß er des Himmels Erbarmen mit seinem Gold erkaufen könne; er setzte deshalb ein neues Testament auf, demgemäß das Vermögen in drei gleichere Portionen zwischen seinen Kindern und mir zur Vertheilung kommen sollte.

So grausig mir seine Schuld schien, so konnte ich dennoch nicht umhin, den Versuch zu machen, ihn zu trösten und ihn mit der Hoffnung, daß Gott ihm verzeihen werde, zu beruhigen. Ich blieb auch bei ihm, bis es mit ihm zu Ende war.

Die letzten Worte, welche er bei Lebzeiten sprach, waren an Klas Henrik gerichtet und lauteten: »Sobald ich begraben bin, wirst du das, was ich dir anvertraut habe, deinem Bruder mittheilen, du kennst den Inhalt des späteren Testaments. Er wird dann auch mit demselben bekannt gemacht werden und erfahren, daß meine Schwester Magdalene gleichberechtigt mit euch ist.«

Mein Bruder starb zu derselben Zeit, als mein Sohn seine junge Braut in unsere Wohnung einführte, und dies war kein gutes Zeichen. Mein Herz war so betrübt, daß ich während der Veranstaltungen zu der Einkleidung der Leiche, welche mir übertragen waren, nicht an zeitliche Vortheile dachte. Am Tage vor dem Begräbniß mußte ich spät Abends in das Kabinett hinein, um etwas zu holen, was ich zur Ausstattung des Sarges nöthig hatte und fand da die Thüre zum Schlafzimmer des Verstorbenen halb offen. Immer brannte das Licht. Ich stieß die Thüre auf, um zu sehen, wer innen sein könnte. Klas Henrik und dessen Frau standen an dem Schreibtisch des Verstorbenen. Ich zog mich zurück, um so unbemerkt zu gehen, wie ich gekommen war; aber in demselben Augenblick sagte die junge Frau: »Kennt außer dir Niemand den Inhalt des Testaments?«

»Der Rechtsgelehrte, welcher es verfaßte.«

»Hast du die Absicht, das Schriftstück herauszugeben?« fragte Frau Florence.

»Ja gewiß,« war Klas Henriks Antwort.

»Aber ich glaube dies nicht!« rief die junge Frau aus. »Erstens beraubt es uns eines Drittheils unseres Vermögens; zweitens verkündigt es vor der Welt die niedrige Herkunft deines Vaters und seine schändliche Handlungsweise und adoptirt gleichsam deine Tante, welche die Wittwe des Kutschers deines Vaters ist. Ich, welche das Glück habe, von angesehenen und achtbaren Eltern abzustammen, wäre genöthigt, eine einfache Magd als Anverwandte meines Mannes anzuerkennen. Dies wird nie geschehen. Wenn mein Schwiegervater thöricht genug gewesen ist, ein so schändliches Papier zu hinterlassen, wie dasjenige, welches du in der Hand hast, so soll wenigstens Niemand dessen Inhalt erfahren.«

Ich stieß die Thüre auf und sah in diesem Augenblick, wie die junge Frau das Licht an das Schriftstück hielt, welches Klas Henrik in der Hand hatte. Es fing sofort Feuer; ich sprang hinzu, riß ihm das Papier aus der Hand und trat so lange auf dasselbe, bis das Feuer gelöscht war, allein die Hälfte war bereits verbrannt.

Klas Henrik verschloß die Thüre. Er wollte mich nicht aus dem Zimmer hinauslassen, bevor ich ihm nicht das verbrannte Schriftstück gegeben haben würde. Ich sagte ihm, daß er, wenn er nicht Gewalt brauche, niemals in den Besitz des Papiers kommen werde, und so mußte er mich endlich gehen lassen. Als ich in das Sterbezimmer zurückgekommen war, benachrichtigte mich ein Diener, daß meine Schwiegertochter mich zu sprechen wünsche. Ove war krank nach Hause gekommen.

Ich traf ihn in einem höchst bedenklichen Zustand, und die Furcht, mein einziges Kind zu verlieren, ließ das zuvor Geschehene in den Hintergrund treten. Ove schwebte lange zwischen Leben und Tod, aber das Leben behielt die Oberhand, und er genas, wenn auch langsam. Seine Brust war in Folge der schweren Entzündung sehr angegriffen. Im Frühjahr mußte er in ein Bad. Es war ihm streng verboten zu arbeiten.

Oves Krankheit war sehr kostspielig, und noch mehr kostete es, bis er seiner Arbeit wieder nachgehen konnte. Unsere Ersparnisse schmolzen zusammen. Eines Tages zog ich das halbverbrannte Testament hervor, um die unversehrte Hälfte desselben zu studieren. Ich war zwar in solchen Sachen unerfahren, soviel verstand ich, daß der Theil, welchen ich gerettet hatte, mir nichts nützen könne. Derselbe enthielt nur das Anerkenntniß meines Bruders, daß ich seine Schwester sei. Ich las das werthlose Schreiben abermals und stand auf, um zu Klas Henrik hinaufzugehen und mit ihm zu sprechen, als in demselben Augenblick ein Bote mit einem beschriebenen Papierfetzen kam, wodurch ich in Kenntniß gesetzt wurde, daß ich von John Auskunft über das Testament des Verstorbenen erhalten könne. Klas Henrik aber hatte mit seiner Familie eine Reise in das Ausland angetreten, ohne daß ich nur ein Wort davon erfuhr. Ich ging zu John. Er theilte mir mit, daß das Testament mir freie Wohnung bis zu meinem Ableben nebst einer Jahresrente von 500 Reichsthaler zuspreche. Ich hielt es nicht für geboten, ihm etwas darauf zu erwidern, sondern redete mir ein, daß es am besten sei, wenn ich mich zufrieden zeige, da es doch nicht mehr anders sein könne. Ich war immer der Meinung gewesen, als ob John geiziger und eigennütziger als Klas Henrik wäre. Es sollte mir übrigens nicht gelingen, mich zufrieden zu geben. Im Herzen empfand ich Erbitterung: ich wartete nur auf Klas Henriks Rückkehr, um meinem Zorn Luft zu machen. Ich ging denn auch am Tage seiner Wiederkunft zu ihm hinauf und sagte Alles heraus, was ich auf dem Herzen hatte. Meine Worte waren scharf, mein Zorn groß, und von diesem Tage an entstand zwischen ihm und seiner niedrig geborenen Tante ein großer, unversöhnlicher Haß. Ich wußte, daß er das halbverbrannte Schriftstück fürchte und gab ihm bei jeder Gelegenheit zu verstehen, daß ich diese Furcht zu benützen gedächte.

Unter Zwist und Feindseligkeiten fuhr ich fort, mit meinem verhaßten Neffen im gleichen Haus zu wohnen, welcher seinen Widerwillen nicht offen zur Schau zu tragen wagte, aber bei jeder Gelegenheit Ove und Folke denselben fühlen ließ. Eine ununterbrochene Reihe von Widerwärtigkeiten verfolgte uns von der Stunde an, zu der mein Bruder gestorben war. Ove war zwar wieder gesund geworden und konnte arbeiten, aber nunmehr war seine Frau fortwährend krank. Anna war ein sanftes und frommes Kind, welches von Ove, je hinfälliger sie wurde, desto mehr geliebt wurde. Unter allen Unglücksfällen, welche uns betrafen, war der Verlust meines kleinen väterlichen Erbtheils der größte. Das Geld war bei einem Handlungshaus in Boras angelegt, wo es viele Jahre lang stand. Der Mann starb; nach seinem Tode brach der Konkurs aus, und unser kleines Kapital ging verloren. Grattmans Verfolgungen nahmen einen immer ernsteren Charakter an, und dies machte einen solchen Eindruck auf Ove, daß er in große Erbitterung gerieth. Was hiezu am meisten beitrug, war der Umstand, daß Folke die Nase nicht zu unserer Thüre herausstrecken konnte, ohne von Seiten der Kinder oder der Dienerschaft Grattmans Mißhandlungen ausgesetzt zu sein. Als Folke acht Jahre alt war, erkrankte Ove abermals an einer schweren Brustkrankheit. Ein ganzes Jahr verging, ehe er wieder arbeiten konnte. Die Sorgen vermehrten sich. Er war verhindert gewesen, sein Meisterstück zu machen und mußte damit wieder anfangen, allein es ging langsam, denn die Arbeit ums Brod ging vor. Auch sah es betrübt in seiner Umgebung aus. Anna hatte wieder ein Kind unter dem Herzen und war zu jener Zeit äußerst schwach. Eines Tages kam Folke schreiend vom Hof und blutete aus einem großen Loch im Kopfe. Dasselbe rührte von Arthur Grattman her, welcher sich damit belustigt hatte, Steine nach ihm zu werfen. Anna wurde bei diesem Anblick so erschreckt, daß sie mehrere Wochen lang im Bett bleiben mußte. Wir fürchteten, daß sie dasselbe nicht mehr würde verlassen können, so schwach war sie. Einige Monate später gebar sie ein Kind, welches bald nach der Geburt starb. Die gewaltige Aufregung, in welche sie einige Tage darauf gekommen war, als Grattman drohte, meinen Sohn aus dem Hause zu jagen, machte ihrem Leben ein Ende.

Ich und mein Sohn wurden jetzt so aufgebracht gegen Grattman, daß ich glaubte, ihm nie verzeihen zu können. Weil mein Herz vom größten Zorn erfüllt war, setzte ich Ove von unserer Verwandtschaft mit Grattmans und von dem vernichteten Testament in Kenntniß.

Bald stellten sich andere Sorgen bei uns ein, welche mich etwas milder stimmten.

Von dem Augenblick an, in welchem Ove seine Anna verloren hatte, war er traurig und unentschlossen. Zwar war er Meister geworden, aber dies machte ihm kein Vergnügen, und nur die Nothwendigkeit, für den Unterhalt seines Kindes zu sorgen, trieb ihn zur Arbeit an. Er war abgestumpft, gleichgültig, und meinte, das Streben verlohne sich nicht der Mühe, denn es war klar, daß ein ungünstiges Geschick ihn und seinen Sohn verfolgte. Alle meine Ersparnisse waren aufgezehrt, und der Verdienst verminderte sich zusehends. Mein Jahreseinkommen reichte nicht für uns drei aus. So verging ein Jahr.

›Wenn er nur weit fortkommen könnte,‹ dachte ich, und dieser Gedanke verfolgte mich bei Tag und bei Nacht. Endlich las ich in den Zeitungen eine Anzeige, und war der Ansicht, daß Ove auf diese Anzeige hin sich anbieten sollte. Ich überredete ihn hiezu, sah aber wohl ein, daß er die Stelle nicht bekommen würde, wofern er ohne Fürsprecher wäre. Ich unterdrückte meine haßerfüllte Stimmung, nahm das verbrannte Testament hervor und begab mich zu John Grattman. Ich sagte demselben Alles, und er verschaffte meinem armen Ove den gesuchten Platz.«

Tom war mit dem Vorlesen der Aufzeichnungen Magdalenens zu Ende, und die drei Geschwister sprachen eine Weile nichts. Agnes holte endlich tief Athem und sagte mit einigermaßen schwankender Stimme: »Weiß Folke Alles, was in diesen Aufzeichnungen enthalten ist?«

»Es ist dies der Fall, denn Magdalene hat gesagt, er wisse Alles.«

»Dann ist er hochherziger, als ich es bei irgend einem Menschen für möglich gehalten hätte,« flüsterte Agnes, und einige Thränen rollten langsam über ihre Wangen, wobei sie hinzufügte: »Wir haben viel gut zu machen.«

»Ja viel,« wiederholte Arthur und stützte den Kopf mit den Händen.

»Friede sei der Asche der Alten,« bemerkte Tom; »sie starb mit dem innigen Wunsche, die beiden Familien möchten in Liebe und Freundschaft sich einigen, und wir werden sehen, daß dieser Wunsch in Erfüllung geht.«

»Warum war die Alte nicht bei ihrem Sohne, seit er hierher zurückgekehrt ist?« fragte Agnes nach einer langen Pause.

»Magdalene wollte dies nicht, weil ihr Sohn sich mit einer Ausländerin verheiratete,« gab Tom zur Antwort. »Zuerst war es übrigens Ove und dann Folke, welche sie unterhielten. Von dem Grattmanschen Jahresgehalt nahm sie nicht einen Pfennig, nachdem ihr Sohn fort war. Zuerst arbeitete sie, um ihren Unterhalt zu verdienen und wurde dann, sobald der Sohn in die Lage gekommen war, Geld zu schicken, von Letzterem unterhalten. Das Einzige, was sie vom Onkel annahm, war ihre alte Wohnung, nach welcher sie sich sehnte.«

Kaum hatte Tom diese Worte ausgesprochen, als Sara hereinkam und die Anfrage des Herrn mittheilte, ob nicht Herr Arthur Grattman mit ihm ausreiten wolle.

Arthur sagte sogleich zu, und eine Stunde später ritten die beiden Reiter von Nygarda weg.

Die jungen Männer hatten schon eine gute Strecke im Gespräch über die Interessen der Fabrik zurückgelegt, als Folke auf einmal sagte: »Sagen Sie mir, Arthur Grattman, sollen wir immer noch die Fremden spielen oder wollen wir uns nun die Hand als Freunde reichen; Sie kennen die Geschichte der Vergangenheit, denn ich weiß, daß Ihnen Tom dieselbe mitgetheilt hat, und ich bitte Sie, lassen Sie dieselbe jetzt mit meiner Großmutter begraben sein. Wir ehren ihr Andenken am besten, wenn wir einen Freundschaftsbund für das ganze Leben schließen.«

Folke nahm die Zügel in die linke Hand und reichte Arthur seine rechte dar.

»Kann Folke Richardson mir wirklich als Freund die Hand geben?« fragte Arthur erregt; »in diesem Falle drücke ich dieselbe mit Dankbarkeit.« Arthur hielt sein Pferd an und faßte Folkes Hand. »Du hast das Vergangene verziehen,« setzte er hinzu; »gebe Gott, daß ich alle die Schande vergessen könnte, welche mir und meinem Vater aus dieser Zeit anhaftet.«

»Lasse die Väter und das Vergangene ruhen,« unterbrach ihn Folke fröhlich und trieb sein Pferd mit der Reitpeitsche an, so daß dasselbe vorwärts eilte; Arthur folgte. Die Beiden schwiegen eine Weile.

Folke mäßigte sodann die Gangart der Pferde. »Arthur,« sagte er kurz und bündig: »ich liebe deine Schwester.«

»Ich weiß es.«

»Willst du sie mir zur Frau geben?«

»Die Tochter des Klas Henrik Grattman deine Frau! Hast du vergessen, wie deine Mutter starb?«

»Arthur!« rief Folke mit Herzlichkeit aus: »Vergangen ist vergangen, und meine sanfte, fromme Mutter wird von ihrem Himmel aus die Verbindung ihres Sohnes segnen.«

»Es mag sein, daß die Vergangenheit für dich und Agnes nicht vorhanden ist und daß die Liebe selbst die unangenehmsten Erinnerungen vergessen läßt; aber dennoch existirt in der Gegenwart etwas, das Euch auseinanderhält: ich meine … Margarethe.«

»Wie so?« Folke blickte Arthur ganz erstaunt an.

»Sie liebt dich; sie hat seit ihrem neunzehnten Jahre keinen Andern geliebt, und …«

»Halt!« unterbrach ihn Folke und hielt sein Pferd zurück. »Da führt der Weg nach Fjellboda,« setzte er bei. »Nun gut, reite dorthin und sage Margarethen, daß ich heute um die Hand deiner Schwester anhielt. Sie ist nicht darauf vorbereitet; denn obwohl ich ihr meine Liebe eingestanden habe, so habe ich doch gesagt, daß meine Schwäche mich nie so weit führen könne, dieselbe vor Agnes zu bekennen; ich habe es aber jetzt dennoch gethan, und ich bitte dich, es Margarethen zu sagen, daß ich deine Antwort mit Ungeduld darüber erwarte, ob du mir deine Schwester zur Frau gebest.«

Arthur hielt jetzt auch sein Pferd an.

»Soll ich Margarethen den Schmerz bereiten und ihr sagen, daß du eine Andere zu deiner Gattin auserkoren habest? Nein, dies wäre eine viel zu unedle Rache. Reite du nur selbst nach Fjellboda: ich thue es nicht.«

»Wenn auf diese Weise Margarethe etwas Unangenehmes erfahren würde,« fiel Folke ihm in die Rede, »so würde ich Niemand sonst den Auftrag geben, ihr diese Neuigkeit mitzutheilen; allein ich weiß, daß dem nicht so ist. Du magst mir glauben, daß Alles so ist, wie ich sage. Ich verlange dein Jawort zu meiner Verehelichung mit Agnes nicht eher, als bis du bei Margarethen gewesen bist.«

Folke spornte sein Pferd; fort ging es im Galopp, während Arthur ganz langsam den Hügel, über welchen der Weg nach Fjellboda führte, hinaufritt.


Margarethe war an diesem Tage nicht in die Kirche gegangen, sondern brachte den Vormittag mit Lesen im Pavillon zu. Sie war mit einem Buch zu Ende, welches sie lebhaft interessirt hatte; als Arthur hereinkam, war sie aufgestanden, um auf die Veranda hinauszugehen.

»Nun, dies ist eine angenehme Ueberraschung, dich zu sehen,« sagte Margarethe. »Du pflegst mich nicht sehr häufig zu besuchen,« setzte sie lächelnd hinzu.

»Das mußt du mir zu gut halten,« antwortete Arthur. »Komme ich oft, so …«

»Würdest du an den Tag legen, daß meine Gesellschaft dir angenehm ist, allein du willst nicht, daß ich dich wie einen vertrauten Freund ansehen soll.«

»Ich bin aber jetzt da, um dir den Beweis zu liefern, daß ich hierhergekommen bin, um mir bei dir Raths zu erholen.«

»Ich werde nach bestem Vermögen zu Diensten stehen,« versicherte Margarethe; »aber zuerst wollen wir uns setzen, denn es geht nicht an, stehenden Fußes Raths zu pflegen.«

»Ich bitte, daß wir einen kleinen Augenblick so bleiben.« Arthur faßte ihre Hand und sagte, indem er jedes Wort abwog: »Folke Richardson hat bei mir um Agnes angehalten; welche Antwort soll ich ihm geben?«

Arthur wurde von seinen Augen nicht getäuscht. Margarethens Wangen verloren ihre blühende Farbe, und ihre Hand zitterte in der seinigen. Sie empfand unwillkürlich heftigen Schmerz.

»Welche Antwort wirst du geben?« fragte Margarethe mit klarer Stimme. »Gibt es mehr als Eine Antwort?«

»Ganz gewiß: ich kann meine Einwilligung geben oder nicht geben.«

»Arthur Grattman kann nur zustimmen.«

»Margarethe, du bist mehr als heldenmüthig. Ich bitte, vergib mir, daß ich dir Kummer bereitet habe.«

»Kummer!« wiederholte Margarethe; »du täuschest dich.«

»Ich täusche mich nicht. In diesem Augenblick hat sich bestätigt, was ich schon seit Jahren wußte, nämlich daß du den Folke liebst; und er … er ist undankbar genug, sein Herz und sein Glück meiner Schwester anzuvertrauen.«

Arthur ließ ihre Hand los und wollte gehen.

»Bleibe,« bat Margarethe. Ihre Stimme klang heller und rascher als je. Arthur wandte sich rasch um. Margarethens Angesicht strahlte vor Freude.

Es sah nicht so aus, als ob sich je eine Spur von Schmerz darauf gezeigt hätte.

»Du bist seit Jahren überzeugt gewesen, daß ich Folke liebe?«

»Ja!«

»Du hast Recht gehabt …«

»Margarethe,« unterbrach Arthur, »wozu diese unnöthige Grausamkeit?«

»Du hast Recht gehabt,« fuhr Margarethe fort, »wenn du der Meinung gewesen bist, daß ich ihn wie einen Bruder, wie eine Person, der gegenüber wir Alle heilige Pflichten haben, liebte. Du und dein Vater haben viel an ihm verbrochen, und ich versuchte es, das begangene Unrecht gut zu machen. Liebe habe ich keine für Folke empfunden, Arthur. Zwar habe ich einmal gelobt, daß wenn es Folkes Glück erfordern würde, und ich seine Frau werden müßte, ich ihm auch dieses Opfer bringen wolle. Ja, ich bot ihm sogar meine Hand an, um mich hinsichtlich seiner Gefühle zu vergewissern; aber es war nicht Liebe, welche mir meine Handlungsweise vorzeichnete, sondern der herzliche Wunsch, deine Fehler gut zu machen. Sein Glück heißt Agnes. Er kann also das Geschehene sein lassen und durch seine Liebe das, was vorgekommen ist, der Vergessenheit auch eingeben. Ich danke Gott dafür, daß ich wieder frei bin.«

»Frei! bist du dies nicht stets gewesen?«

»Nein, ehe Folke seine Wahl getroffen hatte, war ich durch das Gelübde, welches ich mir selbst abgenommen habe, gebunden. Jetzt kann auch mein Herz seine Stimme erheben.«

»Und für wen würde es sich aussprechen?« Arthur umschloß ihre beiden Hände. »Um der Barmherzigkeit willen sage mir's, mir, der ich dich seit deinem sechszehnten Jahre so treu geliebt habe!«

Margarethe blickte ihren Vetter lächelnd an.

»Dann haben wir einander gleich lange geliebt,« sagte sie. »Ich habe nie einen Andern geliebt als dich.«

»Wiederhole diese Worte, und dennoch wird es mir schwer sein, dieselben zu verstehen,« stammelte Arthur. »Warum, warum hast du mich verschmäht?«

»Weil ich nicht an deine Liebe glaubte und nicht haben wollte, daß meine Liebe deinen eigennützigen Plänen dienen solle. Als ich endlich einsah, daß du mich liebest, zeigtest du durch deine Handlungen, daß du meiner Liebe nicht würdig seist. Ich war also bestrebt, das, was du gethan hast, gut zu machen. Die Liebe zu dir gab mir den Gedanken ein, es zu versuchen, demjenigen von Nutzen zu sein, welchem Unrecht geschehen ist.«

Margarethe reichte ihm die Hand. Wir wollen uns zurückziehen, weil die Beiden ohne Zweifel ungestört sein möchten.


Einige Tage darauf wurden zwei Verlobungen gefeiert.

Sechs Wochen später wurden Agnes und Folke getraut, worauf die junge Frau von ihrem Manne nach dem Pavillon geführt wurde, welchen das neuvermählte Paar zu bewohnen gedachte.

Arthur und Agnes waren nie in den Fall gekommen, ihre Wohnung zu verändern, aber Folkes Frau wurde die Gebieterin im Pavillon.

»Siehst du,« rief Agnes mit freudestrahlenden Augen aus, als sie im Arbeitskabinett bei einander standen, »dies ist nun doch deiner Frau geworden!«

»Um ganz aufrichtig zu sein, muß ich bemerken, daß ich dasselbe schon von Anfang an für sie bestimmt hatte,« gab Folke zur Antwort; »aber als ich nach meiner Rückkehr vom Ausland kalt von dir empfangen wurde, änderte ich meine Absicht und ich dachte: ›Sie wird nie einsehen, daß sie mich liebt; ich werde somit nie um ihre Hand anhalten, aber dennoch muß diese Wohnung die ihrige werden.‹«

»Das Schicksal hat es anders beschlossen und ließ deinen Beschluß nicht zur Ausführung kommen,« scherzte Agnes, »und deine Frau ist nun in den Besitz dessen gelangt, was nie, trotz deines ungemeinen Hochmuths, einer Andern gehören konnte.«

Agnes schlang die Arme um den Hals ihres Mannes.

Die Neuvermählten brachten eine solche Fülle von Liebe in ihre Wohnung mit, daß sie die Seligkeit an ihren Herd fesseln mußten. Ein glücklicheres Heimwesen als Folkes nunmehriges dürfte außer Fjellboda schwerlich zu finden sein.

Im Frühjahr nach Richardsons Vermählung feierte der Großhändler Grattman mit Pomp und Glanz die eheliche Verbindung seiner einzigen Tochter mit seinem Neffen. Die Hochzeit fand in Stockholm statt. Noch niemals hatte John Grattman soviel Geld für einige festliche Stunden ausgegeben, als bei dieser Gelegenheit, aber er war auch herzlich zufrieden darüber, daß er endlich den Myrthenkranz auf Margarethens Haupt sah. Er brauchte sich jetzt nicht mit der traurigen Gewißheit in das Grab zu legen, daß seine Tochter ledig sterben werde.

Arthur Grattman schlug mit seiner Frau den Wohnsitz in Fjellboda auf.

Richardson und Grattman sind noch immer Geschäftstheilhaber und außerdem die besten Freunde. Die Fabriken zu Nygarda und Qvarndammen sind in blühendem Zustand und versehen ganz Schweden mit Baumwollwaaren. Signe und Jane wohnen beisammen im Thurmbau zu Nygarda. Hundern hat seine Zimmer immer noch inne und auch seine Gewohnheiten beibehalten. Er ist ein von Allen geachteter und beliebter alter Mann.

 

Ende.

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