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2 Uhr nachts.
Gnädige Frau.
Der heutige Abend, an dem wir uns zu meiner Freude so unvermutet wieder begegnet, ruft mir jenen unvergessenen andern Abend zurück, an dem unsre Lebenswege vor nunmehr fast zwei Jahren aneinander gekommen sind. Kaum auf Augenblicke bin ich heute des seltsamen Gefühls frei geworden, es wäre durch irgendein Wunder der nämliche Abend.
Nach dem Diner haben wir beide zusammen geplaudert, ganz wie damals. Fremd waren Sie mir damals und doch so traut wie eine langjährige Freundin. Und heute waren Sie mir von neuem traut und doch auch fremd wie eine nie vorhergesehene Vision. Erst beim Scheiden unter dem leisen Druck Ihrer kleinen Hand habe ich den Mut gefunden, von neuem an unsre seltsame, erdenlose, köstliche Zusammengehörigkeit zu glauben.
Ich bin nicht mehr in allen Stücken der, den Sie einstmals gefunden und so bald wieder verloren haben. Während mich Einsamkeit, Unrast und Erlebnisdrang über den Erdball trieben, bin ich wiedergeboren worden. Nun stehe ich beinahe auf der Höhe meiner bizarren Entwicklung, bin reifer, älter, nachsichtiger geworden, dem Leben und den Dingen überlegener denn damals.
Alles das und ähnliches verleiht mir das Selbstbewußtsein, Sie zu bitten, mich zum zweiten Male gütig unter die Paladine des Rosenhofes aufzunehmen. Ohne jede Anmaßung, in reiner Natürlichkeit, möchte ich meinen, ich hätte mir in der langen Zwischenzeit das Recht erworben, zu Ihren erprobten Freunden zählen zu dürfen.
Rosenhof, Sonntag den 13. Oktober.
Mein lieber Freund!
Beim Anblicke Ihrer Handschrift habe ich gezittert. Lange, sehr lange hat Ihr Brief uneröffnet in meinen Händen gelegen, bis ich endlich den Mut fand, ihn zu lesen. Ich habe mich herzlich gefreut. Tun wir aber klug damit, frage ich mich zum hundertsten Male, einander von neuem etwas nicht Alltägliches bedeuten zu wollen?
Wie soll ich es Ihnen sagen? Ich möchte Ihnen nicht ein zweites Mal wehe tun. Verstehen Sie mich! Ich kann Ihre Bitte nicht eher beantworten, als bis ich genau weiß: Haben Sie das Einst ganz überwunden? Wollen Sie der leidenschaftslose Freund einer Frau werden, der das Land der Romantik für immer verschlossen ist? In den zwei Jahren, die zwischen dem Einst und dem Heute liegen, hat sich in dem problematischen Punkte meines Lebens nichts geändert.
Mit Freuden stelle ich Ihnen das Zeugnis der höchsten Ritterlichkeit aus. Auch glaube ich der Ehrlichkeit Ihrer neuen Freundschaftsworte. Wenn Sie mir also versichern können, daß unsre Freundschaft nicht abermals in Stürme gerät, und wenn Sie sich aus dem Besitze meiner Freundschaft ein Glück erhoffen, das Sie andernorts nicht zu finden glauben: dann will ich von Herzen gern dieses Glück mit Ihnen teilen.
14. Oktober 1911.
Meine gütige Freundin,
ich bitte Sie, seien Sie beruhigt: ich habe meine einstige Gefühlskrankheit überwunden. Was ich vor zwei Jahren gar nicht an mir für möglich gehalten hätte, das habe ich heute: seelisches Gleichgewicht. Zwar bin ich bei weitem noch nicht zufrieden mit mir, aber im großen und ganzen weiß ich doch endlich, was ich vom Leben will und wohin es mich leitet. Ich habe mir ein Ideal erdacht und vor mir im Geiste aufgestellt und versuche mich darnach zu vervollkommnen, in beschaulicher Beharrlichkeit und mit dem heiteren Sinne eines altrömischen Epikureers. Die verehre ich nur einmal! Von neuem liebe ich das bunte Dasein unsrer armen und so reichen Erde, aber immer mit dem Bestreben, Herr meinen selbst zu bleiben. Sogar eine, wenn auch recht bescheidene Beschäftigung habe ich gefunden, die ich neben den passiven literarischen und künstlerischen Liebhabereien, die ich mit immer mehr Liebe pflege, planmäßig ausübe: ich habe es übernommen, die Geschichte meines Regiments zu schreiben, die über zwei Jahrhunderte zurückgeht. Sie wissen vielleicht, daß die Geschichte der altsächsischen Armee im allgemeinen ein wenig erfreuliches Forschergebiet ist. Indessen hat sie gewisse lichte Perioden. Vor allem ist da die napoleonische Zeit. Von Friedland bis Borodino! Wenn Sie wüßten, mit welchem Enthusiasmus ich mich in diese vergangenen Tage des Ruhmes vertiefe. Ich bin in den großen Kaiser verliebt. Ich werde Ihnen noch oft Einzelheiten erzählen, die mich entzücken.
Das ist keine schöpferische Arbeit, keine himmelstürmende Tätigkeit. Von irgendwelchem äußerlichen Erfolge kann natürlich auch keine Rede sein. Aber das will ich ja gar nicht. Das brauche ich nicht. Glauben Sie mir, wenn ich so in den Archiven und Bibliotheken hinter Stößen von oft sehr langweiligen Büchern, Akten und Handschriften sitze und schreibe, inmitten von bebrillten Gelehrten,– dann fühle ich zu meiner eigenen Verwunderung oft etwas in mir, das wie Befriedigung schmeckt, ja wie stilles Glück.
Das ist also mein Zustand! Und nun haben Sie keine Furcht mehr vor dem Nachhall des Es war einmal! Wie weit, weit liegt das schon zurück!
Reichen Sie mir die Hand! Schließen wir eine aller Banalitäten der Herkömmlichkeit und der oberflächlichen Galanterie bare Freundschaft! Etwas Herrlicheres als das können seelenverwandte Herzen niemals und nirgends finden.
Ich werde morgen den (hoffentlich ebenso wie heute) wunderschönen, kristallklaren Herbsttag benutzen und nach Oberloschwitz hinauspilgern. Just zur Teestunde werde ich die Calberla-Straße hinaufwandern und an dem weißen Gartentor des geliebten Bozener Schlößleins klopfen. Werden Sie zu Hause sein?
Ich freue mich – wie ein kleiner Junge auf den Weihnachtsbaum – auf den lang entbehrten Blick von Ihrer rosenumglühten Terrasse und auf die geliebte Oktoberlandschaft da draußen. Der Herbst ist mir ein Symbol. Ich liebe die schweren golddurchtränkten Farben und die späten Früchte.
Den 14. nachts.
Lieber Freund!
Ach bitte, kommen Sie! Meine neugierige kleine Sophie hat während Ihrer langen Abwesenheit sehr häufig nach dem »guten Onkel Georg« gefragt. Heute hat sie Ihre Namensunterschrift erspäht. Das hat sie, zu meinem größten Erstaunen, über die Maßen aufgeregt. Kinder ihrer Art haben ein merkwürdig scharfes Gedächtnis.
»Mammi, wenn Onkel Georg von seiner großen weiten Reise zurück ist, warum bittest du ihn nicht, wieder alle Tage zu uns zu kommen? Er war doch der allerbeste von allen unsern vielen Freunden!«
Kann ich mich zwei bittenden Menschenkindern verschließen? Kommen Sie! Sie sollen uns herzlichst willkommen sein!
16. Oktober.
Ich danke Ihnen aus vollem Herzen für den gestrigen traulichen Abend. Ich bin glücklich, Ihre Freundschaft wiedergewonnen zu haben. Ich hege für Rußland keine tiefere Vorliebe als für jedes andre Land der Welt, aber ich will den Geburtstag des moskowitischen Kronprinzen, den wir kürzlich durch das Festmahl in der Russischen Gesandtschaft gefeiert haben, nie wieder vergessen, denn ohne dieses zweifellos gottbegnadete Menschenkind hätten wir uns wahrscheinlich nicht wiedergefunden.
Es muß mich etwas wie eine Vorahnung durchdrungen haben, sonst hätte ich mich kaum bewegen lassen, die Einladung anzunehmen. Die Bekanntschaft des Gesandten habe ich bei meinem Aufenthalt in Sankt Petersburg gemacht. Daraufhin hatte ich meine Karte hier bei ihm abgegeben. Obgleich ich sehr wohl weiß, daß Ihr Gatte an der Deutschen Botschaft in Petersburg ist, habe ich doch nicht im geringsten daran gedacht, daß Sie durch dieses lockere Band ein wenig zur hiesigen russischen Kolonie gehören. Obendrein vermutete ich Sie auf Ihrem Gute.
In der köstlichen Stimmung, in die mich die Wiedergeburt unsrer alten Freundschaft versetzt hat, habe ich etwas vergessen. Ihnen zu erzählen, was ich Ihnen als aufrichtiger Freund nun beichten muß.
Ich war kaum acht Tage in Zürich, oder war es in Luzern, – vor zwei Jahren, wie Sie wissen – als ein Brief von Ihrer Nichte Susanne eintraf. Sie erkundigte sich in harmloser Weise über den Zweck meiner (wie sie von Ihnen gehört habe) sehr großen Reise. Unter anderem bedauerte sie, aus Ihnen nicht herausbringen zu können, aus welchem dunklen Grunde ich Dresden so plötzlich und auf so auffällig lange Zeit verlassen hätte. Um sie zu beschwichtigen, schrieb ich ihr, daß Sie über eine besondere Veranlassung der Reise wirklich nichts wüßten. Ich hätte die Lust zu einer Weltreise schon seit Jahren in mir gespürt. Irgendwelche geheimnisvolle Beweggründe seien hierbei durchaus nicht im Spiele. Weitere Briefe von ihr kamen, ohne rechten Inhalt, kaum mehr denn Aufzählungen belangloser gesellschaftlicher Ereignisse. Hin und wieder ward Ihrer Erwähnung getan. Und das war der verlockende Grund,–warum soll ich Ihnen das nicht gestehen? – weshalb ich diese Briefe doch immer wieder gelegentlich erwiderte. Das geringste von Ihnen zu hören, schenkte mir jedesmal einen glücklichen Tag. So ist es gekommen, daß ich Ihrer Nichte auch nach meiner Rückkehr eine gewisse Freundschaftlichkeit bezeugen mußte. Sie schreibt mir auch jetzt noch manchmal, und wenn wir uns auf der Straße zufällig hin und wieder treffen, halte ich mich für verpflichtet, den Begleiter zu machen. Mit einem Worte, meine verehrteste Freundin, ich bin in eine mir recht peinliche Lage gekommen. Verstehen Sie mich? Helfen Sie mir in Ihrer rücksichtsvollen Weise, mir und Fräulein Susanne!
Oft, wenn ich abends oder in der Dämmerstunde über mich und Sie nachdenke, überkommt mich eine fast bittere Reue. Damals, ehe wir voneinander gingen, da ich Sie leidenschaftlich bestürmte, da habe ich Sie unzart behandelt. In aller meiner Liebe war ich Ihrer nicht würdig. Ich hätte mehr Herr meiner selbst bleiben müssen. Dann wären wir schon längst das, was wir uns nun heute sind. Manche trübselige Stunde wäre mir erspart geblieben.
Frauen Ihrer Art sind ebenso verführerisch wie unantastbar. Ich hätte Sie nie verkennen dürfen. Man muß Sie anders lieben denn die andern. Offen gestanden, wir Männer sind vor nichts in der Welt unsern Idealen ferner als vor den Frauen. Verdorben, desillusioniert, übersättigt, ungläubig, haben wir nur selten den Mut oder die Kraft zu einer höheren Liebe. Es ist zumeist amourgoût (um Beyles berühmtes Wort anzuwenden), was wir hegen – und erwarten.
Und wenn auch, was ich glaube, damals mehr als bloß das in mir war, sondern leidenschaftliches Begehren, so sehe ich doch jetzt im Rückblicke klar, daß uns selbst in der innigsten Einigung eine grundlose Tiefe getrennt hätte. Sie stehen in der vollen Kraft Ihrer Seele und Ihrer Sinne. Sie hätten die gleiche Vollkraft von Ihrem Geliebten gefordert. Und ich hätte sie nicht mehr besessen. Wir hätten beide darunter gelitten. Sie wie ich.
Darum bin ich so glücklich und zufrieden, daß sich alles so wundersam gefügt hat.
Rosenhof, den 17. Oktober.
Mein lieber alter Freund!
Ihr Brief hat mich unsagbar erfreut! Die leise Kälte, die ich in den ersten Tagen unseres Wiederfindens in Ihrer Gegenwart bisweilen zu empfinden vermeinte, ist nunmehr dem warmen Gefühle des gegenseitigen Verstehens und Vertrauens gewichen. So fest und klar und bestimmt dieses neue Gefühl ist, es fließt doch etwas Zitterndes, Seltsames, Unbestimmbares, Namenloses in seinem Strom. Das erfüllt mich von Tag zu Tag mehr. In dem vergangenen und (wollen wir?) vergessenen ersten Laufe unsrer Freundschaft habe ich diese zarten und zärtlichen Regungen kaum verspürt. Oder weiß ich es nicht mehr? Sollte ich hier herzlos und undankbar sein?
Den Vorwitz meiner Nichte haben Sie korrekt wie immer behandelt. Im ersten Augenblicke meiner Kenntnis von diesem heimlichen Briefwechsel war ich sehr betroffen. Geben Sie mir die Dokumente! Ich will sie ungelesen vernichten. Sodann werde ich, sobald sich Gelegenheit bietet, mit Susi reden. Ein weiterer Briefwechsel zwischen Ihr und Ihnen hat für keinen Teil viel Sinn. Auch lese ich aus Ihren Zeilen heraus, daß Sie wenig Lust haben, der Beichtvater meiner Nichte zu bleiben. Ich werde es ihr zu verstehen geben. Seien Sie unbesorgt. Sie sollen zufrieden mit mir sein! Ein belangloser Flirt. Weiter war es doch nichts. Ich begreife sehr wohl, daß Ihnen Susannens Briefe in der Ferne erwünscht waren. Warum soll ich dies nicht bekennen? Ach, auch ich hatte in den letzten zwei Jahren gern hin und wieder Bestimmtes von Ihnen erfahren! Oft, ach sehr oft habe ich Ihrer gedacht, mir ausgedacht, wo Sie wohl weilten, an welchen schönen Orten der fernsten Erde, und in welcher Gemütsverfassung.
Susanne ist ein unbesorgtes, vorläufig beinahe oberflächliches Geschöpf. Gesellschaft und Geselligkeit gehen ihr über alles. Schöne Kleider und immer etwas vorhaben, ein paar harmlose Hofmacher, ein bißchen Sport, der nicht zu sehr anstrengen darf, – das füllt so ungefähr ihr Dasein aus. Von ernster Beschäftigung ist bei ihr keine Rede. Sie ist einundzwanzig Jahre alt. Vielleicht ändert sich das einmal mit einem Schlage, wenn der in ihr Leben tritt, dem sie ihr Herz schenken wird. Mit der nötigen Energie ist sie gewiß zu Besserem zu leiten. Meiner Schwägerin ist sie allerdings vollkommen über den Kopf gewachsen. Eleonore ist ein gutmütiges Wesen, das niemandem etwas Schlechtes zutraut.
Menschenkenntnis besitzt sie wenig. Und so ist sie sich über den noch haltlosen Charakter ihres eigenen Kindes völlig unklar. Susanne bedarf eines starken Einflusses. Ihr Vater, der Major, kümmert sich um nichts als um seinen Dienst. Höchstens um die Gäste, die er fast alle Tage in seinem Hause sieht. Durch und durch Gentleman, überläßt er seiner Tochter ohne das geringste Bedenken die Aufsicht über sich selbst, als sei sie zur freien Selbständigkeit geschaffen. Es gibt ja heute in der jüngsten weiblichen Generation zahllose junge Mädchen, die genau wissen, wie man mit der Welt fertig wird. Aber das ist doch immer die Frucht einer sehr gewissenhaften weitblickenden Erziehung, wie sie Susanne nicht zuteil geworden ist. Sie ist zum Nichtstun und zum oberflächlichen Genießen geboren.
Um wieder auf uns beide zurückzukommen: ich muß Ihnen gestehen, daß ich sehr häufig über das merkwürdige Gefühl nachdenke, das uns eint. Ich möchte, ein feiner Kenner der Gesellschaftsmenschen, etwa Graf Eduard Keyserling, behandelte einmal dieses Problem. Da er mit Vorliebe ihre eigenen Wege gehende Naturen in die Mitte seiner Schöpfungen zu stellen liebt, würde er es vielleicht nicht skeptisch ablehnen, einen derartigen Herzensbund zu schildern. Es fragt sich nur, ob dieser Roman viel Leser finden würde, das heißt allgemeines Verständnis. Man ist zu sehr gewohnt, Kabalen und Kontraste und spannende Dinge eines äußerlich bewegten Lebens vorgesetzt zu bekommen, als daß man Sinn hätte für ein Buch voll so zarter, feiner Erlebnisse.
Und doch sind Gegensätze da. Mann und Frau sind immer welche, mehr oder minder. Und sei es nur in den Schwingungen ihrer Seelen und Sinne. Grobe Effekte fehlen allerdings. Im Mittelpunkte eines der üblichen Moderomane stehen wir beide nicht. Sie sind kein Held dieses Stils. Und ich, ich bin eine schlichte Frau, die ihre Pflicht erfüllt; und schließlich, der Ehemann fern in der Zarenstadt ist kein moderner Othello.
Scherz beiseite, wir leben aber doch in einem eigentümlichen Roman, in einem dessen köstliche innere Handlung in ganz leisen Wellenlinien hinläuft.
17. Oktober.
Alles Leben hat Wandlungen. Auch unsre Freundschaft hat ihre Entwicklung, und da sie in zwei Herzen lebt und webt, zwei dicht nebeneinander hinlaufende Gänge. Unsre Briefe begleiten unser Leben, und so haben auch sie ihre innere Wandlung. Mit einem Worte, Sie haben recht: wir stehen im Mittelpunkte eines Seelenromans. Und sein Ende fällt dermaleinst zusammen mit meinem letzten Stündlein.
Der Entwicklungsweg, den die von mir geschriebenen Briefe verraten, hat bereits beträchtliche Zick-Zacks hinter sich. Sie entführen mich dem Tale, und schon bin ich ein gutes Stück zur sonnigen Höhe hinaufgeschritten. Ich halte Umschau und freue mich des überwundenen Stück Wegs. Nebel flutet in der Tiefe.
Was für ein zielloses, verfahrenes Menschenkind war ich, als ich Ihr Freund ward! Scherzend sagen Sie, mir fehle das Zeug zu einem Romanhelden. Ach, ich bin auch kein Held des wirklichen Lebens. Wenn ich auch nicht mehr bloß Hans der Träumer bin: im höheren Sinne ist doch Tatenarmut und Unbedeutendheit mein Geschick. Die rauhe Not hätte mich rechtzeitig einmal in meinem Leben am Schopfe packen müssen. Wie bewundere ich die, denen ohne heißes Ringen nichts gewährt wird, die immer von neuem um Sein oder Nichtsein kämpfen müssen!
Als ich voriges Jahr in Neuyork war, begegnete mir eines Tages in der Straßenbahn ein Herr, dessen Gesicht mir außerordentlich bekannt vorkam, ohne daß ich mich zunächst entsinnen konnte, wer er wohl sein mochte. Ich sprach ihn an. Es war ein früherer Infanterieoffizier, mit dem ich zusammen auf der Kriegsschule in Engers gewesen war. Schuldenhalber war er unrühmlich von dannen gegangen. Drüben hatte ihm das Glück geblüht. Er gehört zu den Wenigen, die jenseits des großen Wassers nennenswert hochgekommen sind. Er war reich geworden, sehr reich, buchstäblich durch eigne Kraft, und obendrein auf anständige Weise, wenigstens nach amerikanischem Begriffe. Ich habe mich hinterher eingehend nach ihm erkundigt. Als ich ihn kurz darauf ein zweites Mal sah, habe ich mit ihm einen langen Abend verbracht. Bei uns sieht so einen Entgleisten und kurzerhand auf immerdar Verfemten niemand gern an. Aber ich habe ihm beim Scheiden herzlich die Hand gedrückt und würde es vor Tod und Teufel wieder tun, und wenn ich ihm morgen hier in der Schloßstraße oder in der Oper begegnete. Manneskraft beweisen, das tilgt alle Jugendsünden.
Es steckte merkwürdigerweise noch viel vom alten Standesgeist in ihm. Ich mußte zunächst eine große Scheu in ihm überwinden, die mit rührender Bescheidenheit verbunden war. Aber glauben Sie, ganz im stillen fühlte ich mich beinahe moralisch niedriger als er. Wessen konnte ich mich wohl mehr rühmen, als daß ich in der Zeit des Lebensdurstes, die wir alle einmal durchmachen, ein paar tausend Taler mehr zur Verfügung gehabt hatte als er?
Eines möchte ich wissen: ob ich arm wie dieser, unter seinen Lebensumständen, die Kraft gehabt hätte wie er, mir auf den Trümmern der ersten eine zweite Existenz zu errichten? Ein Spruch, der mir aus Dahns »Kampf um Rom« in der Erinnerung verblieben ist (selige Jugendschwärmerei!) fällt mir ein: Wenns etwas gibt, gewalt'ger als das Schicksal, so ist's der Mut, der's unerschüttert trägt! – Ob ich den je hätte, das ist es, was ich wissen möchte.
Ich komme heut abend nach dem Rosenhof, Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich bin doch recht unterrichtet? Übermorgen, am Sonnabend, gehen Sie nach Steinbach?
Ich bringe Fräulein Susannens Briefe mit. Wir wollen sie verbrennen. Diese Zeilen soll Ihnen Nikolaus überbringen, für den Fall, daß es Ihnen heute abend nicht passen sollte. Die Götter mögen es verhüten!
Rosenhof, 2 Uhr mittags.
Ich bitte: nicht erst abends. Machen Sie sich auf den Weg, sobald Sie diese Karte haben! Ich war gerade im Begriff, Ihnen zu depeschieren. Einen Fernsprecher haben Sie altmodischer Mensch ja nicht in Ihrer Wohnung. Nehmen Sie sich ein Auto, damit Sie recht bald da sein können!
Ihre Agathe
29. Oktober.
Ich habe eine leichte Unruhe verspürt, als ich soeben auf den Umschlag, in den dieser Brief kommen soll, schrieb: Rittergut Steinbach. Gewisse Stunden wurden wieder lebendig, in denen ich Briefe voll banger Worte ebendahin sandte. Doch, das ist ja schon so lange vorüber. Unendlich dankbar gedenke ich der Güte, die mir diese liebe Freundschaft von neuem geschenkt hat. Ich muß Ihnen das noch tausendmal sagen.
Der gestrige Abend war wunderschön. Das Gespräch nach Tisch, unter uns sieben Menschen, war kaum mehr als eine Art Gedankenballspiel: kleine Wahrheiten, in heitere Worte gekleidete Erfahrungen, gemütvolle Bekenntnisse, und alles das auf federleichten Flügeln. Gewiß. Und doch wollen mir bestimmte Worte noch immer nicht aus dem Sinn. Man sprach von der Liebe, und irgendwer hatte gefragt: Nehmen wir die Liebe ferner Menschen wahr? Wann hört die wahre Liebe überhaupt auf? – Sie waren es, die antwortete: Niemals! Es gibt Menschen, deren Liebe ich noch empfinde, obwohl sie längst gestorben sind.
Die ganze Nacht habe ich über Ihre Worte nachgegrübelt. Ich weiß, ich werde Sie nicht überleben. Aber wenn es sein sollte, mein letzter Gedanke wäre ein Gedanke an Ihr mir nie verlierbares Wesen.
Glückliche Reise! Steinbach muß in diesen prächtigen Spätherbsttagen ein Paradies sein. Gedenken Sie meiner, wenn Ihr zärtlicher Blick von der Terrasse des Herrenhauses über den weiten Rasen wandert und den Durchhau des rauschenden Parkes entlang hinaus in die gelbe Ebene!
Ich küsse Ihnen die Hände.
Steinbach, den 2. November.
Mein lieber Freund!
Sie haben wohl recht. Es gibt nichts Schöneres in der Landschaft als einen sonnigen Herbst. Der diesjährige erfreut sich der wundervollsten Sonnenkraft. Noch Blätter an den Bäumen, noch Blumen im Garten, noch Duft über den Wiesen. Alles das ist schön. Aber herbstlicher Wind fegt doch schon recht derb um die Hausecken und fährt mit bösen Händen durch das braune Laub. Und abends ist dieser laute Zerstörer der Genosse, mit dem man am Kaminfeuer die langen Stunden verbringt. Sein Stöhnen und Heulen weckt tausend schlummernde Erinnerungen, und seine eintönige Beharrlichkeit stimmt einen recht traurig.
Heute ist Allerseelentag. Vielleicht ist es das, was mich so überaus schwermütig und trübselig macht. Ich gedenke meines Vaters. Ihm zum Gedächtnis habe ich heute vormittag einen großen Kranz von blaßroten Strohblumen in unsrer kleinen Kapelle aufgehängt. Ganz hinten im Parke, unter Buchen und Birken, ruht die Asche des Dahingegangenen, in einer mächtigen Urne von antiker Form aus weißem Marmor mit ein paar breiten grünen Adern. Um den niedrigen Unterbau grünt wohlgepflegtes Moos, und am leuchtenden Stein rankt sich ein Zweig von weißen Prärierosen empor. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Rosenzüchter, und in seinem letzten Jahre liebte er diese amerikanischen Wildlinge. Sie müssen sie einmal blühen sehen. Andre Blumen wünschte er nicht an seiner Grabstätte.
Als ich dann von dem Gange dahin ins Haus zurückkehrte, nahm ich im Arbeitszimmer des Verstorbenen von ungefähr eins seiner Bücher in die Hände: das Rubensbuch von Jakob Burckhardt. Ich schlug es auf, und mein Blick fiel auf die Rückseite des Einbanddeckels: auf das Exlibris meines Vaters: ein Schiff auf stürmischen Wogen, hoch über schwarzen Wolken ein blinkender Stern; darunter der Spruch: Saevis tranquillus in undis mit der von ihm eigenhändig daruntergeschriebenen Jahreszahl 1870. Diese Schriftzüge haben mir das Herz bedrückt. Ich weiß nicht warum. Ich hege gar keine Furcht vor dem Tode, aber die Erinnerung an den Tod geliebter Menschen rührt mich zu tiefer Melancholie. Ich selber denke mir den Tod als einen lichtumflossenen schönen Jüngling.
Ich möchte Ihnen freudige Dinge schreiben, denn ich weiß, Sie werden leiden, wenn ich leide. Aber ich kann meine Traurigkeit nicht bannen. Ich habe Ihnen graue Herbststimmung gesandt ohne die von Ihnen so geliebte goldene Sonne. Lassen Sie sich aber von meiner Schwermut nicht anstecken!
Steinbach, den 15. November.
Lieber Freund!
Sie haben meinen letzten Brief ohne Antwort gelassen. Das hat mich betrübt und bekümmert, obgleich ich Ihnen ob Ihrer Saumseligkeit eigentlich keine Vorwürfe machen darf. Nur bitte ich Sie: vergessen Sie mich nicht zu sehr!
Ich war in großer Sorge um Sophie. Sie hatte eine nicht leichte Lungenentzündung, und noch bin ich nicht ganz frei von den Ängsten, die mir in den letzten Tagen das Gehirn zermartert haben. Ich hatte darauf gerechnet, gegen Ende des Monats nach Dresden zurückzukehren. Das ist nunmehr unmöglich. Wir müssen bis zur völligen Genesung meines Töchterchens hier bleiben. Wer weiß, wann alle Gefahr beseitigt sein wird! Meine Mutter wollte mit auf das Gut kommen, aber sie fühlt sich selbst nicht recht gesund, und so ist es besser, sie sorgt nur um sich.
Sie sehen, ich bedarf Ihrer Freundschaft. Machen Sie mir ein bißchen Mut und leichteren Sinn! Das völlige Alleinsein ist nicht gut für mich. Ich weiß, Sie sind ein Enthusiast der Einsamkeit. Indessen es gehört dazu manchmal doch eine ganz außerordentliche Kraft. Ich sage mir jetzt gerade recht oft, daß ich im Grunde einsam durchs Leben wandre. Schreiben Sie mir wieder! Jede Zeile von Ihnen wird mir ein Sonnenblick sein.
Ich habe in der Dämmerstunde in den Briefen Richard Wagners an Mathilde Wesendonk gelesen. Einmal schreibt sie ihm: »Träume sind treu. Je mehr sich uns die Wirklichkeit entzieht, umso wacher wird der Traum ...«
Ich träume von Ihnen.
Dresden, 16. November.
Meine liebste Freundin,
erst gestern habe ich von Ihrer Frau Schwägerin und abends, als ich heimkam, durch Ihren Brief erfahren, daß Ihr Töchterchen krank war. Ich glaube an einen weiteren günstigen Verlauf der Genesung und hoffe, Sie und Sophie immerhin bald hier wiederzusehen. Da die schönen warmen Tage noch anhalten, wird der Aufenthalt auf dem Lande wenigstens nicht zu einem Gefängnis im Zimmer. Daß sie sich einsam fühlen, tut mir so leid. Am liebsten setzte ich mich schleunigst in den Zug und führe nach Steinbach. Was hätten Sie gesagt, wenn ich heute gegen Abend ganz unvermutet dort aufgetaucht wäre? Ich habe hin- und hergeschwankt, aber schließlich hat mich das Allerbanalste von dem abgehalten, was ich für meine Pflicht erachten müßte: die liebe Medisance! Die redselige Welt wäre sicherlich entrüstet.
Ich selber habe mich mein Lebtag wenig um das gekümmert, was man Klatsch und allgemeine Meinung nennt. Ich weiß, das Gewissen der Gesellschaft schlägt nur für andre. Die, welche gegen die Mitwelt am scharfsichtigsten sind, leiden an Blindheit sich selbst gegenüber. Kurzum, was man Moral nennt, ist lächerlich und fragwürdig. Aber ich möchte Sie doch nicht in das dumme Geschwätz der Leute bringen. So schwer es mir fällt, bleibe ich Ihnen fern.
Darf ich Ihnen etwas zu lesen senden? Vielleicht helfen Bücher, Ihre trübe Stimmung zu wandeln. Etwas Modernes? Etwas vom guten Alten? Etwas Frohes? Auf gut Glück schicke ich Ihnen »Sebald Soekers Pilgerfahrt« von G. Ouckama Knoop – ein Buch, das noch viel zu wenig bekannt. Dazu die heute vergessene »Faustine« der Gräfin Hahn, der »sublimen Egotistin«, wie sie sich selbst einmal nennt, und zuguterletzt den unsterblichen »Tartarin aus Tarascon«. Den lese ich gern immer wieder. Gütiger kann man den Spießbürger nicht verspotten, als es Alphonse Daudet getan!
Steinbach, den 18. November.
Trüb gestimmt? Nein, das bin ich nicht, nur ein wenig abgemattet und angegriffen. Wenn Sie da wären, setzte ich Ihnen die Gründe meiner Müdigkeit auseinander. Sie beruhen in Kleinigkeiten, die ich wohl erkenne und doch nicht überwinden kann. Waren Sie noch nie erstaunt, wenn Sie einmal eine Hand etwas länger als nötig in der Ihrigen behalten hatten, ohne daß Ihr Herz bewußt dabei beteiligt war? Dergleichen ist unwillkürlich. Es ist eine impulsive Bewegung, eine ideale Berührung, flüchtig und stumm, die dennoch beunruhigt und ebenso aufregt wie Liebesworte. Mein Zustand ist ähnlich. Etwas Unsagbares scheint mich zu umschweben und auf irgend etwas hinzugeleiten; ich weiß nicht auf was.
Ich werde zur Schäferin. Der Herbst, die frische reine Feldluft, die unendliche Einsamkeit verführen mich, fast den ganzen Tag ln der Heide zu bleiben.
Ja, ein Besuch von Ihnen wäre reizend, doch habe ich nicht das Recht, Ihren Mut beim Worte zu nehmen. Ich denke nur, wenn Sie sich nach tüchtigem Wind, nach bereiften Rasenplätzen, nach rotschimmernden Blättern, nach glitzerndem Moos sehnen, so müßte Sie die Reise hierher und ein Aufenthalt hier entzücken.
Wenn Ihnen Spaziergänge im Unwetter, die Einkehr in ein stilles Haus, verträumtes Hin- und Herwandern vor dem großen Kaminfeuer in langer elegischer Dämmerstunde ohn andres Licht als sein Flackern nicht unlieb sind, dann kommen Sie! Wie zittern die sonderbaren Schatten der Möbel beim tanzenden Feuer! Geheimnisvoll huschen sie auf den Teppichen hin, länger und länger werdend, bis draußen das Blutrot der sinkenden Sonne, eine riesige Feuersbrunst, erstorben ist.
Vielleicht verführt Sie alles das stärker, als ich denke. Aber wohin versteige ich mich? Ich vergesse ja Ihre ehrsame Furcht vor der Klatscherei.
Nachschrift: Mit der »Faustine« haben Sie mir große Freude gebracht! Ich ahnte nicht, daß es um 1840 in Deutschland eine so geniale Frau gegeben hat. Ihre Lebensgeschichte hat mich ergriffen. Und dieser Bystram, ihr Freund! Er gleicht Ihnen und er gleicht Ihnen nicht! Aber die beiden zusammen hatten mehr Mut vor der Welt als wir.
21. November.
Spott! Ironie! Wozu verderben Sie zuletzt die Stimmung Ihres lieben Briefes? Sie wissen doch recht gut, wem zuliebe ich keine Klatscherei aufkommen lassen will. Ich glaube übrigens, der Adolf Bystram war in diesem Punkte nicht minder bedacht denn ich.
Ich habe die Sache etwas anders eingerichtet. Ich komme morgen am Sonntag zusammen mit Professor Schöning und Frau Eveline. Freuen Sie sich darüber? Empfangen Sie uns mit dem sonnigsten Lächeln, über das Ihre geliebten hellen Augen gebieten!
23. November.
Liebe Freundin,
das war ein seligmachender Sonntag! Von dem Augenblick an, da wir vor Ihrem Hause ankamen, lachend und froh, bis zu unsrer Wiederabfahrt im Mondenlichte: eine Perlenkette feingefügter Augenblicke.
Ich sitze im Halbdunkel vor meinem Schreibtische, auf dem die mir geschenkten gelben und lila Astern und Georginen aus Ihrem Garten stehen, und zaubere mir den Tag von früh bis abends wieder zurück. Ich liebe die altmodischen Blumen. Vor ihnen sinne und träume ich – und sieh, es ist plötzlich Besuch da. Raten Sie, wer es ist? Eine zarte Frauengestalt, die mir oft um die Dämmerstunde erscheint. Früher hätte ich schwören mögen, sie habe schwarze, nachtschwarze Augen, bis ich einmal genauer hinsah und entdeckte, daß ihre Augen perlengrau sind, ganz so wie die Ihren. Wollen Sie wissen, wie sie gekleidet ist? Frauen fragen doch so gern darnach, besonders die Frauen, die darin die Erlesenheit lieben wie Sie. Eigentlich hat sie wohl nichts an als entzückend feine Chiffonschleier von purpurnen, roten, rosigen Nüancen, halbdurchsichtig, mit schmalen goldnen Brokatleisten.
Ich möchte sie an mich ziehen, aber ich getraue mir es nicht so recht. Am Ende paßt sich das nicht, und man darf das Vertrauen von Feen, die zu einem hereinschweben und von Glückseligkeiten reden, von vergangenen und künftigen, nicht unritterlich und unbehutsam verletzen. Sie kommen dann vielleicht niemals wieder. Wer weiß das?
Über die gelben Astern in der blauschillernden Vase aus Murano klettern eben die letzten roten Sonnenlichter, Kinder derselben Abendsonne, die zur nämlichen Stunde über den kahlen Wipfeln Ihres schönen Parkes glitzert.
Ich trete ans Fenster. Der Herbsthimmel stahlblau und glashell, und am Horizont gegen Osten, über den Loschwitzer Höhen, weidet eine Herde kleiner schneeweißer flockiger Zirrhuswolken. Ein paar Verse von Hermann Hesse fallen mir ein:
Ich liebe die weißen, losen,
Wie Sonne, Meer und Wind,
Weil sie der Heimatlosen
Schwestern und Engel sind.
Steinbach, den 24. November.
Liebster Freund!
Ihr liebes kleines Briefchen hat ein Stück Ihrer stillen Abendstimmung in mein Zimmer getragen. Sie Schmeichler, Sie Verführer, Sie Zauberer! Solche Briefe liebe ich, weil ich Sie dann in Frieden, im Gleichgewicht, in Zufriedenheit und Behaglichkeit weiß.
Sie hören nicht gern, wenn man Sie lobt. Aber in der brieflichen Plauderei können Sie mich nicht unterbrechen. Da kann ich sagen, was ich will, und Sie müssen einfach gottergeben zuhören, wehr- und machtlos. Ihr gütiges auf mich Eingehen und sich mir Anpassen rührt mich immer von neuem. Das macht Sie mir unaussprechlich lieb. Es gibt so unzählig viele Frauen, die schöner, eleganter, unterhaltsamer und geistreicher sind als ich, die Ihnen viel mehr geben und gewähren können als ich, die Sie eitler und stolzer und selbstbewußter machen würden, als ich es vermag – und doch sind Sie mein Freund! Ich danke Ihnen aus tiefster Seele dafür. Ich will Ihrer mit jedem Herzschlag gedenken. Sie sollen immerdar in meinem Herzen wohnen.
So, nun dürfen Sie sich schütteln wie Tamino, Ihr schöner Schäferhund, wenn er einen Bach durchschwommen.
Schloß Sora, 25. November.
Ihre Worte: Sie wohnen in meinem Herzen – habe ich in der feierlichsten Andacht dreimal gelesen. Wo könnte ich mich glücklicher fühlen als in diesem Heiligtume?
Wir Menschen müssen etwas haben, das wir hoch über uns wissen, einen Gott, ein Ideal, ein Vorbild. Ehe ich Ihre Freundschaft errang, wanderte ich durch ein Tal fragwürdiger Finsternis. Mit Ihnen ist mein Leitstern aufgegangen, ein leuchtendes Gestirn, das mir den klarsten Himmel sichtbar gemacht hat. Nun hat alles um mich her ein sanftes, süßes, friedsames Licht.
Ich bin gestern abend hier eingetroffen. Ein wenig müde, habe ich mich sehr bald nach dem Diner zurückgezogen. Der Hausherr, ein alter Regimentskamerad von mir, wie Sie wissen, schon seit Jahren auch nicht mehr aktiver Soldat, nimmt mir derlei nicht übel. Die Damen hatten sich unmittelbar nach Tisch zu einer intimen Plauderei gesondert. Die Herren spielten Roulette. Nicht daß ich einem harmlosen Jeu grundsätzlich abhold wäre. Nein, auch ein anständiges Hazard hat seine Reize. Aber ich war unbeschreiblich müde und matt.
Die Mondnacht war zauberhaft. Ich habe Ihrer gedacht in Melancholie, fast in Sehnsucht.
Morgen ist die große Fuchsjagd, zu der sich eine stattliche Anzahl von Gästen zusammengefunden hat. Heute in der Frühe des Tages habe ich den irischen Hunter probiert, der mir zur Verfügung gestellt ist, ein vorzügliches und zuverlässiges Tier. Die meisten Jagdgäste haben ihre eigenen Gäule mit und bleiben zu mehreren Jagden da. Ich will mich mit der morgigen begnügen. Eins bedaure ich sehr: daß Sie nicht mit da sind, und daß wir nicht Seite an Seite reiten können. Ganz abgesehen von der Freude der Jagd: der rote Rock muß Ihnen prächtig stehen. Ich möchte Sie in dieser Tracht so gern einmal sehen, Ihre sonst so blassen Wangen vom Eifer der Jagd und der Schärfe des Novemberwindes gerötet.
Morgen berichte ich Ihnen.
Sora, 26. November.
Prachtwetter. Somit war die Jagd von vornherein vielverheißend. Punkt zwölf Rendezvous. Vorher im Gute ein kleiner Imbiß, stehend genommen, im roten Rock, die Samtkappe auf dem Haupt, den Reitstock untern linken Arm geklemmt. Ein Glas Portwein. Jumping powder nennt das der Engländer. Ein Ausdruck, ebenso drollig wie treffend.
Auf dem Sammelplatze zwanzig Herren und fünf Damen. Alle ziemlich pünktlich. Fünfzehn Koppeln Fuchshunde. Diese zappeligen schwanzwedelnden Tiere um den Huntsman, ein entzückendes Bild! Dazu die Klänge der Hörner. Wer da nicht Jagdlaune und Reitlust in den Knochen fühlt, der versteht nichts vom alles umfassenden Genusse des Lebens.
Start. Master der Hausherr, auf einem wundervollen Vollblüter. Das Feld ritt geschlossen los. Ich ganz an der Queue. Freue mich am Überblick über das Ganze. Wie im Leben so auch hier: bescheidener Letzter! Habe nie, auch im reiterlichen Dasein nicht, ehrgeizige Gedanken gehegt.
Zunächst ruhiges gutes gleichmäßiges Tempo. Heideboden. Ginstergesträuch. Nichts zu springen. Nach etwa zwei Kilometern eine Wasserrinne. Jenseits legt die Pace zu. Das Feld dehnt sich. Es geht eine lange Reihe buschiger Weiden entlang. Zur Linken liebliche Landschaft, flaches Gelände, begrenzt von sanften Hügeln, ein strahlender blauer Himmel darüber. Aber wer kümmert sich da um Hügel und Himmel? Das tiefe Ackerland bannt die Aufmerksamkeit aller.
Vorn ein kurzer Run. Die Hunde haben die Fährte Meister Reineckes. Niedere Fichten. Gestrüpp. Sandboden mit Karnickellöchern. Man muß höllisch aufpassen. Und das Galopptempo ist ganz anständig geworden.
Schade! Kaum fünf Kilometer und schon Halali! Einer der jüngeren Herren hat ausgehoben. Alsbald werden die Brüche an achtzehn Herren und sämtliche fünf Damen verteilt.
Dies im Telegrammstil der Gang der Handlung! Die verschiedenen Empfindungen des Reiterherzens dabei, die kennen Sie selber. In unserm Jahrhundert der allgemeinen Gefühlsduselei zweifellos ein anachronistisches Vergnügen: Kulturmenschen bester Zucht hetzen kostbare Pferde, edle Hunde und sich selber ab und einen armen Fuchs zu Tode. Grausam, – keine Frage. Die Grausamkeit dabei kommt nur niemandem ins Bewußtsein. Die Jagdpassion verschlingt alle andern Regungen. Ein Stück mittelalterlichen Herrengefühls. In seiner Art unvergleichlich!
Am Halali-Ort fand, wie üblich, ein kleines Frühstück an einer Art Marketenderwagen statt. Nur statt einer schönen Marketenderin ein paar gewandte Diener in vollem Dreß.
Den Heimweg im Schritt und gemütlichen Trab, ein Stündchen an der Seite von Miß Mac Creeny. Vollblutamerikanerin. Völkerpsychologische Studie in aller Stille. Schnittige Reiterinnenfigur.
Abends vier Uhr Festmahl an grüngeschmückter Tafel. Vorher ein Viertelstündchen einsam im Park. Herbststimmung von ergreifender Schönheit.
Nach dem Diner geplaudert. Im Spielzimmer rollte wiederum die Roulettekugel. Eine Weile eine bestimmte Zahl gesetzt. Die 27! Nachdem ich sie erhascht, weggegangen. In meinem Zimmer gelesen. Was gerade dalag: Richard zur Megede: Quitt. Just die rechte Lektüre an einem Jagdtage. Genialer als Megede hat noch kein Deutscher reiterliche Szenen geschildert. Die Wettfahrt der Viererzüge zwischen Loja und Doerstedt ist unnachahmbar. Naturalismus und Romantik, letztere allerdings bis zu einer Spannung, fast wie im Hintertreppenroman. Keine unsrer braven Literaturgeschichten nennt diesen Megede. Das will freilich nicht viel sagen. Wenn man gelegentlich in so einem Schmöker blättert, geschieht es doch nur immer mit dem Ergebnis, daß man feststellt, in den wichtigsten Punkten andrer Meinung zu sein als der betreffende Literatur-Totengräber. Ich bin ein verwöhnter Bücherleser, Und doch wage ich es, Megede einen ganzen Künstler zu heißen. Das war er, mag er seine Kräfte vergeudet haben, um bloße Unterhaltungsliteratur zu schreiben. Hier gilt das alte Sprichwort: Ex ungue leonem! Im Ganzen einem feineren Geschmacke unerträglich, in tausend Einzelheiten aber großartig und bewundernswert. Dabei ein feiner Seelenkenner, ein Porträtist des Gesellschaftsmenschen in allen seinen Schattierungen, vom Gentleman bis zum Lumpen, und – nicht zu vergessen – ein wundervoller Landschaftschilderer. Er mag in seinem eigenen Leben wohl auch einmal irgendwie gestrandet sein – mit seiner Menschenachtung bestimmt!
Gute Nacht! Es schlägt zwölf Uhr.
Schreiben Sie mir bitte, wie es Ihnen geht. Erzählen Sie nur recht viel von sich. Ich sehne mich nach Ihnen.
Ist Fräulein Susi in Steinbach eingetroffen? Eigentlich wundre ich mich, daß ihr dieses entzückende Gut nicht wie alles andere »ledern« vorkommt. Das höre ich sie viel zu oft sagen. Junge Damen, die sich immer und überall langweilen, sind mir unerträglich, Und doch glaube ich manchmal, im Kerne ist sie gar nicht so die Drohne, für die sie sich mit Vorliebe und Virtuosität ausgibt. Es muß nur mal der rechte Mann kommen.
Es gedenkt herzlichst Ihrer
Ihr getreuer Georg
Steinbach, den 1. Dezember.
Mein lieber Freund!
Ihr letzter Brief war sehr inhaltsreich. Jagd, Gesellschaft, Herbststimmung, Literatur, Liebelei, Neugier und Kritik über eine junge Dame! Etwas viel. Ihr Jagdberlcht ist vorzüglich. Aber fangen wir einmal mit der jungen Dame an, genannt Susanne von Schönberg.
Sie ist gestern mittag im Gefolge ihrer Mutter hier angekommen. Der Major ist nicht mit da. Dienstlich abgehalten, obgleich er ein Freund der Jagd ist. Da ich Ihnen versprochen, gelegentlich mit Susi über ein gewisses Thema ernstlich zu reden, suchte ich diese Gelegenheit von Stunde zu Stunde. Heute war mir der Zufall günstig. Das kam so:
Ich hatte gerade Ihren Brief zu Ende gelesen, da trat meine Nichte in mein Zimmer. Wahrscheinlich hatte sie Ihre Handschrift unter den Briefschaften erspäht, die im Gartensalon zu liegen pflegt, bis sich jeder seine Post nimmt oder holen laßt. Somit war Susanne also neugierig gewesen.
»Störe ich dich, liebe Tante?«
»Bewahre!«
»Du hast eben gelesen? Einen Brief? Neuigkeiten?«
»Georg Rockau hat geschrieben. Er macht mir Sorgen ...«
»Wieso? Ich finde, seit ihr euch wiedergefunden habt ...«
»Wiedergefunden?«
»Ich meine, seit er von seiner großen Reise zurück ist, kommt er mir sehr vergnügt und lebenslustig vor, zuweilen nur schrecklich behaglich. Früher war er viel mehr homme du monde.«
»Findest du? Er mißfällt dir also?«
»Das will ich nicht sagen. Ware auch völlig gleichgültig. Er ist ja dein erklärter Ritter!«
»Wer weiß?« meine ich.
Sie lacht auf, scharf und kurz, wie Frauenkehlen lachen, wenn sie damit Kummer und Tränen verjagen. Das war der günstige Augenblick. Und was hat sich entpuppt?
Die Worte und einzelne Äußerungen weiß ich nicht mehr. Ich war erregt und tief bewegt. Ach, ich komme mir mit meinen einunddreißig Jahren viel, viel jünger vor als dieses junge Mädchen. Eine merkwürdige Mischung von Herzlosigkeit und Verliebtheit!
Wie eine Mutter habe ich ihr ihren Leichtsinn vorgehalten. Sie wissen, welchen! Weinend und schluchzend legte sie ihren Kopf in meinen Schoß.
»Liebe Tante, ich will in Zukunft bedachtsamer sein. Ich will dir alles erzählen ...« Und der Schluß dieser Beichte: »So, nun weißt du alles, Tantchen. Nun mußt aber auch du mir alles sagen! Die Wahrheit! Du liebst ihn! Ich will nie wieder versuchen, ihn dir zu stehlen.«
Mein lieber Freund, was sollte ich ihr sagen? Das war das Ergebnis der heimlichen Beobachtungen dieser Unerfahrenen! Was werden erst reifere Menschen beobachtet haben?
Ich habe ihr das wahre Wesen unsrer Freundschaft angedeutet. Ich fühle mich dazu verpflichtet. Ganz erfaßt hat sie unser Ideal kaum.
»Wie seltsam!« rief das schlaue kleine Weltkind aus. »Du hast dich ihm versagt! Das verstehe ich nicht. Ich könnte es nicht, wenn ich wüßte, daß er ...«
Dann kam sie auf Ihre Briefe zu sprechen.
»Ihr habt sie verbrannt? Ich danke dir dafür!«
Der Dank kam ihr nicht recht aus dem Herzen. Nachdenklich fragte sie nach einer Weile:
»Dann müssen wohl seine Briefe an mich auch verbrannt werden? Hältst du das für erforderlich, Tantchen?!
»Es wäre vernünftig, meine liebe Susanne!«
»Das tut mir aber eigentlich recht leid.«
Trotz ihres Bedauerns stand sie auf, nahm mich am Arm und führte mich in ihr Stübchen. Im Schrank zwischen Stößen ihrer mit blauen und rosa seidenen Bändern umwundenen Batistwäsche wurden Ihre Briefe, ihre »Sünde«, wie sie das nannte, hervorgesucht.
Diese ihre Sünde (richtiger auch die Ihre!) steckte in einem großen Briefumschlag. Ein Band darum. Fest zugeknüpft. Wohl das Zeichen des Abgeschlossenen. Sie haben ja zuletzt nicht mehr geschrieben. So werden schöne Träume begraben!
»Tantchen, ich will noch einmal ein bißchen darin lesen. Erlaubst du das?«
»Eigentlich ...«
»Oder bitte, lies mit. Nur ein paar!«
Sie seufzte tief und trat mit den Briefen an das Fenster. Drei oder vier beliebig herausgezogene reichte sie mir, unter einem erzwungenen Lächeln. Einen Brief nahm sie selbst in die Hände und las in ihm – nachdenklich und ernst, wie ich sie selten gesehen habe.
Traurigkeit und Schmerz überkamen mich. Wie leichtherzig sind die Männer!
Ich habe zwei Ihrer Briefe gelesen, nette, elegante, mondäne Briefe. Sie gehen nicht in die Tiefe der Gedanken- und Gefühlswelt. Absichtlich und sichtlich nicht. Aber eines tun sie offenbar: sie spielen mit dem Herzen der Empfängerin. Ganz gleichgültig, wie dies Frauenherz beschaffen ist, wie Sie es selber gewertet haben mögen, – Sie spielen damit! Dieses leicht verhüllte, unklare, ziellose Spiel mit Worten und Gefühlen mußte Susanne verwirren, sie Ihnen leise und heimlich zuführen ... Genug! Das ist Ihre Sünde! Irgendein taktloser Warner hat mir einmal gesagt, Sie seien ein Don Juan. Im gewöhnlichen Sinne sind Sie es nicht. Und doch. Es gibt Männer, die, aus Mißtrauen zu sich selbst, immer wieder ihre erobernden Kräfte erproben müssen. Gehören Sie am Ende doch zu diesem rastlosen Jagdgeschlechte? Ich mag es nicht glauben. Ich kann mich zu wenig in das männliche Gefühlsleben hineindenken. Wie dem auch sei, – was berührt das unsere Freundschaft, die ihren Pfad hoch über dem Tale der Sinnlichkeit hinwandelt?
Was haben Sie mit Ihrer Liebelei aber nun angerichtet? Eine regelrechte Liaison dangereuse.
Sie hat es mir weinend eingestanden. Ich weiß zwar nicht, ob sie die rechte Frau für Sie ist. Aber sie ist noch jung und leicht zu beeinflussen. Es steckt hinter ihrer jugendlichen Gefallsucht und Oberflächlichkeit ein guter Kern. Machen Sie diesen Schmetterling zu einem ernsten Wesen! Können Sie das? Ich habe ihr versprechen müssen, Ihr Herz zu erkunden. Ich, mein lieber gefährlicher Freund! Und so tu ich dies in der offenen Art, die zwischen uns Gebot ist.
Sie haben leichtfertig in einem Mädchenherzen die erste Liebe erweckt. Sie haben bisher keinen korrekten Grund, Susanne kühler zu behandeln. Sie stehen also noch auf dem geraden Wege, der Neffe der großmütigsten aller Freundinnen zu werden,
Ihrer Agathe
Sophie hat sich angesichts dieser großen Sache als enfant terrible entpuppt. Susanne trocknete ihre Tränen, als mein Töchterchen ins Zimmer geeilt kam. »Warum weint Susi, sag Mutti?« – »Das Herz tut ihr weh!« – Sie küßt Susanne umgestüm, um sie zu trösten. »Susi, es geht vorüber! Weine nicht! Mir tut das Herz auch manchmal weh. Als Jakob mir meine Puppe totgebissen hatte! Und wie Mutter weinte, weil Onkel Georg gar nicht mehr kam! Alles ist vorübergegangen. Meine Puppe hat ein neues Bein bekommen, und Onkel Georg ist wieder alle Tage da, wenn wir zu Hause in Loschwitz sind.«
Dresden, 3. Dezember.
Großmütigste aller Freundinnen!
Das sind Sie in der Tat. Ich will keine Apologie schreiben, nur eins in den Vordergrund unsrer knappen Erörterung »meiner Sünde« rücken. Damals, als sich der nun so überflüssige Briefwechsel entspann, glaubte ich ernstlich. Sie auf immerdar verloren zu haben. Dieser Verlust wirkte in ganz bestimmter Weise auf mich und meine Lebensanschauung. Sie waren und blieben mir ein unerreichbares Traumbild. Im Gegensatz zu Ihnen kamen mir Ihre Geschlechtsgenossinnen wie eine Gemeinschaft vor, die ich in Bausch und Bogen feindselig und geringschätzig betrachtete. Allerhand Frauen betraten von neuem meinen einsamen Weg. Immer nur flüchtig. Wenn ich Ihnen einen Einblick in mein Mannestum von damals gewähre, so sei es ehrlich getan. Ich stand allen diesen weiblichen Wesen gegenüber – wie Slevogts Ritter. Sie kennen sein geniales Bild »Der Ritter und die Frauen« in unsrer Galerie. Die Frauen finden es abscheulich. Na, ein Frauenlob ist Slevogt nicht.
Ihre Mitteilung über Fräulein Susannes Geständnis hat mich ebenso überrascht wie skeptisch gemacht. Diese Liebe ist nur eine Laune. Amour-caprice! Und dann: tauge ich denn zum Ehemann, insbesondre zum Ehemann für ein junges Geschöpf, dessen Ideale so ziemlich einzig und allein in einem glänzenden, möglichst abwechslungsreichen Gesellschaftsleben gipfeln, das heißt im Allerbanalsten.
Ein kluger Franzose sagt irgendeinmal: »Welche Art von Glück kann man allenfalls in der Ehe finden? Die Freundschaft. Aber selbst das ist äußerst schwer. Es ist fast nur möglich, wenn ein vierzigjähriger Mann eine Witwe von dreißig Jahren heiratet. Wenn beide Geist, Weltmannstum und Lebenserfahrung haben, dann sind sie duldsam geworden.« Das ist bis auf das I-Tipfelchen auch mein kühler Glaube.
Ich bin bereits duldsam genug und setzte von meinem Glücke nur wenig auf das Spiel, wenn es einer spöttischen Vorsehung gefiele, mich zu verheiraten. Wenn Sie glauben, ich hätte Fräulein Susanne gegenüber die Grenze des Harmlosen überschritten, dann will ich die Folge tragen. Es handelte sich dann nur darum, ob das schöne Kind aber auch auf folgendes einzugehen bereit wäre.
Sie müßte mit einem Manne fürlieb nehmen, der in diesem Falle eine reine Vernunftehe einginge, wie man das so nennt. Er ist keineswegs reich, sondern besitzt gerade so viel, daß er ein behagliches Leben zu führen imstande ist. Da ein Haushalt mit einer Frau wie Susanne kostspieliger ist denn sein bisheriges Junggesellenleben, und da die Einkünfte seiner Frau ihre Domäne bleiben sollen, so müßte er sich also dazu bequemen, die Verwaltung seines Familiengutes in die eigenen Hände zu nehmen. Es stünde seiner Frau somit im allgemeinen der Landaufenthalt in Aussicht, selbstverständlich durch kleine Reisen und kurze Aufenthalte in Dresden, Weimar, Bayreuth usw. unterbrochen, hin und wieder auch durch eine größere. Aber auf meinen Reisen habe ich die mancher Frau vielleicht unverständliche Marotte: immer wieder meine Lieblingsgegenden aufzusuchen, oder gar wissenschaftliche Motive hineinzuflechten. Orte, an denen große Menschen gewandelt oder große Entscheidungen gefallen, ziehen mich am meisten an. Auf den Spuren Alexanders, Hannibals, Cäsars zu pilgern, Polybios, Livius oder Sallust in der Rocktasche, das schwellt mir die Seele ...
Das Gut gehört mir und meinem Bruder zusammen. Als noch so arbeitsamer und pflichttreuer Landwirt fürchte ich, zunächst kaum mehr aus dem Gute herauszuwirtschaften als die Rente, die ich meinem Bruder zusagen müßte, die Steuern, die Hypothekenzinsen und die Erhaltungskosten. Von einem Leben im großen Stil könnte keinesfalls die Rede sein. Zu meiner Seele Seligkeit gehört dies ja durchaus nicht. Indessen, die jungen Frauen von heute denken hierüber meist ein wenig anders. In einer vernünftigen Ehe muß nun jeder Teil seine Lebensanschauung der des andern Teiles nachgiebig zu nähern suchen. Ich wäre kein Spielverderber, erwartete aber auch von meiner Frau den freudigen Verzicht auf das, was ich auf dem Gebiete der Zerstreuungen für zuviel halte.
Alles in allem würden wir also ein bescheidenes Haus führen. Ich würde alles tun, um meiner Frau das zu ersetzen, was sie um meinetwillen aufgäbe: das bisherige so ungebundene Leben inmitten eines sehr luxuriösen und großstädtischen Milieus, das Glänzen vor der Welt, die hundert kleinen Genüsse mondäner Eitelkeit, den regelmäßigen Besuch von Uraufführungen und Konzerten, Rennen und Ausstellungen, Modehäusern und Reitbahnen, Tennisplätzen, Golf- und Polofesten, Wohltätigkeitsmaskeraden und weiß der Teufel was alles. Das Landleben hat einsamere Freuden, und sogar der dort mögliche Sport sieht völlig anders aus.
Wenn ich an alles das denke, bin ich mir der Antwort unsers lieben Weltkindes im voraus bewußt. Dann fürchte ich, die reizende Susanne nimmermehr als Ehegattin zu besitzen. Ist dies mein Glück, mein Unglück?
Leben Sie wohl! Ich harre meines Schicksals in Demut und Ergebenheit.
Ihr Georg
Steinbach, den 5. Dezember.
Sie brauchen keine Angst mehr zu haben. Der Kelch ist glücklich an Ihnen vorübergegangen. Ihren schrecklichen Brief (mein Gott, was für ein kalter Geschäftsmann können Sie sein! Wie peinlich Sie Soll und Haben berechnen!), den habe ich natürlich geheim halten müssen und nur seinen Inhalt zu einem mütterlichen Vortrag verwandt. Zu meinem Glück war ich dabei recht gut gelaunt. Offen gestanden, ich hätte mich nur sehr schwer mit der Tatsache befreunden können. Sie als Ehemann zu wissen.
Zu Susis Ehre muß ich berichten, daß sie nicht so leicht von ihrem romantischen Plane, Ihre Frau zu werden, Abschied genommen hat. Es gab denn doch einen kleinen Herzenskampf, ein harmloses kleines Duell zwischen Verstand und Verliebtheit. Der Verstand hat den Kampfplatz behauptet.
»Tantchen, findest du nicht, daß es eine Dummheit von mir wäre, wenn ich meine Jugend auf dem Lande verblühen ließe? Ich, die ich die Welt so liebe! Ich bin überzeugt, wenn sich Georg erst an die ländliche Einöde gewöhnt hat, vergißt er die Reize der Großstadt schon aus Bequemlichkeit. Es wird ihm schwer und schwerer fallen, zu den winterlichen Geselligkeiten regelmäßig nach der Residenz zu fahren. Und ich kann darauf nicht verzichten. Daß er nicht besonders reich ist, wäre mir ja gleichgültig. Ich bin es ja. Ich habe 50000 Mark im Jahre. Es ist nicht allzuviel, indessen ist Papa ja auch noch da.«
»Die Geldfrage ist durchaus nicht die Hauptsache«, wandte ich ein. »Liebst du Georg wirklich, dann mußt du dich ihm zuliebe in manches schicken. Wie unvergleichlich herrenhaft lebt es sich hier auf dem Lande! Aber, aber: Liebst du ihn?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht! Es ist wenig an ihm auszusetzen. Er ist groß, elegant, vornehm, verführerisch. Alle meine Freundinnen schwärmen von ihm. Er hat vorzügliche Beziehungen. Nur finde ich, er weiß sie sich nicht zunutze zu machen. Daß er beschäftigungslos ist, das gefallt mir gar nicht. Er sollte in diplomatische Dienste treten. Warum tut er das nicht? Es müßte himmlisch sein, mit ihm in Tokio, in Bombay, in Kopenhagen zu leben.«
»Er bleibt über alles gern sein eigener Herr, und damit handelt er durchaus seiner Natur gemäß.«
»Sonderlinge, die sich von der Welt abschließen, mag ich nicht.«
»Ihr könntet in Rockau auch gesellschaftlich ein sehr angenehmes Leben führen. Weimar ist nicht weit. Und dann weißt du doch, daß du jederzeit im Rosenhof oder bei deinen Eltern ein angenehmer Gast wärest. Du könntest jeden Winter vier Wochen hier in Dresden verbringen. Wenn man älter wird, erscheinen einem übrigens viele gesellige Unternehmungen, an denen man früher Vergnügen gehabt hat, fragwürdig und lästig. Ich versichere dir, ein trauliches Heim, ein kleiner erlesener Umgang schlägt alles andere aus dem Felde!«
»Du kannst gut reden, aber wir in Rockau! Wie soll ich mir einen so netten Kreis hervorzaubern, wie du ihn dir hier geschaffen hast? Du bringst es bewundernswürdig geschickt fertig, immer die in dein Haus zu bekommen, die dir gefallen, und allen mit Grazie das Tor zu versperren, die dir nicht behagen. Mein Wunsch wäre es, ein großes Haus zu führen. Dann hat man ohne Mühe Menschen aller Sorten und Arten. Darum liebe ich die Großstadt. Und nichts ist göttlicher, als wenn ich merke, daß man sich nach mir umschaut, daß die Frauen meine Kleider bewundern und mich um meine Freunde beneiden, auf der Straße, in der Oper, auf dem Rennplatz, im Wagen. Was ist Weimar gegen Dresden? Weißt du, Tantchen, am liebsten wäre ich eine Fürstin oder eine große Künstlerin, der alle huldigen, die aller Neugier auf sich zieht.«
»Dann wird Herr von Rockau wohl auf seinen schönen Plan verzichten müssen. Du hast es dir doch reiflich genug überlegt? Soll ich ihn in dieser Weise verständigen?«
»Ja, aber sag es ihm recht behutsam! Sag ihm, ich fühlte mich noch viel zu jung zum Heiraten. Vielleicht wartet er. Mit einem Worte, verständige ihn so, daß er mir als Verehrer treu bleibt. Ähnlich habe ich dem Grafen Szanto antworten lassen, als er mich durch Mutter gefragt hatte, ob ich Gräfin werden wolle. Er ist mir rührend treu geblieben. Vielleicht hätte ich ihn längst besser behandeln sollen. Er wird einmal Gesandter an einem großen Hofe. Er ist steinreich, besitzt ein Schloß auf Korfu, eine Jacht im Mittelmeere, schießt Gemsen und Elche auf eignem Gebiet. Und dann ist er sehr temperamentvoll, kein Fisch wie Herr Georg. Er betet mich an, während sich gewisse Leute anbeten lassen. Eigentlich ist es torhaft von einer Dame, einen Mann anzubeten ...«
So ungefähr sind die Verhandlungen gepflogen worden. Verzeihen Sie mir, wenn ich einen Augenblick geglaubt habe, Susanne könne Ihre Frau werden. Ich möchte über das alles lachen, wenn mir nicht unendlich traurig zumute wäre. Ich habe vorhin gesagt, in den Gedanken, daß Sie einmal heiraten, könnte ich mich kaum je finden. Das war sehr selbstsüchtig von mir. Aber ganz egoistisch ist eine andre dumme Idee von mir. Soll ich Ihnen beichten, warum ich Sie beinahe doch lieber verheiratet sehen möchte? Vielleicht gar mit einer Frau, die Ihnen geistig und seelisch keine Freundin im höchsten Sinne wäre?
Es ist ungereimt. Häßlich von mir. Ich sage es Ihnen auch gar nicht.
Beim schönsten Wintersonnenschein.
Beste Freundin,
schade: die reizende kleine Komödie ist schon zu Ende! Ich habe mich in meiner schönen Susanne nicht geirrt. Der Flirt ist ihr Element. Und wir Männer sind nach ihrer Anschauung nur dazu da, die Frauen zu amüsieren. Bei allem bleibt Fräulein Susanne in allererster Linie ein Praktikus. Das Gegenstück einer Romantikerin. Ich habe ihre Heiratsabsichten gegen mich keine Minute ernsthaft genommen. Überhaupt bin ich über den Verlauf der Dinge hocherfreut und schönstens zufrieden. Selbst die offenbare Geringschätzung meiner Individualität bereitet mir Vergnügen.
Eins sollte ich mir allerdings zu Herzen nehmen: Susannens Vorwurf über mein süßes Nichtstun. Das heißt, so ganz arbeitslos bin ich ja seit meiner Genesung nicht mehr. Meine bescheidene geschichtliche Arbeit ist der Vollendung nahe, und ich habe etwelchen Geschmack am Forschen und Sammeln und Darstellen gefunden. Vielleicht bietet sich als Nummer 2 ein dankbarerer Gegenstand. Ich plane eine regelrechte kriegsgeschichtliche Forschung aus der Welt der Alten. Meine Vorliebe für die großen Kondottieri der Weltgeschichte drängt mich.
Wir haben von der möglichen Bewirtschaftung unsers Familiengutes durch mich gesprochen. Infolge davon habe ich ernstlich über diese Möglichkeit nachgedacht. Ich glaube, es wäre zum Vorteil des Gutes und besonders zum Vorteile meines Neffen. Mein Bruder begnügte sich sicherlich mit einer Jahresrente. Nur fürchte ich bei den maßlosen Ansprüchen Eberhards ihre Höhe. Aber auch diese Klippe wäre zu umschiffen.
Eins hält mich von dem Nähertreten an diesen Plan gewaltig zurück: unsre Freundschaft, ohne die ich nicht mehr leben könnte. Wenn ich für Sie zu arbeiten hätte, dann vollbrächte ich alles. Aber so? Ich würde fern von Ihnen vielleicht von neuem zum arbeitsscheuen Träumer.
Sagen Sie, wann darf Dresden Sie wieder erwarten? Ich habe die größte Sehnsucht nach Ihnen.
Steinbach, den 9. Dezember.
Lieber Freund!
Bei Ihrer großen Liebe zur Natur würden Sie sich als eigner Verwalter Ihres Gutes unbedingt wohl fühlen. Ich halte Sie für das Landleben wie geschaffen. Sobald ich wieder in Dresden bin, werden wir darüber einmal bis ins Einzelne reden. Glauben Sie mir, Sie werden über ungeahnte Lebensmöglichkeiten erstaunt sein. Mit meinem geliebten Verhaeren werden Sie dann singen:
In allem ist mein Sein, was ringsum bebt.
Ihr Wiesen, Steige, Eschen, die ihr fernher funkelt,
Du klarer Quell, den Schatten selbst nicht dunkelt,
Ihr werdet Ich, seit ich euch voll erlebt.
Unendlich ist mein Sein in euch verlängert.
Was Traum einst schien, schafft nun Erlebnis mir.
Ihr schönen Bäume, die ihr goldgeschwängert
Am Horizonte harrt, mein eigner Stolz seid ihr,
Und wie sich eure Stämme Ring an Ring verstärken,
So stählt mein Wille sich in täglich neuen Werken ...
Nichts würde mich mehr beseligen, als eine ähnliche Wiedergeburt Ihres Lebens.
Ihre Agathe
Wir kommen erst etwa acht Tage vor dem Weihnachtsfest nach Dresden zurück.
16. Dezember.
Sie ahnen vielleicht gar nicht, wie gewaltig ich mich auf unser Wiedersehen freue. Wenn Ihnen die nachfolgende Frage zu unbescheiden vorkommt, dann müssen Sie sie auf die Rechnung dieser sehnsüchtigen Freude setzen.
Darf ich Sie bei Ihrer Ankunft am Zug erwarten und im Wagen oder Auto nach dem Rosenhof geleiten? Habe ich als Ihr guter Freund nicht Anspruch darauf, mich Ihrer Wiederanwesenheit zuerst zu erfreuen?
Eigentlich hätte Frau Agathe auf diesen Gedanken kommen müssen!
Steinbach, den 17.
Lieber Freund!
Gern wäre ich mit Ihrem schönen Vorschlag einverstanden, wenn ich nicht die Gewißheit hätte, daß mich meine Schwägerin und Susi ebenfalls abholen werden. Ich denke es mir tausendmal freudevoller, wenn ich Sie nach so langer Abwesenheit nicht inmitten von verständnislosen Zuschauern begrüße. Ich bitte, schenken Sie mir lieber am Nachmittag nach unserer Ankunft ein Stündchen oder vielmehr ein paar. Seien Sie so geduldig und verständig! Und vor allem, seien Sie mir nicht bös darüber!
Für heute: Leben Sie wohl, Bester! Meine Jungfer und die Gärtnersfrau sind beim Einpacken der Koffer, und ich will mit dem Gärtner, der zugleich Hausmeister ist, – Sie kennen ja den alten braven Wegerich in Persona! – eine Art Inventur der Mobilien machen. Das ist meine Obliegenheit jedesmal, wenn ich gegen Jahresschluß das Gut verlasse. Und ich erfülle sie sehr gewissenhaft. Meinen »Ordnungsvogel« bespötteln Sie ja so oft.
Leben Sie wohl! Noch drei Tage! Wie süß wird mir das Wiedersehen sein!
18. Dezember.
Geliebte Freundin.
Sie haben Sehnsucht, und doch bringen Sie es nicht zuwege, daß ich hier der erste sein darf, der Sie begrüßt? Eine Sehnsucht ohne Schwingen!
Trotzdem will ich Ihnen nicht böse sein. Nein, ich gedenke Ihrer in der immer gleichen Treue.
Georg
Rosenhof, den 20. Dezember.
Sie verstehen es bis zur Grausamkeit, einen leiden zu lassen. Kalten Blutes, satanisch lassen Sie den Schmerz Ihres Opfers wachsen, bis Ihnen seine Größe schmeichelt. Nach diesem Experiment wollen Sie mit ein paar feinsinnig gesagten Trostworten das verwundete Herz rasch wieder flicken. Flugs soll es wieder regelmäßig schlagen, kein bißchen mehr bluten und ohne weiteres voller Frieden und Sonne sein.
Ist das Spiel? Ist das Ihre tiefste Natur? Die Kehrseite Ihres liebenswerten Wesens? Ich weiß es nicht. Nur das weiß ich, daß ich Ihnen in solchen Augenblicken fern und fremd bin.
War ich denn Schuld daran, daß wir uns gestern nicht allein hatten, daß soundsoviele andre kamen und dablieben? Wie sollte ich es denn ermöglichen, daß Ihr Wunsch erfüllt ward?
Ich verzeihe Ihnen, obgleich Sie mir tiefes Leid und eine tränenvolle Nacht bereitet haben. Sie sind nervös, selbstquälerisch und quälerisch, grausam und hochmütig! Sie sind noch nicht auf der Höhe Ihrer Entwicklung, noch immer kein ganz Reifer, noch nicht duldsam genug, noch nicht hoch genug über den kleinen Dingen. Zu meinem Weh habe ich das gestern erfahren. Aber gerade darum verzeihe ich Ihnen von ganzem Herzen. Ich selbst bin ja auch alles andre denn ein vollendetes Geschöpf. Sie werden über meine Vorwürfe erstaunt sein, weil Sie gestern im festen Glauben von mir gegangen sind, die Nadelstiche Ihrer Ironie zuguterletzt, nach dem Abendessen, wieder gut gemacht zu haben. Gewiß, die starke Kraft Ihres andern Ichs, Ihrer schmeichlerischen Worte, Ihrer träumerischen Augen haben mich im letzten Moment zurückerobert. Sie wissen zu siegen. Ich kenne keinen zweiten Menschen, der so unsagbar viel Macht auf mich ausstrahlen kann wie Sie, –wenn Sie wollen!
Als Sie weggegangen waren, bemerkte Professor Schöning zu mir, Sie seien ein hervorragender Geist. Ich vermochte nichts zu antworten als ein unsicheres: Ach ja! – Vor mir selber aber mußte ich hinzufügen: Aber Geist ist nicht das Höchste. Herz haben, ist mehr. Und das zeigt er nicht immer.
20. Dezember.
Meine geliebte Freundin.
Nein, herzlos bin ich nicht, und wenn ich es mitunter wäre, so doch nicht gegen Sie, der ich so unsagbar viel verdanke. Unruhig, verstimmt, enttäuscht, ja, das war ich. Nicht genug beherrscht habe ich mich. Habe mich in leisen Spott verloren. Das dürfen Sie mir vorwerfen, mehr aber nicht!
Ich hatte mich so sehr auf jenen Nachmittag gefreut. Als ich Sie wiedersah, so heiter, so graziös, so verführerisch – aber alles das nicht nur für mich, sondern ebenso für die andern, die so da waren, (der Teufel hatte sie hergeführt!) da ward ich launisch, nervös, unglücklich. Nicht eine einzige Minute lang habe ich Sie allein gehabt.
Wie habe ich gelitten, als ich in Ihren Salon trat und Sie mir Ihre Hand zu einem banalen Kuß boten. Ich hatte die Schwelle Ihres Hauses voller Andacht, voller festlicher Gedanken, in inniger Freude betreten, und meine feierliche Stimmung mußte nun ins Ziellose verfliegen. Ihr innerstes Ich wollte ich wiederfinden nach so langer Trennung – und eine konventionelle, mit allerhand gleichgültigen Gästen scherzende höfliche Dame fand ich.
Ich weiß, es war unrecht, kleinlich, inkorrekt, lächerlich von mir, die Maske der Gesellschaft nicht ergeben, gleichmütig, ritterlich zu tragen. Aber ich brachte es nicht fertig. Um mich zu betäuben, mengte ich mich in die Plauderei, wurde paradox, rechthaberisch, frivol und wer weiß was noch. Erst nach dem Abendessen fand ich mein inneres Gleichgewicht wieder, meinen geliebten Stoizismus. Sie haben ja das alles genau beobachtet.
Leiden sollten Sie nicht! Wenn ich kleine Pfeile auf Sie geschossen habe, so galten sie nicht der geliebten Freundin, sondern dem fröhlichen, mutwilligen, plaudernden Weltkind, das Sie, wider Ihren heimlichen Wunsch, sein mußten. Selbst das war garstig von mir.Ich sehe es jetzt ein. Sie waren viel weltgewandter als ich. Einfach musterhaft. Ich hätte Sie mir zum Vorbild nehmen sollen.
Ach, seien Sie nachsichtig gegen mich, gegen die Schwächen meiner Natur! In denen liegt doch auch ein Stück des Menschen, den Sie sonst liebend hegen und pflegen. Es war ein schlimmer Rückfall in das Ruhelose, Verfahrene, Chaotische, von dem ich mich durch Ihre Güte und schwesterliche Liebe längst geheilt glaubte. Ich fühle mich mit Ihnen in einer göttlichen Welt, und es war mir unerträglich, in mein Paradies so machtlos das Alltägliche eindringen zu sehen. Jetzt ärgere ich mich über mich selbst bis zur Melancholie. Ich bitte Sie herzlichst um Verzeihung, daß ich Ihnen Leids angetan habe. Donner et pardonner! Diese Devise der schönen Frau Geoffrin steht in einem Ihrer Medaillons. Geben und Vergeben! Das erste tun Sie immer. Erfüllen Sie auch das zweite!
Rosenhof, den 23. Dezember.
Mein guter Freund!
Es sei Ihnen verziehen!
Wie könnte ich anders? Aber ich werde mich hüten, Ihnen wieder eine Bitte abzuschlagen, die zu erfüllen nur irgendwie in meiner Macht steht. Man muß Sie behandeln wie ein Lieblingspferd, das ein wenig kopfscheu ist. Als Kavallerist werden Sie den Vergleich nicht übel nehmen. Sie waren kopfscheu. Punktum.
Morgen zum Weihnachtsabend sehe ich Sie wie vor drei Jahren bei meiner Mutter. Diesmal kommt auch Sophie mit. Schreiben Sie mir schnell noch alle Ihre Wünsche! Ich rechne übrigens fest darauf, daß Sie nicht Nein sagen, wenn ich Sie beim Abschiednehmen für den ersten Feiertag zu Tisch bitte. Und wenn Sie beim Kaiser absagen sollten. Sie müssen zu uns kommen und unsern Weihnachtsbaum bewundern.
23. Dezember abends.
Liebste Freundin.
Ich werde nicht Nein sagen, dieweil ich diese gütige Einladung im stillen ersehnt habe. Die Aufforderung Ihrer Frau Mutter habe ich mit herzlichem Dank angenommen. Ich werde die allerfröhlichste, kindlichste Weihnachtslaune mitbringen. Ich fühle sie schon in mir.
Was ich mir von Ihnen wünsche? Wollen Sie mich ganz glücklich machen? Nun, dann erlauben Sie mir, daß ich den ganzen Winter hindurch jeden zweiten Tag nach dem Rosenhof kommen darf, immer punkt 5 Uhr! Wir werden zusammen lesen, musizieren, reden, plaudern. Wir: Sie, ich und Ihr geliebtes Töchterchen.
Erfüllen Sie mir meinen Weihnachtswunsch?
Den 24. Dezember.
Liebster Freund!
Ich erfülle Ihnen Ihren Weihnachtswunsch. Wenn es vielleicht auch nicht besonders vernünftig von uns beiden ist, so wird es uns sicherlich eine Quelle von viel Glück und Freude sein. Werden Sie es aber nie als Mühe empfinden? Werden Sie sich nicht eines Tages gestehen, daß Ihnen die immer gleiche unpikante Kost degoutant sei? Ich habe Angst vor dem Augenblicke, da ich dies aus Ihren immer sprechenden Augen lesen könnte.
Seien Sie herzlich gegrüßt! Auf Wiedersehen heute abend um 6 Uhr.
Sonnabend, 26. März.
Liebe Freundin,
verzeihen Sie mir, daß ich heute gegen unsre Gewohnheit nicht gekommen bin. Und mein Entschuldigungsgrund? Ich will offen und ehrlich sein: ich war mißgestimmt, mutlos, zu nichts fähig. Ich wäre ein schlechter Gesellschafter gewesen. Abends bin ich in die Oper gegangen. Altmodische Musik. Glucks »Orpheus und Euridike«. Sie wissen, ich liebe die alte und ältere mehr als die neuere und die modernste, die nach-wagnerianische, die mir zuweilen nichts ist als Musikgewordene Unruhe.Mit dem urmusikalischen alten Wilhelm Heinse sage ich: in der Melodie finde ich die Seele dessen, den ich rufe! In meinem Sitz habe ich geträumt, alle Akte hindurch. Hinterher bin ich zu Fuß durch die Stadt geschlendert, die Bürgerwiese entlang, nach meiner Wohnung. Der Vollmond leuchtete. Eine frische schöne Nacht. Eine Zeitlang war ich versucht, eine weitere Wanderung zu beginnen. Wohin?
Ihr Haus im Mondlicht zu sehen – wie ein verliebter Student...
Zu Haus habe ich dann noch lange gelesen, in Walter Paters »Marius der Epikureer«. Das ist eines der Bücher, für mich Sonderling wie geschaffen! Der alte Plinius schreibt einmal einem Freunde, man müsse in der Literatur die Befreiung von der Sterblichkeit suchen. Verstehen Sie das? Er meint wohl, nur solche Bücher lesen und lieben, die einem das Allzumenschliche überwinden helfen. Und Paters Marius ist solch ein Buch.
Sonntags früh.
Bester Freund!
Unbedingt hätten Sie wenigstens heute kommen müssen! Ich verstehe Sie. Es war eine große Unklugheit von uns (ich sehe es jetzt ein), daß wir uns fast täglich sahen, in so inniger Vertrautheit, Seele an Seele. Nun genügt Ihnen diese zarte ruhige Freundschaft nicht mehr. Sie sind unzufrieden mit ihr und mit mir.
Ist es so?
Sie huldigen mir mit allem, was Sie in Geist und Herz an Feinem, Erlesenem, Zärtlichem, Sehnsüchtigem besitzen. Ich habe mich dieses Reichtums erfreut. Sie sind meines leisesten Winkes gewärtig, immer bereit, mir kleine oder große Dienste zu erweisen. Feinfühlig, offen, korrekt, unterhaltsam, anregend, bezaubern – und beherrschen Sie mich. Wehren Sie sich nicht gegen die letzte Behauptung! Es ist so. In unserm monatelangen, fast täglichen Beieinandersein ist ein ganz merkwürdiges Gefühl in mir entstanden. Es gärt in mir. Ich sehne mich nach Ihnen, wenn Sie nicht da sind, und dann wiederum bin ich empört über mich, daß ich ein Ihnen untertanes Geschöpf, Ihr willenloses Eigentum bin. Was Sie nur andeuten, führe ich gehorsam aus, als müsse es so sein. Manchmal aber rebelliert es doch in mir gegen Sie. Ich muß es Ihnen sagen. Mitunter habe ich das unselige Gefühl, als eroberten Sie mich immer wieder, sich selbst zum Trotze, aus einem Ihnen selber nicht zur Erkenntnis kommenden Rachedrang, aus uraltem dunklen Mannesinstinkt – oder wie soll ich das ausdrücken? Kaltblütige Berechnung ist Ihnen fern, aber Sie machen mich zur Sklavin, um mir wiederzuvergelten, daß ich damals, Ihnen gegen meinen freien Willen, Leid angetan habe, daß ich mein Herz Ihrer irdischen Liebe verschließen mußte.
Rufen Sie nicht laut und leidenschaftlich aus, das sei unwahr, argwöhnisch, unmöglich, häßlich, unsrer unwürdig! Ich weiß es, und meine Worte sind nicht geklärt genug, einem so schwer faßbaren, verworrenen, geheimnisvollen seelischen Vorgang den rechten symbolischen Ausdruck zu verleihen, der Sie nicht verletzen kann, weil er etwas Menschliches, Natürliches, Gerechtes verständlich macht.
Sie werden fragen, ob Sie mich denn gar nicht nach meiner Fasson glücklich machen können? Ich vermag Ihnen nicht Ja und nicht Nein zur ehrlichen Antwort zu geben.
Manchmal sind Sie kalt, hart, abscheulich, herzlos, mir tausend Meilen fern, gerade als ob Sie sich an mir, Ihrer vergötterten Freundin, wegen Anderer rächen mußten, wegen andrer Frauen, die ich gar nicht kenne, die Sie vielleicht selber halb vergessen haben, mit einem Worte: ob des Weibes schlechthin. Genug! In solchen Stunden ist mein Schmerz so groß wie die höchste Freude, die Sie mir je geschenkt haben, und ich bezahle alle Seligkeiten unsrer Freundschaft mit den bittersten Tränen.
Wollen wir wortlos wieder voneinander gehen? Ohne den leisesten Vorwurf gegenseitig, ohne Bitternis, ohne einen anderen Nachhall im Herzen als den der wehmütigen Dankbarkeit: Ich besaß es doch einmal. Was so köstlich ist...
Oder wollen wir dem kühlen Herbst in unsrer Freundschaft Einlaß gewähren?
28. März abends.
Liebste Freundin.
Sie beurteilen meinen inneren Zustand falsch. Ich kann Ihnen das ohne weiteres nicht darlegen. Morgen bin ich bei Ihnen. Sagen Sie um alles in der Welt nichts wieder von auseinandergehen!
Ich habe Sie einst geliebt, das heißt: begehrt. Und heute liebe ich Sie, indem ich Sie vergöttere. Damit habe ich alle Hoffnung auf das, was ich einst Liebe genannt, in einem höheren Sinne aufgegeben. Gleichgültig, wie wir das nennen wollen, was uns beide nun eint: profane Liebe ist es nicht. An der Stelle, wo diese Liebe im Menschen gemeiniglich ihr Wesen treibt, ist vielleicht in mir ein Nichts. Vielleicht auch wuchern an ihrem Platze Resignation, Schwärmerei, Spott, Ironie und herbe Weibesverachtung. Ich vermag es selber nicht zu sagen. Und Sie können das nicht verstehen.
Das übrige sollen Sie mündlich hören.
Rosenhof, den 29. März.
Mein liebster Freund!
Ich habe es mir im voraus gesagt: Sie überreden mich, und ich glaube Ihren Worten, wie ich Ihnen immer geglaubt habe und immerdar glauben werde. Sie waren gütig, brüderlich, freundschaftlich, zärtlich – und mir überlegen.
So sind wir nun weiterhin die beiden, die zusammengehen. Wohin aber gehen wir?
Zum ersten Male habe ich zwischen uns etwas Unsagbares, Wunderbares, Beseligendes empfunden, wie ich es in unsrer seltsamen Freundschaft noch niemals gefühlt und nicht geahnt habe. Eine Wallung des Herzens, die mich noch im Nachhall ergreift und durchzittert. War ich das, ich, die ich so scheu bin, die vor der leisesten Berührung zurückschreckt?
Im Herzen die Ihre.
Agathe
31. März.
Beste Freundin.
Ich komme eben, aktenbepackt, aus dem Kriegsarchiv und finde Ihren lieben Brief. Er tut mir unsäglich wohl. Ich fühle mich von jeglichem Weltschmerze geheilt. Das süße Bewußtsein, daß Sie mich lieben, verleiht mir Kraft und Mut und Lebenslust. Es gibt keinen Schatten mehr zwischen uns. Ich war so beklommen und matt, und nun umweht mich frische Luft. Die Sonne hat alle Grillen verscheucht.
Wir haben uns beide zu spät gefunden. Ich will mich darein schicken. Was wäre aus mir Gutes geworden, wenn wir uns zehn Jahre früher begegnet wären!
Bleiben Sie bei mir! Ich will versuchen, nachzuholen, was sich nachholen läßt. Solange ich Sie habe, wird mich auch meine Energie nicht wieder verlassen.
Rosenhof, den 1. April.
Mein lieber Georg!
Ich kenne kein stolzeres und mich selbst stärker machendes Gefühl als das, jemandem zu nutzen, den man liebt. Ich bin glücklich darüber, daß Sie meiner zum Leben bedürfen und daß ich die Arbeitslust in Ihnen anfache. Ich will treu zu Ihnen stehen. Ihnen nah oder fern, sollen Sie der Mittelpunkt aller meiner Gedanken, Träume und Taten bleiben!
Ich sage: nah oder fern! Eben hat mir unser Hausarzt erklärt, mein Töchterchen müsse unbedingt sechs bis acht Wochen an die See. Ich habe mich entschlossen, Mitte Mai nach der Nordsee zu gehen, und zwar werde ich ein kleines belgisches unfashionables Seebad für uns aussuchen.
Wenn Sie glauben, daß Sie in meiner Nähe besser arbeiten können als mir fern, dann wählen Sie sich einfach denselben Erholungsort. Wir werden uns morgen darüber aussprechen. Bis zu unserer Abreise aber wollen wir uns unsere lieben Nachmittage wieder einrichten, wenngleich wir nicht mehr Winter, sondern den allerschönsten Frühling haben. Meine kleine Sophie fragt täglich nach Ihnen und schmollt mit mir, weil sie sich einbildet, es läge an mir, daß Onkel Georg nicht erscheint, wenn die Uhr fünf schlägt.
Meine Mutter hat keine Lust, mit mir zu reisen. Sie geht nach Steinbach. Mein Bruder Hermann wird nämlich dahin kommen. Wir haben schlechte Nachrichten von ihm, und darum ist unsre Mutter in großer Betrübnis. Dieses schreckliche Afrika! Wieviel tausend europäischen Müttern hat es schon die Söhne geraubt. Söhne, die gesund, stark und abenteuerlustig von ihnen gingen, und krank, gebrochen, dem Tode verfallen, heimkehrten. Hermann spricht von Ausruhen. Wie gebrochen muß er sein, wenn der Nimmermüde so etwas sagt!
Rosenhof, dem 12. Mai.
Mein lieber Georg!
Wir reisen am 14., ach, und ich will mich mit dem Gedanken daran so gar nicht vertraut machen. Ohne Ihre Sorglichkeit und Liebe werden mir die Tage sehr leer erscheinen und in ihrer Öde nicht enden wollen. Daß Sie erst in vierzehn Tagen und nicht früher nachkommen können! Vielleicht läßt es sich doch machen?
Kommen Sie morgen zu Tisch. Ich bitte: ein halb 2 Uhr. Ich hätte gerade diesen Tag so gern mit Ihnen allein verbracht, aber seit Jahren ist mein Geburtstag nun einmal ein Gasttag in meinem Hause. Ich will Ihnen indessen einen Vorschlag machen, der Sie mit dem Unabwendbaren etwas versöhnen soll. Meine Gäste bleiben bis höchstens 6 Uhr. Empfehlen Sie sich aus irgendeinem Grunde, den Sie sich selber ausdenken müssen, bald nach Tisch. Das dürfte etwa ein halb 4 Uhr sein. Sie fahren aber nicht nach Dresden zurück, sondern steigen in die Straßenbahn nach Pillnitz. Um 7 Uhr erwarte ich Sie zum zweiten Male und wir werden zu dritt (Sie, ich und Sophie) den prächtigsten und friedlichsten Geburtstag verleben. Ist es Ihnen so recht?
12. Mai abends.
Beste gütigste Agathe.
Ich bin so namenlos glücklich im Besitze Ihrer Freundschaft und Ihres Vertrauens. Angenommen, mit Freuden angenommen. Ich werde also an Ihrem Geburtstage meinen Nachmittagskaffee nicht im Rosenhof trinken, sondern nach einer Besichtigung der Tulpenbeete des Pillnitzer Schloßgartens in der Hofkonditorei.
Tausend innige Grüße von
Ihrem Georg
La Panne, Villa Bellevue, Montags, den 16. Mai.
Liebster Freund!
Eben sind wir angekommen, alle in bester Verfassung. Rasch diesen Gruß! Dann geht es an das Auspacken und Einrichten. La Panne ist kein Modeort. Den suchte ich nicht. Es gefällt mir hier. Wir haben ein nettes kleines Landhaus ganz für uns. Sabine, die Meisterin der Kochkunst – wie Sie immer behaupten, – ist über die Wirtschaftsräume entzückt. Meine Freude ist der Blick vom Fenster des Wohnzimmers: Strand, Wald und Meer!
In den fünf bis sechs Wochen, die ich hier ziemlich einsam verbringen will und muß, – denn an Ihr Nachkommen glaube ich nicht so recht! – werde ich mich in die mir von Ihnen mitgegebenen Bücher vertiefen: besonders in Flauberts »Frau Bovary«. Dazu habe ich mir vor der Abreise beim Buchhändler noch einige Neue ausgesucht: von Peter Altenberg, von Thomas Mann usw. Auch »Das Herz im Harnisch« von Ihrem Freunde Börries Münchhausen – Ihrem Geschmack zu Ehren! Es soll wenig, dafür um so gründlicher gelesen werden.
19. Mai.
Liebste Freundin,
es freut mich, daß Sie gut geborgen sind.
Sie bezweifeln, daß ich nachkomme. Wahrlich, es liegt nicht in meiner Macht. Sie sind Naturfreundin. Die Schönheit des Meeres wird Sie über mein Fernbleiben hinwegtrösten. Sondern Sie sich aber nicht allzu sehr von der Gesellschaft! Vielleicht finden Sie ein paar angenehme Menschen.
Es ist ein guter Vorsatz, daß Sie Flauberts großen Roman kennen lernen wollen. Nehmen Sie Original und Übersetzung zugleich zur Hand! Man soll fremdländische Meister nie ohne eine gute Übersetzung daneben lesen. Umgedreht eine Übersetzung nie ohne das Original. Wir mögen uns einbilden, eine fremde Sprache leidlich zu beherrschen: in dem Maße verstehen wir sie doch nicht, daß uns beim Lesen der gleichwertige und gar der erlesene deutsche Ausdruck bei Wort um Wort immer blitzschnell erstünde. Es gibt in jeder Sprache stets nur eine Form, die nichts zu viel und nichts zu wenig enthält. Derartig begabt und geschult zu sein, ist die Grundlage des Nachschaffens. Ganz abgesehen von den dichterischen und künstlerischen Elementen, fehlt dem gewöhnlichen Leser der nötige, im Augenblick unwillkürlich zur Verfügung stehende Sprachschatz. Wir bedürfen eines feinfühligen Dolmetschers, wir, die wir selbst nicht kongeniale Nachdichter sind und nicht imstande, uns ganz und gar in ein fremdsprachliches Kunstwerk, bis in die leiseste Welle des einzelnen Worts in Form und Sinn einzufühlen, einzuleben.
Man hört in der Gesellschaft sehr häufig die Behauptung, daß man »natürlich im Original« läse. Merkwürdigerweise gilt diese eitle Lüge, abgesehen von bloßen banalen Unterhaltungsromanen, fast immer Büchern, die schon in Übertragungen vorhanden sind. Beobachten Sie dies einmal! Es ist sehr drollig. Es ist ja auch eine allgemein anerkannte Tatsache, daß unsre in der Schule erworbenen Sprachkenntnisse gleich Null sind. Ich möchte behaupten: es gibt im ganzen große Bereiche des deutschen Sprachgebietes keine hundert Menschen, die z. B. Flauberts Salambo oder seine unvergleichliche Versuchung des heiligen Antonius im Urtexte so zu lesen verstehen, daß sie die wunderbaren Visionen und Sprachschönheiten dieser Perlen der Weltliteratur sofort im Augenblick des Lesens erfassen, nacherleben und genießen. Das ist nicht bloß Sache des Verstandes. Mit der Phantasie lesen kann man nur, wenn wir die technischen Hindernisse der Sprache nicht mehr merken. Dazu muß man geradezu Franzose sein. Glauben Sie mir, niemand überschätzt die Kultur der Deutschen maßloser als wir selber. Im großen und ganzen sind wir in tausend Dingen immer noch Barbaren.
La Panne, den 21. Mai.
Mein lieber Freund!
Stundenlang lese ich am Meere. Ich habe mir dazu ein wunderhübsches stilles Winkelchen herausgesucht, wo mich niemand stört. Miß May und Sophie spielen unten am Strande.
Flauberts Frau Bovary haben Sie mir besonders gerühmt, und ich habe diesen Roman in den letzten Tagen aufmerksamst gelesen. Bücher, die Ihnen gefallen und gar eins, das Sie lieben oder, wie in diesem Falle, in hohem Maße bewundern, die lese ich mit leidenschaftlichem Eifer. Es ist mir dabei zumute, als kämen Sie im nächsten Augenblick selbst, um sich mit mir über das Gelesene zu unterhalten.
Ich weiß, Frau Bovary ist ein berühmtes Kunstwerk, eins der Fundamente der modernen Erzählungskunst, der erste naturalistische Meisterroman. Diese Tatsache vor Augen, bin ich an das Lesen gegangen. Aber ich muß Ihnen offen sagen, schon nach ein paar Seiten habe ich das Buch nur noch als Mensch den geschilderten Menschen gegenüber gelesen. Es war mir nicht anders möglich. Ich will es nun noch einmal lesen und mich dabei von rein menschlichen Betrachtungen und Empfindungen freier zu machen suchen als bisher.
Ich habe das Gefühl gehabt, unmittelbar im Lebenskreise der Gestalten Flauberts zu stehen. Alles, was er erzählt, hat sich geradezu körperlich vor mir abgespielt, hat mich bis zum Grauen erschüttert. Ich habe gelitten. Ich wüßte nicht, von welchem Buche ich je eine so starke Wirkung erfahren hätte. Jedesmal, wenn ich den Roman weglegte, habe ich noch stundenlang eine seelische Depression empfunden.
Das ist das Leben! Ein erst mit dem Tode aufhörender Kampf mit der Mittelmäßigkeit! In der Heldin dieser so niederdrückenden Dichtung lebt die Sehnsucht nach den Höhen des Menschentums. Wenn sich dieser Schönheitsdurst unter einer glücklichen Sonne hätte entwickeln können: was wäre aus Emma geworden! Daß sie leichtgläubig war, daß sie sich täuschen ließ und sich selbst täuschte, daß sie keine Welt- und Menschenkenntnis besaß, ist alles das Schuld genug, um in Häßlichkeit unterzugehen? Nein, und doch ist nichts folgerichtiger als der grausame Gang der Erzählung.
Emmas Enttäuschung nach Ihrer Verheiratung hat mich an die unglücklichsten Tage meines Lebens erinnert. Ihr Gatte war unbedeutend, aber doch gutmütig. Und er liebte seine Frau auf seine Art, auf die des Alltagsmannes. Der meine ist ein bis in den Grund verdorbener Wüstling. Ach, schweigen wir davon! Ich habe kein Recht, mich zu beklagen.
Es ist mir sehr wohl verständlich, daß eine Schwärmerin wie Frau Bovary nach ihrer ersten Enttäuschung blindlings der zweiten entgegenrennt. Gerade, weil ihre Ehe eine Liebesheirat war. Wie viele Frauen mögen unter der Zwangsvorstellung leiden, irgendwo müsse das Glück ihrer harren. Es gehöre nur Mut dazu, der Mut zur Sünde.
Emma geht nach ihrer letzten, schwersten Enttäuschung freiwillig in den Tod. Durch den Selbstmordversuch, den sie schon einmal früher, im dreizehnten Kapitel des zweiten Buches, begangen hat, nachdem Rudolf sie verlassen, – scheint mir Flaubert anzudeuten, daß es im Grunde nicht die wirtschaftliche Not ist, weshalb sich Emma vergiftet, sondern in allererster Linie die Liebesenttäuschung. Sie hätte sicherlich auch ohne ihre Geldsorgen nicht weiter leben können. Allerdings hätte sie ohne diese niemals erkannt, wie trostlos ordinär und herzlos ihre beiden Liebhaber waren.
Noch etwas. Aus dem Nachwort erfahre ich, daß man sofort nach dem Erscheinen des Buches, im Jahre 1856, die Anklage gegen den Dichter erhoben hat, der Roman sei unmoralisch, er sei eine Apologie des Ehebruchs. Ich denke darüber ganz anders. Ich habe die Überzeugung, keine Moralpredigt der Welt kann auf eine Frau, die vielleicht im Begriffe steht zu fallen, so erschütternd und so warnungsvoll wirken wie diese erbarmungslose Schilderung des Zusammenbruches der Illusionen und des ganzen Daseins einer liebedurstigen Frau.
25. Mai.
Liebste Freundin.
Ich stimme Ihnen bei. Emmas Selbstmord ist Heldentum. Zahlreiche Ehebrecherinnen erleben wohl ähnliche Enttäuschungen. Der Tag bleibt von hundert Sünderinnen vielleicht nur immer einer erspart, wo es ihr wie Schuppen von den Augen fällt, nichts gewesen zu sein als die Dirne eines sinnlichen, eitlen, gewissenlosen Mannes. Trotzdem stirbt von tausend solcher Betrogenen kaum eine daran. Die übrigen haben ihre hohen Träume, ihre letzte Scham, ihre Selbstachtung verloren, aber sie leben weiter; leben und vergnügen sich in den Oberflächlichkeiten der Gesellschaft – an der Seite ihrer gehörnten Ehemänner. Wie hoch über diesen steht die dumme, kleine, am Ende so mutige Emma Bovary!
Es ist häßlich, die Welt zu kennen. Ich fliehe auf die erdenferne Insel unsrer Freundschaft. Hier fühle ich mich glücklich. Hier und nirgendswoanders. Hier bin ich besser, jünger, reiner, kindlicher.
Früher habe ich geglaubt, eine ungestüme, leidenschaftliche Liebe müsse einmal mein Glück sein. Wie groß war dieser Wahn! Sie sollten in mein Leben eintreten, Sie, die Leidenschaftslose, Unnahbare, Verständige! Sie haben mich glücklich gemacht, mit Ihrem Madonnengesicht, Ihrem Frieden, Ihrer Ruhe, Ihrer ewig gleichen Güte und Verständnisfähigkeit. Wie liebe ich alle Ihre Eigenschaften. Sie haben mich durchdrungen. Ich habe mich durch sie gewandelt, und nun weiß ich, daß ich der bleibe, der ich so spät geworden bin. Herbst und Reife sind über mich gekommen. Ich fühle mich in dieser heiteren, hellen Herbstwelt voll milden Sonnenlichts und zärtlicher leiser Wärme unsagbar wohl. Herbst? Ist er nicht ein Symbol der innigsten Zärtlichkeit ohne Ende? Der wetterwendische Frühling ist dahingebraust und der schwüle Sommer verraucht. Nichts ist beständiger als der goldene Herbst und sein stilles Glück.
Voll Dankbarkeit gedenke ich Ihrer.
Warum erzählen Sie mir so wenig vom Meere?
La Panne, Dienstags.
Lieber Freund!
Ach, sagen Sie mir nicht wieder, wie schlecht Sie von den Menschen denken, von den Männern wie von den Frauen! Sie mögen recht haben. Aber lassen Sie mir meine Ideale! Es gibt eine Menge Menschen, die über der Masse stehen. Vergessen wir die Durchschnittskreaturen!
Ich soll Ihnen vom Meere erzählen, von meiner geliebten See! Fast den ganzen Tag gehöre ich ihr, und nachts noch, bis ich einschlummere, lausche ich ihrem fernen Rauschen. Wenn ich diesen Brief fertig habe, eile ich wieder hin. Ich vermag es nicht auszudrücken, wie sehr ich mich hier wiedergefunden habe. Mein gesteigertes, freudiges Daseinsgefühl zu schildern, ist mir unmöglich. Alle meine Sinne schwelgen in harmonischen Rhythmen. Ich fühle mich befreit von aller Schwere, sonnig und leicht wie die Luft, die von der See herweht, vermählt mit den Elementen. Ich verliere mich in ihnen. Ich lebe mit dem Licht, das über die Fluten tanzt, mit den Wellen, die des Himmels Farbe in das Land hineintragen wollen. Ich streichle mit den Händen die Perlenkronen, ich tauche in die Wasser, die auf mich zueilen, ich gebe mich ihnen hin und zittere, wenn sie mich umgleiten ...
Hätten Sie mich für eine so verzückte Schwärmerin gehalten? Sicherlich nicht. Ich bin aber auch kein so verstockter Mensch, wie Sie das häufig sind, sondern ich sage Ihnen immer, wie es mir ums Herz ist. Eins bedrückt mich ein wenig: daß ich das Glück der Wellen allein genießen muß. Mein Töchterchen versteht mich hierin noch nicht. Ach, wenn ich auf mein ganzes bisheriges Leben zurückblicke, dann sehe ich mit Wehmut, daß ich immer das Körnchen Glück, das mir zuweilen vergönnt war, einsam und allein in mitgetragen habe. Wie gern teilte ich die jetzigen Tage mit Ihnen. Um wieviel wärmer und stärker müßte der Genuß zu zweien sein! Ach, auch das ist vielleicht nur ein phantastischer Glaube. Was weiß ich davon? Ich habe das volle Glück doch noch nie mit jemandem teilen dürfen.
Sie werden erstaunt sein, wenn ich Ihnen als Neuigkeit mitteile, daß seit ein paar Tagen ein Dresdner Gesicht hier aufgetaucht ist. Es ist Herr von Wolfframsdorf, einer Ihrer näheren Bekannten. Gestern hat er mich begrüßt. Er war bisher in Ostende. Weiß der Himmel, was ihn bewogen, das rauschende Leben dort mit der schlichten Beschaulichkeit hier zu tauschen! Ich hoffe ihm nicht öfters zu begegnen. Ich will lieber die Sklavin meiner Einsamkeit bleiben. Ich hege eine leichte, allerdings eigentlich auf nichts begründete Abneigung gegen diesen allzugalanten Weltmann.
29. Mai.
Meine geliebte Freundin.
Ich lasse Ihnen von Herzen gern Ihre Ideale. Ich selber bin ja durchaus keiner von denen, die eine teuflische Freude daran haben, wenn sie behaupten dürfen, die Menschheit sei schlecht, häßlich und verdammenswert. Wir beide stehen der großen Masse fern, und so kommt es auf unsre Äugen an, wie wir die Welt erblicken. Wir können sie ebenso im Himmelslichte der Verklärung wie im Widerscheine roter Höllenglut sehen. Nichts hindert uns daran. Wir neigen dazu, ersteres vorzuziehen. Die Philosophie entschuldigt uns dabei. Denn die Sünde ist erst durch die Reflexion der Menschen in die Welt gekommen, und es ist zweifellos ein Gipfel der Lebenskunst, die herrlichste unsrer seelischen Kräfte besonders zu hegen und zu pflegen, unsre wunderbare Kraft zur Verklärung der irdischen Dinge.
Ich war gestern, zum wer weiß wievielten Male, im Don Juan. Keine andre Oper kenne ich so gut wie diese: die Oper aller Opern. Es geht mir dabei wie Stendhal, der seine Lieblingsoper, »Die heimliche Ehe« von Domenico Cimarosa, mehr denn fünf Dutzendmal gesehen hat. Mir vervielfältigt sich der Genuß, je gründlicher ich ein Kunstwerk kenne. Ganz abgesehen von dem Sichverlieren in die Musik, gewährt mir die geringste Variante in der Darstellung, Auffassung und Inszenierung das Vergnügen des Darüber- Nachdenkens. Dabei bildet sich vor meinem geistigen Auge mehr und mehr ein Ideal, zu dem jede Einzelaufführung Fragmente beisteuert.
Mozarts Don Juan ist die genialste Verklärung der Sinnlichkeit, der egoistischen Lebensfreude, des männlichen Verführungsdranges und der herrenhaften Unabhängigkeit. Sie wandelt Erdenhaftes zu Dämonischem.
Ich sende Ihnen anbei Kierkegaards Gedanken über den Don Juan.
Villa Bellevue, den 3. Juni.
Mein lieber Freund!
Mozarts Don Juan ist ein Verführer, aber nicht im landläufigen Sinne des Wortes. Kierkegaard legt dies sehr fein fest, indem er sagt: Bei einem Verführer setzt man stets Reflexionen und Bewußtsein voraus, und soweit man das tut, darf man wohl von Ränken, List und schlauer Berechnung reden. Aber dieses Bewußtsein fehlt Don Juan. Damit verführt er also nicht. Er begehrt, und seine Begierde wirkt verführerisch. Insofern verführt er.
Die Gedanken des Dänen haben mich zu tausend Grübeleien verlockt. Kann eine femme tendre einen Mann lieben, der sie nicht begehrt oder der sie nicht mehr begehrt? Wenn sie es tut, was verführt sie dann dazu?
Übrigens gebe ich Ihnen recht. Der Genuß vervielfältigt sich, je öfter man dasselbe Kunstwerk betrachtet. Merkwürdig! Man erkennt und empfindet immer mehr. So weiß ich z. B. jetzt, daß auch Donna Anna den Juan liebt. Sie muß ihn lieben, wie ihn alle lieben müssen. Aber sie ist nicht mehr frei, und so geht ihre heimliche Liebe in tiefe Todessehnsucht über. Dann erst werden jene Worte verständlich, die sie zu ihrem Bräutigam spricht:
Forse un giorno il cielo ancora
Sentirà pietà di me.
Wenn ich unsre jetzigen Briefe lese, Ihre wie meine, dann muß ich leise vor mich hinlächeln, freudig und wehmütig zugleich. Wir disputieren wie zwei alte Leute. Und einstmals, da haben Sie mich so ungestüm begehrt!
Einstmals! Wissen Sie es noch?
6. Juni.
Liebste Freundin.
Müssen wir unbedingt alte Leute sein, dieweil wir kluge – oder seltsame Leute sind?
Sie entzücken mich durch die Liebe, die Sie allem widmen, was mich gerade beschäftigt. Und wie vertiefen Sie unsre Betrachtungen! Ich fühle immer von neuem, was ich Ihnen bereits in den ersten Tagen unsrer Freundschaft gesagt habe: Wir sind füreinander geschaffen!
Freuen wir uns alle beide dessen und grübeln Sie nicht über das Unabänderliche nach. Wo in der ganzen Welt könnten wir mehr Sonne finden als in unserm Herzensbunde?
Wann sehen wir uns endlich wieder? Wann kehren Sie zurück?
Bellevue, den 10. Juni.
Liebster Freund!
Wenn man einsam ist, lebt man in tausend Erinnerungen. Mein ganzes bisheriges Dasein wandelt in einer langen Reihe von Augenblicksbildern an mir vorüber, während ich, in mein Träumen versunken, am Gestade sitze. Wie scharf, wie farbenvoll, wie eindringlich manche dieser plötzlich wieder auflebenden Episoden sind! Gewisse Szenen aus meiner Jugend stehen so greifbar vor mir, als hätten sie sich gestern abgespielt, Und wie verführerisch frisch bleibt mir alles im Gedächtnis, was mit Ihrer Persönlichkeit verknüpft ist. Ich wage Ihnen das gar nicht so recht zu sagen.
Um mich nicht ganz in diesen zuweilen gefährlichen Erinnerungen zu verlieren, unterbreche ich sie zu bestimmten Stunden. Ich gehe ein wenig spazieren, oder ich nehme ein schönes Buch vor. Auch einige angenehme Bekanntschaften habe ich zufällig gemacht. Zufällig, sehr zufällig. Sie kennen meine Scheu vor Reisebekanntschaften. In diesem Falle danke ich dem glücklichen Zufall. Ein Beweis, daß man sich nie gänzlich in sein Schneckenhaus verkriechen soll! Es sind zwei belgische Damen, Schwestern, die Töchter eines Generals, der lange Jahre Militärattaché in Berlin gewesen ist und seine alten Tage in seinem alten Herrenhause in Lüttich verbringt.
Ich habe die Walloninnen liebgewonnen. Sie ähneln den Pariserinnen, vor allem in ihrem Hang zur raffiniert-schlichten, echten Eleganz (sehr zum Unterschied von den Brüsselerinnen, die den mehr schreienden Luxus lieben!). Auch in ihrer charmanten Art zu plaudern; in ihrer ganzen urbanen Lebensart. Entzückende Frauen! Und zugleich haben sie etwas Unfranzösisches, fast Germanisches, durch ihre gründlichere Gefühlsweise. Überhaupt sind mir die Belgier, der Fläme wie der Wallone, jeder in seiner besonderen Art, unsagbar sympathisch. Aus dem ganzen Volke blinkt gute alte Kultur entgegen, die einen sofort gefangen nimmt. Ich bereue es nicht, hierher gegangen zu sein.
Auf der Heimfahrt wollen wir je zwei volle Tage in Brügge und in Gent verweilen. Nach jenem Ort lockt mich natürlich Rodenbachs wundersame Geschichte. Sie haben mich mit Ihrer historisch -literarischen Art zu reisen angesteckt.
Gute Nacht! Es ist neun Uhr abends.
Ihre Agathe
Herr von Wolfframsdorf kommt mir auffällig oft in den Weg. Er macht mir, oder vielmehr, er versucht mir den Hof zu machen und in nicht ungewandter Weise. Aber er ahnt offenbar nicht, wie wenig gefährlich er mir ist und immer sein wird.
Ich will den Brief nicht mit diesem Vermerk schließen. Und so endet er mit einer mich rührenden Stelle aus einem der Briefe von Charles de Coster. Ich schreibe sie französisch hin, damit Sie nicht denken, es sei eine Elegie von mir selbst:
J'étais seule, je souffrais. Depuis longtemps, tu revenais tous les soirs, m'embrasser. Je te serrais dans mes bras; je pleurais ton nom; je souffrais que cela ne fut qu'un rêve. A chaque mauvaise heure, je t'appelais, et il me semblait te retrouver consolante. Je me croyais fort, affermi dans ma résolution de vivre seul, et chaque jour me rapprochait de toi. Le printemps et l'été passèrent cependant; je n'avais vécu qu'en pensant à toi ...
Den 14. Juni, abends.
Liebster Freund!
Warum so schweigsam? Ich dachte, vorgestern Nachricht von Ihnen zu bekommen. Gestern. Heute. Aber keine Zeile, kein Wort. Sie sind doch nicht etwa krank? Daran denkt man immer am ersten. Nein. Ich würde es fühlen. Etwas in mir würde mir es sagen, Und doch bin ich besorgt um Sie. Nehmen Sie mir diese Unruhe und sagen Sie mir etwas Heiteres, Beschauliches, Harmonisches. Erzählen Sie mir aus Ihrem geruhsamen Dasein.
Sturm war. Drei Tage und drei Nächte hat er geheult. Die wilde wogende See sah unheimlich aus. Kennen Sie das Meer so? Die Nordsee wohl nicht. Sie haben mir einmal gesagt, daß Sie nie nordwärts wanderten. Immer nur über die Alpen oder nach dem Orient.
Das Meer war nachtschwarz. Tobend, brüllend. Ein großartiges Schauspiel. Wie mit Zaubergewalt zog es mich hinaus. Und ich bildete mir ein, der Ozean sei ein lebendiges Wesen; eines, das in Aufruhr war. In sinnloser Wut. Warum, wollte ich wissen. Ob aus schlimmem Schmerz? Oder aus leidenschaftlicher Freude?
Es ist Unsinn, so zu fragen, aber ich habe wie gefangen draußen gesessen und im Halbtraume über allerlei nachgegrübelt. Wie liebe ich diese Wildheit.
Gestern war alles vorüber. Grau die Flut, müde, wie wirklich erschöpft. Und unsagbar traurig und trübselig, wie verzweifelt bis zur Tatenlosigkeit. Ich bin selber von Wehmut und Trauer erfüllt worden.
Und heute. Goldenes ruhiges Sonnenlicht. Der Himmel wie von blauem Glas. Die See lichtblau, blaßgrün, mattviolett. Und so festlich froh. Die Wellen am Gestade spielten, murmelten, plätscherten, – harmlos wie kleine Kinder. Und von den Dünen und den Wiesen her Duft von Kräutern und Ginster, würzig und schwer wie etwas Fremdes und Seltsames in der leichten Seeluft.
Meine Augen waren glücklich, und mein Herz wäre es auch gewesen, wenn ich ein paar Gedanken von Ihnen um mich gehabt hätte. Ich habe immer Ihrer gedacht. Ganz besonders, als die Sonne unterging, in tausend Farben.
Ganz, ganz leise Wehmut zitterte durch alle die Schönheit. Ein Klang aus weitester Ferne. Es wäre in Ihrer Macht gewesen, diesem Klang die Seele der Freude zu geben.
Ich habe in diesen Tagen einen Franzosen, einen Bretagner, kennen gelernt, einen sehr gelehrten Vertreter seines mich immer wieder entzückenden Volkes. Die gemeinsame Literatur gibt uns die Gesprächsgegenstände: die Weltliteratur, das heißt die Reihe aller Bücher, die etwas Großartiges, Unvergleichliches, Zeitloses, Typisches in sich haben. Er behauptet, die Tiefe der Bildung eines Volkes erkenne man am allerbesten an seiner Lieblingslektüre. Dies lasse sich im Durchschnitt feststellen. Kinder alter Kultur läsen mit Vorliebe immer wieder die altberühmten Bücher. Die kennen sie bis in die Einzelheiten. Sie sind mit ihnen verwachsen. In jeder Lage ihres eigenen Lebens kommt ihnen unwillkürlich eine stimmungsverwandte Szene einer lieben Dichtung in den Sinn. Irgend ein längst dahingegangenes edles Vorbild wird zum Schutzgeist. Dagegen die Söhne und Töchter kulturjunger Völker, die stürzen sich auffällig mehr auf die Neuerscheinungen. Sie finden das gute Alte gern langweilig und disputieren vielzuviel über junge, gärende, formlose, problematische Gebilde der Schriftsteller ihrer Zeit, von denen man noch nicht weiß, sind sie überhaupt wahre Dichter. »Je älter ich werde«, meint er, »um so unüberwindlicher wird meine Scheu vor den angeblichen Größen der letzten Mode. Ich möchte behaupten, ein reifer Mann von erlesenem Geschmacke liest ganz selten etwas Neues, aber um so gründlicher und liebevoller das erhabene Alte.«
Ich weiß nicht, ob letzteres nicht auch einseitig ist. Sie haben sehr Ähnliches im Gebiete der Musik von sich und Mozarts Don Juan gesagt. Was der kluge Plauderer aber von alter Kultur behauptet, erscheint mir richtig. Die alten Griechen haben es in ihrer Freude an der plastischen Kunst so gehalten. Man schuf immer wieder Aphroditen, Dianen, Amazonen und Diskoswerfer, in jeder Generation, in jedem Jahrzehnt, mit jenen stilistischen Unterschieden, die schließlich eine langlinige Entwicklungsgeschichte bilden. Neben dem gefühlstiefen Genuß der Schönheit an sich hatte der feine Kenner die geistige Freude des nie rastenden Vergleiches.
Wir Deutschen sollten wieder Genuß daran finden, die alten Stoffe der Dichtung hin und wieder in neuen Fassungen vor sich zu sehen, die alten Legenden, die schönen Sagen von Merlin und Niniane, König Arthur, Parzival, statt uns immer nur auf das neueste Neuerfundene zu stürzen, das uns die trügerische Tageskritik anpreist. Von der Fabrikware für den Massengeschmack gar nicht zu reden, von den Tagesromanen, die heute erscheinen und morgen vergessen sind. Ich finde, die ältere Literatur könnte sehr gut in geistvollen Erneuerungen fortleben.
Dresden, 17. Juni.
Liebste Freundin,
ich möchte Ihnen tausend liebe Worte sagen. Ich bin Ihnen immer wieder für unsre Freundschaft dankbar. Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht Ihrer gedächte.
In den letzten Tagen bin ich öfters trübgestimmt gewesen. Sie fehlen mir. Ihre Gegenwart würde mich aufheitern. Warum ist es uns nicht vergönnt, uns zusammen des Meeres zu erfreuen? Ach, ich habe nicht den Mut, zu Ihnen zu kommen und mir von neuem Kraft bei Ihnen zu holen.
Köln am Rhein, den 21. Juni.
Liebster Freund!
Wir waren, wie vorgenommen, zwei Tage in Brügge und ebensolange in Gent. Brügge ist wirklich die märchenhafte, geheimnisvolle Stadt, wie ich sie mir vorgestellt. Entzückt hat mich Gent. Leben und Leute berühren selbst den flüchtig Reisenden traulich. Am Abend eine halbe Stunde in der Kathedrale verträumt. Nun verweilen wir heute und morgen hier in Köln. Sophiens wegen, der die ununterbrochene Fahrt nicht gut bekommen würde. Es ist Sonnabend; ich müßte Ihnen also den gewohnten Sonntagsbrief schreiben. Seien Sie mir nicht böse, wenn es diesmal nur diese eine Seite ist. Ich bin müde und sehr abgespannt. Wir Frauen sind schlechte Reisende. Sie wissen, ich gedenke Ihrer – heute wie alle Tage!
Seien Sie bestens gegrüßt!
Steinbach, den 27. Juni 1913.
Liebster Freund!
Wir sind seit dem 24. nachts wieder hier. Nicht mehr am Meer und doch ist's so wunderhübsch! Das Haus voll fröhlicher Gäste, nur Ihr Zimmer wartet noch seines Bewohners. Wann treffen Sie endlich ein? Sie haben mir fest versprochen, solange hier zu bleiben, wie Sie nur können. Vergessen Sie auch nicht, uns Ihren Neffen Michael zuzuführen! Er soll seine letzten Schulferien bei uns verbringen. Nächstes Jahr ist er ja freier Studiosus, und dann wird er wohl lieber in die weite Welt hinauswandern wollen, als sich mit dem Landleben begnügen.
Mein Bruder Hermann ist seit vorgestern da. Er ist sehr erholungsbedürftig und doch spricht er schon wieder von allerlei afrikanischen Plänen. Sonderbar, diese Sehnsucht nach den Tropen! Meine Schwägerin ist im Begriffe, nach Baden-Baden abzureisen. Susanne soll hierbleiben.
Sie wissen, Hermann ist ein wenig geradezu. Gestern bei Tisch war die Rede von Ihnen. Flugs wandte er sich an Susi:
»Verehrte Nichte, immer noch nicht weiter mit Rockau? Sag einmal, wann haben wir das Vergnügen eines Verlobungsdiners? Mir schien es früher, als gälte es nur noch, ein offenes Geheimnis der Allgemeinheit zu verkünden!«
»Bester Hermann, deine Art, die Leute auszufragen, finde ich zum mindesten drollig!«
»So? Na, ich wollte bloß wissen, wen man alles zu Rivalen hat, wenn man sich in der Schar der Bewerber um die schönsten aller Hände einzureihen gedenkt.«
»Tritt vorläufig nur brav mit an! Alles andre wird sich finden.«
Hermann scherzt natürlich bloß, aber er widmet sich meiner Nichte auf das Eifrigste – und damit hat er ihre Gunst und Gnade, da sie gern gefällt.
Heute vormittag machte mir meine Schwägerin einen Besuch in meinem Zimmer. Sie wissen, wie ich mich mit der Schwester meines Mannes verstehe; daß mich im Grunde nur Höflichkeit und übergroße Rücksicht veranlassen, sie in meinem intimsten Kreis zu dulden. Sie bat mich nach tausend Umschweifen, Herrn von Szanto auf ein paar Tage nach Steinbach einzuladen. Ich habe nichts gegen den jungen Ungarn, so geringwertig mir sein Snobismus auch vorkommt. Und dem Glücke meiner Nichte will ich erst recht nicht entgegenstehen. So hat er denn seine Einladung erhalten. Was sagen Sie dazu? Er ist also der Erkorene!
Ich würde mich freuen, wenn Sie mit Susanne wieder zu der alten guten und doch nichtssagenden Kameradschaft kämen. Wenn der Ungar da ist, wird sich das von selbst machen. Susanne ist so schnellebig und lebensdurstig, daß auf ihrer Seele wohl nur noch etwas wie der Reif eines Geschehnisses liegt.
In allen Gütern der Gegend herrscht die regste Geselligkeit. Es sind bezaubernde Erscheinungen da. Lockt Sie das nicht? Schöne Frauen gehören doch zu Ihrem Lebenselement.
Nochmals, kommen Sie bald!
1. Juli.
Meine gütige Freundin,
in aller Eile meinen herzlichsten Dank für Ihre freundliche, mich rührende Einladung. Ich will am kommenden Sonnabend vorläufig auf vierzehn Tage kommen. Ich muß dann gegen Ende des Monats allerhand Geschäftliches erledigen. Mein Bruder scheint mir wieder einmal das Feld der Tätigkeit zu überlassen. Das geschieht immer dann, wenn gar nichts mehr in Ordnung ist. Mein Neffe Michael läßt tausendmal danken. Er wird mit Freuden am 12. eintreffen. Empfehlen Sie mich, bitte ich, allen Ihren Gästen.
Steinbach, den 2. Juli.
Mein lieber Freund!
Ihre Zusage versetzt mich in die höchste Freude. Ist es denn wahr? Sie kommen wirklich!
Der Wagen ist halb zwölf an der Haltestelle. Wie schön, mit Ihnen das geliebte Land um unser Steinbach durchwandern zu dürfen!
(Depesche)
Dresden, 6. Juli, 8 Uhr vormittags.
Frau von Uechtritz, Rittergut Steinbach, Lausitz. Abreise unmöglich geworden. Brief folgt. Tausend ergebene Grüße.
Georg Rockau
Rockau, 5. Juli abends.
Meine geliebte Freundin.
Mein schöner Plan, nach Steinbach zu kommen, in tausend Träumen ausgemalt, hat sich zerschlagen. Ich kann noch nicht kommen und bin ganz trostlos darüber. Dazu fühle ich mich körperlich gar nicht wohl. Ein Landaufenthalt ohne Sorgen und Pflichten wäre vorzüglich für mich.
Ich bin auf unserm Gute und habe hier sehr viel zu tun. Mein leichtherziger Bruder ist, ich weiß nicht wo und mit wer weiß wem. Eins weiß ich nur, daß er sich in Grund und Boden ruiniert. Wie soll das enden?
So viel ich voraussehe, muß ich zwei bis drei Wochen hier bleiben. Alsdann eile ich zu Ihnen, um mich von Ihnen recht hegen und pflegen zu lassen. Mein heutiger Brief wird Ihr Herz wenig erquicken. Denken Sie sich aber in meine Lage, und Sie werden nicht zu streng mit mir sein können.
Ich liebe Sie zärtlich. Sie allein sind es, die mich mutig und zuversichtlich macht.
Steinbach, Sonntag den 6.
Mein armer guter Freund!
Daß Sie Mühen und Sorgen wegen Ihres Bruders haben, das ist unerfreulich. Dazu zerstört es meine Erwartungen und meine schönsten Pläne. Aber schließlich sind das Dinge, die man ergeben ertragen muß. Sie gehen vorüber. Viel ernster und mit großer Betrübnis nehme ich Ihre etwas zu wortkarge Mitteilung auf, daß Sie sich gerade jetzt,wo wahrscheinlich große Anforderungen an Sie gestellt werden,körperlich nicht wohl fühlen.Ich argwöhne, um mich zu schonen, verheimlichen Sie mir den Grad Ihres kranken und unbehaglichen Zustandes. Und das ist nicht recht von Ihnen. Es quält mich. Ich leide darunter. Ich muß über Sie immer in klarster Gewißheit sein. Ich bitte Sie, richten Sie sich allezeit und unter allen Umständen getreulich darnach. Es ist für uns beide am besten.
Noch eins. Es wäre möglich, daß Sie nervös und mutlos sind, weil Sie von vornherein sehen, daß aller Fleiß und alle Anstrengung umsonst ist ohne kräftige materielle Hilfe. Ich kenne solche Lebenslagen von meinem Vater her. Auch in diesem Falle wäre ich die erste Instanz, die Ihrer harrte. Es gibt Leute, die sich selber nichts abgehen lassen, aber peinliche Empfindungen verspüren, wenn es mit Taten zuzugreifen gilt und wäre es beim besten Freund. Gold gefährde die Freundschaft, sagt man dann heuchlerisch. Ich gehöre nicht zu diesen kleinmütigen Egoisten.
Seien Sie also in jeder Weise offen zu Ihrer
allergetreuesten Freundin und Schwester
Agathe
Rockau, 10. Juli.
Meine angebetete Freundin.
Der Gedanke, daß Sie mir in allem Freundin und Schwester sind, macht mich glücklich. Sie haben recht vermutet, ich war mehr mutlos und nervös denn wirklich und ernstlich krank. Ich fühle mich seit gestern wieder kräftig. Ich übersehe die Dinge bereits besser, und ich kann zu meiner Freude vermelden, daß wir das Schifflein noch über Wasser halten. Ich habe meinem Bruder nochmals auf die Beine geholfen. Dafür habe ich vertragsmäßig die Sicherheit, daß er nun keinen Pfennig Schulden mehr auf das Gut eintragen kann. Ich habe getan, was in meiner Macht stand. Ich berichte Ihnen Einzelheiten vielleicht mündlich.
Ich gedenke, am 1. August im schönen Steinbach einzutreffen.
In herzlicher Dankbarkeit
Ihr Georg
Steinbach, den 15. Juli.
Mein Freund!
Kommen Sie, morgen, übermorgen oder erst am 1. August, das heißt, wann Sie können und wollen! Ich wage nicht mehr zu hoffen, daß es bald geschieht. Meine erwartende Freude und dann meine Enttäuschung neulich, als Sie schließlich doch nicht kamen, waren zu groß. Bei meiner Abreise von Dresden war ich fest überzeugt, daß Sie mich hier besuchen würden. Ich wollte es auch! – werden Sie beteuern. Gewiß! Sie wollten!
Was soll ich Ihnen Schönes verheißen und vormalen, damit Sie Sehnsucht nach Steinbach bekommen? Alles, was ich Ihnen schon so oft von unserm Landgute erzählt habe: von der Fernsicht über die weite Ebene und nach den blauen Hügeln in der Ferne, vom Flüßchen und den Gondelfahrten auf dem großen Teiche, von den lauschigen Wegen und Winkeln, vom Park und dem Blumengarten, von den Ritten in der Morgenkühle, von den gemütlichen Plauderabenden nach Tisch auf der Terrasse, – alles das verlockt Sie doch nicht. Damals nicht und heute nicht.
Am besten haben es Menschen, die einfach sagen dürfen: Komm! Ich muß Dich sehen! Solch nicht jedesmal wieder zu begründendes Privileg habe ich leider nicht. Soweit gehen die Rechte der Freundschaft nicht, das heißt: nach Ihrer Lebensanschauung. Nach der meinen gingen sie wohl soweit. Aber der gute Freund soll sich in Dingen, die der Freiheit des andern Zwang antun, immer nach der Anschauung des Freundes richten, nicht nach der seinen.
Mein Freundschaftsideal ist das des Michel Montaigne, dessen berühmten Essay über die Freundschaft Sie mir einmal vor Jahren vorgelesen haben. Erinnern Sie sich? Es ist altmodisch, Montaigne zu lesen. Und es wäre wohl in den Augen der Leute von heute ein etwas lächerlicher Anachronismus, wenn wir Ideen von ihm in uns aufleben ließen? Oder doch nicht? Nein, nichts ist lächerlich, was in sich wahr ist.
Seien Sie gegrüßt!
Michael ist seit gestern bei uns. Er hat bereits aller Herzen erobert. Auch er wartet Ihrer.
Rockau, den 28. Juli.
Liebste Freundin.
Ich bin im Begriffe, Rockau zu verlassen. Am Sonnabend habe ich noch in Dresden zu tun. Wollen Sie mich gütigst am Sonntag erwarten? Ich steige halb zwölf Uhr in der Haltestelle aus dem Zuge. Schon male ich mir den glücklichen Augenblick aus, wo ich die Lipizzaer Schimmel ungeduldig vor dem kleinen Bahnhof scharren sehe. Sie machen sich keine Vorstellung, wie innig ich mich auf unser Wiedersehen freue.
Ich habe mich in den letzten Tagen grenzenlos einsam gefühlt. Ein Wort Goethes hat mich aufrecht erhalten: »Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist! Was ist aber deine Pflicht? Die Forderung des Tages.«
Es liegt ein stilles Glück in der Pflichterfüllung. Gewiß! Aber sagen Sie mir, Geliebteste, ist dieses Glück nicht auch der Beweis, daß man resigniert geworden ist?
Mein ganzes Leben ist an mir wieder vorübergezogen. Wenn es irgendeinmal Widerwärtigkeiten, Schatten, schwache Tage gehabt hat: die Erinnerung, diese große Künstlerin, hat selbst sie durchsonnt. Ich habe allen Anlaß, meinem Stern dankbar zu sein! Meine Kinderjahre, meine Soldatenzeit, meine zweite Erziehung, das Glück Ihrer Freundschaft, – um nichts in der Welt möchte ich alles das missen. Nach soviel Wunderbarem wäre das bitterliche Gefühl der Resignation die gröbste Undankbarkeit! Es ist ein falsches Wort; ein Begriff, den ich gar nicht kenne. Herbst ist kein Verzicht. Es ist nur ein Wandel des Daseins. Ach, ich will gern meine neuen Pflichten tragen, frei jedweder Mißlaune.
Täglich, in der Morgenfrühe bin ich durch Wald und Feld geritten, und, wiederum mit meinem lieben Goethe, habe ich ausgerufen:
Laßt mich nur in meinem Sattel gelten!
Bleibt in euren Hütten, euren Zelten!
Und ich reite froh in alle Ferne,
Über meiner Mütze nur die Sterne.