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Das Haus im Tal zu München war die Stätte geworden, wo die Königin der Instrumente eine neue Krönung erhielt. Ihr Prunksaal war die Kunst gewohnt und ihrer wert, und die Geschlechter, die den Thron umstanden, waren bewährt in Jahrhunderten der Treue. Der Geigenbau ist eine Kunst der Höhen und des Holzes. Die Schönheit, Kraft und Weite ihrer Herkunft hat sie nie verlassen. Von einem Holz auf hartem Boden festgewachsen, ist jedes Instrument ein Stück der Berge selbst, und seine Stimme überfliegt die Höhen wie Adlerflug. Doch geht die Kunst nach Brot und muß sich ihre Heimat wählen. Es wurde München eine Wahlheimat für die Sprossen der alten Zünfte aus Füssen und Brescia. Die Väter konnten den Söhnen nichts mehr vererben als den Broterwerb. Das Zunftgebot verlangte gute Bürgschaft, langjährige Lehrzeit und einen gehorsamen Fleiß. Es band den Nachwuchs an die Formen seiner Kunst, den Inhalt konnte es nicht geben, der kam allein von Gott. In schlechten Zeiten ging die Kunst auf schwachen Stelzen am Arme des bewußten Handwerks durch die Gassen. Der Instrumente Stimme wurde rauh und schwer, doch da die Form geheiligt blieb, stand alle Tage für die Kunst das Bett zur Heimkehr offen. Jetzt saß sie hinter den Fenstern des Hauses im Tal zu München und sang von allen Hölzern, die Josephus Florenus zum Gehäuse fügte.
Ein altes Zunftgebot hatte bestimmt, daß keine Geige unter Preis verkauft werden durfte, doch stand es jedem Meister frei, den Preis so hoch zu setzen, wie er wollte. »Denn das«, so hieß es im Statut, »kann die Kunst nur fördern!« Die alten Meister waren noch nicht so krank am Neid, wie unsere Zeit es ist. Sie wußten, daß der Nutzen eines ihrer Besten Gemeinnutz aller werden mußte. Das war die Weite, die die zünftlerischen Grenzen überstieg und ihrer doch nicht spottete. Die Ehrsamkeit der Zunft war mit der Freiheit ihrer Kunst viel leichter zu vereinen, als heute die Freiheit von der Zunft mit der Ehrsamkeit der Kunst zu versöhnen ist.
Die Geigenbauer schauten auf Josephus Florenus mit scheelen Blicken. Sie wußten nicht recht, ob er ein Geheimnis besaß oder nicht. Auch ihr Neid mußte eingestehen, daß seine Geigen von edler Form und hellem Klange waren. Die Arbeit fanden sie so exakt und wohlbemessen, daß sie ungläubig lächelten, wenn sie sie als Handarbeit einschätzen sollten. Es war so allgemein geworden, an fertiger Fabrikarbeit mit müßigen Händen herumzubasteln, daß man Florenus nicht mehr zugestehen wollte als eine größere Geschicklichkeit in seiner Bastelei. Sie hatten den Glauben an das Handwerk verloren, und es war ihnen nicht mehr vorstellbar, daß es noch Menschen geben konnte, die eine Geige bis zum letzten Wirbel selber bauten. Die meisten, die so dachten, hatten jede handwerkliche Übung zugunsten des bequemeren Handels längst aufgegeben. Ehrliche Leute unter ihnen waren davon überzeugt, daß die Kunst der Amati, Stainer und Stradivari längst und für immer dahingegangen sei. Sie hielten es für eine vergebliche Mühe, verlorenen Künsten nachzustreben. Man tat sich gerne groß mit der Kunst der alten Meister und tat auch alles, um in ihrer ewigen Kunst das junge Leben zu ersticken. Eine Kunst des Geigenbaues sollte und durfte es nicht mehr geben. – Das war eine Überzeugung, die noch den Vorteil hatte, daß sie die Preise alter Instrumente nicht gefährdete.
Josephus Florenus mußte einen Trick besitzen, den man nicht kannte, und man wollte eines Tages schon dahinterkommen. Mit Stradivari hatte das nichts zu tun. Die Geigen dieses Meisters klangen auch ganz anders, und das war schon genug. Ja, wenn Florenus es sich von Fachgenossen und Kennern bezeugen lassen konnte, daß eine von ihm wirklich ganz allein gebaute Geige genau den gleichen Klang wie eine Stradivari-Geige zeigt, dann hätte man wohl aufgemerkt, aber so –. Das tollste war, daß dieser Florenus seinen Geigen einen Anstrich gab, der nach dem echten Stradivari-Lack gemacht sein sollte. Man hatte ihn danach gefragt, und hochfahrend hatte er erwidert: »Ich streiche meine Geigen an mit meinem Lack, wie Stradivari es mit seinem tat.« Es war klar, daß er damit seine Kollegen irreführen und bloßstellen wollte, während er seiner eigenen Kundschaft andere unkontrollierbare Dinge erzählte. Es war ein Trick des Wettbewerbes dieses schlauen Italieners!
Es waren schon manche Kollegen in das Haus im Tal gekommen, um Florenus auszuhorchen. Die meisten gingen dümmer, als sie kamen. Mit seinem glatten Witz ging er ihrem plumpen Ernst wie ein Aal durch die Finger. Faßten sie sich Mut und fragten grob, was dieses oder jenes zu bedeuten habe, gab er ihnen lebhaft umständliche Lehren, die man auch dann nicht verstanden hätte, wenn sie weniger sinnlos gewesen wären. Einmal ließ sich mit ihm ein Händler in eine Debatte über Form und Bearbeitung der Decke ein.
»In der Bearbeitung der Decke liegt die ganze Kunst!« behauptete der Händler.
»Die ganze nicht«, erwiderte Florenus lachend, »höchstens die halbe, denn die andere Hälfte müßte auf den Boden fallen!«
»Der Boden ist nicht so wichtig«, versteifte sich der Händler, »sonst würden Stainer und Stradivari dem Deckenprofil nicht so große Aufmerksamkeit geschenkt haben.«
»Gewiß«, bestätigte Florenus, »sie haben alle der Decke eine große Aufmerksamkeit geschenkt.«
»Na, also und warum? Weil sie alle den richtigen Ton nicht fanden. Das gelang erst dem Guarneri, der ist der Hauptkerl von der ganzen Gesellschaft!«
»Kein Zweifel an Guarneri«, versetzte Florenus trocken, »doch warum sollten die andern nichts taugen?«
»Nicht doch, nicht doch, sie taugen schon etwas, aber der Gescheiteste ist doch der Guarneri. Ich sage Ihnen, diese Cremoneser haben alle versucht, ihr ganzes Leben lang versucht. Sehen Sie sich die Profile an! Ich weiß nicht, haben Sie schon viele alte Geigen gesehen?«
»Ich habe einige in meinen Händen gehabt.«
»Na ja, einige, es müssen schon viele sein, und dann muß man natürlich auch darauf geachtet haben. Als ich noch selber Geigen baute, habe ich die Probe auf das Exempel gemacht!«
»Dann werden Sie sehr gute Instrumente gemacht haben, und es ist schade, daß Sie nicht dabei geblieben sind.«
»Vielleicht, aber wie das so kommt! Ich richtete mich manchmal nach Stainer und manchmal nach Stradivari. Dabei erkannte ich eben, daß nur der Guarneri das richtige herausgefunden hatte!«
»Da haben Sie sich gewiß auch nach Guarneri gerichtet?«
»Selbstverständlich, Herr Florenus, und es wäre auch etwas geworden, aber wo soll unsereins heute die Hand hernehmen, um solche Decken zu schneiden? Das ist uns eben nicht mehr möglich, wir lernen das nicht mehr genau genug!«
»Das hätten Sie eben gerade lernen sollen, mein Lieber!«
»Wo denn nur, Herr Florenus, wo denn nur? Ich hätte ja auch weitergebaut, aber als ich mir sagen mußte, das erreichst du doch nicht, habe ich eingehalten. Schlechte Geigen gibt es genug. Haben Sie denn noch etwas Besseres gelernt?«
Florenus verzog das Gesicht, als wenn er nicht wüßte, ob er lachen oder zürnen sollte. »Guarneri-Geigen zu bauen, habe ich nicht gelernt!« gab er zu.
»Wir können offen zueinander sein, Herr Kollege«, fuhr der Händler fort, »was heißt gelernt! Die alten Geigenbauer haben fünf bis sieben Jahre gelernt und blieben Geselle, bis sie heirateten. Die meisten haben dann noch weiter probiert und studiert. Stradivari soll als Meister noch dreißig Jahre lang geübt haben, bis er sein richtiges Modell gefunden hatte. Wer hat heute so viel Geduld, Zeit und Geld, um so etwas zu machen? Heute geht alles fixer, der Umsatz muß es bringen!«
»Es geht auch anders«, versetzte Florenus, »bauen Sie gute Geigen, und man gibt Ihnen gutes Geld. Was brauchen Sie mehr, um zu leben?«
»Lassen Sie uns nicht darumreden, Herr Kollege! Ich schätze Ihre Geigen, Sie verstehen, aus dem Holze etwas zu machen. Aber nun sagen Sie einmal, wenn Sie die Decke so vor sich liegen haben, was machen Sie dann, um da einen anständigen Ton herauszuholen? Hobeln Sie die Kanten nochmal ab, damit sie dünner werden? Ich habe mir das nämlich schon gedacht, wissen Sie, denn die Decke muß doch federn, um so leichter und schöner wird der Klang!«
Der Besucher blickte gespannt auf Florenus. Diesen hatte das Gespräch amüsiert, und er überlegte, was er dem törichten Manne antworten sollte. Er wird doch alles falsch verstehen und vor anderen verdrehen, dachte er, warum soll ich ihm nicht die Wahrheit sagen, damit der Spaß ein glückliches Ende findet? »Herr Kollege«, begann Florenus mit einem verhaltenen Zucken in den Mundwinkeln, »ich kann Ihnen nicht alles verraten, was zum Bau einer Geige gehört, aber da Sie selbst ein so guter Kenner sind, will ich Ihnen sagen, wie ich es mache. Sehen Sie eine Glocke, eine Glocke ist oben dick und am Rande dünn. Der Klöppel schlägt gegen diese dünnere Wand, und es gibt einen schönen, hellen und lauten Ton. Bei der Geige ist es umgekehrt. Da schwingt der Ton am stärksten in der Mitte der Geigendecke, also muß diese dort dünner und am Rande dicker sein!« – Florenus wollte noch weitersprechen, doch der Mann sprang auf und schrie ihn wütend an: »Dann hängen Sie doch Ihre Geigen als Glocken in die Frauenkirche!« Er nahm seinen Hut und stürzte hinaus.
Gleich nach diesem Auftritt trat zufällig Professor Baltzer in den Laden. »Wen haben Sie denn eben zum Teufel gejagt?«, fragte er lachend, »der Mann hatte einen Kopf, als wenn er bei Ihnen gesotten wäre!«
»Der Mann wollte meine Geigen als Glocken in die Frauenkirche hängen«, erwiderte Florenus humorvoll.
»Das wäre beinahe kein schlechter Gedanke«, versicherte Baltzer, dem Florenus nun die Begebenheit erzählte, »gottlob gibt es auch andere Geigenbauer!«
»Gewiß«, entgegnete Florenus, »aber von den wenigen, die anders sind, hören Sie nicht viel. Sie haben ihren Kreis, in welchem sie arbeiten, und darüber hinaus sind sie nur bekannt, wenn ein großer Ruf sie trägt.«
»Sie bringen mich damit auf das, was ich fragen wollte. Ist es wahr, daß Sie nach Berlin verziehen wollen?«
»Ich hatte es wohl einmal erwogen, doch ich bleibe hier. Es gab eine kleine Unterhaltung mit meinem Schwiegervater, und der meinte, was willst du dort? Du baust hier deine Geigen und verkaufst sie, mehr kannst du dort auch nicht.«
»Da hat er recht, Meister Florenus.«
Florenus wiegte nachdenklich den Kopf. »Ob er damit recht hat, das wage ich nicht zu behaupten, denn Berlin ist eine große Stadt, und vieles, was einst für München galt, spricht heute noch vielmehr für Berlin. Alle großen Künstler geben sich dort ein Stelldichein. Das ist für einen Geigenbauer schon das rechte Feld. – Aber habe ich hier nicht auch meine Freunde, und bin ich hier nicht heimisch geworden?«
Professor Baltzer nickte. »Ja, ja, und der alte Mittendorfer wird auch nicht gerade nach Berlin ziehen wollen.«
»Nein, aber der bleibt auch nicht hier. Das Alter ruft ihn schon zurück in seine Berge. Er geht nach Mittenwald.«
»Und Ihre Frau?«
Florenus lachte der Schalk aus den Augen. »Das ist ja gerade das Verhängnis, lieber Freund, meine Frau liebt München, und ich liebe sie. So bleibe ich hier!«
»Um dieser Fessel wegen sei Ihre Gattin hochgeehrt!« rief Professor Baltzer fröhlich und drückte seinem Freunde zum Abschied warm die Hand.
Der alte Mittendorfer hatte sich seinen Wunsch erfüllt und war in seine Berge heimgekehrt. Er traf noch einige Genossen aus der Jugend an und sah, wie alt und jung sich immer noch mit Geigenbauen zu ernähren suchten. An dem Denkmal Matthias Klotz' ging er oft mit sinnendem Kopf vorüber. Die Kunst, die Josephus Florenus in sein Haus getragen hatte, war auch in ihm aufgegangen, nicht mit der Glut der steigenden Sonne, sondern mit dem milden Schein einer gestillten Sehnsucht. Er wußte, daß Florenus sich mit großen Plänen trug, um später einmal in seiner italienischen Heimat dem Geigenbau von neuem Grund und Richtung zu geben. War es nicht möglich, in Mittenwald auch mit der Reform zu beginnen? Aus fertigen Einzelteilen und zusammenhanglosen Spezialarbeiten konnte mit Hilfe keiner Tonlehre oder Meisterschule eine Geige gebaut werden, wie Matthias Klotz es einst gelehrt hatte. Er hätte gewünscht, die Jugend und die Spannkraft zu besitzen, um seiner Heimat die alte Kunst zurückzugeben. Auf Florenus hatten sie nicht gehört und würden sie auch nicht hören. Es mußte ein Meister vom Orte sein und ein Apostel wie Matthias Klotz. Wenn einer kommt in diese Berge, wird er bleiben in dieser Enge? Der Alte blickte zu den Bergwänden hinauf. Als Matthias Klotz hier wirkte, lag der Ort an der großen Handelsstraße nach Italien. Da konnte das Handwerk blühen und die Kunst gedeihen. Jetzt war es anders hier oben. Der Alte dachte mit sorgender Liebe, daß die Kunst hier zur Ruhe gehen würde wie er selbst.
Im Sommer waren Florenus und seine Frau bei dem alten Mittendorfer zu Gast, und er schüttelte Florenus seine Sorgen aus. Josephus mochte ihm nicht sagen, daß Mechanik und Verkehr den Abstand zwischen Kunst und Handwerk nicht nur hier schier unüberbrückbar gemacht hatten. An Menschenhänden fehlte es nicht, doch an der Wiedererweckung des lebendigen künstlerischen Geistes, der mit Verachtung jeden Plunder von sich weist. Was hatte man im Geigenbau schon alles exerziert, um das, was nur dem Künstler möglich war, mit andern Mitteln zu erschleichen! Seltsame Geigen hatte man gemacht, aus Horn und Schildpatt, selbst aus Blech. Die Formen wurden breitgedrückt oder ausgereckt, um alles einmal ausgeprobt zu haben, was Ungeschmack zuwege bringen konnte. Das alles war ein Spiel des Handwerks gewesen. Die Gegenwart war technischer und akkurater. Sie wollte sich mit solchem Formwahn nicht lächerlich mehr machen. Sie glaubte vor der Lächerlichkeit geschützt zu sein, weil die Harmonie auf dem Papier der Mathematik ihre Fehler nicht beweisen konnte. Das konnte nur das musikalische Gehör, und wer es nicht besaß, der machte sich nicht strafbar. Warum sollte strafbar sein, wer für diese Menschen Violinen baute! »Nein, Väterle«, sagte Josephus beschwichtigend zu dem alten Herrn, »du brauchst nicht so besorgt zu sein. Wenn es das Publikum verlangt, wird man in Mittenwald auch wieder Geigen bauen, wie es Matthias Klotz getan!«
An einem der schönen Tage stieg Florenus den Weg zur Straße nach Elmau hinauf. In der frühen Vormittagsstunde war diese herrliche Straße fast menschenleer. Das Karwendelgebirge schob sich breit und stolz heran und zwang die Blicke des Wanderers weit hinein in das deutsche Land. Es ist eine Landschaft für einen Propheten, dachte Florenus, hier türmen sich Felsen zu Bergen, sie säumen den friedlichen Weg und leuchten und donnern mit drohender Kraft in das weite Land. Man müßte von hier mit Bergesstimme die Wahrheit in die Lande schreien. Ein Siegruf müßte es sein, der vom Gebirge her ein ganzes Land in Klarheit bringt! Florenus setzte sich auf eine Bank am Wege und stützte das Kinn auf die Hände über dem Stock. Was er vor sich sah, war das deutsche Land. Auf der anderen Seite der Alpen hinter ihm lag, vor der Sonne ausgebreitet, Italien. Florenus war auf seine Heimat stolz, auf ihre alte Geschichte und ihre hohe Kunst. Die Sehnsucht zog ihn oft über die Alpen, aber wenn er den heimischen Boden betrat, wurde er fremd unter den fremden Bewunderern der Vergangenheit. Es war ein Leben über Gräbern und unter toten Geistern. Die Nation verlor das Bewußtsein ihrer Gegenwart, und die Kunst erstickte in ihrer Tradition. In Deutschland wogte ein anderes Leben. Das war von der Gegenwart getrieben und von der Zukunft beseelt. Seltsames Volk, es spielte mit seiner Kraft wie ein Kind und kannte keine Gefahren. Hüben und drüben der Alpen war das Leben bunt und widerspruchsvoll. Konnte die Kunst solche Widersprüche lösen? Die Kunst gehört allen Menschen, dachte Florenus, wie die Blätter des Baumes in allen Winden atmen, aber die Wurzeln brauchen einen festen und fruchtbaren Boden. Ein solcher Boden war die Heimat. Es war jeder Künstler seiner Eltern Sohn. In allen Menschen schlägt das Menschenherz, und das ist so gemeinsam wie die Kunst. Florenus sah die Städte Italiens vor sich. Jede einzelne war die Repräsentantin einer Geschichte, einer Kunst und fast einer Familie. Inmitten das große Rom, das ewige Rom, der Mittelpunkt einer ganzen Welt! Von dem herrschenden Rom könnte nicht die Erneuerung Italiens, nicht die Erhebung der Kunst kommen. Um das Land vom Banne zu befreien, mußte das italienische Volk die Rechte seiner Eigenart vor dem Rom der Vergangenheit und der Gegenwart verteidigen. Noch hatte Bologna etwas zu lehren, noch hatte Italien etwas zu geben! Der Stolz Florenus' war ein italienischer Stolz, er wollte der Reformator seiner Kunst in seinem Lande werden. – Er blickte dankbar in das weite Land hinunter. Seine Kunst und sein Fleiß hatten hier Ehre und Wohlstand gefunden. Er hatte einen Reichtum erworben, der ein Schatz war in der Hand eines wohltätigen Willens. Kinder hatte ihm Gott versagt. Sein Schützling war die Geige. Sie sollte sein Erbe sein wie eine lebendige Saat. Sie sollte aufblühen aus den Fluren Italiens und die Kunst des Geigenbaues erheben und erhalten. Sein Erbe sollte seine Schule sein. Er hatte diesen Gedanken nicht in der Fremde gefaßt, er war mit ihm über die Alpen gekommen und wollte wieder zurück. Das Werk sollte allen gehören, allen, wie das kategorische Wort: Bononia docet!
Florenus hatte seine Umgebung vergessen und nicht gesehen, daß sich graue Wolkenmassen vor den Bergen zusammenschoben. Er sprang eilig auf, um dem Wetter zu entgehen. Fast hatte er das schützende Mittenwald erreicht, als die schweren Regentropfen dort auch schon gegen die Fenster schlugen.
Das schlechte Wetter hielt einige Tage an. An einem Nachmittag kam der Leiter der Geigenbauschule zu dem alten Mittendorfer, von dem er gehört hatte, daß der große Geigenbauer Florenus bei ihm auf kurze Zeit zu Gaste sei. Der Leiter hieß Brucker und stammte selbst aus einer alten Mittenwalder Geigenbauerfamilie. Es war ein lebhafter Mann mit klugen und leuchtenden Augen. Seine Hände waren breit und seine Schultern hoch. Gleich nach der Begrüßung fragte er Florenus, warum er die Arbeit der Geigenbauschule in Mittenwald für verfehlt halte, wo er doch selbst nach den Worten Mittendorfers die Begründung einer Lehranstalt in Italien plane.
»Wenn Sie mich gleich so fragen«, erwiderte Florenus mit freundlichem Lächeln, »dann weiß ich Ihnen kaum zu antworten. Es ist zwischen Schule und Schule ein großer Unterschied, ein anderer Unterschied ist unter den Lernenden selbst, und dann bleibt noch zu trennen, was man lehren kann, und was man lernen kann.«
»Das beachten wir alles, Herr Florenus, und wir versuchen gerade durch unsere Unterweisungen, das solide handwerkliche Fundament des Geigenbaues zu erhalten.«
»Es wäre dagegen nichts einzuwenden, wenn es damit getan wäre. Wir werden einer Meinung darüber sein, daß jeder Maler Farben kennen muß, und daß die Kenntnis der Farben noch nicht den Maler macht. Weil jede Saite über jedem Kasten klingt, sind beide zusammen noch keine Geige.«
»Sie nehmen hoffentlich nicht an, daß wir so denken, Herr Florenus. Wir suchen Nutzen zu ziehen aus den Erfahrungen der großen Meister des Geigenbaues. Für die Individualität der Konstruktionen, die wir nicht nachzuahmen vermögen, haben wir nach den Grundlehren der Akustik alle ausgleichenden Tonelemente berücksichtigt. So erzeugen wir Geigen von guter Qualität und stabiler Arbeit. Es werden keine Stainer und keine Guarneri daraus, aber Instrumente, die ihre Aufgaben erfüllen. Unsere Weise mag unvollkommen, und unsere Hände mögen unbeholfen sein, aber was würden Sie in Ihrer Schule zur Grundbedingung der Leistungen machen?«
Florenus bewegte unmutig den Kopf, als wenn er lieber schweigen als reden wollte. Er sah auf Brucker und auf seinen Schwiegervater und erwiderte: »Sie kennen das Schicksal der Cremonea A.G. und das traurige Ende des Herrn Kirchberg. Alles, was Sie hier denken, hatte er bis aufs kleinste durchdacht. Sie bleiben hier dem Handwerk näher, aber nur dem Handwerk und nicht der Kunst. Sie schneiden sich Hölzer, stimmen sie ab und setzen sie zusammen. Ich weiß, ich weiß, man tut es in der ganzen Welt und ist damit zufrieden, obgleich im Ohr des Menschen das Kunstproblem schon beginnt. Studieren Sie, mit welchen Malereien Leonardo, Rembrandt oder Dürer zufrieden gewesen wären. Darf ein Künstler deswegen schlechte Bilder malen, weil das Publikum doch nichts versteht? Das Publikum hat auch dann nichts verstanden, wenn der Künstler ausgezeichnete Bilder malte. Was würden Sie sagen, wenn ein großer Maler nach Mittenwald käme, um die Mittenwalder zu unterrichten, damit sie malen sollten wie er? Gut, gut, die Mittenwalder sollen von der Musik mehr verstehen als von der Malerei, dann machen Sie, daß ein einziger von ihnen wenigstens so viel wird wie ein guter Schüler von Matthias Klotz. Um den einen würde sich Ihre ganze Schule lohnen!«
Die Worte Florenus' verfehlten ihren Eindruck auf Brucker nicht. Er brauchte nicht auszuführen, daß die Ziele der Schule aus natürlichen Gründen nicht weitergesteckt werden konnten, als sie es waren. Er fragte daher Florenus noch einmal, auf welcher Methode er seine Schule aufzubauen gedächte. Florenus war in eine angeregte Stimmung geraten und gewann eine Lust an der Disputation.
»In meiner Schule würde manches anders, Herr Brucker«, erklärte er, »ich würde nicht nach Bologna gehen, um Bologneser zu unterrichten, sondern würde die als Schüler bei mir aufnehmen, die ihr eigener Ehrgeiz zu mir trieb. Die Schüler müßten lernen, zu bauen, alles zu bauen, was an einer Geige ist, nicht einmal, sondern so oft und so eingehend, bis ihnen das Instrument von selbst aus den Fingern wüchse. Das wäre die Vorstufe. Wer Geselle werden will, der muß gelernt haben, eine Geige von gutem Klang zu bauen. Ein Meister wird aber nur der, der nach dem Ton, der vor ihm klingt, mit sicherer Hand die Geige formt!«
»Dann lehren Sie Ihr eigenes Geheimnis!«
»Geheimnis? Nein! Geheimnis ist das Können, welches wir selber nicht begreifen, und woraus wir auch nicht lehren können. Mit rechter Unterweisung hilft man viel, und das soll meine Schule tun. Es hat mir selbst sich niemand offenbart. Daß man ein Künstler sein muß, wurde mir erst dann bewußt, als ich die Lust empfand, mir Ton und Timbre meiner Instrumente nach eigenem Geschmack zu schaffen, und als ich das, was ich vorahnend in mir trug, wie es mein Fühlen wollte, in die Form der Geige zwang. So wurde jedes Instrument ein Stück von mir und muß dies Leben dauernd in sich halten!«
Der hingebungsvolle Ernst Florenus' übertrug sich auf den Mittenwalder. Es gab noch einen Weg zur Meisterschaft, einen Weg, der nicht verschüttet war. Brucker strich mit der Hand über seine heiße Stirn. Keine Lehre und kein Buch wußten von dem Wege zu berichten, den dieser Mann, der vor ihm saß, gegangen war. Der Weg war immer offen, und jeder konnte ihn finden. Jeder? Nein, dann hätten ihn viele andere schon gefunden, wiedergefunden, zurückgefunden zu denen, die ihn vor langer Zeit siegreich gegangen waren. Florenus war als ein Begnadeter gekommen, der unbewußt den rechten Weg beschritt und, als er dessen inne wurde, sein Werk zur überzeugenden Verkündung erheben konnte.
Brucker hätte weinen mögen aus Freude oder aus Schmerz. An seiner Seele zerrten die Hoffnung und der Wille, von dieses Weges Wundergang zu hören, ihn zu sehen, wenn auch niemals zu betreten. Er versank in Gedanken und vergaß die Unterhaltung. Florenus bemerkte sein Schweigen und fürchtete, den Gast verletzt zu haben. Er nahm daher das Gespräch wieder auf und sagte: »Sie wollten mich etwas fragen, und ich habe Ihnen nicht recht geantwortet, Herr Brucker. Das tut mir leid, aber wie kamen wir noch darauf?«
Brucker hob den Kopf und blickte mit großen Augen auf Florenus. »Ich weiß nicht, aber ich habe in mir etwas aufgerissen, Herr Florenus«, sagte er leise, »wovon ich gar nicht wußte, daß es in mir war. Man lebt dahin in seinem kleinen Kreise und kann sich gar nicht denken, was in dieser Welt noch alles geradeso wirklich ist wie man in seiner ganzen Kleinheit selbst. Mit meinen Fragen bin ich Ihnen wohl entsetzlich töricht vorgekommen? – Sie hatten recht, an die Maler zu erinnern. Wenn man von der Malerei spricht, würde sich jeder schämen, so alberne Grundsätze vorzutragen, wie man sie auf den Geigenbau anwenden will. Man hatte so sehr vergessen, daß es eine Kunst ist, eine lebendige und keine tote Kunst, daß man sich rühmte, eine Stümperei als edles Handwerk zu feiern und zu fördern!«
»Das ist gewiß schon so, mein Lieber, aber trösten wir uns, den anderen Künsten geht es nicht viel besser. Wer hat Vertrauen zu der Kunst der Gegenwart, zu allen Künstlern, die das Brot wie andere essen? Man ist heut so geziert, daß man den Alltag in des Künstlers Leben und in seiner Kunst als zu profan empfindet und lieber sich berauscht an jedem alten Schmarren, dem man die Glorie der Vergangenheit andichten kann. Die Technik hat die Kunst zerstört, nein, was weit schlimmer ist, sie hat den Glauben an die Kunst vernichtet! – Die Künstler sind auch selber schuld daran. Nicht anders wie Sie hier die Geigen hat man Gemälde und Plastiken im Großen fabriziert und mit den ärmlichsten Talenten in Ausstellungen und Warenhäusern Käufer angelockt. War dieser Weg schon zweifelhaft und fast verzweifelt, schlug man den Sinn für Kunst im Volk mit Keulen tot, als man den Kunsterwerb zum Reservat der Reichen machte!«
»Dem letzteren vermag ich doch nicht ganz zu folgen, Herr Florenus, denn auch die gute Kunst ist heute überall für wenig Geld dem Publikum zugänglich. Das gibt doch Anregung, Verbindung und Verständnis und rührt den Kauf.«
»Was an dem, was Sie sagen, wirklich zutrifft, ist wenig genug. Soziale Einrichtungen mögen gut sein, wo sie hinpassen. In diesen Einrichtungen gibt die Allgemeinheit dem einzelnen, ohne daß dieser dafür dankt. Mit solchen sozialen Prinzipien können Sie in der Kunst so wenig anfangen wie in der Liebe. Man braucht nicht jedes schöne Weib zu begehren und jedes schöne Bild selbst zu besitzen. Verhindern Sie aber jeglichen Besitz in Kunst und Liebe, dann haben Sie Barbarei und Sittenlosigkeit. Was wollen eigentlich die Künstler? Es gebärdet sich die Bohème am liebsten proletarisch. Wenn es aber ans Ausstellen und Verkaufen geht, dann spekuliert ein jeder auf den Millionär und den Mäzen. Schließlich fällt der ganze Schmand an den Händler, und der Künstler tröstet sich mit dem Verhungern!«
»Das ist ja eben das große Elend der Künstler, Herr Florenus!«
»Der Künstler? Ja, wenn wirklich alle Künstler wären! – Wir wollen uns nicht im Kreise drehen, Herr Brucker. Der Kunst der Gegenwart würde es so schlecht nicht gehen, wenn sie nicht selbst die Fühlung mit dem bürgerlichen Hause, dem Eigenwillen und dem Schmucksinn der mittelständischen Bevölkerung hochmütig abgebrochen hätte. Gehen Sie in die Häuser Ihrer lieben Freunde und zählen Sie zusammen, was der Kitsch gekostet hat, der die Tapeten entstellt, es könnte mancher Künstler davon leben.«
»Ja, ja«, stimmte Brucker nachdenklich zu, »den, der die Kunst anwenden und bezahlen sollte, den hat der Künstler zu gering geachtet.«
»Sie dürfen mich nicht mißverstehen, Herr Brucker. Nicht seines Urteils wegen soll der Laie gelten, sondern seines Wunsches, seines Antriebs wegen, der gleichen Initiative wegen, ohne die es keine Renaissance gegeben hätte. Die künstlerische Schöpfung braucht den Anlaß, die Aufgabe, die gestellt wird oder sich von selber stellt. Das muß das Leben bringen und fordern, und nur aus diesem praktischen, volkstümlichen Leben kann die Kunst ihren Sinn und ihre Wirklichkeit erhalten. Es ist die Sache des Künstlers, mit diesem Leben und seinen Aufgaben fertig zu werden. Die Kunst ist das wert, was man für sie zahlt, das muß sich jeder Künstler täglich sagen. Man würde von der Kunst in breiten Schichten anregendsten Gebrauch gemacht haben, wenn man gewußt hätte, daß man sich solcher Möglichkeiten bedienen konnte. In solcher Umwelt konnten Künstler werden. Sie konnten arm und heiter schaffen und davon leben, und wohl dem, welchen seine Kunst emporhob über seinesgleichen! Ob das den rechten trifft, wer kann das wissen. Wer wirklich Künstler ist, der weiß, daß erst die Nachwelt, späte, späte Nachwelt, den wahren Wert ermessen kann. Der Künstler wird den Lohn nicht schmähen, doch er darf ihn auch nicht verlocken. Sein Ruhm ist, das Verlangte zu gestalten, und seine Größe das, was ihn von innen her die Hände rühren ließ!«
»Es gibt leider heute so vieles, was die Menschen von der Kunst ablenkt, Herr Florenus. Das war früher anders, als alles Heitere und Erhabene sich in die Kunst ergoß. Die Maschine hat dem Leben so gänzlich neue Formen gegeben, daß man oft selbst die Grenze zwischen Kunst und Kitsch nicht mehr erkennt.«
»Die Hand des Menschen zieht die Grenze. Es gibt keine Kunst ohne Menschenhand. Sie fragen nach Kunst und Kitsch, ein kleines Beispiel darf ich Ihnen erzählen. Man spielte mir einmal eine Schallplatte vor, welche die lebenswahre Aufnahme des Nachtigallenschlages brachte. Man fragte mich, ob ich nicht entzückt sei. Ich antwortete, daß mich der Nachtigallenschlag nur in der Natur entzücken könnte. Ach, meinte der Sprecher, es ist doch ein wunderbarer Ton und dabei eine ganz natürliche Musik! Ich mußte die Begeisterung des Herrn enttäuschen, weil ich ihm sagen mußte, daß es eine natürliche Musik nicht gäbe, nicht in der Verbindung von Natur und Musik. Die Schönheit der Natur ließe sich nicht übertragen, nicht herausnehmen aus dem Ganzen und nicht verpflanzen. Die Schönheit der Natur sei unnachahmlich und nicht das Wesen der Kunst. Gottes Schöpfung läßt sich nicht imitieren. Wir machen uns lächerlich, wenn wir es versuchen. Wer vortäuschen will, was er nicht kann, macht immer Kitsch. Die Kunst steht anders zur Natur. Alle wahre Kunst ist eine stilisierte Natur, eine Form aus uns selbst. Der Stil ist der Mensch, sagt man in Frankreich, und gewiß, der Stil ist der Künstler, sein Werk und die ganze Kunst.«
»Dann darf ein Künstler den Nachtigallenschlag in seinen Werken nicht verwenden?«
Florenus schüttelte lächelnd den Kopf. »Er darf nicht? – Nein, er kann nicht. Der Nachtigallenschlag kann eine ganze Musik erwecken, die er vertont. Das ist der Mensch! – Grübeln Sie nicht, und machen Sie nicht zum Problem, was gar nicht problematisch ist! Denken Sie an Ihre Geigen! Der Mensch hat eine Stimme und singt; die Geige ist nach des Menschen Stimme gemacht, in ihr ist der Gesang stilisiert und wird so fein, so fern, so schön, daß wir die Laute wie von Engelshöhen empfangen!«
Brucker erhob sich, um zu gehen. In seinem Kopf wühlten schwere Gedanken. Wortlos reichte er Florenus die Hand, grüßte zu dem alten Mittendorfer hinüber, der sich auf die Ofenbank gelegt hatte, und ging hinaus. Der Regen war etwas weniger geworden, aber grau in Grau hing der Himmel zwischen den Bergen. Der kurze Weg nach Hause war bald zurückgelegt, und da es noch nicht Zeit zum Nachtmahl war, setzte Brucker sich auf die Bank unter das schützend vorspringende Dach. Verloren blickte er in die trübe Luft.
Brucker war ein Sohn des Landes, der in München die Höhere Schule besucht und musikalische Ausbildung genossen hatte. Als Lehrer und Organist war er in verschiedenen Orten tätig gewesen und hatte sich in der Erinnerung an seine Vorfahren aus Liebhaberei nebenher mit dem Geigenbau versucht. Mit diesen Versuchen hatte er kein Meister werden wollen. Was ihn innerlich damit verband, war eine stille Ehrfurcht vor dem verschlossenen Geheimnis. Die Heimatliebe trieb ihn nach Mittenwald zurück, und mehr ein Zufall als eine Absicht machte ihn zum Leiter der Geigenbauschule. Was er nicht finden konnte, nahm er von dem Gegebenen und übertrug die akademischen Lehren mit gutem Gefühl in das Ländlich-Verständliche. Jetzt saß er vor seinem Hause und arbeitete an den Worten Florenus'. Florenus hatte gesagt, keine Kunst ohne Menschenhand. Das Wort erregte seine Gedanken. Beim Geigenbau in Mittenwald wirkte die Menschenhand wohl mit, aber sie fühlte sich nicht selbst, sie formte nicht mehr. Das Handwerk sollte hier oben die Menschen ernähren. War der Geigenbau kein Handwerk, konnte dieses Bemühen für die Dauer keinen Sinn behalten? An der Grenze des Handwerks hörte auch sein Segen auf.
Brucker erschrak vor seinen eigenen Gedanken. Zwischen Kunst und Handwerk gab es keine Wahl. Das eine konnte man lehren, das andere nicht. Das Handwerk mußte gelehrt werden, denn es sollte die Menschen ernähren. Hier oben zwischen den Bergen arbeiteten die Menschen noch mit ihrer Hände Kraft. Wald und Feld waren die Gevatter ihrer Arbeit. Drunten im Lande saßen die Menschen an den Maschinen. Die Maschinen vertausendfachten die Kraft des Menschen. Die Räder rollten, und die Kolben stampften nach Zweck und Bedarf. Sie mochten sich mühen, wie sie wollten in Werk und Kraft, in Masse und Billigkeit, es stieg keine Seele aus ihrem Tun, es erhob sich keine Kunst. Die Maschine hatte übergegriffen in ein heiliges Land, welches ihr nicht mehr gehörte. Der Gesetzgeber hatte das soziale Recht des Menschen verkannt, als er es zuließ, daß die Maschine die Kunst beleidigte und den Künstler tötete. Die Menschheit war krank geworden an der Maschine. Die Kunst war so lebenswichtig wie der Atem. Wollte die Menschheit gesunden, dann mußte sie jegliche Handwerke wiedergewinnen, aus deren unerschöpflichem Boden die Künste in den Himmel wuchsen. Durch den Verlust der Kunst war das Gleichgewicht in der menschlichen Natur gestört worden. Es mußte wiederhergestellt werden, um das Dasein menschenwürdig zu machen!
Es war bisher nicht die Sache Bruckers gewesen, die Menschen um sich zu sammeln wie ein Führer und ein Prophet. Kein großer Gedanke hatte sein Leben bewegt gemacht. Er war dort unten gewesen in Stadt und Land, und es hatte ihm nicht behagt. Mehr brauchte er nicht, um in die Berge zurückzukehren und Lehrer und Freund der Seinen zu werden. Er folgte seiner Weise und fühlte sich fast zufrieden. Die Worte Florenus' hatten ein unbekanntes Feuer in ihm entzündet. Hinter dem Frieden und dem Fleiß des Handwerks steckte ein tieferer Sinn, der im Schicksal des Menschen mitregierte. Die Befreiung von der Maschine, von dem trampelnden Gang in der Öde, die Lösung aus der Verkümmerung des Ichs, die Wiederkehr zur höheren Pflicht, die Befruchtung des Triebes zur Kunst, der in einem gesunden Volke die tägliche Arbeit erheiterte und verschönte, das waren die Segnungen des Handwerks, ohne die unser Leben verdorren mußte. Brucker sah in die dunkelnden Berge und fühlte das Verhängnis über den Häusern lagern. Es war kein Tag zu verlieren, es mußten die Menschen aufgerüttelt werden aus ihrer stumpfen Not. Die Gewerkschaften waren in die Irre gegangen. Sie hatten den Sozialismus gesucht, wo er die Menschen zur Masse und zum Amboß der Hämmer macht. Der Sozialismus sollte eine Gesellschaft der Menschen sein; Menschen gab es aber nur da, wo die Kunst im Gewissen wohnen konnte. Brucker rückte mit der Hand am Kragen, als wenn es ihn würgen wollte. Er stand auf und reckte seine große Gestalt. Er durfte hier nicht bleiben in der fröhlichen Beschaulichkeit von Mittenwald, während sich unten im Lande das Unheil vollzog. Er mußte hinunter und mit den Männern sprechen, die blind und unwissend den Haß und Hunger nicht kommen sahen.
Der Brucker war ein verwandelter Mensch. Das sagten alle, die ihn kannten und ihn sprachen. Es klagte seine Frau, daß er sich ganz hinter Büchern und Schriften vergrübe, lese und schreibe und Briefe wechsle mit den fremdesten Menschen. Brucker ging in die Häuser der Geigenbauer, sah ihrer Arbeit zu und suchte sie zu veranlassen, auch die Teile der Geige selbst herzustellen, die sie fertig bezogen. Die meisten lehnten es ab, weil ihnen eine Zeit verlorenging, die niemand bezahlte. Die einfachen Antworten enthielten das ganze Problem. Er konnte es sich sparen, zu erwidern, daß sie eines Tages so erst recht nichts bezahlt erhalten würden. Und hatte er damit recht? Er folgte den Gedanken Florenus' und stieß auf den Verbraucher, der sich einbildete, ein musikalischer und künstlerischer Mensch zu sein, und auf die Auswahl seiner Geigen nicht einmal so viel Sorgfalt anwandte wie auf die Auswahl von Hüten und Schuhen. Er sah es in seinem kleinen Kreise: das Volk war krank an der Kunst, schwer krank. In der Bibliothek der Lehranstalt waren einige Bücher über die Geige, ihren Bau, ihren Klang und ihre Schönheit. Man hatte sie angeschafft, weil man es für nötig hielt, aber gelesen hatte sie bisher niemand. Brucker war verwundert über das, was er las, und erstaunt über sich selbst. Die Bücher bewiesen, was sich ihm offenbarte, wie sich Kunst und Leben überall tragisch mischten. In den Stuben seiner Geigenbauer saßen keine Künstler. Sie ahnten nicht einmal, worin die Kunst des Geigenbaues bestehen sollte. Sie hielten, was sie taten, für die Kunst. Die Lehre des rechten Geigenbaues war denen am wenigsten zu bringen, die bei dem richtigen Verständnis sich selber hätten aufgeben müssen. Sie würden den Lehrer steinigen, der die Kunden unzufrieden machen würde. Eine bittere Erkenntnis legte sich dem Lehrer Brucker hart auf die Seele. Was nützten alle Schulen für die Kunst! War es der Mühe wert, zu lehren, was niemand brauchen konnte und in den Toren nur den Dünkel weckte? Nein, die Erziehung zur Kunst mußte auf die andere Seite gelegt werden. Es war die Liebe zum Genuß des Schönen zu veredeln. Der gute Geschmack war der strengste Erzieher der Kunst. Ein folgenschweres Versäumnis war wiedergutzumachen. Aus der Pflege der Geisteswissenschaften hatte man einen technischen Prozeß gemacht. In Geschichte, Naturwissenschaft und Sprache hatte man Kenntnis und Systematik für Wissenschaft aufgegeben. Diese Wissenschaft wußte nichts von der Lebendigkeit in der Natur, die nach anderen Gesetzen wuchs als nach den behaupteten Systemen. Eigenart und Eigenwille nahm sie für gegebene Größen, und ihre ganze Entwicklungslehre klammerte sich an die Folge, um der Ursache ausweichen zu können. Deswegen wußte diese Geisteswissenschaft auch nichts von der Gediegenheit, die im organischen Prozesse so selbstverständlich ist und wie der Mensch bewußt empfindet, wenn er vom Handwerk nach der Kunst verlangt. Das Handwerk, welches überall das erdgewachsene Material in seine Hände nahm, begriff den Sinn der Stofflichkeit in Horn und Holz und Fels. Es drängte jede Kunst durch des Gewerkes rauhe Pforte, um hinter ihr das Wunderbare zu erschließen. Wir schauen in die Natur und sehen ihren Kreislauf durch uns selber gehen. Es ist die Kunst von unserer Natur, und die Natur von uns ist gottbestimmt. Es fehlt ein Glied in unserer Kette, das wieder eingeschmiedet werden muß. Dann sind wir wieder froh und die Gewissen rein.
In dieser Nacht stand Brucker vor dem Felsen des Karwendel und maß die Weite in die Ebene hinunter mit sorgenvollem Blick. Ging es der Welt zu gut, war sie zu träge, über die Gefahren nachzudenken? Die Wetterzeichen lohten über den nächtlichen Himmel. Es mußte eine Wende kommen für alle Völker am Fuße der Alpen, eine Wende von innen heraus, eine Wende des Menschen zu Gott. Anton Brucker hatte sie eher gefühlt als andere. Er wußte nicht, daß sie in ihm war, als er die Städte floh und in die Berge ging. Aber heute wußte er es, und er wußte, daß alle diesen Weg hinauf- oder hinuntergehen mußten. Über Nacht war seine Welt ins Unermeßliche gewachsen. Die Gedanken leuchteten klar wie die Sterne vom Himmel hernieder. Einer ersetzte mit seinem Schein den anderen, bis alle der Sonne des Tages ihr Licht gegeben hatten.
Beim Heimgange klopfte Brucker an Mittendorfers Türe und fragte nach Florenus. Der war wieder fort nach München. »Es ist gut«, antwortete Brucker, »ich habe ihn auch eigentlich nicht gesucht.« Er ging weiter nach Haus. »Florenus hat mir die Augen geöffnet«, sagte er, »aber ich kann dort nicht stehenbleiben, wo er mich sehend gemacht. Ich bin der Künstler nicht, der über die Höhen geht, ich bin der Brucker und muß hinunter ins Tal, muß unter die Menschen und ihnen sagen, was ich erlebt. Dann folgen sie mir oder nach mir einem anderen, und sie müssen aber dem folgen, der ihnen das Werk wieder in die Hand und die Hoffnung wieder in die Seele gibt!«
Mit ernsten Gedanken war Florenus von Mittenwald nach München zurückgekehrt. Solange er sich auch schon mit seinem Plan beschäftigt hatte, und so gerne er mit lebhaften Vorstellungen an seinem Ausbau hing, so war durch die Unterredung mit dem Lehrer Brucker doch alles plötzlich erst wie in einer Blume aufgeschlossen worden. Er hatte in sein Bildungswerk manches hineingedacht, was mit der Entfaltung seines eigenen Könnens zusammenhing, aber nicht die Fassung fand, in der sie anderen eingegeben werden konnte. Das künstlerische Ziel stand fest, und jeder konnte sich an einer alten Meistergeige von diesem Ziele überzeugen. Es stand auch fest, daß man den Geigenbau mit Blick und Hand zu erlernen hatte. Zwischen Hand und Ziel lag das Rätsel. Konnte man es entwirren durch Beispiel und Lehre, oder löste es sich allein in der Menschenbrust? Die letzte Frage brauchte keine Antwort. Bei der ersten dachte er zurück an Anton Brucker, an das, was er ihm selbst gesagt, was ihm selbst bei dem Gespräch erst bewußt geworden war. Die Meisterschule brauchte eine Zeit der Meister. Die beste Schule würde eine solche Zeit nicht zaubern. Die großen Kunstepochen kamen wie Flutwogen des Geistes, und niemand wußte woher. Vor einem solchen Walten war der Mensch zu schwach. Die Wellen, die er sich mit breitem Holz auf flachem Wasser schlug, die wurden nie zur Woge. Florenus erkannte, daß auch seine Meisterschule dem Alltag näherstehen mußte und daß nur der Mensch Hand und Ziel verbinden konnte. Kunsterfüllte Schüler mußten einen Meister finden. In diesem Meister war die ganze Schule, und Handwerk und Methode waren nur Gehilfen. Der Meister, wer sollte der Meister sein? Der Gedanke an die Schule war ihm von dem Wunsche hergekommen, das Errungene zu erhalten und zu bewahren. Der Schule würde die Seele fehlen ohne den Meister. Da knüpfte sich das Unauflösliche zwischen ihm und seinem Plan. Die Kette ging im Persönlichen fort. Es mußte der Meister wieder den Meister finden, um die Kunst zu erhalten, und fand er den Meister nicht, verlor die Schule das Leben. Die Kunst versank dann in der Pflege einer Erinnerung, die wieder mit Maß und Methode den unsterblichen Geist vergeblich zu fangen versuchen würde. Dieser Brucker in Mittenwald ist mir näher, als ich wußte, dachte Florenus, er hält das Unten und ich das Oben, er ist der Anfang, wo ich am Ende stehe.
Florenus spürte in seinen Gedanken den rhythmischen Puls des ewigen Kreislaufes. Der Zufall hatte ihn an seine Stelle gesetzt, er war den anderen verpflichtet, die nach ihm kamen. Das trieb ihn an zu einem Schaffen, das nichts versäumen durfte. Er wurde freier von seinen Werken, die unter seinen Händen entstanden, aber der Klang, den sie trugen, wurde ihm unvergeßlicher. Es trennte sich die Kunst vom Zeitlichen. Der Genius in ihm ließ ihn mit unerschütterlicher Stärke an die Notwendigkeit glauben, sein bestes Teil in andere Seelen einzupflanzen. Ein Wunder neuer Schöpfung waren einst des großen Amati Geigen, aber fruchtbar aus himmlischer Sendung wurde seine Seele in den Stainer, Guarneri und Stradivari, die den Gesang der Engel im hundertfachen Echo jubeln ließen!
*
Es ging ein Riß durch die Welt. Schaurige Flammen brannten in das Blau des Himmels, und das Blut der Menschen verband sich der Erde. Alle Fragen des Lebens schwanden in der einen dahin, die Freiheit des Lebens zu erhalten. Die Freiheit des Lebens ist das Leben selbst, ein Leben ohne Freiheit wäre wie die Sonne ohne Licht, wäre Finsternis und wäre der Tod. In ganzen Regionen war die Arbeit der Menschen zum Stillstand gebracht worden. Die Edelsten deckten mit ihrer Brust das Volk am Herd, auf dem Acker und in der Fabrik. Es war ein Ruhm, und es war ein Jammer!
Zaghaft schritt das Leben wieder über die Ruinen. Die Armen sammelten die Steine für das neue Haus. Es wurde ein Gotteshaus ohne Turm und Schmuck, in welchem sie flehten um Arbeit und Segen.
Der Riß war tief durch die Welt gegangen, und die Furchen wollten sich nicht schließen. Menschengedanken und Menschenwerk fanden den Fortgang nicht. Fremde Gedanken hatten sich eingefressen und unterbrachen den Strom. Fremdes Werk hatte den Wohlstand vernichtet. Das glühende Herz von Anton Brucker hatte der flandrische Sand gekühlt. Die Botschaft von den Bergen war nicht mit seinem Blut in die Erde gegangen. Sie schlich sich ein in die sorgende Not wie ein Keim in treibender Frühlingsnacht. Sie machte die Herzen warm und stark und trieb die Seelen zur wandelnden Tat.
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Florenus war mit seiner Frau nach der Schweiz verzogen. Die Zerrüttung Deutschlands war auch sein Unglück geworden. Hunderttausende guter Mark des alten Reiches in mündelsicheren Werten hatte die Inflation zur Illusion gemacht. Sie waren davongeflogen, und der Plan des Meisters war hinter ihnen hergeflattert. Er biß die Lippen zusammen, sah er die Sonne im Züricher See sich spiegeln.
In dem Hause zum Rotenackerstein in Zürich hatte sich bei der braven Witwe Bereli seit einiger Zeit ein italienischer Gast eingemietet, dessen erfreulichste Eigenschaft für die Frau Bereli darin bestand, daß er die Miete auf einen Monat vorausbezahlte. Er hatte gesagt, er wüßte nicht, ob er dort solange wohnen würde, aber sie sollte das Geld nur nehmen, und wenn er frühzeitiger abreisen sollte, könnte sie es auch behalten. Vielleicht bliebe er auch länger, hatte er gemeint, denn Zürich sei eine so schöne Stadt, und er hoffe sich hier von seinem verschleppten Katarrh zu heilen. Der alte Herr hatte wirklich Katarrh, und seine tiefe Stimme klang wie eine Kaffeekanne nach dem ersten Sprung. Eine Verbitterung hatte sich auf die Stimmbänder gelegt, sie konnten das viele Fluchen nicht vertragen. Auch sonst hatte sich der Cavaliere di Bossini ein wenig verändert. Er trug einen Vollbart, einen solchen, bei welchem wirklich das ganze Gesicht voll Bart ist. Der Bart umrahmte das Gesicht wie eine schwarzgraue Matratze, von der man den Drellbezug abgerissen hatte. Der Bart war so fürchterlich, daß Frau Bereli sich davor graulte. Sie trat nicht in das Zimmer des Herrn von Bossini, ohne ihre Katze auf den Arm zu nehmen, von der sie wußte, daß sie es liebte, Matratzen zu zerreißen. Im Falle der Gefahr wollte sie davon Gebrauch machen. Vor den Blicken des Herrn von Bossini fürchtete sich Frau Bereli merkwürdigerweise nicht. Ihre Nachbarin hatte sie auf die dämonische Natur dieser Augen aufmerksam gemacht, aber die Witwe Bereli besaß ihre eigenen Diagnosen. Sie glaubte, daß ihr Mieter verliebt sei, denn sie hatte schon andere verliebte Männer gesehen, denen die Augen im und aus dem Kopfe rollten. Sie konnte vielleicht auf solche Vermutungen kommen, denn ihr Zimmergast war zu den verschiedensten Tag- und Nachtzeiten unterwegs und wußte nie zu sagen, wo er gewesen war. Da Frau Bereli in ihrem eigenen Lebensbuche dieses reizvolle Kapitel bereits vor längerer Zeit abgeschlossen hatte, las sie gerne in anderer Leute Büchern. Sie war eine dankbare Leserin und fand alles verzeihlich und interessant.
Die gute Frau Bereli befand sich in einem Irrtum. Herr von Bossini war mit diesem reizvollen Kapitel seines Lebens ebenfalls schon fertiggeworden. Er war bei dem letzten Kapitel angelangt, in welchem man die Geschäfte zu ordnen pflegt, und solch ein ernstes Geschäft hatte ihn auch nach Zürich geführt. Den Bart hatte er sich stehen lassen, um sich darin inkognito bewegen zu können, und es hat selten einen Bart gegeben, der dazu so geeignet war wie dieser. Auch einen großen Schlapphut hatte er sich zugelegt, der die Augen fast völlig verdeckte. Er konnte ein Hirt aus den Abruzzen sein, der seinen Urlaub in Zürich verbrachte. Er war aber immer noch ein Geigenhändler und fühlte sich immer noch als der Besitzer des kostbaren Lackes des Stradivari. Der Bart war über verschiedene Dinge der Vergangenheit gewachsen, und Bossini konnte mit Recht erwarten, daß die Menschheit des letzten Dezenniums sich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen hatte als mit seiner Vergangenheit und seinem Bart.
Leider ließen ihm selbst seine persönlichen Angelegenheiten keine Ruhe. Es bestand eine ungeklärte Beziehung zwischen ihm und Florenus. Was hatte Florenus mit dem Lack gemacht? Wie kam Florenus dazu, den Lack zu gebrauchen? Bei diesem Thema rollte immer ein ganzes Register von Fragen ab. Er hatte erfahren, daß Florenus in Zürich war, daß er die Schweiz bereiste, wertvolle Freundschaften hielt und herrliche Geigen baute, deren Lack in der Sonne lachte. Deswegen war also Bossini nach Zürich gekommen.
Bossini erwartete heute einen Gast. Von seinem Zimmer in Rotenackerstein konnte er die Straße hinuntersehen. Es war nicht ganz gewiß, daß der Gast auch eintreffen würde. Er sollte von Winterthur herüberkommen, ein Geigenbauer war es, der sich auf sein Talent recht viel zugute tat. Freilich war dieser Mann kein Freund von Florenus. Der zugereiste Italiener verdarb ihm das Geschäft. Dieser gerechte Zorn hatte Bossinis Mitleid geweckt, und er hatte sich einen Plan gemacht, um einen neuen Feldzug gegen Florenus zu führen. Abgelenkt durch seine Gedanken, hatte Bossini erst im letzten Augenblick bemerkt, daß sein Gast die Straße heraufgekommen war und im nächsten Augenblick in die Haustüre treten mußte. Er ging an die Türe und rief der Frau Bereli zu, sie möchte den Gast heraufführen und nachher sie beide ungestört lassen. Geschäftliche Angelegenheiten waren Frau Bereli eine heilige Sache. Sie wollte schon darauf achten, daß niemand außer ihr das Gespräch hörte. Sie horchte gerne allein. Wie sich bald herausstellte, hätte sie dieses Mal zuverlässig sein können, da sie nicht Italienisch verstand.
Der Fremde war in das Zimmer getreten, und Bossini hatte ihn willkommen geheißen. Er nahm ihm Hut und Mantel ab und nötigte ihn auf den Sessel in der Fensterecke. Bald war das Gespräch im Gange.
»Daß Ihnen dieser Florenus als Konkurrent nicht paßt, das kann ich mir denken«, sagte Bossini, »er ist ein tüchtiger Mann und klüger als wir alle!«
Der Geigenbauer Marner aus Winterthur blickte ungewiß auf Bossini. »Wir unterhalten uns nun schon eine ganze Zeit über diesen Florenus, aber Sie haben mir gewiß doch etwas anderes zu sagen, sonst brauchte ich doch nicht von Winterthur herüberzufahren. Wollen Sie ihn etwa nach München oder Bologna zurückjagen?«
Bossini tat, als wenn er sich bedachte, und erwiderte mit verstellter Vorsicht: »Ehrliche Leute kann man natürlich nicht aus dem Lande jagen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß dieser Mann nicht ehrlich sei?«
»Verehrter Herr Marner, vor dem Gesetz ist noch lange nicht unehrlich, was unter uns längst nicht mehr ehrlich ist. Darum dreht es sich.«
»Dann drehen Sie es so, daß ich es verstehen kann, Herr von Bossini!«
»Sagen Sie einmal, machen Sie Ihre Geigen selbst, Herr Marner, oder nicht?«
»Die mache ich selbst; es sind nur einzelne Teile, die billiger und bequemer zu kaufen sind, aber die haben mit dem Bau der Geige nichts zu tun.«
»Wer will sagen, was mit dem Bau der Geige am meisten zu tun hat? Sie sagen so, und Florenus sagt vielleicht so. Das ist doch gerichtlich nicht zu unterscheiden. Tatsache ist aber, daß Florenus es versteht, Sie, der Sie von Vaterszeiten hier sind, mit seinen Behauptungen aus dem Geschäfte zu verdrängen. Oder glauben Sie, daß seine Geigen wirklich besser sind?«
»Das glaube ich gewiß nicht, aber wenn Sie mir beweisen könnten, daß dieser Florenus seine Geigen nicht allein baut, dann würde ich gegen ihn vorgehen. Einer meiner früheren Kunden hat mir versichert, daß ihn nur diese Tatsache veranlaßt, den Florenus zu empfehlen. Auf solche Weise wollen wir uns von hergelaufenen Konkurrenten nicht an die Wand drücken lassen.«
»Beweisen, beweisen können Sie so etwas nur, wenn Sie Florenus dabei ertappen.«
»Ich würde schon gerne einen Blick in seine Werkstatt tun, ich glaube, es gäbe dort allerhand zu sehen.«
»Blendwerk, Verehrtester! Es würde mich gar nicht wundern, wenn dieser Florenus ein großer Spitzbube wäre. Sie fühlen sich betrogen durch seine Geigen, und mich hat er betrogen um meinen Lack. Ja, um meinen Lack! Der Mann hat mich bestohlen!« Bossini schlug mit der Faust auf den Tisch und fluchte.
»Wenn der Mann Sie bestohlen hat, können Sie ihn ja anzeigen!«
»Was soll ich anzeigen? Wenn Ihnen ein Goldstück gestohlen wäre, könnten Sie es von anderen Goldstücken unterscheiden und behaupten, es wäre das Ihre? Als ich Florenus noch Vertrauen schenkte, gab ich ihm ein altes Lackrezept zur Prüfung. Er hat es behalten, und nun sehen Sie seine Geigen an!«
»Der Lack, den er gebraucht, scheint allerdings vortrefflich zu sein!«
»Vortrefflich, ja, vortrefflich«, murmelte Bossini und fuhr laut fort, »da laufen unsere Interessen zusammen, Herr Marner, wir müssen feststellen, wie er den Lack macht, um ihn zu überführen. Wir müssen den Fuchs in seinem Bau beobachten.«
»Zu solcher Spionage eigene ich mich nicht.«
»Sie werden nichts zu spionieren haben, Herr Marner. Sie haben einen Gesellen, der Geselle will einmal etwas anderes lernen, sich in der Welt umsehen. Er sucht den Herrn Florenus auf und arbeitet dort einige Zeit.«
Uneinig mit sich selbst, besann sich Marner eine lange Zeit. Mißgunst und Neugier waren in ihm wach. Er hätte dem Florenus, der ihm so viel Schaden getan hatte, gerne eins ausgewischt. Hatte Florenus wirklich Dreck am Stecken, dann sollte er damit weiterwandern. Bossinis Gedanke war nicht dumm, aber für das, was Marner wissen wollte, wäre das Aufgebot nicht nötig gewesen. Er merkte wohl, daß Bossini triftigere Gründe besaß, als er angeben wollte, und er hielt es für gut, diesem das Spiel zu überlassen. Hatte Bossini Erfolg, würde es auch der seine sein. Und wenn nicht, hatte er nichts verloren.
»Gut«, erklärte Marner, »ich werde mit meinem Gesellen sprechen.«
Das Gespräch wurde mit einigen Erläuterungen über den Gang der Angelegenheit beendet. Marner verabschiedete sich eilig, da er in Zürich noch andere Dinge zu erledigen hatte. Von seinem Fenster aus schaute Bossini dem Forteilenden nach. Er war zufrieden. Er wollte sich mit dem Gesellen schon so verständigen, daß er über den Lack des Florenus alles in Erfahrung brächte. Florenus würde es sich schon etwas kosten lassen, einen Prozeß zu vermeiden. Das stimmte Bossini zuversichtlich und vergnügt, und er eröffnete der Witwe Bereli, daß er wohl noch einige Zeit in dem schönen Zürich bleiben würde.
In der Werkstatt saß bei Florenus der Direktor Wegener aus Winterthur, der sich als großer Musikliebhaber mit Florenus eng befreundet hatte und seinen Geigen bei allen Bekannten zu höchster Wertschätzung verhalf. Florenus arbeitete an einem Instrument, und das Gespräch bezog sich unwillkürlich auf diesen Gegenstand. Wegener hatte seinem Freunde schon öfter zuschauen dürfen, und es war ihm immer wieder und wieder ein menschlicher und künstlerischer Genuß, zu sehen, wie unter den Händen dieses Mannes das Instrument sich formte. Für einen so feinen und kunsterfahrenen Beobachter wie Wegener war es überraschend, zu sehen, wie das Konstruktive hinter das Plastische zurücktrat.
»Wenn man Ihnen zusieht, Meister Florenus«, meinte Wegener bewundernd, »dann glaubt man fast, einen Bildhauer vor sich zu haben, aber keinen Geigenmacher.«
»Ja«, erwiderte Florenus mit einem drolligen Eifer, »wenn ich nicht mehr Geigen bauen dürfte, würde ich Figuren formen. Ich würde das können, so gut wie ich Geigen baue!«
»Das glaube ich Ihnen gerne, obgleich diese beiden Künste sich doch so fern zu liegen scheinen.«
»Sie liegen sich nicht fern, Herr Wegener«, versetzte Florenus mit absichtlicher Betonung, »die Künste liegen sich alle nicht fern, sie werden nur scheinbar vom Künstler getrennt. Der Künstler ist im Menschen, und wenn er eine Kunst ergreift, so folgt er unbewußt dem schärfsten seiner Sinne, dem Sinn, der seiner Intuition am vollsten und am reinsten Ausdruck geben kann.«
»Ich verstehe, doch der Plastiker formt die Masse nach seinem Willen, und er will nur die Form, während der Geigenmacher nach dem Klange baut.«
»Schon daß er baut, zeigt Ihnen, daß er formt und bildet. Die beiden Künste stehen sich doch noch viel näher, als Sie denken. Wenn ich als Plastiker den Körper bilde, bleibt mir die Masse, die ich forme, das Unzulänglichste in meiner Hand. Der Charakter, den ich will, der wird von ihr nur unvollkommen miterfaßt. Deswegen ist der Künstler mit seinen Werken oft so unzufrieden, daß er am liebsten sie zerschlagen möchte. Der Klang der Geige ist wie jeder Bildcharakter dem Künstler eine Realität, die er erschaffen und erwirken will. Das Mittel dazu hat er nur in seiner bildnerischen Kraft, und seine Intuition folgt formend dem Gehör, wie in der Plastik dem Gesicht.«
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür, und bald darauf trat ein Mann herein, der nach dem Geigenbauer Florenus fragte. Florenus antwortete, daß er der Gesuchte wäre, und fragte nach seinem Begehr. Der Mann mochte Ende der Zwanziger sein, hatte ein schmales Gesicht und gutmütige Augen.
»Ich wollte fragen, ob Sie einen Gesellen brauchen könnten, Meister«, begann er.
»Einen Gesellen, nein, mein Lieber, den brauche ich nicht, ich mache alles selbst und hätte auch leider nicht so viel zu tun, daß mir noch Hilfe nötig wäre.«
Florenus erwartete, daß der Mann gehen würde, aber er blieb stehen und wechselte unschlüssig die Blicke zwischen Florenus und Wegener. Dieser hatte ihn schärfer angesehen und fragte: »Von wo kommen Sie, und wie heißen Sie?«
Nach einigem Zögern antwortete der Mann: »Ich bin Luigi Valuga aus Padua und komme jetzt von Winterthur aus der Werkstatt des Meisters Marner.«
»Richtig, richtig«, rief Wegener, »da habe ich Sie auch schon gesehen!«
»Ich glaube, ich entsinne mich des Herrn auch«, versetzte Valuga.
»Dann sind wir ja alte Bekannte, aber«, wandte sich Wegener entschuldigend an Florenus, »ich mische mich da in Ihre Angelegenheiten hinein.«
»Das macht ja nichts«, erwiderte Florenus und blickte auf Valuga, »wer hat Ihnen denn geraten, lieber Freund, mich aufzusuchen?«
»Meister Marner meinte, daß ich bei Ihnen noch vieles lernen könnte.«
»Hat er Ihnen noch mehr geraten?« fragte Florenus. Der Mann schwieg und drehte den Hut verlegen in der Hand. »Nun, man heraus mit der Sprache!« trieb Wegener an. Valuga versuchte sich der Anweisungen des Meisters Marner zu erinnern, aber die Situation, in die er hineingekommen war, hatte sie unbrauchbar gemacht. Die einzige Gewißheit, die ihm blieb, war die, daß er zu Meister Marner zurückkehren sollte, wenn Florenus ihn nicht behalten wollte. Er hatte schon verstanden, was sein Meister wollte, und nichts verwerfliches darin gefunden, da man es gewohnt war, sich im Handwerk alles abzusehen. Jetzt ärgerte es Valuga aber doch.
»Meister Florenus«, sagte er, »mich hat der Meister Marner geschickt und mir gesagt, ich könnte auch wieder zu ihm kommen, aber das will ich nicht. Haben Sie einen Platz für mich, dann will ich bleiben, wenn nicht, dann ziehe ich weiter nach Basel.«
Florenus überlegte und streifte Valuga mit einem prüfenden Blick. »Gut«, sagte er dann, »ich will einmal meine Dispositionen ändern. Sie können bei mir arbeiten. Kommen Sie morgen vormittag wieder, und bringen Sie Ihre Papiere mit!« Der Mann dankte Florenus mit unverhohlener Freude und ging fort.
»Warum haben Sie den Mann doch angenommen?« fragte Wegener, »Ihr Kollege Marner ist Ihnen nicht wohlgesinnt.«
»Das sind andere Kollegen auch nicht, und sie haben ja recht, sie verlieren ihre Kundschaft und denken, daß man für eine Geige, die man bei mir kauft, vier Geigen bei ihnen kaufen könnte. An diesem Valuga gefällt mir etwas, und ich will Kollege Marner den Gefallen tun, seinem Gesellen zu zeigen, wie ich arbeite. Es liegen auch allerhand Reparaturen vor, die eine geschickte Hand schnell und leicht erledigen kann.«
»Dann viel Glück dazu«, sagte Wegener und erhob sich zum Gehen. »Ich werde in Winterthur von Zeit zu Zeit ein Auge auf Herrn Marner werfen.«
Der neue Geselle mochte etwa acht Tage bei seiner Arbeit sein, und Florenus lobte seine Geschicklichkeit. Eines Morgens kam Valuga mit einer großen Verspätung in die Werkstatt. Er war sehr aufgeregt und empörte sich: »Herr Florenus, man will Sie in einer schändlichen Weise ausspionieren!«
»Schon wieder einmal!« bemerkte Florenus, als wenn es ihn nichts anginge.
Valuga glaubte, Florenus habe ihn nicht verstanden, und rief: »Man hat etwas Schändliches gegen Sie vor, Meister Florenus, es läuft hier in Zürich ein Kerl herum, der sieht aus wie ein Gorilla und nennt sich Bossini. Er wollte mich bestechen, damit ich ihm Ihren Lack verschaffen sollte!«
»Sieh da, der Herr von Bossini ist in Zürich!« schmunzelte Florenus.
»Was, Sie kennen diesen Mann schon?« Valuga war erstaunt.
»Lange schon, mein Sohn, aber erzählen Sie, was wollte er?«
»Er wollte wissen, wie Sie Ihren Lack machen, und ich sollte ihm eine Probe bringen. Dann will er Sie verklagen, weil er behauptet, der Lack wäre ihm gestohlen worden. Entschuldigen Sie, Meister, aber ich sage nur, was dieser Kerl gesagt hat!«
»Und was dann noch?«
»Wenn er den Prozeß gewonnen hat, soll ich von dem vielen Geld etwas abhaben!«
»Na also, Valuga, das ist doch eine glänzende Gelegenheit, reich zu werden!«
»Nein, ich habe ihm gründlich meine Meinung gesagt, Meister.«
Florenus ging zu einem Schrank, nahm ein kleines, kaum halbgefülltes Fläschchen heraus und hielt es Valuga hin. »Hier, Valuga, hier haben Sie den Lack. Nehmen Sie ihn und bringen Sie ihn dem Herrn von Bossini!«
Valuga blickte sprachlos auf seinen Meister. »Aber, Herr Florenus«, stotterte er, »der Mann hat Sie gemein beschimpft.«
»Das kann ich mir denken, aber bringen Sie ihm nur den Lack!«
Valuga verstand seinen Meister nicht. Ein häßlicher Gedanke kam in ihm auf. Hatte Bossini doch etwa recht, fürchtete der Meister seine Klage? Er sah von der Seite auf Florenus, der die Lackflasche auf den Tisch gestellt hatte und sich wieder mit einem Instrument beschäftigte.
»Herr Florenus«, fing Valuga noch einmal an, »soll ich Herrn Bossini den Lack verkaufen, soll ich ihn nur hinbringen, oder was soll ich damit machen?«
»Wenn Herr Bossini den Lack behält, ist es gut, will er ihn nicht haben, bringen Sie ihn mir wieder, verkaufen sollen Sie ihn nicht.«
Valuga begnügte sich damit, den Kopf zu schütteln. Das Weitere würde er von Bossini erfahren. Er hatte eine Scheu vor diesem Mann.
Am Nachmittag machte sich Valuga auf den Weg zum Rotenackerstein. Bossini hatte ihn schon die Straße heraufkommen sehen. Wenn der Gewinn lockt, werden auch die Kröten willig, dachte er. Valuga trat in das Zimmer, zog die Flasche aus der Tasche und sagte: »Hier ist der Lack!«
»Sie sind ein braver Geselle«, rief Bossini und wollte nach dem Lack greifen, aber Valuga steckte die Flasche rasch wieder in die Tasche. »Halt«, sagte er, »so geht die Sache nicht! Wenn Sie die Flasche haben wollen, müssen Sie bezahlen!« Valuga war ein Neuling in solchen Geschäften.
»Natürlich werde ich gerne bezahlen, Verehrtester«, erwiderte Bossini würdevoll, »aber ich muß doch zunächst einmal wissen, was in der Flasche ist. Haben Sie den Lack selbst abgefüllt?«
»Den Lack hat mir Herr Florenus gegeben«, triumphierte Valuga.
Bossini lächelte. »Und Sie meinen, daß es der richtige Lack ist?
»Warum sollte er es nicht sein?«
Bossini antwortete darauf nicht gleich. Offenbar hatte Valuga mit Florenus gesprochen, und Florenus wußte jetzt, daß er in Zürich war. Als Zwischenträger war Valuga nicht zu gebrauchen, und Bossini hielt es für zweckmäßig, den guten Glauben Valugas an Florenus im gegenwärtigen Augenblick nicht weiter zu erschüttern. Im Gegenteil, er mußte Valuga sicher machen. Was hatte aber Florenus vor? Wollte er damit, daß er ihm den Lack schickte, allen Konsequenzen aus dem Wege gehen? Mit dem fertigen Lack war nichts zu beweisen und nichts zu verraten, und wer sollte Florenus zwingen, die Wahrheit zu sagen? Das konnten kein Richter und kein Gesetz. Man mußte das ausspionieren, und dazu brauchte man Geduld. Florenus hatte ihm eine Falle gestellt, und Valuga war ein Tölpel. Es war aussichtslos, einen anderen an seine Stelle setzen zu wollen. Man mußte mit ihm fertig werden. Hatte er nicht selbst ein Interesse an der Lackbereitung? Zuerst lockte dieses Interesse und nachher? – Bestechlichkeit ist eine Geldfrage, hatte Mazarin gesagt, und Valuga würde das Geld brauchen können, dafür wollte er schon sorgen.
»Herr Valuga«, sagte er laut, »ich habe es mir überlegt. Bringen Sie die Flasche mit dem Lack Herrn Florenus zurück!«
Diese Wendung hatte Valuga nicht erwartet, aber merkwürdigerweise mußte Meister Florenus doch schon damit gerechnet haben. Das Spiel zwischen seinem Meister und Herrn von Bossini begriff er nicht. Er kam sich dumm vor in seiner Rolle, und das kränkte seine Eitelkeit. Er stand auf und wollte, ohne sich weiter um Bossini zu kümmern, hinausgehen, aber der trat ihm in den Weg.
»Warten Sie noch, mein verehrter Freund«, sagte Bossini mit ausgesuchter Höflichkeit, »ich möchte Ihnen doch noch einiges sagen. Ich glaube, Ihr Meister Florenus hat Sie und mich in einer groben Weise täuschen wollen. Er will Sie in seine Schuld gegen mich verstricken. Da Sie Herrn Florenus von unserer letzten Unterredung nun einmal Kenntnis gegeben haben, sagen Sie nur Herrn Florenus, daß ich alle meine Ansprüche aufrechterhielte. Herr Marner hatte Sie damals vor Herrn Florenus gewarnt. Jetzt wissen Sie, warum. Hat Herr Florenus Ihnen etwas über den Lack gesagt? – Nein? Sehen Sie, so macht dieser Mann es immer. Sie wissen von nichts, und er schickt Sie in einer solchen Mission her.«
»Ich verstehe das alles überhaupt nicht.«
»Aber, lieber Herr Valuga, das ist doch leicht zu begreifen. Sie sollen vor Gericht erklären, daß er Ihnen den Originallack für mich gegeben habe, obgleich Sie von dem, was in dieser Flasche ist, überhaupt nichts wissen. Sie sollten ein falscher Zeuge sein, das ist doch klar!«
Valuga schüttelte ungläubig den Kopf, und Bossini fuhr fort: »Ich verstehe, verehrter Freund, daß Sie nichts verstehen wollen. Aber hören Sie, ich werde Ihnen ein grenzenloses Vertrauen schenken. Ich werde Ihnen später ein Lackrezept zeigen, das ist das Wunder der Welt, und Sie sollen nichts weiter tun als feststellen, ob Herr Florenus seinen Lack auf Grund des gleichen Rezeptes anfertigt. Was ist das für ein Vertrauen, welches ich Ihnen schenke, junger Mann, und es ist kein Vertrauensbruch, diese Feststellung zu machen. Sie sind ein selbständiger junger Geigenbauer, lernen Sie, was Sie lernen können, und wenn Sie dieses gelernt und mir bestätigt haben, dann sind Sie ein gemachter Mann!« Bossini klopfte Valuga vertraulich auf die Schulter.
Valuga kehrte langsam in die Werkstatt zurück und traf dort zu seiner Überraschung Florenus im Gespräch mit seinem alten Meister Marner aus Winterthur. Das war ein ganz verhexter Tag heute.
»Gut, daß Sie wieder da sind, Valuga«, sagte Florenus, ohne sich irgendwie nach dem Lack oder nach Bossini zu erkundigen, »Herr Marner ist hier und hat mich gebeten, Sie wieder freizugeben, damit Sie mit ihm nach Winterthur zurückkehren könnten. Ich hätte nichts dagegen einzuwenden.«
Die Worte Bossinis hatten Valuga doch etwas gegen Florenus eingenommen, und er hatte beschlossen, wenigstens zu versuchen, sich selber Klarheit zu verschaffen. Wenn er fortging, konnte nichts daraus werden. Marner hatte auch nicht viel anders mit ihm gesprochen wie Herr Bossini, und jetzt saß er freundschaftlich bei Herrn Florenus. Aus diesen schrecklichen Intrigen wollte er heraus. Plötzlich fiel ihm der Gedanke, sich von Florenus trennen zu sollen, schwer auf die Seele. Die kurze Zeit hatte eine tiefe Achtung geweckt, die er jetzt erst spürte, wo er wieder fortgehen sollte. Nein, er wollte auch nicht, und er wollte auch mit Marner und Bossini nichts mehr zu tun haben. Mit unsicherer Stimme fragte er Florenus, ob er nicht doch bei ihm bleiben könnte.
»Entscheiden Sie sich, wie Sie wollen«, entgegnete Florenus, »Herr Marner hat viel für Sie zu tun, und wie lange Sie bei mir noch Arbeit haben, weiß ich noch nicht.«
»Dann bleibe ich hier«, entschied Valuga rasch. Marner stand auf, trat vor ihn hin und sah ihm scharf ins Gesicht. »Bleiben Sie, weil Sie wollen, oder weil Herr von Bossini es will?« fragte er barsch.
Im ersten Augenblick verstand Valuga die Frage nicht, dann traten ihm die Tränen in die Augen. Reden konnte er nicht. Er ergriff die Hand von Florenus, drückte sie fest und ging ins Nebenzimmer, dessen Tür er hinter sich zumachte.
Marner sah ihm ärgerlich nach, zuckte die Achseln und sagte zu Florenus: »Ich weiß nicht, was mit dem Manne ist. Wenn er seine Stellung bei Ihnen doch aufgeben sollte, lassen Sie mir, bitte, Bescheid zukommen!« Damit verabschiedete er sich.
Als Marner gegangen war, kam Valuga wieder herein. »Ich verstehe von allem nichts, Herr Florenus«, sagte er, »aber es richtet sich alles gegen Sie. Den Lack hat Herr von Bossini nicht angenommen, und er läßt Ihnen sagen, daß er alle seine Ansprüche gegen Sie aufrechterhalte.«
»Das habe ich mir ja gedacht«, bestätigte Florenus lächelnd, »aber was will er nun?«
»Er will, daß ich ihm Ihr Lackrezept verschaffe!«
Florenus lachte noch lauter. »Er braucht Sie nicht zu bemühen, Valuga, ich werde mit ihm schon fertig werden!«
Florenus ging in sein Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Bossini ist ein Narr, dachte er, und kaut an seinem Lackrezept wie ein zahnloser Alter an seinem hölzernen Löffel. Er nahm einen Bogen und schrieb an Bossini. Als er den Brief fertig hatte, gab er ihn Valuga mit der Weisung, ihn am andern Morgen zu Herrn von Bossini zu bringen.
Bossini war von Marner unterrichtet worden, daß Valuga bei Florenus bleiben wollte. Marner hatte einige zweideutige Hinweise gebraucht und war bald wieder fortgegangen. Daraus glaubte Bossini schließen zu dürfen, daß Valuga in der Werkstatt bleiben wollte, um sich in den Besitz des Rezeptes zu setzen. Bossini ballte die Fäuste. Dann wollte er den Ruf dieses hochnäsigen Bolognesers gründlich vernichten! Bei seinen verschiedenen Geschäftsfreunden hatte er vorgearbeitet, und man hatte ihm bestätigt, daß der Ruhm Florenus' zerstört sein würde, wenn es zu diesem Prozesse käme. Mit großem Behagen trank Bossini den Morgenkaffee der guten Frau Bereli. Belustigt schaute er die Straßen hinunter, wo die Menschen von einem plötzlichen Wirbelwind und heftigen Regen in die Häuser getrieben wurden. Frau Bereli hatte schon zweimal geklopft, ohne daß er es hörte. Sie hatte einen Brief auf den Tisch gelegt und war wieder hinausgegangen. Jetzt hörte Bossini die Tür schlagen und wandte sich um. Er sah den Brief auf dem Tisch, griff zu und erkannte die Handschrift Florenus'. Hastig öffnete er und las:
»Sie glauben, daß mein Lack nach Ihrem Rezept angefertigt worden sei. Sie irren sich. Das von Ihnen beanspruchte Rezept befindet sich in dem alten Handbuche für Technik und Gewerbe aus dem achtzehnten Jahrhundert in der Stadtbibliothek zu Bologna, wo es jedermann nachzulesen und danach zu verwenden vermag. Der von mir hergestellte Lack beruht nicht auf Ihrem Rezept, sondern auf einem anderen und entbehrt des Zusatzes, den Sie selbst für den Hauptbestandteil hielten. Dieser Tatbestand ist von mir jederzeit zu beweisen, und ich gebe Ihnen anheim, die gerichtliche Entscheidung darüber zu veranlassen.«
Bossini faltete den Brief zusammen. Er spürte einen heftigen Schmerz in seinen Schläfen, und seine Hände zitterten. Kraftlos lag er eine Weile in dem alten Polsterstuhl, bis sich sein Herz allmählich von dem Anfall erholte. Er getraute sich nicht, den Brief noch einmal zu lesen. Müde und wehrlos, voll ohnmächtigen Zornes ließ er die wildesten Gedanken das Gehirn durchwühlen. Sein Rezept war abgedruckt in einem alten Handbuch der Stadt Bologna, und Florenus fertigte sich einen eigenen anderen Lack! – Wer hatte denn den ganzen Betrug in die Welt gesetzt? Wo kam denn sein Lackrezept her? Würde er die Kraft gehabt haben, er hätte laut zum Fenster hinaus gelacht und geschrien, daß das Volk zusammengelaufen wäre. Er schonte sich nicht, jahrelang hatte er sich selbst für einen Spitzbuben gehalten. Jetzt brüllte es anders in seinen Ohren. Er war nur ein kleiner, ein ganz kleiner Spitzbube und war der Betrogene einer ganzen Rotte von Gaunern gewesen. Giacomo, Florenus und wer noch? Alle Menschen, die ihn umgaben, waren Gauner gewesen, und er hatte es nicht gemerkt. – Seine Finger krallten sich in die Polster. Sie waren zu schwach, sonst hätte er mit ihnen Florenus erwürgt. Er war alt, er fühlte, daß er zu alt geworden war. Die anderen waren jünger, waren stärker und klüger geblieben als er. Er hatte keinen Zweck mehr. Noch zuletzt hatten ihn Marner und Valuga hintergangen. Bossini richtete sich auf und blickte auf die Straße. Der Regen hatte aufgehört, es war ein kurzes Berggewitter gewesen. Die Menschen da unten hatten es schon wieder vergessen. Er konnte auch hinuntergehen, wenn er wollte, denn er war ehrlich wie sie, aber er wollte nicht, weil er sie alle haßte wie den Florenus!
Bossini war aus Zürich abgereist. Die gute Witwe Bereli konnte allen Nachbarn erzählen, daß dieser Mann mit dem grauslichen Bart und den rollenden Augen doch ein sehr guter Mann gewesen sei, denn er habe die Miete bis zum Monatsende bezahlt, obgleich er zehn Tage früher abgereist sei. Man sah Bossini noch kurze Zeit in Mailand und Bologna, wo er als verdächtiges Individuum aus der Stadt gewiesen wurde. Dann hatte sein Geschäft einen anderen Inhaber, und er war verschollen.
Es war Sonntag nachmittag. Florenus ging mit seinem Freunde Wegener am Seegestade spazieren. Wegener erzählte, wie er mit Marner gesprochen habe, der den Fortgang Valugas bedauerte. Marner hatte ihm auch berichtet, daß Bossini ein gefährliches Material gegen Florenus zusammengetragen haben wollte, um ihn damit zu ruinieren. Das hatte Wegener besorgt gemacht. Florenus klärte ihn auf und fügte hinzu, daß ihn das Wiederauftreten dieses Mannes nur ergötzt und nicht erregt habe, ja, er bedauere den alten Mann, dessen Gedanken sich in eine Sache verfressen hätten, die eine Mystifikation, wenigstens nach der Vorstellung des Bossini, sei.
»Gott sei Dank«, meinte Wegener, »daß diese Sache nicht so wichtig ist, aber vielleicht interessiert Sie etwas anderes. Ich hörte von Marner, der Beziehungen zum französischen Gesandten unterhält, daß in Italien eine große Stradivari-Sammlung aus privater Hand zum Verkaufe kommen soll. Marner wollte die Kunstfreunde in Winterthur veranlassen, die Sammlung für das dortige Museum zu erwerben, und ist deswegen an mich als Vorsitzenden des Musikvereins herangetreten. Ich wollte darin jedoch nichts unternehmen, ohne Sie gefragt zu haben.«
»Was sollte das für eine Sammlung sein?« fragte Florenus nervös.
»Näheres weiß ich nicht, er nannte den Namen einer Gräfin in Turin. Es soll sich um eine alte authentische Sammlung von wertvollen Stücken und persönlichen Erinnerungen an Stradivari handeln.«
Florenus war stehengeblieben und schaute nachdenklich über den See. »Was sollte das für eine Sammlung sein?« fragte Florenus halblaut. »Es gibt nur eine nennenswerte Stradivari-Sammlung, das ist die des Grafen Salabue.«
»Graf Salabue, jawohl, den Namen nannte Marner auch!«
Florenus faßte Wegener heftig am Arm. »Hören Sie, Wegener, guter Freund«, stieß er erregt hervor, »Sie müssen mir sofort Nachricht geben, um was es sich handelt!«
»Selbstverständlich gerne, aber, wenn es Sie so glühend interessiert, könnten wir doch gleich versuchen, mit Marner telephonisch zu sprechen.«
Die beiden Herren wandten sich um und eilten zum Hauptpostamt. Von hier sprach Wegener mit Marner, der ihm bestätigte, daß es die ehemalige Sammlung des Grafen Salabue wäre, die heute seinen Nachkommen, den Grafen della Corna in Turin, gehöre. Die Sammlung solle 150 000 Lire kosten. Es hieße, daß der ehemalige französische Botschafter in Rom sich lebhaft für den Ankauf interessiere und bereits entscheidende Schritte unternommen habe.
Diese Nachricht versetzte Florenus in eine große Aufregung. »Das muß verhindert werden!« Er faßte seinen Freund am Arm, und rasch verließen sie das Postamt. Wegener wußte seinen Freund gar nicht zu beruhigen. Beide nahmen den Weg nach Hause.
»Ach«, klagte Florenus, »hätte ich doch nur nicht mein ganzes Geld verloren! Wegener, Sie wissen es ja nicht, was hier auf dem Spiele steht! Es ist eine große Sache für mich, für Italien!« Florenus schloß die Werkstatt auf, und beide gingen hinein. »Es ist die Marchesa della Corna in Turin«, erklärte Florenus seinem Freunde, »ich weiß es genau. Vor dreißig Jahren habe ich einige Stücke der Sammlung kennengelernt und seit der Zeit keinen andern Wunsch gehabt, als sie einmal selbst zu besitzen. Sie darf nicht nach Frankreich gehen; ist sie erst einmal in Paris, ist sie für Italien für immer verloren. Wir müssen sofort wieder zur Post und müssen der Marchesa telegraphieren!«
»Wir können ja telegraphieren«, meinte Wegener hemmend, »aber so schnell lassen sich Beschlüsse von dieser Tragweite doch nicht fassen. Der Fall will überlegt sein.«
»Gewiß, aber wir müssen sofort telegraphieren, damit die Marchesa weiß, daß ich mich für die Sammlung interessiere!«
Florenus gab keine Ruhe, und die beiden Freunde eilten noch einmal zur Post, um das Telegramm mit bezahlter Rückantwort aufzugeben. Als sie wieder nach Hause zurückkehrten, war Florenus etwas gefaßter. Er rechnete die Beträge zusammen, die er wohl aufbringen konnte. Es waren nicht mehr als 50 000 Lire, über die er im äußersten Falle disponieren konnte. Andere Gelder lagen fest und konnten vielleicht beliehen werden, aber auch damit reichte es nicht. Florenus war darüber sehr unglücklich und erwog, ob es wohl eine Bank geben würde, die ihm helfen könnte. Unterlagen besaß er dafür keine, nur der Wunsch brachte ihn auf solche Gedanken. Auch Wegener überdachte sich die Angelegenheit und hoffte, in seinem Freundeskreise wohl einen Kredit flüssig machen zu können, doch wüßte er nicht, wieviel es sein könnte. Florenus senkte den Kopf und schwieg. Wie konnte er wohl seine ganze Existenz aufs Spiel setzen, um die Stradivari-Sammlung der Marchesa della Corna anzukaufen? Für seine Schulden konnte er nur seine Arbeit einsetzen, und hatte er nicht noch eine Frau?
Der Kampf zwischen dieser Niedergeschlagenheit und dem leidenschaftlichen Verlangen nach der Sammlung versetzte Florenus in einen fast krankhaften Zustand. Still und betrübt sah er zum Fenster hinaus in eine unendliche Leere.
Wegener unterbrach das Schweigen. »Lassen Sie uns nur erst abwarten, was die Marchesa antwortet«, sagte er, »dann werden wir schon weiter sehen!«
»Ich wollte, ich hätte von dieser Sammlung nie etwas gesehen oder gehört!« seufzte Florenus.
»Wir haben keinen Grund, die Hoffnung aufzugeben«, ermunterte Wegener. »Die Marchesa della Corna wird ihr letztes Wort noch nicht gesprochen und den letzten Preis noch nicht verlangt haben. Wenn die Sammlung aber wirklich in andere Hände übergeht, braucht sie doch auch noch nicht für Sie verloren zu sein.«
Florenus wiederholte abweisend: »Verloren, was heißt verloren? – Mit dem, was mir gehört, kann ich machen, was ich will, mit fremdem Eigentum nicht. Hier handelt es sich nicht darum, eine köstliche Sammlung zu bewahren, sondern darum, ihr das köstlichste Gut zu entnehmen, welches sie enthält. Die Botschaft Antonio Stradivaris an die Nachfolger in seiner Kunst!«
»Und diese Botschaft – –?«
Florenus stand auf und ging um den Tisch in der Werkstatt.
»Wenn man eine Botschaft verstehen will«, sagte er, »muß man ihre Sprache kennen. Die Sprache Stradivaris verstehen nicht viele. In dieser Sammlung sind es nur Zeichen und Zeichnungen, die seine Sprache wiedergeben. Wer ihn verstehen will, muß diese Sprache kennen und sie nicht erst aus den Zeichen lernen wollen.«
»Ich glaube, ich verstehe Sie jetzt, Meister Florenus.«
Florenus hatte eine Weile schweigend hinter seinem Stuhle gestanden. Eine Zornesröte flog über sein Gesicht. Er erhob den rechten Arm, ballte die Faust und rief: »Verstehen Sie mich ganz, Freund Wegener, es ist die letzte persönliche Erinnerung Stradivaris, die achtlos und undankbar ins Ausland verschoben werden soll. Will man denn das Andenken dieses Mannes, der den Ruhm Italiens weiter und klingender in die Welt getragen hat als irgendeiner seiner berühmten Söhne, im eigenen Lande ganz und gar verlöschen? – Cremona schmückt die leeren Mauern mit seinem Namen, seine Gebeine sind zerstreut, seine Besitztümer zerschlagen, die Familie ausgestorben, und jetzt soll das letzte in ein fremdes Land! – Und wofür? – Für eine Summe, die für Italien nichts und für mich heute leider ein unerschwingliches Vermögen bedeutet! – Es brennt in mir vor Scham und Schmerz. – Sie haben mir Ihre Unterstützung angeboten, Freund Wegener. Ob ich sie annehmen kann, weiß ich noch nicht, aber daß ich sie annehmen werde, wenn mein Gewissen es mir erlaubt, ist ohne Zweifel. – Italien zittert unter den Flutwellen des nationalen Erwachens. Es sind die Menschen Leib und Wille, und der Mann gilt mehr als der Künstler. Auch mein Herz geht mit der jungen Nation. Aber ich bin nicht mehr jung, und die Jugend wird alt. Sie wird einst sehen, was sie heute nicht sieht, lieben, was sie heute nicht kennt, verehren wollen, was sie heute nicht beachtet. So ist es die heilige Pflicht meines Alters und meiner Kunst, die das Vergangene und das Künftige untrennbar fest umschließen, daß ich Italien erhalte, was es im Augenblick nicht schätzen kann!«
Wegener hatte den leidenschaftlichen Worten seines Freundes bewegt zugehört. Was hatte Florenus für eine hohe Meinung von seiner Aufgabe! Er, der Künstler, den weder Amt noch Würde schmückte, der nie ein Bohémien und nie ein Chauvinist gewesen war, und dem gerade aus seiner Künstlerschaft die Liebe für die Heimat brach! – Da Wegener schweigend vor ihm sitzenblieb, nahm auch Florenus wieder Platz, rückte den Stuhl an den Tisch und stützte den Kopf in den Ellbogen. Einen Augenblick trübte ein Schatten sein Gesicht, dann richtete er seine Augen auf Wegener und fuhr fort:
»Sie werden vielleicht denken, Freund Wegener, daß der Florenus gut reden habe in einer Lage, die so dreifach unglücklich ist: selbst in der Fremde, Italien seiner Kunst entfremdet und fremde Hilfe letztes Aufgebot! Das alles, wo Italien sich heute mehr als jemals selber liebt. Gewiß, wer sollte das auch recht verstehen, wenn er nicht selbst im Kampfgetümmel der Gedanken erfahren mußte, wie er sich versteht! Was dort unten in Italien sich vollzieht, ist die Befreiung aus der Selbstversunkenheit in das Vergangene. Die Vergangenheit ist für Italien ein Wechselbild von Kunst und Politik, die Erinnerung an Ruhm und Streit auf jeder Scholle, an hundert Völker und an keine Nation. Daß die Nation im stillen schon geworden war, das fühlten viele so wie ich, und wir Künstler drängten als die ersten aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Wir haben es empfunden, der Krieg hat es geweckt, und Mussolini hat es in der Tat vollendet. Deswegen sind die Künstler als die ersten auch verpflichtet, den großen Schatz zu hüten, und wo die Politik zu unbehutsam ist, mit kunstgeübter Hand in das Geschick zu greifen! Was wäre mir das alles für eine Freude gewesen! Jetzt sitze ich machtlos hier. Sie werden denken, daß das alles nicht meine Sorge sei, aber Sie irren, es ist meine Sorge, ganz allein meine Sorge; denn sorge ich mich nicht um dieses Gut Italiens, dann sorgt sich niemand darum!«
»Müßte man da nicht gegen andere Vorwürfe erheben?« wagte Wegener einzuwerfen.
»Vielleicht, aber gegen keinen so große wie gegen mich. Mir hat die Vorsehung den Weg zu dem alten Meister erschlossen. Deshalb hab' ich auch dringender zu tun, was anderen nur nützlich scheinen könnte. Doch es ist alles müßig, was ich rede. Ich habe dem verlorenen Geld schon einmal nachgetrauert und glaubte, daß ich ernst zu trauern hätte, weil mir ein stolzer Plan dadurch vernichtet wurde. Nun weiß ich, daß ich damals nichts verlor, und jetzt ist alles erst von Finsternis verschlungen. Wo bleibt das Erbe eines großen Ahnen, der mich zum Künstler machte? – Ich muß es sehen und dulden, wie es in fremde Hände wandert!«
Da sprang Wegener auf, legte seine Hand Florenus auf die Schulter und rief: »Florenus, lieber Meister Florenus, das soll nicht geschehen! Ich gebe Ihnen mein Wort, daß wir Ihnen beistehen werden, um zu verhüten, was noch zu verhüten ist. Es wird nicht einmal ein Opfer sein, und es wird Sie nicht beschämen, anzunehmen, was in Ihrer künftigen Arbeit schon Ihr reichlicher Besitz ist. Geht sonst die Kunst nach Brot, so lassen Sie sich auch einmal das Brot zur Kunst bemühen, und gar nicht lange dauert es, dann ist schon wieder alles gleich.«
Von der Marchesa della Corna war der telegraphische Bescheid eingegangen, daß über den Verkauf der Sammlung nicht entschieden sei, da die Verhandlungen mit dem französischen Botschafter noch nicht abgeschlossen wären. Florenus bat darauf sofort telegraphisch, seinen Brief abwarten zu wollen, bevor weitere Schritte getan würden.
In seinem Wohnzimmer saß Florenus am Schreibtisch. Er hatte ein Blatt Papier vor sich und den Federhalter in der Hand. Es wollte der Anfang sich nicht finden. Wohl hatte ihm Wegener den Mut wiedergegeben, in dieses berauschende Wagnis einzutreten, aber obgleich er dem Besitz noch so fernstand, daß er gar nicht wagen durfte, sich mit ihm zu beschäftigen, lasen, tasteten und genossen die Gedanken schon, als wenn der Schatz sein eigen wäre. Dahinter kam dann immer das schwarze Nein. Das, was er wollte, hatte so viel Recht wie das, was er nicht konnte. Er fühlte sich in seiner Schaffenskraft so glückhaft bildnerisch und tonverklärt, daß er den Mut für jedes Wagnis finden wollte; doch sein Gewissen trug die andere Not, die seine nicht allein war. Zwei Frauen legten ihre Hände an sein Geschick. Die eine war die Marchesa della Corna, die den Schatz besaß, und diese Frau, war sie nicht ebensogut italienisch wie er? Konnte sie vor sich verantworten, des Geldes wegen einen Besitz ins Ausland zu bringen, der Italien mehr gehörte als ihr? Die andere war seine deutsche Frau, die gut und still mit ihm den wechselvollen Lebensweg gegangen war. Er war so jung nicht mehr, und war es nicht das christlichste Gebot, von ihr zuerst des Lebens Unbill abzuwehren? – Florenus nahm das Telegramm der Marchesa della Corna in die Hand, als wenn er die Lösung daraus suchen wollte. Die Marchesa hatte eine Verantwortung vor der Nation und vor der Kunst, eine noch ältere vor ihrer eigenen Familie. Graf Salabue hatte die Erinnerungsstücke des großen Meisters erworben, um sie vor dem Verfall und der Zerstreuung zu bewahren und sie späteren Geschlechtern zu übertragen. Er hatte gutgemacht, was Stradivaris Erben schlechtgemacht hatten. An seinem Edelsinn durfte sich die Erbin nicht versündigen. Sie wird es nicht, sie wird es nicht wagen und wird es nicht wollen, dachte Florenus. Er wollte schon die Feder ansetzen und legte sie wieder hin. War er nicht ein Narr, von der Marchesa della Corna zu verlangen, was ihrer besten Gesinnung gerade widersprechen mußte? Lebte er nicht selbst im Auslande, und mußte sie sich nicht sagen, daß bei dem Verkauf der Sammlung an ihn sie gerade ins Ausland gehen würde, nach der Schweiz, nach Amerika oder sonstwohin? Warum sollte sie seinen Versicherungen glauben, daß er mit der Sammlung nach Italien zurückkehren würde? Es verletzte Florenus schon, daß die Marchesa so denken konnte, denken mußte. Sie sollte nicht. Er wollte ihr schreiben, daß er den Besitz der Sammlung nicht für sich beanspruchte. Er wollte die Sammlung einem Museum in Italien vermachen. Dazu wollte er sich bindend verpflichten. Er war ein Künstler, und ihm nützte der Besitz nichts mehr, wenn er den wesenlosen Kern daraus für sich entnommen haben würde. So sollte es sein. Stolz wallte es in ihm auf. Ich will es erst für mich und durch mich für Italien, da kann sich die Marchesa nicht verschließen und muß mit mir sich handelseinig machen! An diesem glücklichen Gedanken freute sich Florenus wie ein Kind. Er nahm den Bogen und begann zu schreiben. Er schrieb, daß er kein reicher Mann, sondern ein Geigenbauer sei, der seiner Kunst und Kenntnis wegen die schöne Sammlung zu weiterem Studium für sich erwerben wollte, um sie dann ohne Zahlung und Entschädigung an das Vaterland Italien zu geben, damit sie künftigen Geschlechtern zu gleichem Studium und zur teuersten Erinnerung an Stradivari dienen könne!
Als er die letzten Worte seines Briefes schrieb, wo er den Preis angeben wollte, den er mit Freundeshilfe zahlen könnte, da brach der schöne Himmel seiner Künstlerlust ihm jäh entzwei. In dem, was er hier niederschrieb, hatte er nicht allein sein ganzes Vermögen aufgeboten, er hatte auch auf dies Vermögen einen endgültigen und unwiderruflichen Verzicht geleistet. Es war ja ganz unmöglich! Nur wenn er die Sammlung behielt, hatte sie einen Wert, auf welchen er im Falle der Not zurückgreifen konnte, und wer konnte wissen, wie es in Zukunft werden würde? In der Welt sah es kraus und kriegerisch aus. Eine kostbare Reliquie zu erwerben und zu verschenken, war die passende Geste für einen großen Herrn, für den Geigenbauer Josephus Florenus war es das Zeichen eines Größenwahns, und das würde ihm alle Welt bescheinigen, wenn er und seine Frau einmal im Elend darben müßten. Grinsender Hohn wäre der Dankesgruß für den letzten Schritt!
Florenus dachte nicht mehr, er packte das Schreibzeug zusammen, das Telegramm, den unfertigen Brief und legte alles in einen Umschlag, den er in der untersten Schieblade des Schreibtisches verbarg. Den Schreibtisch schloß er ab und verschloß in seiner Brust das unnennbare Weh dieses Scheidens.
Es war Florenus nicht möglich, in seine Werkstatt zu gehen. Er nahm seinen Hut und lief hinaus. Planlos folgte er den Straßen bis zum Ufer des Sees. Dort ging er am Gestade entlang immer weiter. Der Anblick des Sees beruhigte ihn. Das monotone Rauschen der kleinen Wellen weckte alte Erinnerungen, Hoffnungen und Träume. Das Leben hatte viele gebracht und nicht erfüllt, unaufhörlich, wie hier die Wellen schlugen. Sein Blick glitt über das Wasser bis zu den Bergen und empfing die Schönheit dieses Anblicks. In seine Wehmut schlich sich ein Gefühl von Beschämung. Er hörte auf die kleinen Wellen zu seinen Füßen, und vor ihm standen die Berge mit ihren gewaltigen Häuptern! Sein Leben war nicht wie diese Wellen im Sande verlaufen. Er war der Geigenbauer Josephus Florenus geworden, nicht so bekannt wie Papst und Kaiser, in seiner Kunst aber hoch und einsam wie hier die Berge. Nur der tiefe See spiegelte freundlich ihr Geschick. Florenus wandte sich um und nahm den Weg nach Hause. Auf seinem Gesicht lag noch der stille Ernst, doch seine Augen blickten nicht mehr an Menschen und Mauern vorbei.
Zu Hause vermied es Florenus, durch die Werkstatt zu gehen. Er begab sich in das Wohnzimmer und setzte sich in die Sofaecke. Auf dem Tische vor ihm lagen einige Zeitungen und Fachblätter. Er nahm sich wahllos eines heraus, überflog den Inhalt und legte es gleichgültig wieder hin. Zum Lesen kam er selten. Plötzlich fiel ihm etwas ein, und mit größerer Aufmerksamkeit zog er das neueste Blatt heraus. Es war noch nicht aufgeschnitten. Er riß es auf und suchte unter den kleinen Nachrichten aus der Fachwelt, ob Bemerkenswertes darunter wäre. Er fand nichts, auch von dem beabsichtigten Verkauf der Stradivari-Sammlung stand noch nichts darin. Marner mußte seine Kenntnis also doch direkt durch seine französischen Beziehungen erhalten haben. Florenus schloß die Augen und brütete vor sich hin. Er fühlte, wie sich eine Hand auf die seine legte. Die Augen aufschlagend, sah er, daß sich seine Frau zu ihm gesetzt hatte.
»Josephus«, sagte sie mit besorgter Stimme, »was ist mit dir, du machst ein so trauriges Gesicht, sitzt hier herum und gehst nicht in die Werkstatt?«
Florenus nahm seine Frau bei der Hand und erwiderte leise: »Ich bin nicht krank, Anna, aber du hast recht, ich bin mißgelaunt und traurig.«
Frau Anna sah ihren Mann von der Seite an. »Ist denn die Sammlung nach Frankreich verkauft worden?« fragte sie zögernd.
Florenus hob mit leichtem Erstaunen den Kopf, als wollte er etwas fragen, dann sagte er bitter: »Verkauft oder nicht verkauft, für mich ist sie verloren!«
»Ich verstehe dich nicht, Josephus, du hast doch deswegen an die Marchesa telegraphiert!«
»Das war ganz überflüssig, denn zum Kaufen gehört Geld, und Geld haben wir nicht.«
»Verlangt die Marchesa denn soviel, Josephus?«
Es entstand eine Pause. Florenus überlegte, was er zu seiner Frau sagen sollte. Das Herz war ihm aber zu voll, um sich besinnen zu können, und er erzählte, wie die Dinge lagen, wie er die Sammlung nur kaufen könnte, um sie nicht für sich zu behalten, und wie er dann sein ganzes Vermögen und seine Zukunft aufs Spiel setzen müßte. Seine eigene Erzählung riß ihn wieder mit sich fort, und Leidenschaft und Trauer zitterten in seinen Worten. Seine Frau saß bei ihm und hörte alles ruhig an. Er hätte es nicht sagen brauchen, sie hätte es doch gewußt. Was wollte sie noch lange nach kleinlichen Einzelheiten fragen! Hier gab es doch nur eines zu erwägen: konnte die Sammlung gekauft werden oder nicht? Wenn nicht, würde ihr Mann die Enttäuschung niemals ganz verwinden, und diese Bekümmerung würde seine künstlerische Lust hart treffen. Wo Josephus als Mann zuerst an Pflicht und Erhaltung dachte, nahm die Liebe der Frau sich selbst in eine ganz andere Pflicht. Mit einem Blick auf ihren Mann war alles entschieden. Alle Sorge, die hinterherkommen konnte, wog federleicht gegen die eine Sorge, die sie schwerer als ihren Mann bedrückt hätte.
»Du hast dir alles überlegt, Josephus«, sagte sie einfach, »und du meinst, du könntest mit Wegener zusammen den Erwerb der Sammlung möglich machen. Das ist die Hauptsache. Nun willst du die Sammlung nicht kaufen, weil wir unser ganzes Geld dazu hergeben müßten, und du willst, daß ich darüber entscheiden soll.« Frau Anna lächelte ein wenig – »wenn ich darüber entscheiden soll, hast du dich bereits entschieden. – Ich will von dir nur noch eines wissen, und das sollst du mir ganz klar beantworten. Du möchtest die Sammlung erwerben, gut. Gehst du dabei von dir oder von Italien aus?«
»Deine Frage, Anna«, erwiderte Josephus mit seiner alten Lebhaftigkeit, »kann ich dir rasch und kurz beantworten. Die Stradivari-Sammlung brauche ich für mich, um in die letzte Tiefe unserer Kunst zu schauen. Ich suche nicht mehr nach Verborgenem, doch aus den Zeichen seiner Hand löst sich für mich, für andere unbekannt, die letzte Offenbarung. Wie soll ich das in Worte fassen? Das kann man nicht. – Hat sich dieses Schauen ausgelöst, dann schalte ich von selber aus, dann gehören die Stücke nicht mehr mir. Das Ehrwürdige und Heilige kann nicht der Besitz eines einzelnen sein. Es ist der Besitz der Menge, die es scheu betrachtet und treu verwahrt. Nur wenn ein Bruder gleichen Geistes an die Reliquien rührt, steigt aus ihnen die Offenbarung auf. Das steht jedem frei, den Gott dazu gesegnet. – Und Italien? – Wenn ich auch nicht ein Italiener wäre, ich brächte diese Sammlung dennoch nach Italien und nach Cremona, wo seines Schicksals Kreis die Erde schneidet!«
»Du hast wohl recht, Josephus, du brauchst die Sammlung.«
Florenus umarmte seine Frau, deren selbstlose Gesinnung in ihm eine Achtung erzwang, welche die Dankbarkeit kaum aufkommen ließ. Ohne ein Wort hin oder ein Wort her hatte sie alles, was in ihm zu einem schmerzlichen Widerstand zusammengeballt war, mit leichten Fingern aufgelöst. Durfte er das Opfer annehmen? Der Zweifel störte ihm das lautere Glück des Augenblicks. Im Spiele seiner Leiden weiß der Mensch nicht, was er will. Die Entscheidung, die seine Frau zu tragen hatte, war ihm so schwer gefallen, daß er sie nicht zu fordern wagte. Und wieviel schwerer fiel ihm jetzt, das Opfer anzunehmen; doch er mußte! Jedes Wort würde den Ernst verhöhnt haben. Florenus war in seiner Brust um einen hellen Segen reicher und um viele Pflichten schwerer geworden. Er trat mit seiner Frau an das Fenster, und beide schauten hinaus. Sie wollten sich nicht anschauen, weil sie beide hätten weinen müssen.
Der Handel mit der Marchesa della Corna war gut verlaufen. Kurz vor dem neuen Angebot des französischen Botschafters war die Sammlung für 100 000 Lire in den Besitz Florenus' übergegangen. Die Marchesa della Corna hatte der vaterländischen Gesinnung Florenus' ihre Achtung und ihren Anteil nicht versagt.
Künstler und Sammler haben eine seltsame heilige Liebe zu den Dingen, die eine andere Hand gemacht oder berührt hat. Die tausendmal beglaubigte Schönheit eines Blattes von Rembrandt oder Dürer kann im Herzen nicht die Innigkeit erwecken, die das Bewußtsein von der Herkunft des Besitzes entstehen läßt. Der Künstler selbst steht seinem Handwerkszeug und seinem Material nicht mit der gleichen Freundschaft gegenüber, im Gegenteil, sie sind ihm oft recht feindliche und störrische Gesellen und niemals gut genug zu ihrem Zweck. Das ist der Künstler gegen sich. Bei seinesgleichen aber weiß er klarer als die anderen aus Werk und Brauch des Meisters Hand zu lesen. Die meisten Menschen müssen vor den Gittern stehenbleiben, die sie vom Kunstwerk trennen. Das geht nicht anders, und die Kunst strahlt ihnen wie ein fremdes Licht aus milder Nacht unheimlich, unbewußt in das Gemüt. Der Künstler und der Sammler schauen auf, hören zu, fassen an, in ihnen wird das Kunstwerk heimlich und bewußt. Sie nehmen Griffel, Meißel, Holz, Papier des Meisters voller Andacht in die Hand. In ihren Händen lebt das tote Ding sein Leben, fast, als sollte nur die Scheu sie hindern, des Meisters Werk mit seinem Werkzeug fortzusetzen. Sie sind bescheiden, weil sie wissen, fromm bescheiden. Der Künstler wünschte wohl, es spräche alle Kunst durch sie allein, doch wenn er wünscht, dann weiß er schon, daß das Verständnis menschlich nähere Wege gehen muß. Alle Schönheitslehre ist ohne Kenntnis dessen, was die Hand vermag, was Werkzeug und was Masse ist, nur eine Schönheitsleere!
Florenus saß vor seinem Schatz, der in Briefen, Zeichnungen, Werkzeugen und anderen Erinnerungsstücken vor ihm ausgebreitet lag. Er vertiefte sich in die Konstruktionsentwürfe des Meisters, folgte mit scharfen Augen den Linien und nahm die Lupe zur Hilfe, wo ihm der mehrfache Ansatz eines Punktes oder Striches die Überlegung Stradivaris sichtbar werden ließ. Die Zeichnungen verrieten die Hand eines Mannes, der auch anderes hätte zeichnen können als Geigenteile, Grundrisse und F-Löcher. Aus dieser Hand mußte die Geige ebenso sicher gewachsen sein, wie sie die Linien und Bogen auf das Papier geworfen hatte. Florenus erkannte aus den Zeichnungen seine eigene Spur. Jahre zuvor hätten ihm diese Zeichnungen manche Mühe erspart. Erspart? Wenn er damals aus den Linien ersehen hätte, was sie ihm heute sagten, dann ja! Er fand Übereinstimmungen, die ihn überraschten, weil sie gar nicht so zwingend schienen, wie sie sich hier ergaben. Da war auch eines. Stradivari hatte seinen Konstruktionen die Verhältnisse des Goldenen Schnittes zugrunde gelegt. Von einer solchen mathematischen Beziehung war Florenus nie ausgegangen, und er hatte auch nie daran gedacht. Das eigene künstlerische Gefühl hatte ihn unbewußt das gleiche Verhältnis finden lassen. Es war der Goldene Schnitt, also wohl eine mathematische und rechnerische Beziehung, die der Mensch entdeckt hatte, aber sie war von Ewigkeit her in ihm, und der gute Geschmack konnte nichts anderes finden. Gab es überall harmonische Beziehungen? Das Zeichen Stradivaris umgaben zwei konzentrische Kreise. Für die Ausbreitung des Klanges im Gehäuse war die Kreisform das Ideale, da der Klang gleichzeitig den ganzen Rand erreichen mußte. Der Gebrauch des Bogens zum Streichen der Saiten zwang dazu, die Form zu modifizieren, den vorderen Teil in einen kleineren Kreis als den hinteren Teil zu legen und die Mitte einzuschnüren. Die Abweichung von der idealen Kreisform und die Aufteilung in zwei Kreisverhältnisse beeinflußten die Konstruktion in dem Sinne, daß der Verlauf der Holzstärken von Decke und Boden die gleichzeitige Ausbreitung des Klanges bis zu allen Randteilen wiederherstellte. Dabei mußte der Zustand der Schwingungen von Decke und Boden so bleiben, daß bei der vorbedingten Form der Geige die Stützen an die schwingungsfreien Punkte zu liegen kamen. Bei den Abweichungen der Holzstärken handelte es sich um Viertelmillimeter und weniger, was bei der Wandstärke des Bodens und der Decke zehn bis fünfzehn Prozent bedeuten konnte. Das machte die schöne und klangvolle Gestaltung zur exaktesten Miniaturarbeit. Die Geigen des großen Meisters besaßen Gefühl und Gesetz. Verstehen und bauen konnte sie nur ein Künstler wie er, ein Mensch, mit vollendet feinem Gehör und einem scharfen Auge. Diese letzten Erinnerungen an Stradivari machten allen Phantasien von dem konstruktiven Geheimnis ein Ende. Der Künstler hatte seinem baulichen Können zur leichteren Handhabung äußere Maße abgesteckt. Mit diesen Maßen konnte niemand etwas beginnen, der nicht die künstlerische Formkraft und das Tongefühl besaß, um sie lebendig auszufüllen. Das klärte leicht das Rätsel aller Fehler auf, die auch dem heißesten Bemühen nicht weichen wollten. Es hatte sich ein tieferes Geheimnis offenbart. Zwei Seelen, in der Ewigkeit verwandt, entflammten aneinander hoch im weißen Licht!
Es war das letztemal, daß Josephus Florenus des Meisters Stradivari Hinterlassenschaft in seine Hände nahm. Mit liebender Hand ordnete er Dokumente, Werkzeuge und Freundesbriefe, verpackte sie und verschloß sie für den Tag der Übergabe an Italien.
In der Fachwelt hatte der Ankauf der Stradivari-Sammlung durch Josephus Florenus kein geringes Aufsehen hervorgerufen. Es war unvermeidlich, daß auch die Seeschlange des Stradivari-Lackes ihren Kopf wieder aus den Fluten der öffentlichen Meinung erheben mußte. Die Zeitungen schrieben davon und tischten alte Geschichten auf. In den musikalischen Gesellschaften erzählte man davon. Man wußte wenig von dem Lack und wußte viel von einer zarten Liebesromantik, die das Geheimnis der Erwerbung der köstlichen Sammlung umwob. Man mischte Alter und Jugend der Debütanten, die man gerne spielen lassen wollte, und der sonnenleuchtende Lack des Stradivari wurde zum Liebestrank eines verschollenen Glückes.
Von diesen Geschichten und Gedichten hörte Florenus nichts. Er hätte sonst gerne darüber gelacht, aber auch die ernstere Mitwelt, die wissenschaftliche und künstlerische Überraschungen erwartete, konnte er nicht zufriedenstellen. Man schalt ärgerlich auf ihn, weil er der Welt die endliche Lösung des Rätsels um den Stradivari-Lack vorenthielt. Man sah eine unberechtigte Anmaßung darin, daß er allein den Stradivari-Lack gebrauchen wollte, der doch nur durch Zufall und Geld in seine Hände gelangt wäre. Man behauptete, das sei eines Künstlers und eines Wissenschaftlers unwürdig, und übte damit die Gerechtigkeit, die gegen andere immer bereitliegt. Diese Rätsel des Lackes mußten so ungeklärt bleiben wie das der Liebesromantik, denn in der Sammlung des Grafen Salabue war nicht ein Wörtchen über den Lack zu finden gewesen.
Während sich draußen die Neugier an solchen Geschichten ergötzte, saß Florenus mit geläutertem Herzen in seiner Werkstatt und arbeitete mit einer Lust und Freude, als wenn er alle Engel für die himmlische Musik der Auferstehung mit Instrumenten zu versehen gehabt hätte. Sein Geselle sah ihn verwundert und verstohlen an. Der Meister liebte es nicht, bei seiner Arbeit gestört zu werden, doch war er freundlich, und der Geselle hatte gute Tage. Es gab auch viel für ihn zu tun. Ein jeder wollte sein Instrument durch Florenus repariert haben. Die Geigen, die sie längst nicht mehr brauchten, holten sie von den Wänden herunter und aus den Schränken heraus, um sie einmal in die Hand Florenus' gegeben zu haben. Diese Arbeiten gingen an Valuga, und Florenus zeigte ihm, wie ein tüchtiger Geigenbauer aus diesen Flickereien für seine Kunst viel erfahren und erlernen konnte. Die guten Erfolge weckten in Valuga Selbständigkeitsgelüste. Er wollte sich eine eigene Werkstatt einrichten. Florenus war es recht, und so trennten sich Meister und Geselle. Der junge Geigenbauer hatte wohl zu früh gedacht, genug gelernt zu haben. Allein in seiner neuen Werkstatt wollte es nicht mehr so von der Hand gehen wie bei Florenus. Er grübelte darüber nach, warum das so sei. Es wäre schlecht um seinen Lebensunterhalt bestellt gewesen, wenn Florenus ihm nicht oft gute Aufträge hätte zukommen lassen.
Es war Florenus wieder allein, und es war ihm am liebsten so. Er war fleißig und konnte es sein. Der gute Freund Wegener hatte die Musikfreunde in der Schweiz zu einer Florenus-Gemeinde bekehrt, und seine Instrumente fanden zu hohen Preisen begeisterte Liebhaber. Das Wagnis war gewonnen. Die Arbeit hatte das kostbare Kleinod aufgewogen. Nach kaum mehr als zwei Jahren war Florenus der übernommenen Verpflichtungen ledig. Er hatte sich von seiner Opferlast befreit und konnte seiner Frau den ersten unverschuldeten Erlös als Morgengabe des befreiten Lebens bringen.
Die Wanderung durch die fremde Welt mußte ihr Ende haben. Das Schicksal hatte die Stunde bestimmt, in der Florenus zurückkehren sollte in die italienische Heimat. Frei von fremder Last, hatte er jetzt die Verpflichtung einzulösen, die er eingegangen war. Als er vor einem Menschenalter über die Alpen nach Deutschland kam, war seine Brust geschwellt vom Stolz der ersten hohen Anerkennung, und im Hochgefühl seines jungen Künstlerruhmes konnte er inmitten des fremden Volkes getrost sein Werk beginnen. Nun mußte er den Weg zurück. Er kehrte nicht heim mit leeren Händen und suchte in der Heimat keinen Schutz. Er brachte seinem Volk das Denkmal seines großen Meisters Stradivari. Aus seiner eigenen Lebenskraft wollte er diesem Denkmal das lebendige Zeugnis geben. Seine kühnen Pläne waren in den Stürmen der Vergangenheit zerrissen und verweht. Die Hohe Schule des Geigenbaues war abgetan. Das Walten der Vorsehung war zu undurchsichtig für den Blick des Menschen. Ihr Flügelschlag hatte aber seine Gedanken aufgejagt, Gedanken und Bedenken! Die Schule wäre für die Menschen gewesen, sein Leben sollte für die Künstler sein. Er hatte das Werk Stradivaris weder historisch noch technisch studiert, er hatte es schöpferisch durchlebt, und nur dem hohen Eingeweihten hatte die Vorsehung die Kenntnis des Baues und des Lackes in die Hände gespielt. Bei jedem Blick zurück mutete es ihn an, als wenn ein guter Freundesgeist ihm beides immer näher- und nähergerückt hätte. Der junge Mensch hatte in der Ausstellung in Mailand noch jeden Wunsch vor der Andacht unterdrückt. Dann wurde der Wunsch Verlangen und das Verlangen erfüllt. Das Lackrezept war ihm zugedacht gewesen, ehe er etwas davon wußte, und trotz allem Widerstand von außen und von innen sprang dieses Elixier aus seinen Händen. Er wollte es nicht wagen, dieses Segens Last allein zu tragen. Er erflehte von der Vorsehung die letzte große Gnade, daß sie ihm in seinem Vaterlande den jungen Künstler in die Arme führen möge, der nach ihm wieder Meister werden sollte!
Josephus Florenus verließ mit seiner Frau die Schweiz. Wegener hatte es sich nicht nehmen lassen, seine Freunde in seinem Wagen durch die Heimat der Bergriesen zu fahren, die sich wie verewigte Gedanken irdischer Größe in den Himmel reckten. Sie fuhren über den Gotthard und machten an der alten Stätte Rast, wo schon seit Jahrtausenden die Gespanne ausgeruht hatten, um sich nach den Mühen der Bergfahrt für die Gefahr des Talweges vorzubereiten. Sie saßen in dem windumwehten Gasthaus und sahen hinaus in die Macht von Eis und Stein.
Josephus Florenus war guten Mutes. Er wies hinunter zur italienischen Seite: »Dort liegt Italien, dort liegt das ewige Rom, dort lebt ein Volk in der Wiedergeburt, und ich höre die Musik seiner Gedanken!«
»Sie fahren hinunter in Ihre Heimat, Florenus«, versetzte Wegener, von der Freude seines Freundes angeregt, »da ist man über die Gänseblümchen so glücklich wie über die Rosen. Es kommen alle verborgenen Veilchen zu Ehren, und selbst die Distel rührt das Herz, wenn sie die erste Blume ist, die unsere Hand ergreift. Sie sind oft genug in Italien gewesen, so daß es Sie wohl allerdings mit soviel Sehnsucht nicht erfüllt.«
»Man ist in seinem eigenen Haus und seiner Heimat fremd, kommt man zu ihnen nur als Gast. Erst wenn die Seele die Gewißheit hat, daß ihre Heimat ihre Ruhe werden soll, dann fällt das Fremde ab, und alles ist mit einem ausgesöhnt.«
»Das wohl, und die Sprache ist ein starkes Band. Ohne sie täglich zu hören, kann man den engen Anteil an dem Schicksal seines Volkes nicht gewinnen. Sie sind nicht deutsch und nicht schweizerisch geworden, Florenus, Ihr starker Sinn blieb unabhängig. Sie haben viel gesehen und erlebt. Jetzt kehren Sie zurück, und wissen Sie, was ich nun Ihnen wünsche?«
»Was?« fragte Florenus gespannt.
»Ich wünsche Ihnen, daß der gute Italiener die Heimat von nun an in der Nähe so lieben möge wie bis heute aus der Ferne.«
Florenus verstand seinen Freund und erwiderte: »Ich suche keine Paradiese mehr auf Erden, und wen auf langer Wanderschaft soviel entzückte, kann, was sich immer wiederholt, nicht mehr enttäuschen. Doch eine Waffe bringe ich mit, um mich zu schützen und zu wehren. Ich will von meiner Heimat nichts Besonderes für mich verlangen und verdienen, ich will mit vollem Herzen geben, und wenn ich jeden Tag in diesem Willen lebe, kann ich mich auf das Böse nicht besinnen.«
»Sie bringen das Beste mit«, meinte Wegener nachdenklich, »aber nur der Geber fühlt, ob der Beschenkte danken kann.«
»Das weiß ich wohl«, pflichtete Florenus bei, »aus dem Stürmer, der die Dinge anpackte, die er noch nicht kannte, wird der Philosoph, der die Menschen kennengelernt hat, die Menschen und die Künstler.«
»Die Musiker sind allerdings auch ein eigenwilliges Volk«, lachte Wegener, »und sind nicht so leicht auf einen Steg zu spannen wie vier Saiten auf eine Geige.«
Frau Florenus trat an den Tisch, und Wegener rückte ihr höflich einen Stuhl hin. Sie sah blaß und unfroh aus. Wegener fragte, ob ihr die Fahrt zuviel geworden sei.
»Das nicht«, sagte sie, »aber ich bin nun einmal eine Frau, Herr Wegener, und wir Frauen sind eine Pflanzenart, die den heimischen Boden und das heimische Klima schwer entbehren können. Man sagt, wir seien konservativer als die Männer; sagen Sie meinetwegen, wir seien selbstsüchtiger, aber wir sind halt so!«
Wegener wollte die Stimmung wieder etwas lustiger machen und spaßte: »Gleiches Recht für beide, Frau Florenus. Zuerst war Ihr Gatte mit Ihnen in München, dann waren Sie beide in der neutralen Schweiz, und nun gehen Sie mit Ihrem Gatten nach Italien. Da hat jeder seinen Teil und hat dem anderen nichts vorzuwerfen.«
»Dann kommt noch eine andere Bedingung hinzu, Herr Wegener«, rief Frau Florenus auf den Ton eingehend, »denn von München aus hab' ich meinen Mann oft nach Italien begleitet, da muß er mich jetzt von Italien ebensooft nach München begleiten!«
»Wenn es bei der Bedingung nur bleibt, Herr Wegener!« schaltete Florenus lächelnd ein und sah auf seine Frau.
»Sie hören, verehrte Frau Florenus«, stellte Wegener mit einer Verbeugung fest, »Ihre Bedingung ist angenommen, und zwar in einer Fassung, die einer Erweiterung Ihrer Rechte nicht im Wege steht.«
»Ich werde daran denken, und sehen Sie, das ist die andere Seite der Selbstsucht einer Frau, daß sie dem Manne folgt, wenn eine Pflicht ihn führt.«
»Wir sitzen nun hier oben auf dem St. Gotthard, einem wirklich etwas ungewöhnlichen Platz«, meinte Wegener, »und führen Gespräche, als wenn wir uns morgen zum Kaffee wiedertreffen wollen. Dabei sollen wir Abschied nehmen für eine, wer weiß wie lange Zeit, und wer weiß für welche Schicksale.«
»Wenn Sie das meinen, Freund Wegener, ist es auch recht so«, fiel ihm Florenus in die Rede. »Wir haben keinen Grund, traurig zu werden, weil wir uns hier trennen; wir bleiben zusammen, weil wir zusammengehören. Aber nun müssen wir uns wohl rüsten. Auch ich scheide von diesen Bergen nicht ohne Bewegung und werde oft zu ihnen hinaufblicken, wenn es mir in der Tiefe zu eng werden sollte!«
Die Gesellschaft erhob sich. Die Kleider waren bald geordnet, das Gepäck untergebracht. Die Hände tauschten die letzten Grüße. Die Mittagssonne neigte sich nach Westen, als der Wagen mit Josephus Florenus und seiner Frau zur italienischen Grenze hinunterrollte.
In der Amtsstube des greisen Bürgermeisters Mandelli von Cremona saß Josephus Florenus dem Bürgermeister gegenüber. Die Unterredung hatte schon längere Zeit gedauert und das Antlitz Florenus' war von Ungeduld leicht gerötet. Der Bürgermeister saß wie ein Patriarch in seinem hohen Gestühl, hatte die Hände auf die Armstützen gelegt und den Kopf vorgebeugt.
»Sie haben eine großherzige Handlung vor, Herr Josephus Florenus«, sagte Mandelli und senkte achtungsvoll den Kopf, »es ist für Cremona eine große Ehre, eine so unvergleichliche Dotation zu erhalten, und der Dank, den ich Ihnen hier im Namen der ganzen Stadt ausspreche, möge Ihnen einst von den Bürgern wiederholt werden, wenn wir Gelegenheit gehabt haben, diese Sammlung entgegenzunehmen. Im Augenblick darf ich das nicht wagen. Unser Museum ist zur Zeit nicht in dem Zustande, daß es einem solchen Geschenk einen würdigen Raum zu bieten hätte, und ohne diese Würde, fürchte ich, wird sich der Leiter unseres Museums nicht berechtigt fühlen, ein so hohes Andenken an Stradivari, den größten Sohn unserer Stadt, der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen.«
»Dann nehmen Sie, Herr Bürgermeister, die Sammlung von mir entgegen, und nehmen Sie sie in Verwahrung, bis die Räume hergestellt worden sind! Ich zweifle nicht daran, daß die Stadt Cremona diese Erinnerungen an Stradivari und ihre Rückkehr in die Heimat mit Stolz und Freude begrüßen wird!«
»Ihrem Wunsche zu willfahren, scheue ich mich, Herr Florenus. In meinen Amtsräumen habe ich weder den Platz noch die Sicherheit für einen solchen Schatz. Anderseits gebietet mir mein Amt, eine persönliche Verantwortung abzulehnen, da ich meine Sorgen und meine Aufmerksamkeit nur meinen Amtsgeschäften zu widmen habe. Aber hinterlassen Sie mir Ihre Adresse! Ich hoffe, daß sich unsere Stadtvertretung mit dieser außerordentlichen Angelegenheit bald befassen wird, und es soll mir dann eine hohe Ehre sein. Ihnen, Herr Florenus, mitzuteilen, daß wir die uns zugesagte Gabe in Empfang nehmen möchten.«
Florenus erhob sich. »Herr Bürgermeister, ich verkenne Ihre Schwierigkeiten nicht, und wenn es keinen andern Ausweg gibt, werde ich die Sammlung bei mir noch einige Zeit zu verwahren wissen. Ich tue es ungern, denn ich halte mich nicht mehr für den Eigentümer dieser Sammlung und möchte nicht der Betreuer eines fremden Gutes sein, am wenigsten aber, wenn es wie dieses, wertvoll durch seine Unersetzlichkeit sowie durch Herkunft und Geschenk, der Stadt Cremona doppelt angeeignet ist.«
»Es tut mir unendlich leid, Herr Florenus, daß ich Ihnen diese Umstände machen muß, aber so sehr ich Ihnen danke und Ihre Gefühle zu schätzen weiß, bitte ich auch meinen Gefühlen Rechnung tragen zu wollen. Bei meinem hohen Alter dürfen Sie mir glauben, daß ich es mit meinem Wunsche so eilig habe wie Sie mit dem Ihrigen.«
Damit war die Audienz zu Ende. Florenus ging über den Markt und am Hause Stradivaris vorbei. Er grüßte zu den Fenstern hinauf, als wenn der alte Meister von dort herunterschauen müßte. Ich will dich wieder in dein Haus bringen, Antonio, dachte er. Aber die Fremden kennen dich nicht und wollen dich nicht einlassen. Du bist ihnen immer noch zu groß, und sie müssen Paläste bauen, wenn sie dich aufnehmen wollen. Florenus ging weiter in das Hotel zu seiner Frau.
»Nun«, fragte Frau Florenus, »du kommst so still und verstimmt?«
»Ach, die guten Leute haben noch keinen Platz für Stradivari«, erwiderte Josephus leichthin, denn er mochte seiner Frau seine tiefe Enttäuschung nicht zeigen, »aber sie werden ein stattliches Museum errichten und dann die Sammlung mit allen Würden hineintragen.«
»Und bis dahin?«
»Bis dahin bleibt die Sammlung bei mir.« – Florenus beugte seinen Kopf über ein Zeitungsblatt.
Der Bürgermeister ließ am Nachmittag den Museumsdirektor kommen und erzählte ihm in ehrlicher Begeisterung von dem Geschenk, welches der Geigenbauer Josephus Florenus der Stadt Cremona angetragen hatte. Der Museumsdirektor kratzte sich am Ohr und meinte, solche Angebote seien immer verdächtig. »Erinnern Sie sich noch der Sache mit dem Bossini, Herr Bürgermeister?« fragte er. »Das war auch eine solche Stradivari-Geschichte. Weil wir hier in Cremona sind, meinen alle Leute, wir müßten leichter darauf hereinfallen als andere!«
»Nun, ich hatte den Eindruck nicht, daß dieser Herr Florenus etwas Unrechtes vorhätte.«
»Gewiß nicht, jedenfalls hat man keinen Grund, es anzunehmen. Aber wenn diese Künstler es auch ehrlich meinen, sie sind oft selbst Betrogene und haben sich in Dinge verliebt, die nicht den geringsten historischen Wert besitzen.«
»Sie machen mich fast bange, Herr Direktor!«
»Wir müssen heute ganz besonders vorsichtig sein, wenn da etwas passiert, ist der Teufel los. Bevor wir damit an die Öffentlichkeit treten, muß das Material auf das genaueste untersucht sein. Herr Bürgermeister, bedenken Sie, was man in Rom sagen würde, wenn bei der gegenwärtigen Stimmung im Lande ausgerechnet die Stadt Cremona sich mit einem Stradivari-Schwindel bloßstellen würde!«
»Das darf natürlich nicht sein. Am besten sprechen Sie selbst mit Herrn Florenus, er wird ja morgen auch noch hier sein.«
Aus dieser Unterredung des Museumsdirektors mit Florenus wurde aber nichts, da dieser noch am gleichen Abend mit seiner Frau Cremona verlassen hatte. Die Angelegenheit verlor damit für den Museumsdirektor einstweilen ihre Aktualität, und der ehrwürdige Bürgermeister Mandelli sollte nicht mehr dazu kommen, an Josephus Florenus die Mitteilung zu richten, daß die Stadt Cremona sich für eine feierliche Übernahme der Sammlung hergerichtet habe.
Florenus hatte den Plan gefaßt, sich in Rom als Geigenbauer niederzulassen und dort befähigte Schüler um sich zu sammeln und sie mit der Sorgfalt der alten Meister die Kunst des Geigenbaues zu lehren. Der Schritt in diese Lehrpraxis wurde dem Meister Florenus nicht so leicht. Sein reiner Idealismus und seine rastlose Energie verkrampften sich in einem ungestillten Tatendrang. Seine Hände griffen den Hebel nicht, der die Tore des Wissens bei den Schülern sprengen sollte. Überall fand er eine billige Gewohnheit, die sich nicht stören lassen wollte. Das erhabene Ziel wurde lieber belacht als erstrebt. Der einzelne dachte nicht mehr daran, mehr erreichen zu können als der andere, und man wollte sich nicht mühen um ein Verständnis, welches kaum einem zugute kommen konnte. Florenus fühlte immer wieder, es fehlte der Kunst des Handwerks goldener Boden. Die Industriegesinnung richtete den Geist auf technisches Können, Zweck und Verwendung. Sie kannte nur die Arbeit nach Zeit und Geld. Aus dieser Gesinnung konnte das russische System die gräßlichste Entseelung an der Arbeit vornehmen. Das Edelste der Menschlichkeit, die Arbeit an der Form des Lebens, war von einer roten Pest befallen, die die Sinne vertierte und den Geist verblödete. Die Gefahr bedrohte die Völker an ihrem Leben. Töricht, unwissend und unentschlossen taumelten sie in den Schrecken hinein. Selbst Männer von Gewissen und Pflicht waren blind für die Symptome des Zerfalls. Sie hörten die Hammerschläge wie der alte Faust die Spatenstiche. Sie glaubten, es würde gebaut, und es wurde zerschlagen und begraben. Das neue Regime! Florenus richtete sich auf. Er hatte es bisher angesehen als eine neue Politik, als eine nationale Selbstbesinnung. Die engere Berührung mit den Männern seines Volkes schloß ihm die tiefere Bedeutung auf. Der Mensch mußte das Paradies der Arbeit wiedergewinnen, denn es fehlte der Glaube an die Arbeit und die Überzeugung von der Arbeit. Die gemeinsamen Berufsinteressen der handarbeitenden Menschen waren umgefälscht worden in gemeinsame Geldinteressen. Wo Handwerker zusammenkamen, sprachen sie nicht von ihren Leistungen oder von den Methoden ihrer Arbeit. Ihre Gedanken waren nicht mehr bei ihrer Tätigkeit. Während die Hand Werkzeuge und Hebel regierte, spielten die Gedanken mit politischen Phantasien, die der einfache Verstand für Wirklichkeit hielt. So war der Arbeiter krank, weil ihm die Arbeit nichts galt. Der goldene Boden des Handwerks war der Boden, auf welchem der Mensch seinen Geist mit den Erzeugnissen der Natur verband, es war der Raum, wo er in die letzte Zelle organischen Erdenlebens sein eigenes Bewußtsein einsetzte. An dieser letzten Schwelle empfing der Mensch die Gnade des Ewigen und den Schöpferwillen der Kunst.
Es war immer das gleiche Tor, durch welches die Gedanken mußten, wenn sie den Menschen zurückführen wollten zu dem Ursprung seiner sittlichen Erhebung über das Tierische in der Natur. Um diese Erhebung hatte der Mensch an jedem Tag zu ringen. Die großen Institutionen Staat, Kirche, Militär und Sozialismus hatten aus den Menschen die Masse gemacht, die man leicht zu beherrschen glaubte. Diese Masse war eine kernfaule Frucht. Eben prangte sie noch im Sonnenlicht, und schon lag sie zerbrochen, faulig modernd auf der Erde. Florenus erkannte, warum das neue Regime aus innerer Notwendigkeit kommen mußte, und er bekehrte sich zu ihm. – Der Mensch ist ein Wesen von eigenem Leben. Jeder Mensch hat eine Seele, und jede Seele braucht ihre eigene Verbindung mit Himmel und Erde. Die Verbindung kann nicht aufgelöst und aufgeteilt werden, sie ist eins in allem, im Denken und im Arbeiten, in der Lebensfreude, wie in dem Glauben an Gott. Diese Seelen waren sich verwandt und lebten in Gesellschaft. Sie sind eigenwillig und unbequem, aber in ihnen sitzt die unverwüstliche Kraft, die Gesundheit und die Entfaltung des Formen bildenden Willens. Das war der Sinn des neuen Regimes, die großen Institutionen mit diesem Geiste zu erfüllen und Herkunft und Zukunft des Volkes einander gleichzumachen!
In dieser Anschauung der Dinge war Florenus in die neue Ordnung seines Vaterlandes eingetreten. Er kam nicht her von der Politik oder von der Wirtschaft. Er wollte nicht einmal ausgegangen sein vom Handwerk und von der Arbeit. Es hatte ihn vom Grunde her nur die Liebe zu seiner Kunst geleitet und der leidenschaftliche Wunsch, das Selbsterrungene den folgenden Geschlechtern zu vermachen. Solange er an sich selber arbeitete und seine Werke schuf, nahm er die Welt, die ihn umgab, in ihren Farben hin. Erst als er sich entschloß, den Rest des Lebens für seine Arbeit an der Mitwelt einzusetzen, zerriß vor seiner hellen Einsicht dieser bunte Schleier, und was er hinter ihm erblickte, das stand vor seinem schöpferischen Willen so häßlich und so trostlos da, daß er am liebsten in die Berge zurückgeflüchtet wäre, wenn die Erkenntnis von dem Ursprung dieser Not ihn nicht noch mächtiger an die Pflicht zur Rettung seines Volkes gefesselt hätte. Der Impuls, der ihn trieb, war stärker als die Heimatliebe. Die Botschaft, die sein Ohr vernahm, ging über alle Landesgrenzen hin. Ein jeder fühlte nur, was er an seinem Platze mußte. Florenus war ein Künstler und ein Italiener. Er wählte Rom zum Ort der Tat.
Die Werkstatt Josephus Florenus' war bald zu einem Treffpunkt römischer und fremder Musikfreunde geworden. Der Meister hatte eine Anzahl Schüler um sich versammelt, die er nach seiner Kunstauffassung unterrichtete. Langsam wuchsen die Jüngeren in seine Gedanken hinein. Mit unermüdlicher Geduld mußte er darauf verweisen, daß zwischen den Grenzen des Lehrens und des Lernens das heilige Land der künstlerischen Intuition, der himmlischen Inspiration liege. Auch als seine Schüler seine Worte schon williger hörten und nach den ersten Erfolgen tasteten, fielen sie noch gerne in das Verlangen zurück, den Ehrgeiz leichter zu befriedigen. Meister Florenus versagte solchen Gelüsten hart und unnachgiebig jede Rücksicht. Er zürnte am schwersten, wenn einer stolz sein wollte auf einen glücklichen Zufall. Josephus dachte an seine Lehrzeit bei seinem Vater. Der war leichter zufrieden gewesen als er. Das beirrte ihn nicht. Er überhob sich nicht und schmeichelte sich nicht, aber er wußte, daß bei ihm Kunst und Ehrgeiz aus der echten Quelle geflossen waren, und wenn er tadeln mußte, bedauerte er am tiefsten, daß von der echten Quelle so wenig in diese Seelen gekommen war. Die Freunde und Käufer, die ihn aufsuchten, konnten ihn und seine Schüler bei der Arbeit sehen. Sie sahen, wie alles unter den Händen entstand, und waren davon überrascht und befriedigt. Draußen sprachen sie davon, wie in der Werkstatt des Florenus alles Handarbeit sei, und meinten, sie hätten damit dem Meister ihr höchstes Lob und der Kunst ihr Verständnis ausgesprochen. Wenn Florenus das hörte, lächelte er wohl, aber er sagte nichts. Was konnten diese Unkundigen wissen? Es freute ihn nur, daß ihre Bewunderung dem Handwerk die Achtung wiedergab.
Es waren schon Jahr und Tag vergangen, seit Josephus Florenus mit dem Bürgermeister von Cremona die denkwürdige Unterredung gehabt hatte. Niemals hatte er wieder von Mandelli etwas gehört, und es regte sich in ihm ein bitterer Groll. Er verstand den alten Bürgermeister nicht, von dem er damals trotz seiner Enttäuschung in hoher Meinung geschieden war. Er konnte sich nicht denken, daß der aufrichtige Dank und das vaterländische Interesse dieses Mannes geheuchelt gewesen sein sollten. Er hatte sich oft versucht gefühlt, in Cremona nachzufragen, aber der verletzte Stolz verbot es ihm, und er schwieg gegen jedermann. Die kostbare Sammlung führte er mit sich herum, da er sie nicht aus dem Auge lassen mochte. Er hatte verschiedentlich Freunde gebeten, sie ihm zu verwahren, aber keiner mochte die Verantwortung übernehmen. Er vermied es, die Sammlung seiner Frau zu Gesicht kommen zu lassen, nicht, weil er ein Wort darüber fürchtete, sondern weil er des Verhaltens der Stadt Cremona gedachte.
Die Dinge nahmen ihren Lauf, menschlich und alltäglich. Irgendwoher erhob sich ein Argwohn. Irgendwoanders war man vergeßlich. Irgendein Dritter warf sich zum Richter über einen Unbekannten auf! Das Zusammenspiel genügte, um eine Komödie ins Werk zu setzen.
Im Salon der Marchesa della Corna unterhielt man sich über den Verbleib der Stradivari-Sammlung. Der Vorleser der Marchesa äußerte, daß die Marchesa wohl allzu leichtgläubig gewesen sei, als sie sich von dem Brief des Geigenbauers Josephus Florenus bestimmen ließ, auf das vorteilhaftere Angebot des französischen Botschafters zu verzichten. Die Freundin der Marchesa, eine Frau von Batiazza, rückte sich nervös in ihrem Stuhl zurecht. »Ich hab' es dir immer gesagt, meine Liebe, daß man doppelt vorsichtig sein muß, wenn jemand Geldgeschäfte mit vaterländischen Motiven verschönern will.«
»Warum soll man Schlechtes von ihm denken«, bemerkte etwas schüchtern die Nichte Fräulein Cotilia, »denn ich habe schon einmal etwas von diesem Geigenbauer gehört!«
»Was willst du gehört haben«, spottete die Frau von Batiazza, »von Geigenbauern hört man überhaupt nichts mehr, deswegen brauchte dieser Florenus auch die Stradivari-Sammlung, um sich damit einen Namen zu machen!«
»Warum so scharf urteilen«, verwies die Marchesa, »ich glaube an das, was Florenus mir geschrieben hat, und es bleibt ihm überlassen, wann er seine Verpflichtung, die er ja nicht mir gegenüber eingegangen ist, einlösen will!«
»Aber meine Liebe«, rief Frau von Batiazza, »es ist doch nun schon einige Jahre her, und inzwischen hätte sich dieser Florenus schon auf sein Versprechen besinnen können. Ich meine übrigens, daß er sich wohl dir gegenüber verpflichtet hat. Gegen wen denn sonst? Eine allgemeine Verpflichtung gegen Gott und die Welt oder Italien gibt es doch nicht!«
»Meinetwegen soll sich Florenus auch mir gegenüber verpflichtet haben«, erwiderte die Marchesa ruhig, »wenn ich es auch mehr als eine Verpflichtung angesehen habe, die er gegen sich selbst eingegangen ist. Ich hätte ja auch gar keine Mittel, um die Erfüllung seiner Verpflichtung zu fordern.«
»Das ist es ja, es werden große Sprüche gemacht, und der Erfolg ist der, daß du 50 000 Lire weniger erhalten hast. Den Triumph hat der Herr Florenus!«
»Ich weiß, was ich getan habe, und würde es heute auch wieder tun. Man darf nicht immer das Schlechte voraussetzen. Wir hatten uns doch damals erkundigt, und danach sollte Florenus ein hochangesehener Geigenbauer sein.«
»Ja, wir haben uns sogar bei der Gesandtschaft in Bern erkundigt«, schmollte Fräulein Cotilia gegen Frau von Batiazza.
»Der Gesandte in Bern, was versteht der davon«, höhnte die Batiazza, »Gesandte sollen Politik und keine Musik machen!«
»Sie wollten aber doch einen französischen Botschafter neben seiner Politik Musik machen lassen!« ereiferte sich Cotilia.
»Er hätte wenigstens den Preis bezahlt, den man verlangte.«
Die Marchesa wollte dieser Unterhaltung ein Ende machen. »Was soll dieser Streit«, sagte sie, »der Cavaliere Florenus hatte die Sammlung erworben, um sie durchzuarbeiten und dann an ein öffentliches Institut weiterzugeben! Man würde uns wohl für recht unhöflich halten, wenn wir anfragen wollten, ob er sein Studium schon beendet habe. Ich fürchte, meine liebe Freundin«, wandte sie sich an Frau Batiazza, »man würde sich über uns lustig machen.«
Frau von Batiazza ärgerte sich darüber. »Du bist immer sehr großzügig«, erwiderte sie, »aber es würde dich doch auch interessieren zu wissen, wohin die Sammlung des Grafen Salabue gekommen ist!«
»Gewiß, gewiß«, meinte die Marchesa gutmütig, »aber darum werde ich mich nicht bekümmern!«
Die Unterhaltung ging auf gleichgültigere Dinge über, und Frau von Batiazza beteiligte sich nicht mehr viel. Sie war rechthaberisch und glaubte, es ihrem Ansehen schuldig zu sein, den Beweis zu erbringen, daß sie recht habe. Es sind unter den Wahrheitsuchern immer die am gefährlichsten, die die Wahrheit suchen, um ihre Behauptungen zu beweisen. Es ist der Scholastizismus eines schlechten Gewissens. Diese Leute kratzen an ihrem Recht wie an einem Mückenstich und ärgern sich, daß es den anderen nicht auch in der Haut juckt. Es wäre auch alles vorübergegangen wie ein Mückenstich, wenn die Frau von Batiazza nicht zufällig eine römische Zeitung in die Hand genommen hätte, in welcher von der Verschiebung eines wertvollen Kunstgegenstandes in das Ausland die Rede war. Das ließ ihr keine Ruhe. Sie mußte dem Blatte schreiben, daß in Italien solche Fälle anscheinend nicht vereinzelt seien, denn sie erinnere sich ... und nun schrieb sie eine lange Geschichte von dem Verkauf der Stradivari-Sammlung der Marchesa della Corna an den Geigenbauer Josephus Florenus, von dessen vaterländischen Motiven man heute nichts mehr hörte. Er habe immer im Auslande gelebt, und diese Sammlung sei nun auch entgegen dem festen Willen der Marchesa ins Ausland gegangen.
Die Zeitung griff diese schreckliche Geschichte so eilig auf, daß sie es versäumte, nähere Erkundigungen einzuziehen. Eines Tages brachte sie heftige Anklagen gegen den Geigenbauer Josephus Florenus.
Nicht nur wegen des Versprechens, welches Josephus seiner Frau in der Scheidestunde oben auf dem St. Gotthard gegeben hatte, weilte Florenus von Zeit zu Zeit in der Schweiz und in Deutschland. Auch jetzt befand er sich wieder in geschäftlichen Angelegenheiten in München. Im Lesezimmer des Hotels saß seine Frau und wartete auf ihn. Aus Langeweile griff Frau Anna zur römischen Zeitung, die dort täglich auslag, um sich über die letzten Vorgänge in ihrer neuen Heimat zu unterrichten. Sie war dort nicht recht heimisch geworden, das Klima sagte ihr nicht zu. Sie war immer glücklich, wenn der Zug sie über die Alpen gebracht hatte. Es gefiel ihr auch nicht, wie Josephus sich dort seiner neuen Aufgabe widmete. Sie strengte ihn zu sehr an, und er überarbeitete sich. Er mußte die Menschen erst formen, die er brauchte, und seine ganze ungebrochene Energie für die Verwirklichung von Gedanken einsetzen, die eine längere Zeit zum Treiben forderten als den Lebensabend eines Künstlers. Frau Anna seufzte, weil sie Josephus nicht zurückhalten konnte. Er fühlte sich verschworen zur Erfüllung der letzten Aufgabe seines Lebens. Nur ein Mächtigerer konnte ihm sagen: Es ist genug!
Frau Anna nahm das Blatt wieder in die Hand. Sie wollte sich ihrem Manne zuliebe in das italienische Denken und Leben tiefer eingewöhnen. Josephus hatte gemeint, daß ihr das Lesen der Zeitungen die Einstellung erleichtern würde. Für die Politik konnte sie sich nicht so interessieren, und sie suchte sich schon immer solche Artikel heraus, die sie und Josephus gemeinsam unterhalten konnten. Sieh da, dachte sie, schon wieder eine Bilderverschiebung! – Frau Anna schloß, daß diese großen Aufregungen in Italien wohl kaum am Platze seien, wenn man ein so großherziges Geschenk wie das von Josephus an die Stadt Cremona so wenig achtete und nicht einmal annahm. Diese Gabe war doch nicht allein von einem selten hohen Werte, es hatte Josephus doch auch dafür hart gearbeitet und schweigend entbehrt. Und nun wofür? Frau Anna war auf die Italiener böse. Sie sollten nur wissen, wie dieser stolze und bescheidene Mann, der einer der Ihren war, jedes verlockende Angebot mit der kurzen Bemerkung abgelehnt hatte, daß die Sammlung der Stadt Cremona gehöre, der Stadt Cremona, die ihn vergessen hatte.
Frau Anna sah auf die Uhr. Sie wunderte sich, daß Josephus noch nicht da war, denn er pflegte pünktlich zu sein. Sie griff wieder nach dem Blatte und las weiter. Plötzlich schlug ihr das Herz rascher, sie las den Namen ihres Mannes. – Josephus Florenus – Stradivari-Sammlung – ins Ausland verschoben! – Waren denn die Menschen in Rom verrückt geworden? Sie las den Artikel noch einmal, legte das Blatt auf den Tisch und rief empört: »So eine Gemeinheit!« Sie beachtete nicht, daß noch ein Herr im Zimmer saß, der erschreckt aufschaute. Es war gut, daß in diesem Augenblick Josephus in das Lesezimmer trat, denn die sonst sehr ruhige Frau Anna hätte ihrem plötzlichen Zorn gewiß noch geräuschvoller Luft gemacht. Als Josephus seine Frau so erregt fand, rief er bestürzt: »Was ist denn, ich habe mich ein wenig verspätet?« – Frau Anna antwortete nicht und wollte in ihrem Zorn das Blatt auch nicht wieder in die Hand nehmen. Sie zeigte mit dem Finger auf das römische Blatt und sagte befehlend: »Sieh, was da steht!« Josephus ergriff verwirrt das Blatt und las. Auch seine Augen wurden immer größer und zorniger. War das der Dank! Er war nahe daran, die ganze Bitterkeit, die er in sich aufgespeichert hatte, hinauszuschleudern, aber er sah, daß sie nicht allein waren. Er beherrschte sich. Mit einem raschen Griff riß er die Seite aus dem Zeitungshalter und steckte sie ein. »Komm«, sagte er zu seiner Frau, »wir wollen auf unser Zimmer gehen!«
Auf einen solchen unfairen und unberechtigten Angriff war Florenus nicht gefaßt gewesen. Durch diese öffentliche Herabwürdigung fühlte er sich schwer gekränkt. Den Zusammenhang begriff er nicht. Der Bürgermeister von Cremona wußte ihn doch zu finden. Von dort konnte so etwas doch nicht in die Zeitung gebracht worden sein. Er hatte Gegner, und auch in Rom hatten die Kollegen ihn nicht gerade herbeigesehnt, aber zu diesem Unsinn konnten sie das Material nicht geliefert haben. Die Marchesa della Corna? Das war ausgeschlossen. Sie hatte sein Wort und seinen Brief. Das Nachdenken führte zu nichts. Noch bevor sie das Essen einnahmen, ging Josephus mit seiner Frau zur Post und telegraphierte der Zeitung den wahren Sachverhalt. Ein ausführlicher Brief sollte folgen.
Am Abend war Florenus mit seiner Frau bei Professor Baltzer zu Gast, der sich außerordentlich freute, seinen Freund nach so langer Zeit wieder einmal bei sich zu haben. Die Nachricht in der Zeitung war der Gegenstand mancher unfreundlichen und spöttischen Worte. Das gute Gewissen ist aber allzeit ein fruchtbarer Boden der Heiterkeit.
Das Zusammensein mit alten Freunden erleichterte in den nächsten Tagen die unangenehme Spannung, mit der man auf die Nachrichten warten mußte. Endlich kamen von der römischen Zeitung ein Brief und ein Blatt, in welchem eine Erklärung des Geigenbauers Josephus Florenus abgedruckt worden war. Die Schriftleitung entschuldigte sich und richtete damit ihre Frage an die Stadt Cremona.
Dem Bürgermeister von Cremona wurden von seinem Sekretariat die beiden Ausgaben der römischen Zeitung mit der Angelegenheit Florenus angestrichen auf den Tisch gelegt. Er las sie und schüttelte den Kopf. Von diesen Begebenheiten war ihm nichts bekannt. Der ehrwürdige alte Herr Mandelli war vor mehr als einem Jahr verstorben, und er war ihm im Amte gefolgt. Von der fraglichen Angelegenheit war in keinem Tagebuch und keinem Aktendeckel irgendeine Notiz zu finden. Der Bürgermeister beorderte in einiger Erregung den Direktor des Museums zu sich.
»Haben Sie gelesen, was in der römischen Zeitung steht, Herr Direktor?« fragte er ungehalten.
»Ich habe gerade eben davon Kenntnis erhalten, Herr Bürgermeister.«
»Sind Ihnen die Vorgänge von meinem Amtsvorgänger her noch bekannt?«
»Ich entsinne mich jetzt allerdings, Herr Bürgermeister, daß ich mit dem verehrten Herrn Mandelli darüber sprach, wenigstens teilte mir Herr Bürgermeister Mandelli mit, daß ein Herr Florenus ihm gegenüber die Absicht geäußert habe, der Stadt eine größere Stradivari-Sammlung zu übermachen. Der Bürgermeister Mandelli glaubte jedoch das Angebot nicht annehmen zu können, da die Beschaffenheit der Museumsräume einem solchen Objekt nicht angemessen sei.«
»Aber da hätte doch irgend etwas unternommen werden müssen, und wie ich aus der Zuschrift des Herrn Florenus entnehmen muß, hat die tatsächliche Schenkung doch damals bereits stattgefunden. Die Gegenstände befinden sich nur noch bei Herrn Florenus in Verwahrung, weil sie angeblich wegen Raummangel hier nicht aufgenommen wurden. Warum ist Herrn Florenus denn kein weiterer Bescheid erteilt worden, warum ist nicht dafür gesorgt worden, daß hier angemessene Räume geschaffen wurden?«
»Sie fragen mich da zuviel, Herr Bürgermeister. Die Behandlung der Angelegenheit lag nicht in meinen Händen, und da ich nichts weiter hörte, nahm ich an, daß meine Vermutung vielleicht zu Recht bestanden hätte.«
»Welche Vermutung?«
»Nun, ich hatte Herrn Bürgermeister Mandelli gegenüber geäußert, daß man heute bei der Annahme von Dotationen sehr vorsichtig sein müsse, insbesondere, seit der Schwindel des Herrn Bossini die ganze Welt schon einmal mit einem Stradivari-Skandal erfüllte!«
»Dann war es doch gerade Ihre Aufgabe, Herr Direktor, dieser Angelegenheit nachzugehen. Das wäre doch sehr einfach gewesen, nachdem Herr Florenus seinen ständigen Wohnsitz nach Italien verlegt hatte.«
»Man hätte können, gewiß, man hätte können, Herr Bürgermeister! Jetzt, wo es anders gekommen ist, hätte man alles können, aber als ich damals mit Ihrem Herrn Amtsvorgänger sprach, hielt er die von mir empfohlene Vorsicht doch für sehr angebracht!«
»Aber, zum Kuckuck, Herr Direktor, Sie sehen doch, in was für eine fatale Lage Sie uns gebracht haben! Haben Sie denn damals überhaupt irgendwelche Schritte unternommen?«
»O ja, ich habe welche unternommen!«
»Welche denn?«
»Ich bin in das Hotel gegangen, wo Herr Florenus wohnte.«
»Warum hat sich die Sache denn dort nicht geklärt?«
»Weil Herr Florenus schon wieder abgereist war!«
Der Bürgermeister wußte nicht, ob er lachen sollte oder nicht. Der Museumsdirektor erklärte: »Sie möchten wohl lachen, Herr Bürgermeister, aber nehmen Sie die Sache, wie sie ist! Sie haben auch heute noch keine anständigen Räume in Ihrem städtischen Museum, um diese Stradivari-Sammlung unterzubringen.«
»Dann werden wir in Gottes Namen jetzt schleunigst diese Räume instand setzen, und ich gebe Ihnen hierzu jede Vollmacht. Es muß etwas Sehenswertes werden, die Ehre unserer Stadt ist damit verbunden. Inzwischen werde ich mich mit Herrn Florenus in Verbindung setzen, und es wird sich hoffentlich diese Angelegenheit noch einmal ins reine bringen lassen.«
Josephus Florenus hatte in München dem italienischen Konsul von der Sachlage Kenntnis gegeben und ihn ersucht, darüber nach oben zu berichten. Er war daher nicht erstaunt, als ihn der Konsul nach einigen Tagen zu sich bat. Er erwartete eine Rechtfertigung durch die Regierung. Sie wurde ihm nicht zuteil. Der Konsul übergab ihm ein Schreiben des Bürgermeisters von Cremona, der sich für die Stadt Cremona mit der Mitteilung entschuldigte, daß der würdige Herr Mandelli vor längerer Zeit verstorben sei. Er bat, die Schenkung nunmehr im Namen der Stadt entgegennehmen zu dürfen, und gab Florenus die Versicherung, daß die Gegenstände in den neuen Museumsräumen eine sehenswerte Aufstellung erhalten würden.
Frau von Batiazza hatte von diesen Vorgängen keine Kenntnis. Den Artikel in der römischen Zeitung hatte sie der Marchesa triumphierend vorgelegt. Die Marchesa las ihn und sagte ihrer Freundin kein Wort. Sie ahnte den Zusammenhang. Frau von Batiazza dachte ihre Überlegenheit später ausnutzen zu können und trug die leidende Miene einer zu Unrecht Gekränkten zur Schau. Als einige Tage später die Zeitung die Erklärung Florenus' brachte, biß sie sich zornig auf die Lippen. Die Marchesa würde das Blatt nicht zu sehen bekommen haben, wenn Frau von Batiazza es in ihrer Aufregung nicht auf dem Tische vergessen gehabt hätte, wo Fräulein Cotilia es fand. Sie gab es der Marchesa. Diese meinte, es wäre auch ganz unmöglich gewesen, daß dieser ehrenwerte Geigenbauer anders gehandelt hätte. Frau von Batiazza gab ihr Spiel noch nicht verloren. Als die Marchesa ihr die Erklärung Florenus' vor Augen hielt, erwiderte sie hochfahrend: »Es scheint mir auffallend genug zu sein, daß der Herr Florenus seiner Verpflichtung erst dann nachkommt, wenn die Öffentlichkeit an sein Gewissen appelliert, und wer weiß, was inzwischen noch von der Sammlung übriggeblieben ist!«
»Wenn du dich nicht mit mir erzürnen willst«, erklärte die Marchesa ihrer Freundin nachdrücklich, »dann wollen wir uns über diese Angelegenheit nicht mehr unterhalten.«
Die Frau von Batiazza zuckte die Achseln und schwieg. Sie hatte einflußreiche Bekannte, die mehr Interesse für ihre Launen besaßen. Das sollte dieser Florenus schon zu spüren bekommen. Und Josephus Florenus bekam es zu spüren, obgleich er die Frau von Batiazza in seinem ganzen Leben nicht gesehen hatte und sie ihn auch nicht.
Nach Überwindung der unerwarteten Schwierigkeiten durfte Josephus Florenus es erleben, daß die Stadt des großen Stradivari zu Ehren der Aufnahme seiner letzten und einzigen Erinnerungen prächtige Säle in ihrem Museum hergerichtet hatte. Der Museumsdirektor, der ein kunstsinniger und warmherziger Mann war, war von der Bekanntschaft mit Florenus entzückt und dankte ihm aufrichtig, und die Stadt verlieh dem großen Geigenbauer durch ihren Bürgermeister das Ehrenbürgerrecht. Die hohe Staatsregierung wußte sich aber des treuen Vaterlandsfreundes nicht zu erinnern.
Die Reise des Meisters Florenus hatte sich länger ausgedehnt, als beabsichtigt gewesen war. Er kehrte mit seiner Frau wieder nach Rom zurück. Es erfüllte ihn mit Befriedigung, daß seine herrliche Sammlung nun in der Heimat seines geliebten Meisters eine würdige Unterkunft gefunden hatte. Seine Verpflichtung war erfüllt, und allen Jüngern seiner edlen Kunst stand der Einblick offen. Er hatte der Sammlung zwei Instrumente von seiner Hand beigefügt. Sie sollten der Nachwelt einmal Gelegenheit geben, ohne jede Voreingenommenheit zu prüfen, ob der Geigenbauer Josephus Florenus die Größe seiner hohen Vorbilder erreicht hatte. Konnte man eine solche Tatsache feststellen, dann war die Kunst des Geigenbaues von der schmerzenden Fessel des » non possumus« befreit. Ein Künstler hatte den Beweis erbracht, und alle jungen Künstler durften hoffen, von ihrem Genius emporgeführt zu werden.
Nach seiner Rückkehr nach Rom kamen etliche Zeitungskorrespondenten zu Florenus ins Haus, um über die Sammlung Stradivaris und sein eigenes Leben Näheres zu erfahren. Florenus war höflich genug, die Auskünfte nicht zu verweigern, aber er wußte der Neugier auch nicht vieles zu sagen. Bald verlor sich das Gedränge, und er war wieder allein mit seiner Arbeit und seinen Aufgaben. Ermüdet von seiner vielen Tätigkeit und den Unruhen und Sorgen der letzten Zeit suchte sich Florenus eines Tages eine Erholung und Zerstreuung, und er suchte sie dort auf der alten Straße des Appius, wo die Vergangenheit noch immer ihr lebendiges Wesen zu treiben schien. Er hatte dem Kutscher gleich gesagt, daß er kein Fremder sei, und daß er von seinem törichten Geschwätz nicht belästigt zu werden wünsche. Das war dem Manne sehr ungewohnt, er wurde unruhig, und sein Pferd wurde es auch. Florenus sah auf die alte Straße und auf die Trümmer rechts und links vom Wege, die aus Denkmälern des Lebens zu Denkmälern des Sterbens geworden war. Der Wagen ruckte und stieß an die Steine, als wenn er zerbrechen sollte. Florenus rief dem Kutscher zu, er solle gefälligst vorsichtiger fahren. Der Mann auf dem Bock atmete auf, weil er reden durfte, denn er mußte antworten.
»Herr«, sagte er, »es ist nicht möglich, mit diesem Tiere ruhig zu fahren, wenn ich nicht reden darf.«
»Das ist ja dummes Zeug«, rief Florenus, »was soll der Gaul denn davon haben?«
»Ja, mein Herr«, erwiderte der Kutscher und drehte sich gemütlich so weit herum, daß er seinem Pferde den Rücken zukehrte, »Sie nehmen das so leicht, aber wenn ich bei den einzelnen Sehenswürdigkeiten keine lauten Erklärungen abgebe, dann kennt sich die gute Milani nicht aus, und schließlich wird sie bange vor der Stille und den vielen Gräbern. Sie müssen bedenken, mein Herr, es ist ein einfältiges Tier!«
»Dann will ich Ihnen etwas sagen«, meinte Florenus nach einiger Überlegung, »fahren Sie mit Ihrer Milani weiter, und erklären Sie ihr die Sehenswürdigkeiten! Ich werde mich hier derweilen allein ergehen, und nach anderthalb Stunden können Sie mich hier wieder abholen.«
Das Pferd mußte das Gespräch verstanden haben, denn es war immer langsamer getrabt und fast in diesem Augenblick stehengeblieben. »Es ist gut, Herr«, versetzte der Kutscher und drehte sich wieder herum, »ich werde mich mit der Milani verständigen.«
Florenus stieg aus und ließ den Blick über die alte Landschaft schweifen. Es zog ihn in diese fremde Umgebung hinein, als müßte er in ihr sich erinnern und vergessen. Als er sich umwandte, um einen schattigeren Weg zu suchen, sah er seinen Wagen noch an derselben Stelle stehen. Der Kutscher hatte sich sein Frühstück hervorgeholt und biß mit breitem Maule frohgemut hinein, während seine gute Milani mit hängenden Ohren nach dem spärlichen Grase hinter einem alten Steine schnupperte.
»Nun«, meinte Florenus erstaunt, »ich denke, Sie wollten Ihrem Pferde die Sehenswürdigkeiten erläutern!«
»Gewiß, gnädiger Herr«, versetzte der Kutscher lebhaft kauend, »wir haben uns im Augenblick nur dahin verständigt, daß wir beide frühstücken.«
»Dann scheint mir, daß Sie das Frühstück sehr ungerecht verteilt haben.«
»Das kann man noch nicht wissen, Herr«, rief der Kutscher Florenus nach, der weitergehen wollte, »wir teilen redlich. Ich bin der Mensch und bekomme das erste, und das einfältige Tier bekommt das letzte, es wird sich fragen, wo die Mitte ist!«
Die drollige Lebensphilosophie des braven Kutschers hatte ein Lächeln auf das müde Gesicht Florenus' gebracht. War dieser Mann nicht ein Teil des unveränderlichen Kernes eines Volkes? Die geschulte Intelligenz berührte nicht sein Wesen. Der Massenwahn ging spurlos über ihn hinweg wie der Sturmwind über den Apennin. Er lebte unverändert zwischen Mensch und Tier, wie alle Kutscher vor ihm. Er lebte, und das war ihm schon genug, um voll Humor zu sein. Humor? Im kleinen Volke ist die Klugheit immer Witz. Mit unserer Bildung laden wir uns bleischwer ernste Sorgen auf das Gemüt und wissen kaum noch, einer freien Stunde froh zu werden. Wir tun, als wenn wir Gott noch zu beraten hätten, und müßten ihn am Abend schon um Verzeihung bitten.
Die Landschaft hatte den Wanderer verschlungen. Gestrüpp und Sträucher brachen durch die alten Fliesen, Mauern, Säulen und Postamente. Alte Steine, alte Inschrift, nicht der Mühe wert zu lesen, wollten reden ohne Sprache! Der Mensch stand lebendig wie vor zweitausend Jahren über, unter und neben ihnen. Stiegen aus den sonnengebrannten alten Mauern noch die Schemen der Geborgenen? – Rissen an der Welt der Trümmer noch die Millionen Hände, die hier wühlten, formten, fügten? – Schrien aus verdorrten Kehlen noch die Todgeweihten ihre Flüche, die an diesen Steinen hingen? – Schwebte über dem Verkommen der Gemäuer und Gebeine unbeirrt die große Gnade? – Zitterte zu ihrem Lichte schwach und tapfer, unauslöschlich das Gebet der frommen Herzen aus der ewigen Not empor? – Florenus stieg einige verfallene Stufen hinauf und setzte sich auf den zusammengelegten Mantel. Die Stille, die ihn umgab, tat ihm wohl. Er saß hier zwischen den Steinen für das ganze Menschengeschlecht, für alle, die gelebt hatten und die leben wollten. Ob er hier saß oder ein anderer, das war ganz gleich. Es war immer nur der lebendige Mensch. Der eine ging, der andere kam. Mächtige und Geringe, der eine brauchte die Hand des andern, um dem toten Stein das Leben einzuschlagen. Wo die Hand des Menschen ihre Zeichen gelassen, mußte von seinem Geiste ein unvergänglicher Teil verweilen, der mit dem letzten Staubkorn in den Äther flog. Hier war ringsherum soviel Leben wie Sterben. Was war der einzelne Mensch? Wer einzeln sein kann, ist ein Fürst und Schöpfer, der die Masse bewegt. Die andern gehören sich und genießen das Glück der Reichweite ihrer Arme. Der einzelne wird einsam in Tat und Genie und kennt nicht Friede und Dank. Der einzelne gehört sich nicht, er wird von der Vorsehung nach ihrem Willen gebraucht. Er selbst ist nichts! – Er ist nicht einmal ein Mensch wie die andern, die ein Recht besitzen auf Freude und Zufriedenheit. Ein einzelner zu sein, heißt, den anderen auf höheren Befehl zu dienen, als Fürst und Künstler, Heilbringer und Gottgesandter! – Er selbst ist nichts. Mit seinem Tode beginnt sein Leben. Es durchzieht Geschlechter, bis auch sie Staub geworden sind wie dieses zerfallene Gemäuer!
Vor die Augen Florenus' trat die hohe Gestalt des Meisters Stradivari. Die Menschen hatten alles getan, das Stoffliche seiner Natur zu vernichten. Was neben den Werken seiner Kunst Hand und Besitz geheiligt hatten, war mißachtet worden, und die Gebeine selbst warf man in eine namenlose Grube. Das letzte, was ein fremder Freund und eine fremde Ehrfurcht aufgesammelt hatten, mußte den Feindring der Geschicke noch einmal durchbrechen, um sich des Meisters Boden wiederzugewinnen. Mein Leib ist nur ein Werkzeug, hatte er gesagt, und ist er aufgebraucht und abgenutzt, soll er in Gottes Namen Asche sein! War es ein höheres Zeichen des geheimen Waltens, daß unter der geringen Habe, die erhalten blieb, des Meisters sinntiefes Selbstbekenntnis sich befand, sein Kennwort aus der Brüderschaft: Antonio nihil, Antonio nulla?
Florenus erhob sich gedankenvoll, nahm den Mantel über den Arm und schaute um sich, um den Weg zurückzufinden. Er wollte nach der Zeit sehen, aber er hatte seine Uhr vergessen. Von seinem Gesicht war der müde Zug gewichen. Ernst und groß blickten seine Augen über die Steine, und mit festen Schritten drängte er durch die verwirrende Wildnis zur Landstraße zurück. Wie oft waren ihm die Worte Stradivaris schon in den Sinn gekommen, ohne daß er wußte, wie er sie sich zu eigen machen sollte! Das Nichts des irdischen Seins war ein zu banaler Gedanke, um von einem Manne symbolisiert zu werden, dessen langes Leben so reich an Ruhm und Werk gewesen war. Es hatte sich nun der Sinn in ihm gelöst. Dank dieser Lösung wurde er für sein eigenes Leben sehend. Antonio nihil! Das konnte nur ein Großer glauben und bekennen. Bescheidenheit? Wer sich wie er bescheidet, der ist stolz. Bescheidenheit ist die Erkenntnis des Menschen hohen Ranges, der den Dank nicht kennen darf, weil er nichts gibt, was Gott ihm nicht zum Geben schenkte.
Es war Florenus nicht so leicht, den Weg zurückzufinden, und er kam an einer anderen Stelle auf die Straße als dort, wo er sie verlassen hatte. Er hoffte, nicht zu weit vom Wege abgekommen zu sein, und nahm kurz entschlossen die Richtung in die Stadt zurück. In seiner Hoffnung hatte er sich nicht getäuscht. Nach einer kleinen Viertelstunde sah er den Wagen in der Krümmung stehen. Er rief und klatschte in die Hände, um sich dem Kutscher bemerkbar zu machen. Es rührte sich nichts. Er kam näher und verstand das Schweigen, denn die brave Milani stand immer noch mit hängenden Ohren neben dem alten Steine. Im Wagen selbst lag der Kutscher in einem tiefen Schlaf, die Hände fromm über den Leib gefaltet, um die Verdauung des Frühstücks zu segnen. Der fügsamen alten Milani mochte es sehr langweilig geworden sein, denn als Florenus näher kam, fing sie freudig oder hungrig an zu wiehern und spitzte die Ohren. Manchmal sind unsere Gedanken so sprunghaft, wie unsere Stimmungen launisch sind. Bei Florenus trat der Ernst seiner Einsamkeit zurück vor dieser beschaulichen Wirklichkeit. Er hatte keine Lust, den Kutscher zu wecken und damit eine unvermeidliche Unterhaltung zu eröffnen. Da er aber ebensowenig wie die alte Milani noch längere Zeit warten wollte, kletterte er umständlich auf den Bock, nahm die Zügel in die Hand und fuhr die Straße nach Rom zurück. Sie war ziemlich menschenleer, und die Milani kannte den Weg. Wenn auch die wenigen Passanten den schlafenden Kutscher mit verwunderten Blicken streiften, hätte diese Ordnung doch noch lange nicht gestört zu werden brauchen. Der Kutscher war von dem Rütteln des Wagens aufgewacht, hatte sich die Augen gerieben und seinen Fahrgast auf dem Kutscherbock erkannt. Mit einem schnellen Blick übersah er die Situation, und da sie nichts Gefährliches an sich hatte, nahm er auch keine Veranlassung, in seiner Ermunterung weitere Fortschritte zu machen. Er dämmerte vergnüglich vor sich hin und zog den Hut zum Schutze gegen die Sonne tief ins Gesicht. An einer Wegkreuzung wurde das anders. Die Milani blieb stehen, weil ein Transportzug vorbei mußte. In diesem Augenblick des Stillstandes hatte eine Schar Kinder, die gerade aus der Schule kam, Gelegenheit, ihr Urteil über die neue Ordnung in dem Gefährt abzugeben. Sie taten es so laut und so wenig schmeichelhaft für den Kutscher, daß dieser sich erbost erhob und aus dem Wagen stieg. Um die Dorfjugend kümmerte er sich aber nicht, sondern ging auf das Pferd zu, gab ihm einen Schlag an den Hals und sprach: »Der Herr da oben hat dir die große Ehre erwiesen, mich spazieren zu fahren. Das hat der Herr getan, weil ich drei Stunden auf ihn gewartet habe. Der Herr ist ein vornehmer Herr. Das wird er dir zeigen, Milani, wenn er mich nachher bezahlt. Jetzt aber, du einfältiges Tier, kommen wir in die Stadt, und wenn die Kinder von Rom so brüllen wie diese hier, dann wird der Kutscherbock leer, weil der Herr herunter muß und ich nicht wieder hinauf darf. Dann würdest du überhaupt nichts mehr zu fressen bekommen, wenn gefrühstückt wird. – Ich merke, Milani, du siehst das ein, und so wird der Herr das auch einsehen, wenn ich ihn bitte, mir den Bock wieder zu überlassen!« Dieser vielen Worte hätte es zur Erreichung des Zieles kaum bedurft, Florenus war nur erschrocken über die Zeit, die vergangen sein sollte. »Wie lange haben Sie gewartet, wieviel ist die Uhr?« fragte er hastig, wobei er sich bemühte, ungefährdet vom Bocke herunterzukommen. »Sie brauchen sich nicht zu beeilen, Herr«, bemerkte der Kutscher, »die Milani und ich, wir haben Zeit, wenn wir auch schon drei Stunden in der Sonnenglut gewartet haben.«
»Was«, rief Florenus erstaunt, »habe ich denn geträumt?«
»Wenn man im Schlafen träumt, mein Herr«, erwiderte der Kutscher und kletterte gemächlich auf seinen Bock, »dann wird man auch im Träumen schlafen können.«
»Halten Sie sich nicht auf«, rief Florenus unwillig, »ich muß schleunigst nach Hause!«
Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, damit die Milani Bescheid wüßte, und wandte sich um zu seinem Fahrgast. »Seien Sie unbesorgt, mein Herr«, sagte er, »wir fahren mit einer vollen Pferdestärke dem Ende entgegen!«
Florenus mußte wieder lächeln. Man konnte wirklich über diesen Kutscher nachdenklich werden, der selbst so wenig nachdenklich war.
Dieser Tag blieb Josephus Florenus lange Zeit in Erinnerung, nicht der heiteren Umrahmung wegen, die er gefunden hatte, sondern wegen der Gedanken, die ihn in der Einsamkeit erschütterten und erleuchteten. Es barg sein Lebenswerk noch einen anderen Sinn, als er bisher in ihm gesehen hatte. Es war der Sinn des Unzeitlichen und Unpersönlichen, der Seele außer ihm, des großen klingenden Gewölbes, an dem er wie ein Atlas trug. Er hörte sein ganzes Werk, die Hunderte von Instrumenten, in einem mächtigen Chor erschallen. Die Instrumente trugen die Musik von ihm in alle Himmelsfernen, und in der Ferne sang die Seele mit in ihrer strahlend schönen Heimat. Die Arbeit, seiner Hände Werk, die Mühen und Enttäuschungen, alles, was ihn im Leben band und zwang, fiel sterblich ab, vergessen, nie gewesen.
In seiner eigenen Werkstatt sah es anders aus. Die Dinge hatten sich verändert. Es war, als wenn das Stoffliche die eigene harte Kraft vor einem höheren Willen aufgegeben hätte und sich zu ungreifbaren Formen wandeln wollte. Das Holz war nur der feste Saum der Geige, die er schuf. Es waren viele, viele Geigen, die noch in ihm entstanden, und seine Hände konnten gar nicht fleißig und geschickt genug der vollen Schöpfung seines Geistes folgen.
Der Meister kümmerte sich nicht mehr viel um seine Schüler, und manchmal schien es fast, als hätte er sie ganz vergessen. Dann trat er plötzlich wieder unter sie, nahm ihre Arbeit in die Hände, strich mit den Fingern darüber und nannte die Fehler. Sahen sie ihn ungläubig an, nahm er das Holz zwischen die Finger, klopfte dagegen und ließ sie horchen.
»Herr Florenus«, sagte ein Schüler, »ich sehe, wie Sie die Geige bauen, und wie alles wundervoll übereinstimmt, aber ich verstehe es nicht. Ich mühe mich nach allen Ihren Lehren, und schließlich stimmt es nicht.«
»Was ich Sie lehren kann«, versetzte Florenus, »ist nur das Äußerliche. Was Sie brauchen, ist das Innerliche.«
»Was ist das Innerliche, wann hat man das Innerliche, und wo hat man es?« fragte der Schüler eindringlich und erregt. Er blickte ratlos auf seinen Meister. »Ist das Innerliche das, was ich mir vorstelle, wenn ich meine Geige anfange?«
»Das könnte es sein, wenn Ihre Vorstellungen die rechten sind!«
»Woran erkenne ich das, und was mache ich, wenn ich es bei meiner Arbeit erkenne?«
»Wenn Sie es bei der Arbeit erst erkennen, dann ist es schon zu spät, mein guter Freund. Was sich am Ende Ihrer Arbeit zeigt, ist ein Beweis des Irrtums, aber nicht Erkenntnis.«
»Was soll mir dann noch bleiben, Meister?«
»Die Sicherheit der Formgestaltung will erarbeitet und erobert sein.«
»Und werde ich es dann erreichen?«
Florenus sah dem jungen Manne in die Augen, es war sein bester Schüler. »Emilio«, sagte er freundlich, »ein Künstler muß mehr lernen, als ihm gelehrt werden kann, lernen in sich. Wenn dann alles, was er gewollt hat, in einem leidenschaftlichen Gefühl zurückschlägt, wenn sich der Seele aufdrängt, was sie eben noch gesucht, wenn die Finger, wie von Geisteskraft gezogen, nur noch den Bahnen folgen, die die Eingebung vollendete, dann ist das letzte Siegel Ihrer Kunst gefallen, die Himmelstore öffnen sich, und von den Saiten Ihrer Geige klingt der Engel Stimme!«
Emilio hatte seinem Meister ergriffen zugehört. Er fühlte, daß er die Worte noch nicht recht verstand, daß er noch manche Stunde ihrer gedenken mußte, bis sie klar in ihm würden, aber er fühlte, daß in diesen Worten die Wahrheit lag, und daß er selbst ihr Licht entzünden mußte.
Sommer und Winter gingen dahin. Unter den Händen Florenus' wuchsen die Werke so schnell und so schön wie in keiner anderen Zeit seines rastlosen Schaffens. Die Künstler suchten seine Geigen und schätzten sich glücklich, wenn sie eine erlangten. Der Ton seiner Geigen war wie das Lachen des Kindes und die singende Andacht der Seele. Der Meister wußte seine Werkstatt kaum zu verlassen. Er saß allein, und seine Gedanken trieben auf Traumwellen dahin.
In Kreisen schraubt sich das Leben zum hohen Sternpunkt seiner Spirale empor. Was es vom Ewigen nahm, läßt es vollendet zurück. Das Leben schreitet vom Scheitel die Serpentinen hinunter. Der Weg ist steil, und der Gang ist rasch. Unten mündet alles in breiter Fläche. Hinauf, hinunter, wann, wohin? Alle Fragen werden müßig. Das schweigende Schicksal wendet den Gang, es entläßt den Menschen aus der schaffenden Pflicht. Der Genius senkt die Flügel. Gott läßt es Abend werden.
Das Wunder seiner Schaffenskraft hatte Florenus zu übermenschlichen Leistungen angetrieben. Die unverminderte Rüstigkeit des Meisters schien diese Spannung elastisch auszuhalten. Nur Frau Anna sah mit tiefer Sorge, wie der vergeistigte Ausdruck des Gesichtes über die bläulichen Züge spielte. Josephus hatte eine Geige, an deren Ton er sich entzückte, von seiner Werkstatt in die Wohnung mitgenommen, um sie seiner Frau zu zeigen. Vor einigen Tagen hatte er sich einen Lack gemischt, den er mit einem feinen Zusatz von Mastix glänzender als gewöhnlich angerührt hatte, und der bei den Proben wie flüssige Sonne über die Flächen lief. Mit diesem Lack wollte er die Geige bestreichen in aller Ruhe und für sich allein. Aus seinen Händen waren schon so viele Geigen hervorgegangen, und immer war er glücklich gewesen, wenn sie fortgewandert waren in die Welt. Von dieser Geige, die auf seinem Schreibtisch lag, konnte er sich nicht trennen. Es war die einzige seiner Geigen, die er liebte, und bei der es ihm gar nicht in den Sinn kommen wollte, daß er sie verkaufen müßte. Er fand nicht gleich die gewünschte Ruhe, um sich an das Lackieren zu machen. Eine geschäftliche Angelegenheit trieb ihn nach Neapel. Frau Anna war manchmal böse auf die Geschäfte, aber dieses Mal begrüßte sie die Reise. Sie entschloß sich sogar, sofort mitzureisen, und hoffte, Josephus einige Tage zurückhalten zu können, damit er sich dort oder auf Capri erholte. Josephus hatte geklagt, daß ihm die Augen so leicht müde würden und die Lider brannten. Die Augen ihres Mannes gefielen der Frau Anna schon lange nicht mehr. Sie wollte, er sollte zu einem Arzt gehen, aber er weigerte sich und meinte, die Empfindsamkeit käme nur davon, daß ihm die Sonne Italiens solange ungewohnt gewesen sei. Josephus mochte aber selber fühlen, daß es gut sei, einmal wieder auszuspannen. Sie fuhren nach Neapel und Capri, wie Frau Anna es gewollt hatte. Zehn Tage blieben sie dort und tranken die Frische des Meeres unter den flammenden Farben des Südens. Dann kehrten sie nach Rom zurück.
Am dritten Morgen nach der Rückkehr nahm Josephus die Geige zur Hand. Er zupfte mit den Fingern an den Saiten, horchte und freute sich. Nun holte er den Lack aus dem Schrank und einen neuen Pinsel, mit dem er die Flüssigkeit umrührte. Vorsichtig und sorgfältig begann er zu lackieren. In langen Strichen fuhr er sicher über das Holz, wischte die kleinen Bläschen, die sich bildeten, mit dem Pinsel wieder aus und strich entlang an den Fugen und Kanten. Die schattigen Maserungen des Holzes belebten sich unter dem Lack, sie nahmen Gestalt an und lachten mit springenden Augen aus den phantastischen Schnörkeln. Auf dem braunblankgrundierten Boden breitete der Lack sein Sonnenlicht aus. Florenus schloß ein wenig die Augen. Es strengte ihn an, auf die Führung des Pinsels zu achten. Als der Reiz in den Bindehäuten nachließ, schlug er die Augen wieder auf und pinselte weiter. Er war unaufmerksam und tauchte den Pinsel zu tief in den Lack, so daß er ihn auf der Decke der Geige rasch auseinander treiben mußte. Das ist ja merkwürdig, dachte er, was ist mit dem Lack passiert? Hatte sich die Bernsteinfarbe getrübt? Er legte den Pinsel hin, nahm die Flasche in die Hand. Weiß Gott, der Lack war grau geworden! Was konnte nur damit geschehen sein, er war doch gut verschlossen gewesen? Er tauchte den Pinsel noch einmal in den Lack und fuhr quastend über den Boden der Geige, als müßte er den bösen Spuk aus der Flüssigkeit jagen. Der Lack wurde immer farbloser. Eine wilde Angst stieg Florenus in die Kehle. Er sprang auf und hielt die Geige in das strahlende Sonnenlicht. Der feuchte Lack wollte nicht mehr glänzen. Tot und grau lag er auf dem Instrument und schien sich kaum von den noch trockenen Teilen zu unterscheiden. Florenus besann sich. Es war eine Sekunde der Ewigkeit. Da schrie er laut wie ein sterbender Hirsch nach dem Geschöpf seiner Liebe. »Anna! Anna!« schrie er durch das Haus, so laut, so durchdringend, als wenn er meilenfern von ihr fürchtete, nicht gehört zu werden. »Anna, Anna!« schrie er und hielt sich taumelnd an dem schweren Bord des Schreibtisches. Seine Frau stürzte herein und fragte erschreckt, was es gäbe. Florenus zeigte auf die Geige und auf den Lack. »Was ist das, Anna?«, rief er unsicher, »was ist das mit dem Lack? Er ist grau geworden und hat keinen Glanz!« Frau Anna sah auf den Lack und auf ihren Mann und wieder auf den Lack. Sie wollte den Kopf schütteln und sagen, der Lack sei golden und klar glänzend wie Kristall. Sie fühlte, wie Blick und Ohr ihres Mannes an ihr hingen, und sie stießen ihr das Schwert mit tausend Schneiden in das Herz. »Der Lack ist wohl nicht ganz klar, Josephus«, antwortete sie heiser, »aber komm, leg dich hin, du hast dich überanstrengt!« – Josephus richtete die Augen auf seine Frau. Er sah ihr Gesicht bleich in einen Nebel sinken, ihre Züge verschwanden, und ihre Augen sahen ihn groß aus dunkeln Höhlen an. Er senkte den Blick zu den roten Rosen, die vor ihm standen, sie waren fahl geworden. Die entsetzliche Wahrheit legte sich wie Frost um seine Brust. Das Leben bäumte sich in ihm auf. »Anna!« schrie er mit einer wilden, brechenden Stimme. Er wollte sein Weib umfassen und sah nicht, wo sie stand. Hilflos sank er auf seinen Stuhl zurück. Die Hände umkrampften die Geige, der Kopf fiel schwer darauf nieder, und die Tränen flossen über die Saiten.
Es war des Geigenbauers Josephus Florenus letzte Geige gewesen. Sie blieb unvollendet. Sein deutscher Freund nahm sie mit sich über das Meer. Wenn er darauf spielte, dann sagten seine Gäste: »Sie rauscht so tief wie das Meer, sie singt wie der Sturm in der Nacht und läutet mit silbernen Glocken den Frieden aus Gottes Hand!«