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Wiederaufbau

Frühjahr 1946

Vor Jahresfrist besetzten die Armeen der Siegermächte unser Land. Der ersehnt-gefürchtete Moment, auf den seit Jahren Verzweiflung und Hoffnung in grausamer Verschlingung hatten hindrängen müssen, war gekommen: der Feind als Befreier hißte die Flagge auf den Trümmern unserer Türme. Aufatmen, das in Scham erstickte, schmerzzernagte Hoffen! Das Reich war geschlagen, Deutschland geschändet. Aber ein inneres Reich sollte sich wieder aufrichten, das eigentliche Deutschland sich wieder bewähren dürfen. Und wir sollten wieder leben, erlöst von der stündlichen Todesgefahr draußen, von der Drohung des Terrors im Inneren. Der Frühling sollte nicht mehr betörendes Blendwerk sein. Nicht mehr sollten Propellersurren und Bombenrasen den süßen Amselruf im Dämmern zersägen. Raunende Lüge und Verstellung sollten nicht mehr umgehen zwischen Mensch und Mensch. Leben, gütiges Leben neigte sich wieder uns zu. Oh, über alle Scham, über allen Schmerz siegte noch einmal die Hoffnung, die gottnahe Trösterin.

Dann kamen die Wochen, die Monate des Wartens, des Fragens, der Enttäuschung. Es galt, eine grausame, zerspaltene Wirklichkeit zu leben. Schreckensrufe gellten aus dem Osten herüber. Auf den Landstraßen wälzte sich das Elend. In den Städten lauerte die Verzweiflung. Wiederaufbau – so hämmerte das Gewissen dagegen. Soviel guter Wille war gestaut, soviel Drang zur Arbeit, zur Wiedergutmachung, zur Heilung der Wunden der Welt. Aber der Boden unseres Lebens war mürbe geworden, bei so vielen ein Trümmerfeld moralischen und politischen Irrens. Anklagen der anderen und quälender noch: ein unerbittliches Selbstgericht rissen in den argen Widerspruch von Scham und Trotz. Die Ströme guten Willens versickerten im Geröll bitteren Grübelns, verliefen sich in Rinnsalen ergebnisloser Kleinarbeit. Kein wirkliches Morgen schien unseren Glauben aufzunehmen. Es drohte zu versinken in der Not, die Tag um Tag grausiger aufstand, alle Wirklichkeit verschlang, uns mitleidlos würgte. Das arge Gestern schob seine Schuttmassen nach. Würden sie uns ersticken? Und keiner kam uns zu Hilfe.

Glücklich, wem nahe Arbeit vergönnt war, Arbeit am Menschen, am jungen Menschen vor allem, und Arbeit an sich selbst. Ihm war »Wiederaufbau« nicht die beängstigende Parole, die vor dem Leerlauf der Tage hergewälzt wurde, immer weiter fort in die Ferne der Utopie. Er spürte sich mitten ins Herz einer sich wiederaufbauenden Welt gestellt. Aber eben von hier aus hielt er vergebliche Umschau im Draußen, wo eine gleichnishafte Entsprechung seines Beginnens sich hätte verwirklichen sollen. Da schienen die Trümmerhaufen sich nicht zu mindern, da wuchs kein Neubau aus dem Ruinenmeer, da triumphierte noch immer die Zerstörung. Nun griff sie auch in die ehedem noch gläubigen Herzen hinein. Der äußere Tod ist gewichen. Es droht der innere. Wiederaufbau – ein unüberwindliches Gebirge türmt er sich vor uns auf, verstellt uns die Sicht ins Morgen. Mutlosigkeit schattet über diesen Frühlingstagen.

In solcher Stunde des Zweifels, des Verzagens gilt es den eigenen Stand zu sichern. Klare Einschätzung des Woher muß das Wohin uns weisen. Darf eine gerecht würdigende Überschau über die Arbeit dieses ersten Nachkriegsjahres wirklich so tief uns entmutigen? Ist wirklich so wenig gelungen, trotz so vieler Mühen? Wer auch nur einigen Einblick erhielt in die Tätigkeit einer der Schaltstellen der vielverzweigten Arbeit, der mußte erkennen, wieviel an wenig ins Auge springender Kleinarbeit bisher bewältigt wurde. Er weiß auch, gegen wieviel Widerstände dieses alles sich hat durchsetzen müssen: gegen Mangel an notwendigstem Material, gegen Mangel an geschulten Arbeitskräften, gegen Mangel an Einsicht und Mitarbeit übergeordneter Stellen. Trotzdem: welche Berge von Schutt wurden abbefördert. Wieviel Tausende von Wohnstätten wurden notdürftig wiederhergestellt, welch große Anzahl von Betrieben wurde, wenn auch nur erst behelfsmäßig, wieder betriebstauglich gemacht! Das Räderwerk des kleinen Alltagslebens ist aus Stockung und Verschüttung vielfach wieder in Gang gebracht worden. Noch ächzt und knirscht es im Ablauf, und die Ergebnisse einer neuen Produktion stehen noch aus oder kommen uns doch nicht zu Gesicht. Immerhin: viel ist geleistet worden. Es war eine schwere Arbeit.

Gewiß, wer Einblick hatte in die Methodik dieser Arbeit, der hat so manche tiefe Mängel bemerkt: die Häufung der Ämter, den Kleinkrieg dieser Ämter untereinander, den schwarzen Markt der guten Beziehungen, das Vordrängen der Personenfragen vor die Wahl der Persönlichkeit. Dies letztere ganz besonders hat fruchtbare Leistung oft gehemmt. Man muß es wohl mit einberechnen in alle Verwirklichung großer Aufgaben, besonders in Zeiten äußerer und innerer Verstörtheit eines Volkes. Wer da geglaubt hatte, die gemeinsame Not werde alle zu gemeinsamem Handeln zusammenschmieden, der sah sich oft bitter enttäuscht. Wilder denn je herrscht heute ein brutaler Daseinskampf. Beschämt müssen wir es eingestehen in dieser Stunde der Besinnung, ein Jahr nach der Beendigung des offiziellen Mordens. Noch hat die Not dieses Volk nicht zur Einkehr gebracht. Ach, ist es denn das Volk, was da vordrängt? Ist es zumeist nicht nur eine heute an die Oberfläche geworfene Schicht, und bleiben die tieferen nicht stumm unter dem Lärm des Tages, stumm und gebeugt unter den Prankenschlägen des nationalen Unglücks?

Es gilt, Gehofftes und Mögliches gegeneinander abzuwägen. Urteilen wir von unserer Erwartung bei Kriegsausgang her, so müssen wir resigniert feststellen: noch ist nichts Entscheidendes, wirklich Zukunftweisendes geleistet worden. Blicken wir von unserer eigenen aufrichtig eingestandenen Rat- und Wegelosigkeit rückwärts, so dürfen wir das bisher Getane als das Mögliche begreifen. Gewichtige Ansätze zur technischen Bezwingung einer Arbeit, die Menschenkräfte zu übersteigen scheint, sind gewonnen. Überregionale Zusammenschlüsse zu ihrer Durchführung, zur Niederhaltung lokaler Eiferer und Dilettanten bahnen sich an. Gegenüber dem wilden Getriebe der Schieber und Abenteurer, die vielfach das Feld beherrschten, scheint das spezifische Gewicht fachlicher Leistung sich durchzusetzen. Wirkliche Aufbauarbeit kann beginnen.

Doch halt! Verpflichtet die Jährung des Arbeitsbeginnes nicht zu tieferer Durchsinnung eines Zieles? Genügt da einem billig tröstenden Optimismus zu frönen? Gilt es nicht eher, dem Antlitz der Zeit die Larven abzureißen – und seien sie auch aus Schweiß und verkrustetem Arbeitsstaub geklebt –, diese Larven, mit denen es sich schon wieder verdecken will. Wohin denn treibt all diese große und kleine Müh? Stolpert es nicht schon wieder hinein ins Dickicht der Betriebsamkeit, die die wesentlichen Anliegen verdeckt, aus der uns die Katastrophe so fürchterlich aufriß? Das armselige Flickwerk dieser Tage – soll es Ausdruck unseres künftigen Lebens bleiben? Und die ausgreifenderen Ideen, die sich ans Licht wagen – rangieren sie nicht schon wieder in die alten Gleise zurück, auf denen sich so bequem flüchten läßt vor dem eigentlichen Gebot? Tod und Geburt – so dröhnt es aus den Trümmern. Aber ein Gestriges grinst hinter aller Alltagsmüh und Alltagsnot schon wieder herauf. Es droht die wahre Müh und wahre Not zu verdecken. Es saugt uns zurück. Dürfen wir dies eigensüchtige Getriebe gelten lassen als Ausblick und Hoffnung auf ein Leben, das wert ist, gelebt zu werden? Wird, was daraus entstehen kann, dem tiefen Schmerz die Waage halten, den wir um das Verlorene leiden?

Wir haben unsere Städte verloren, die monumentalen Ausdrucksformen unseres Seins. Wird, was aus dem heutigen Getriebe sich herausbilden will, je wieder zu solchen Ausdrucksformen sich entwickeln können?

Seit Jahrzehnten wird um die Stadt der Zukunft debattiert. Gewaltige Projekte, klug ersonnen, mit viel Bedacht auf alle Bedingungen eines modernen Daseins, wurden vorgelegt. Rationelle Baumethoden wurden mit Erfordernissen der Hygiene, der Wohnlichkeit, der klaren Austeilung des Lebens in Arbeit und Genuß gar trefflich kombiniert. Da waren die Geschäfts-, die Wohn-, die Industriequartiere. Da sammelten sich Vergnügungsviertel, und Grünviertel zogen die Städtelandschaft bis ins Zentrum hinein. Die Techniker vor allem hatten das Wort. Die Architekten nahmen ihre Forderungen auf und suchten eine bauliche Gesamtform daraus zu klären. Eine »Idealstadt der neuen Zeit«, klar und luftig, praktisch und bequem und unverblümt öffentlich in Form und Gehabe wuchs in der Phantasie vieler empor, der gegenüber alles Alte vermodert schien, lebensfeindlich und verdammenswert.

Man weiß heute wohl, daß aus der Not dieser Tage heraus ein solches Ideal nicht zu erzwingen ist. Man bequemt sich, die Projekte zu beschneiden, sie auf den sehr viel tieferen Lebensstandard, der uns bevorsteht, herabzuschrauben. Aber im Grunde beherrschen diese Ideen eines Lebenshedonismus doch alle Teilbemühungen um den Wiederaufbau unserer Städte. Es sind die alten Gleise, von denen wir sprachen. Und sicherlich haben sie manche Berechtigung, jedoch …

Wir sprachen von unserem Schmerz um das, was wir verloren haben. Ja, das ist's: wir haben ja keine Neustädte zu bauen, nicht praktische Menschensiedlungen aus grüner Wurzel zu erstellen. Da stehen die Ruinen unseres bisherigen Lebens, die grausigen Anklagen wider unser Tun. Sie sind da. Sie fordern. Es sind nicht nur die kostspieligen Anlagen unter der Erde unserer großen Städte, die Wiederverwendung fordern, es sind nicht nur die Bautentrümmer, die noch ragenden Fundamente, die erhaltenen Stadtreste hier und dort, die einen Wiederaufbau lohnend, weil materialersparend, erscheinen lassen. Es sind auch nicht die uralten Zwänge der Landschaft, des Bodens, der Verkehrslage, der Gewohnheit, die uns immer wieder zu den alten Orten werden hindrängen lassen. Es ist das gelebte Leben, was uns ruft, das geschichtlich Gewordene, was uns magisch anlockt. Es ist die gewordene Gestalt, die da aus Trümmern, oft großartiger noch als gestern im vielfach verstümmelten Bestand, uns kraftspendend anzieht, die uns verankert an der geheiligten Stätte unseres Werdens.

Blicken wir noch einmal zurück auf die bisherigen Wiederaufbaumühen. Schon als das Verderben noch niederhieb auf unsere Städte, hatten besonnene Architekten in mancherlei Plänen um Rettung des noch zu Rettenden, um Einfügung modernen Empfindens ins Alte unter Wahrung des Gesamtgefüges sich bemüht. Als dann nach Kriegsende die wirkliche Arbeit einsetzen konnte, wurde zwangsläufig der Techniker, das Trümmerfeld zu räumen, die mögliche Erneuerung abzuschätzen, auf den Plan gerufen. Der formgebende Architekt mußte zunächst in den Hintergrund treten. Die erzwungene Pause drängte vielfach in die Theorie. Da spalteten sich die Geister. Denkmalspfleger und Neuerer traten auseinander. »Welch unabweisbare, einmalig vom Schicksal gebotene Gelegenheit, unsere Städte dem heutigen und morgigen Empfinden anzupassen, Licht und Luft einzulassen in die dumpfe Enge des alten Gemäuers, im neuen Stadtgebilde ein neues Leben zu formen! Reißt das Alte nieder! Wagt, so wie die Früheren es auch getan, ein mutig Heutiges gegen allen Kompromiß!« Demgegenüber wurden Verteidiger der gewachsenen Form in heftigen Widerspruch gedrängt. »Nie vermöchte unsere zerrissene Zeit ein Gebilde zu schaffen, das würdig wäre, an die Stelle des sinnvoll und edel Geformten von gestern zu treten. In unseren alten Städten haben die Jahrhunderte ihre Lebensordnungen geprägt. Sie dauern in unser Leben hinein. Nehmen wir sie auf als Vorbild! Stärken wir unsere formlose Gegenwart am Vorbild des Erprobten! Ergänzen wir es in behutsamer Weise aus unserem heutigen Empfinden heraus, zur lebenwirkenden Gestalt!«

So kämpfen heute überm mühsamen Flickwerk des Tages die Ideen. »Wiederaufbau – alt oder neu«, unter dieser Parole scheiden sich die Fronten. Die Worte meinen die Wiederaufrichtung unserer Städte. Aber unter den Worten schwingen tieferreichende Welten des Geistes und der Triebe.

Bleiben wir zunächst noch beim akuten Problem. Darf man die Alternative dann in dieser Schärfe stellen? Wird der stillzeugende Geist des Lebens nicht lächelnd über solche begriffliche Zuspitzung unseres Wollens hinwegschreiten? Auch unser morgiges Sein wird seine Wurzeln wieder einsenken ins Gewesene, aus dem es doch geworden ist und fürder werden wird. Aus diesem Mutterschoß wird es ausgreifen in ein frei sich gestaltendes Ziel. Diesem Ziel die lebendige Entfaltung zu wahren, ist heute, da entscheidende Grundlegungen für eine breite Zukunft gefordert werden, die tiefste Verpflichtung. Mit großzügiger Behutsamkeit wird man ans Werk gehen müssen, ohne alle Enge von Doktrinen, um würdig bestehen zu können vor dem Urteil der Enkel.

Was sind denn diese alten Städte, um die der Streit geht? Es scheint förderlich, die Problemstellung »Wiederaufbau« zunächst um diese erste Kernfrage zu konzentrieren. Sind sie nur Aneinanderfügungen mehrerer durch die Jahrhunderte gehäufter Zeugen früheren Lebens, kunsthistorisch merkwürdige Einzeldenkmäler, die zu schützen wären wie sonderbare Fremdlinge in unserer Zeit? Sind es nur Kunstschätze mehr oder minder bedeutsamer Art, die – zu groß für ein Museumsgebäude – in Freilichtmuseen konserviert, der Neugier und dem Verstehen späterer Generationen aufbewahrt zu werden verdienen? Ist es nur dies, was uns unterm Anruf »Alte Städte« besinnungswürdig erscheint? Oder ist es der verwunschene Zauber der engen geschwungenen Gassen, der idyllischen Winkel und Ecken, der baumbestandenen Plätze, wo alte Brunnen rauschen und abends die Geige ertönt? Ist es dies, oder ist es die Melodie der pittoresken Giebel, die Steildächer überm Erkervorsprung, die breite Stiege am Kirchplatz, der Torturm draußen? Ist es überhaupt das Vergangene als solches, was in all dem fühlbar wird, das Strömen der Zeit, die am alten Denkmal aufplätschert und also erlebt wird? Ja genießen wir dies, daß Zeit war und Leben in dieser Zeit, ehe wir selbst da waren, daß Vergangenes nicht restlos vergangen ist, daß es in seltsamen Resten noch heute uns anrührt und ergreifend umgibt. Ist's das, was das Geheimnis der alten Städte ausmacht, das Romantische also im weitesten Sinn? Gilt es das zu retten?

Ach, es ist ein anderes, es ist mehr, was uns da ergreift, was in unserer Vorstellung über alle Ruinenverzweiflung triumphiert. Es ist ein Sein. Es ist ein wirkendes Sein über aller Zeit. Es ist das Geheimnis der Gestalt, das da in der Wirklichkeit der alten Städte sich uns offenbart. Laßt es uns flüchtig noch einmal im Geiste erwandern!

Es zieht uns nach Nürnberg, in die Stadt unseres Albrecht Dürer. Prachtvoll getürmt drängt sie hinauf zu ihrer Burg. Stoßweise, heftigen Atems fällt sie von oben nieder, über Kirchen und Plätze hinweg, hinüber über den stadtbeengten Fluß ins weite Atemholen der Lorenzstadt, ins mächtige Umgreifen ihres Berings. Da hält uns keine Einzelheit kleinteilig an. Da schlürft uns ein Ganzes ein, treibt hierhin, dorthin, durchwächst uns und formt uns nach seinem Gesetz. Und nicht nur dies Räumliche will ganz genommen sein: Auch das Zeitliche quillt von unten herauf, durchstößt alle Schichtungen und oberen Krusten, sammelt seine Jahrhunderte zum plötzlich empfundenen Sinnbild einer Gleichzeitigkeit, eines einzigen Moments. Ja, das ist's: man wird in diesen alten Städten gleich ins geschichtliche Werden hinuntergezogen, und dieses geschieht uns nicht als ein begriffliches Verstehen, sondern als spontaner Vollzug. Alles Sein schmilzt auf in sein Werden. Und dies lebendig gespürte Werden ordnet sich zurück zum Sein. So greifen wir Wurzel und Gipfel zugleich. Im Anschauen berichtet sich das Leben. Die Gestalt offenbart ihr Gewordensein.

Aus weiten Waldgebieten zieht ein Fluß westwärts einer Senke zu, wo ein alter Handelsstraßenzug die Nord-Süd-Achse dagegenstellt. Am Nordufer sammelt sich ein mählicher Anstieg des Geländes in einem felsgewachsenen Hügel. Der lockte, landschaftsbeherrschend, früh zur Befestigung. Von einer hochmittelalterlichen Burganlage dort oben senkte sich ringförmig abfallend die erste Besiedlung abwärts. – Auch auf dem südlichen, ebeneren Ufergelände, ebenfalls abgerückt vom Schlemmgebiet des Flusses, hatte sich um einen Königshof herum früh eine Siedlung entwickelt. Im weiteren Wachstum lehnt sie sich an einen dem Flußlauf parallelen Straßenzug an. Ob Burgsiedlung oder Königshofsiedlung die frühere war, hat die Forschung noch nicht eindeutig klären können. Für die Frage der Nürnberger Gesamtgestalt ist sie belanglos. Diese Gesamtgestalt entfaltet sich an den beiden Fixpunkten in zunächst völlig getrennten Kernen. Dies gilt es zu sehen, um durch den Wust von Meistersingerromantik, diesem peinlichen Kulissen- und Winkelzauber der üblichen Anschauung hindurchzustoßen auf die schicksalhafte Spannung und herbe Größe dieser Stadt.

Stoßartig fällt die Burgstadt auf die Terrasse nieder, die zwischen Hügel und Fluß sich hinspannt. Die Pfarrkirche, dem heiligen Sebald geweiht, das alte Rathaus versuchen eine zentrierende Mitte ins herbe Gefälle einzulagern. Für einen Platz fehlt der Raum, fehlt die Zeit, möchte man sagen. Ost-West-Straßen, die Tor und Tor verbinden, werden immer wieder durchstoßen von dem abfallenden Süddrang der Siedlung, dem Fluß zu. Erst die Niederlegung des Judenviertels, um die Mitte des 14. Jahrhunderts, schaffte Raum für einen großen Mittelplatz. Die Anregung zur Platzschaffung mag durch Karl IV. gegeben worden sein, der solches von seinen Ost-Städten her kannte. Am Platz stiftet er die Frauenkirche. Schräg gegenüber wacht der Schöne Brunnen über die Freihaltung des weiten Platzraumes vom Verkehr der Durchgangsstraßen. Die Sebalderstadt hat ihre Mitte, – eine erzwungene Mitte. Im Norden wird sie von der Burg geschützt, zum Fluß hin tastet sie nur in zagen Straßenanläufen.

Dort drüben hat die Lorenzerstadt zum eigenen Gebilde sich entfaltet. Dem alten Königshofkern war im Osten, vor dem Ausfall der Fernstraße ins freie Gelände, ein anderer Kern um die vergrößerte Pfarrkirche St. Lorenz entgegengetreten. Im 12. Jahrhundert wohl waren die beiden Kerne durch eine großzügige Planung verbunden worden: um den Ost-West-Straßenzug als Rückgrat spannt sich über ovalförmigem Gesamtgrundriß ein Straßensystem, das zwischen Durchgangs-, Markt- und Abstellstraßen sinnvoll unterscheidet. Ein voller Atem pulst durch diese damals sehr moderne Anlage. An den Toren zieht sie sich zusammen, zwischen ihnen schwillt sie marktmächtig an. Wohl erst später wird sie bei St. Lorenz südwärts abgewinkelt zum Königstor hin. Grundlegend bleibt der West-Ost-Verlauf, dem Uferhang folgend. Er schafft dem Nord-Süd-Verlauf auf der anderen Flußseite ein breites Fundament. Nur in Ansätzen greift es zum Fluß hinunter, schafft Verbindungen mit der Schwesterstadt drüben. Die späteren Jahrhunderte haben sie nur mühsam zur schicksalgeforderten Verknüpfung der Gesamtstadt weiten können.

Dies die Grundanlage Nürnbergs, aus der sein Gestaltgesetz aufsprang. Hier gedieh der Fluß nie zum bindenden Element der Uferseiten – ein zwangsläufiges Hinüberdrängen der Teile entsprach fast widerwillig dem Gebot der Gestalt. Zwei Teilgestalten, Ausformungen zweier verschiedener Charakterzüge fränkischen Wesens, stemmen sich gegeneinander an: der in steilem Abfall sich verschließende der Sebalderstadt und das weit und offen hingelagerte der Lorenzerstadt. über dieser prachtvollen Spannung, ja, aus ihr heraus prägt das späte Mittelalter das Antlitz dieser kernig gefügten Stadt. Man muß die verschiedenen Raumrhythmen, die verschiedenen Körperproportionen hüben und drüben gespürt haben: das plötzlich Gedrängte, jäh Unterbrochene des Raumatems, das steil Geraffte und spitzwinkelig Gebrochene der Blockproportionen in der Sebalderstadt gegenüber dem großzügig Ansetzenden, in Intervallen sich wiederholenden Einziehen der Straßenräume, dem Weitgelagerten, sicher Gegründeten der Blockproportionen in der Lorenzerstadt, – man muß diese elementaren Gegensätze der Lebens- und Stadtformung bewußt aufgenommen haben, um über ihnen die Kraft jenes einigenden Willens zum Ganzen zu würdigen, die letztlich die Teile doch zusammenzwingt zur Gestalt.

In der Sicht über die Gesamtstadt hinüber, am eindrucksreichsten von der Burgterrasse aus, enthüllen sich ihre wirkenden Kräfte. Als oberste wirkt der mächtige, zusammenschließende Bering, der in Türmen, Mauern und Gräben die alte Stadt plastisch zusammenhält. Tiefer in den Stadtkörper dringen die Echomotive der Kirchenbauten, die wie Klammern für die Sicht die Teile zusammenschließen. Die Ostung wirkt in allen mittelalterlichen Städten bindend. Hier in Nürnberg wird dies Bindende der Ostung prachtvoll gesteigert durch die gleiche Rhythmisierung der Baumassen: vom hohen Chor senken sie sich zum niedrigeren Langhaus, greifen dann stürmisch hinauf ins Turmpaar. Wie ein Echo überrollt die Wiederholung des Sebaldermotivs in St. Lorenz das Dächermeer. Als tiefste Bindung aber wirkt, was zunächst zu trennen schien: der Stoß der Burgstadt – das Auffangen der Lorenzerstadt. Großartig keilen sich die Gegensätze ineinander, entwickeln in ihrer Dynamik der Kontraste eine Stauung der Energien, die gleichsam aufsplitternd das ganze Stadtgebiet als Kraftfeld ihrer Entladungen durchzündet. Hier treibt das Gestaltgesetz Nürnbergs.

Ganz anders formt Würzburg seine Uferlage aus. Da drängt im Westen der Burgberg, höher und steiler als in Nürnberg, nahe an den breiten Fluß heran, läßt nur einen schmalen Uferstreifen, zu dem der Burgflecken, wie eine Girlande den Hügelfuß umspülend, niederfällt. Früh (vor dem Jahr 1000 schon) holten die bischöflichen Burgherren aus zum Griff über den Fluß hinüber: die Verlegung der Bischofskirche auf die andere Uferseite schuf den Kern für das herrliche Gegenüber, an dem durch Jahrhunderte hindurch diese großartige Stadtgestalt sich aufbaut.

Hier in Würzburg darf man die Niederschrift der gestaltzeugenden Kraft nicht im Grundriß suchen. Der folgt ganz einfachen Figuren: In einem in Mitra-ähnlichem Fünfeck gezogenen Kern dominiert die Kirchenstadt: das Turmbündel des Doms, das Neumünster, die Stifte, die weit hingelagerten Kurien der Kleriker. Zu Seiten und am Flußufer drängen sich die Bürgerquartiere. Von ihrem Aufbegehren gegen die Bischofsmacht spricht die Marienkapelle, spricht der große Marktplatz, der – auch hier – um die Mitte des 14. Jahrhunderts durch Niederreißen des Judenviertels eingebrochen wurde. Gegen das stolze Gegenüber von Domviertel und Burg kommt er nicht an. Er bleibt abseits. An den Rändern dieses Kerns hat der große Bischof der Gegenreformation, Julius Echter von Mespelbrunn, seine Bauten, Exponenten seines Wesens, eingelagert: am Nordrand sein Spital, am Südrand seine Universität, und gleichzeitig hat er seine Burg oben mächtig gestärkt. So wuchs das alte Gegenüber gleichgewichtig empor.

In diese noch lockere Lagerung schüttet dann der Barock den schwellenden Reichtum seiner Formen. Jetzt füllen die breiten Kuppeln den Raum über dem Dächergewirr, bringen den hügeligen Anlauf zum steilen Empor der Türme. Jetzt füllen sich die Zeilen mit weitbehäbigen Bürgerhäusern, die Vorstädte heben sich und schaffen den wohligen Anstieg zum Kern. Die alte Brücke über den Main beginnt zu klingen unter der fülligen Monumentenzier. Und wieder erfüllt sich das Grundgesetz dieser naturvollen Stadt: In der Verlängerung der Burg-Dom-Achse, am östlichen Befestigungsring, lassen die Bischöfe aus dem Hause der Schönborns durch Balthasar Neumann den Prunkbau ihrer neuen Residenz errichten. Jetzt ist das herrliche Ungefähr des Mittelalters zum System geschlossen. Jetzt hat das hohe Gegenüber quer über den Strom seine Prägung gefunden in der Gestalt.

Der besondere Reiz dieser zärtlich-großartigen Stadt ist die Freiheit, in der unter dem hohen Gestaltgesetz ein wohliger Rhythmus des Lebens fast spielerisch ausschwingt. Da zwingen nicht harte Straßenachsen unters Geheiß des Gestalters, da hetzen nicht winkelige Züge und düstere Enge ins Alltagstempo. Immer wieder schieben sich Lücken, kaum Plätze zu nennen, zwischen die wie sorglos verstreuten Blöcke ein, lockern den Stadtraum zu behaglicher Breite, und eine Stimmung wie ewiger Feiertag, zu dem die vielen Glocken laden, übersonnt den zartrötlichen Sandstein, den der Fluß seiner Lieblingsstadt spendet. Ja, wenn irgendwo, dann hier in Würzburg hat die Landschaft draußen in städtischer Formung ihr Selbstbewußtsein gefunden: das Auf und Nieder der Hügelketten am Fluß, das freie Schwingen der Uferkurven, das wohlige Sich-Dehnen der silberig schimmernden Weite – dies alles ist eingegangen ins steinerne Gerüst dieser Stadt, ins freie Sich-Fügen ihrer Bauten. Und der kosende Liebreiz, die zärtliche Güte der Main-Natur – im quellenden Melodienspiel der Dachsilhouetten, der Stiegen und Brunnen und der sprudelnden Ornamentik im Bau und im Park hat er das große Grundgerüst überschüttet. Aber all dies ist unterfangen vom schweren Erdrhythmus der breiten Toreinfahrten, von der breitschulterig hochgestemmten Sockelproportion der Bauten, diesem Erbe aus mittelalterlicher Zeit, das noch am Neumannschen Residenzbau den Grundklang bestimmt.

Doch was da landschaftlich seine Bewußtwerdung hat finden dürfen, als städtisches Gebilde bleibt es in holdester Unbewußtheit geborgen. Nirgends Absichtlichkeit, nirgends bewußter Zwang. Wie in naturgewachsener Willkür schmiegt sich die Stadt in die Stromkurve ein, wie lässig hingeschüttet von der Burghöhe drüben, oft wie zu Zufallsfiguren geronnen und gestaut. Ein sorgloses Ungefähr, nur selten ins planende Maß gerückt, scheint hier zu walten (– ein schwieriges Problem für die Erneuerer, denen die Ziehung von Durchgangsstraßen aufgegeben ist –). Ihm ist zu schweifen erlaubt, – es bleibt überdröhnt vom monumentalen Gegenüber von Festung und Stadt, dem höhen Gesetz, das die Gestalt ihm verbürgt.

Auch Braunschweig liegt an einem Wasserlauf, doch in ganz ebenem Gelände. Und dieses Ockerflüßchen war zu klein, um auf die Gestalt der werdenden Großstadt einzuwirken. Immerhin war es den Erben Dankwards willkommen, ihre Burg im niederen Land ringsum zu schützen. Diese »Wasserburg« Dankwarderode nahm Heinrich der Löwe als Keimzelle für seine großzügige Schöpfung.

Im Süden der alten Wasserburg hatte sich früh schon eine kleine Siedlung, die alte Wieck, entwickelt, durch eine »sack«artig sich dehnende Altsiedlung, dem alten Burgflecken, an den Kern gebunden. Jetzt baut der Herzog seine neue Pfalz, ihr gegenüber den Dom, läßt das Symbol seines Anspruchs, den bronzenen Löwen, zwischen Dom und Pfalz sich emporstemmen. – Der Ostlandkolonisator braucht eine Stadt. Westlich des Pfalzgeländes gründet er die Altstadt: Kirche (St. Martin) und Rathaus am rechteckig geklärten Platzraum im Süden, eingebunden in ein Straßensystem, wie es wohl kurz darauf in der Nürnberger Lorenzstadt umfassender genutzt wird: Parallelstraßen streben, zum Oval sich weitend und wieder zusammenziehend, zu den Toren im Norden und Süden. – Diese Altstadt genügt dem plänereichen Gründer nicht. Nordwestlich der Burgstätte fügt er die Neustadt hinzu. Die wird über einer Achse, fast lotrecht zum Altstadtsystem, ans gleiche Petri-Tor gebunden, das diesem als nördlicher Fixpunkt dient. Ihr dreistrahlig auslaufendes Straßensystem führt auf einen quer dagegen gestellten längsrechteckigen Platz, hinter dem die Pfarrkirche beherrschend aufragt (St. Andreas). Als Rückendeckung dient dieser Neustadt der kleine sumpfige Flußlauf der Ocker. – Doch bald genügt auch diese Erweiterung nicht, genügt nicht zur Aufnahme der zuströmenden Siedler, genügt nicht als wirtschaftliche Machtbasis des ausgreifenden Politikers. Die vom Burgkern parallel dem Ockerlauf ostwärts ziehende Straße ins Wendenland hinaus hatte sich inzwischen mit Streusiedlungen bevölkert. Die werden jetzt planmäßig zur Hagenvorstadt geordnet: quer zur Straßenachse wird wieder ein geräumiger Längsplatz angelegt, parallel zu ihr im Osten eine zweite Hauptstraße geführt, die im Wendentor in die alte Handelsstraße einbiegt. Hier mündet auch aus der Neustadt heraus eine Straße zum Tor: die Neugründung ist also wieder in den Verkehrszug des schon Bestehenden eingebunden.

Drei Einzelgründungen also, deren sinnvolle Aneinanderknüpfung den Blutkreislauf einer Gesamtstadt verbürgt. Ein Barockfürst hätte sie alle zu seinem Schloß hin zentriert. Der mittelalterliche Städtebauer beläßt jedem Teil die eigene Ordnung, verknüpft diese selbständigen Teile aber sinnvoll an ihren Ausgangspulsen. So schafft er ein wirtschaftliches Ganzes, ein in sich geschlossenes System, das er doch von seinem Machtkern aus in seinen einzelnen Teilen zu beherrschen vermag.

Im heutigen Bestand erweist sich die Überlegenheit dieses Systems: es ist zu unlöslicher Einheit zusammengeschmolzen. Wer heute Braunschweig durchwandert, wird kaum die Nähte spüren, in denen eine spätere Entwicklung die Teile zusammengesponnen hat. Nicht, daß der Ockerfluß nicht mehr die Stadt durchzieht und die Stadtteile trennt – er wurde um die spätere Umwallung geleitet –, nicht, daß auch die Südostteile um die alte Wieck herum dicht besiedelt und mit den anderen Quartieren durch einen Gesamtbering umwallt worden sind, begründet diesen Eindruck eines gestalthaften Ganzen. Das Leben selbst hat die Absicht des Gründers bestätigt: es hat im Zusammenschmelzen der Teile das etappenweise geförderte Werk so dicht zur einheitlichen Figur gefügt, daß nur ein im Grundriß bewandertes Verstehen die Gründungsstadien noch zu trennen vermag. Dem spontanen Aufnehmen bleiben sie verborgen. Nur die zentripedale Kraft der Plätze, der dreifach sich wiederholende Rhythmus der steil aufgehenden Kirchen über diesen Plätzen, in dem der Mittelklang des Domes sein Echo findet, läßt aufhorchen, läßt die Vielheit spüren, die hier gebunden ist zur lebenwirkenden Gestalt.

Und hier stößt man durch zum vitalen Charakter dieser Stadt, tief unter aller Ratio der Planung. Ein dumpfes Kraftgefühl hat hier die Gestalt erzwungen. Hier stemmt sich niederdeutscher Fachwerkbau in wuchtiger Proportion aus der Erde, hier raunt und gärt, in schwarze Eichenbalken geschnitzt, alter Spruch- und Ornamentenzauber durch die Gassen. Aber plötzlich bricht diese dumpfe Kraft aus, hebt sich in wilden Turmpaaren, in steilen Kirchenleibern hinauf. Im weitgesteckten Platzraum davor findet sie beängstigend gehärtete Resonanz. Das ist der Geist des bronzenen Löwen, des Welfen selbst, der plötzlich alle Fachwerktraulichkeit durchdröhnt, die niederen geschwungenen und gekanteten Häuserzeilen entlangbebt, der den weiten Ebenen draußen Antwort gibt, die fernher anrollen an die trutzigen Türme dieser Stadt.

Die Türme vor allem sind die Ausdrucksträger unserer niederdeutschen Städte. In Lübeck ist ihr wildes Empor zu prachtvollem Türmereigen gebunden. Seine großartig hinziehende Melodie ist wie Erlösung des gestaltenden Geistes aus dem stummen Ringen zwischen Land und Meer.

Wer je das Glück hatte, vom anderen Trave-Ufer aus die Stadt im Abendleuchten zu sehen, dies traumhafte Aufsteigen der strengen Türme aus dem Häusermeer, ihr rotes Backsteinglühen, über dem das geheimnisvolle Grün der steilen Helme in ihrer patinierten Kupferdeckung in den weit sich öffnenden Himmel rief, wer je dieses gewaltige Ansteigen der Körperrhythmen vom Turmpaar des niedrig gelegenen Doms über den Turm von St. Aegidien und dem Koloß von St. Petri zum beherrschenden Doppelklang von St. Marien, dann den Abgesang über den Turm von St. Jacobi zum Holstentor nieder geschaut hat, der weiß vom Dauernd-Gültigen der gestalthaften Prägung. Doch das Erstaunliche ist, daß dieser großartige Rhythmus einer Ratio entwächst, wie sie erst der Osten im Grundriß seiner Städte entwickelt hat. Diese Stadt auf dem schmalhinziehenden Bühl zwischen Meerarm und Fluß entfaltet sich in strengster Regelmäßigkeit: beim einlassenden Osttor zweigen die beiden Hauptstraßen auseinander, durchziehen parallel das leis steigende und wieder fallende Stadtgelände, finden sich dann wieder vorm Austritt aus dem Tor im Westen. Sie bilden das Rückgrat für ein streng übers Lot gespanntes Netz von Längs- und Quergassen, das nirgends einer Laune Raum gewährt, in ausgesparten Blöcken die Kirchen aufnimmt und auf der Stadthöhe, zu Füßen von St. Marien den prächtig umbauten Mittelmarkt zwischen schützenden Wänden birgt, den Triumphplatz der stolzen Königin der Baltischen Meere.

Wer, der an der herben Schönheit dieser Stadt sich begeistert, wird dieses berückenden Dualismus sich bewußt, dieser heimlichen Spannung zwischen Ordnung und Aufruhr, zwischen klarster Begrenzung der Grundanlage und herrlichem Unmaß der Türme, die hier alle Gestaltbildung zu sprengen droht und doch zur eigensten Gestalt sich adelt. Sie lebt auch in den anderen Küstenstädten, in Riga, vor allem in Danzig. Aber nirgends wirkt unter der Spannung der Gegensätze doch auch wieder diese wurzelhafte Verschlingung, wie sie hier in Lübeck die Einheitlichkeit eines durchgehenden Formprozesses bedingt. Das jähe Empor der Türme – es ist im steilfigurigen Geflacker der Giebel unten schon angelegt. Als ob in dem strengen Gefüge der Blöcke zwischen dem Straßennetz schon ein heimlicher Tiefenbrand knisterte, aus dem dann hier und dort die hohen Flammen schlagen. (Daß dieses Bild in jener Schreckensnacht im Frühjahr 1942 so furchtbare Wirklichkeit wurde! –) Und wieder: das strenge Gesetz des Grundgefüges greift hinauf und rückt die Turmmassen oben in ein Maß, das ihrer Aufeinanderfolge den hoheitsvollen Rhythmus sichert. In diesem Rhythmus schwingt nun ihr Reigen auf vor dem weiten Horizont, wie Siegesgeläute der dennoch errungenen Gestalt.

Ein Türmereigen vor weitem Horizont – so grüßt den Fernherkommenden auch die heimliche Königin der deutschen Städte, Augsburg. Wie Nachhall der blauenden Berge im Süden heben und senken sich die reichen Konturen. Hier aber bleibt dieser Reigen nicht aufgespannt in der scharfen Silhouette, hier hebt sich die gestaltete Masse von unten her mit empor und wägt sich aus in ihren Gipfeln. Der Lübecker Türmereigen ist wie ein einmaliger Aufklang aus einer unendlich weiterziehenden Melodie, die nur in diesem einen hohen Moment erlöst ward aus ihrer weiter drängenden Spannung. In Augsburg sammelt sich das Drängen der Weite zu machtvoll in sich geschlossenem Klang, zu selbstbewußter königlicher Ruhe. So scheint es wie stolze Erfüllung von Anbeginn, aber ihr Werden bebt noch in der Gestalt.

In den Mündungswinkel zweier Flüsse schiebt sich von Süden her ein sacht ansteigender Bühl vor. Auf seiner nördlichen Kuppe und am Hang zur Niederung der Flüsse hatten die Römer ihre umfangreiche Colonia angelegt. In den Trümmern der Römerstadt richten christliche Bischöfe ihre Residenz ein. Ein Teilgebiet genügt zur Aufnahme von Dom und Pfalz, von Kurien und Häusern der Gewerbetreibenden und Hintersassen. Vor den Mauern, entlang der alten Römerstraße, die südhin zieht, siedeln die Kaufleute. Ums Jahr 1000 ist Augsburg eine starke Bischofsstadt. – Damals wurde der Begräbnisplatz der heiligen Afra auf einer Hebung des Bühls im Süden in ein Benediktinerstift umgewandelt. Der heilige Ulrich ward der zweite, bald in den Vordergrund tretende Patron. Um dies bedeutende Stift sammelten sich Siedler. Ein anderer Fixpunkt für die Stadtentwicklung war damit gegeben.

Im Verlauf der hochmittelalterlichen Jahrhunderte drängt die Kaufmannssiedlung immer weiter südwärts. Sie umfaßt den Zug der Römerstraße, überspannt den Hang zum Lech hinunter, hat ihre eigene Kirche mitten zwischen Bischofsburg und St. Ulrich. Sie gewinnt schon das Übergewicht über den bischöflichen Platz, zieht die West-Ost-Straßen von ihm ab zum Kreuzungspunkt mit der alten Römerstraße am Perlach. Machtkämpfe zwischen Bischof und Bürgertum entscheiden für die Bürger. Ihr erster Rathausbau neben dem Perlachturm fixiert die neue politische und wirtschaftliche Situation, fixiert zugleich die jetzt gegebene Stadtmitte, zu der hin sich die wichtigsten Straßenzüge zusammenschieben. Ein noch lockeres System harrt der Gestaltung.

Zur Prägung der Gestalt treibt wie beim Menschen, so auch bei den Städten die Bewußtwerdung der eigenen Kräfte. Augsburg steigt im 16. Jahrhundert zur Metropole des Welthandels empor. Die Augsburger Kontore beherrschen wirtschaftlich das Abendland, sie greifen hinüber auf die neu entdeckten Kontinente, Weltluft strömt ein in die mittelalterliche Stadt. Ihre monumentale Grundachse, die über die alte Reichsstraße hinaus bis hinauf zum Ulrich-Stift ausholt, wird sich ihrer Breite in der Aussonderung sich ablösender Platzfolgen bewußt. Die Bürgerhäuser zu Seiten recken sich zu still-festlicher Lagerung, ihre Proportionen sammeln sich zum Ausdruck einer sachlich klaren Selbstbewußtheit, in der das schwäbische Wesen zu frischer und sehr hochstehender Urbanität ausreift. In den Kirchen gesellt sich späteste Eleganz der Gotik mit frühesten, lebensvollen Trieben renaissancehafter Haltung. Zunfthäuser der Gewerbe, Geschlechterhäuser, Türme und Tore und vor allem die prunkvollen Brunnen, in denen die vielen Wasserläufe aus dem Lech, die die Stadt kraftspendend durchziehen, gleichsam ihre figürliche Bewußtwerdung finden, schaffen die Elemente für eine beherrschende Gestalt.

Zu dieser Gestalt wird das Gefüge dann geklärt durch das Genie des Stadtwerkmeisters Elias Holl. Nach vieler Einzelarbeit am Stadtkunstwerk schafft dieser schlichte und große Meister im Blockbau seines neuen Rathauses die beherrschende Mitte, in der die Gestalt der Gesamtstadt sich erfüllen kann. Zu diesem »heroischen« Massiv von Rathaus und Perlachturm strömen die rings ausgegossenen Kräfte nun zusammen, von ihm, geläutert durch eine große Form, strömen sie wieder hinaus und durchklären das füllige Gedränge der Stadtfigur. St. Ulrich im Süden und der hohe Dom im Norden – durch das Grundgewicht der Mitte sind sie ins Bild der Waage eingefügt.

Das ist's, was der Fernherkommende zuerst gewahrt: daß hier eine hinströmende Melodie, aufgereiht über der alten Grundachse der Römerstraße, gesammelt wird durch die Kernkraft einer gestalteten Mitte und sich so in sich selbst beschließt, daß hier aus der strömenden Zeit ein gültiges Dasein gehoben ist, in dem sich der Auftrag des schwäbischen Mutterbodens erfüllt zur Dauer einer klassischen Gestalt.

Das also sind unsere alten Städte! Anschaulich wollen sie begriffen sein. So prägten sie ihr Wesen zu gültiger Gestalt. Stäubt nicht alles sentimentale Sich-Flüchten in ein »Vergangenes« in die Winde vor der kernigen Sicht ihrer »Wirklichkeit«, und damit auch aller Vorwurf, sie seien vom Leben überholt. Nehmt sie als Kunstwerk, und jener Vorschlag, sie sterben zu lassen, ist in seiner Unsinnigkeit schon entlarvt. Aber sie sind mehr, sie sind Leben. Jahrhunderte gelebten Lebens schmolzen in sie ein, fügten und prägten, bis sie das Antlitz des Menschen trugen, der sie belebte. Was je ihn geformt hat, der Geist der Landschaft und das wechselnde Geschehen, der Einbruch des Schicksals und der nie gestillte Traum – das alles formte über ihn hinaus auch seine Stadt. Nun dauert sie über ihm, Symbolform seines Lebens, und wirkt.

Ja, unsere alten Städte wirken. Sie sind nicht alte Gehäuse, die uns wie Larven umschlottern. Formend wirken sie zurück auf den, der sie geformt hat. Wer das Glück hatte, im Bannkreis alten Gemäuers aufzuwachsen, der hat sie verspürt, diese prägende Kraft einer alten Stadt. In ihrem Charakter fand er, ins Monumentale gesteigert, den eigenen bestätigt und dankbar nahm er zu schöner Kräftigung zurück, was ehemals wie aus dem eigenen Innern hinausgetreten war in die objektive Gestaltung. Diese Wirkkraft der alten Städte gilt's zu erhalten, weiterzuleiten ins Leben der kommenden Geschlechter.

Ein sinnverlassenes Jahrhundert hatte die Menschen blind werden lassen für dieses Wirken der Gestalt. Da galt nur noch praktischer Nutzen, Betrieb und Verkehr und, wenn's hoch kam, bequemes Wohnen. Da ward die Gestalt überwuchert von Vampirarmen des »Fortschritts«. Wie von Vulkanen ausgespien torkelten rauchende Blöcke hinaus ins erschrockene Land. Die Gestalt war verschüttet, und keiner mehr spürte ihre formende Kraft. Die aber hatte nicht nur von Ordnung früherer Zeiten gekündet, sie kündete das ordnende Prinzip überhaupt. Sie war sichtbare Form des Bewußtseins, zu dem einst, ihrer Landschaft entwachsen, eine Gemeinschaft von Menschen erwacht war. Bewußtsein läßt sich wohl betäuben – töten läßt es sich nie. Heute, da aus Ruinen und Trümmern das Grundgerüst der Gestalten wieder aufsteigt, das Gesetz ihrer Kristallisation gleichsam wieder sichtbar wird, heute wird grausig offenbar, was wir verloren haben.

Da ragen die Torsen unserer alten Städte und in ihrer grausigen Verstümmelung künden sie noch ihre Idee. Aber alles, was diese Idee einschmolz ins Sinnenfällige, ins Körperliche des Stadtleibes – es ist dahin. Dahin alle Reize der Stimmung, die da in Zufall und Laune diese Einschmelzung umspielten. Verstummt sind die stillen Selbstgespräche der alten Plätze, die wir belauschten, verstummt das vielstimmige Empor der Giebel, die schwingenden Zeilen entlang. Wolkenschatten gleiten nun nicht mehr hin an Häuserwänden, daß man an ihrem Auf und Nieder die Kurvung der Straßen raumkräftiger erfuhr, – in Ruinenzacken fetzen sie sich auf. Durchlöchert ist das warme Dunkel der Gassenschlucht, hinter dem der Domturm hell aufsprang. Kirchenräume, die den draußen verstreuten Sinn uns sammelten, sind roh zerbrochen. Das Grün ihrer Kuppeldächer leuchtet nicht mehr ins Himmelsblau. Nackt stehen die Mauern und keine Launen frohen Schmuckwerks locken sie auf aus ihrem Ernst.

Dies alles ist dahin, ist unwiederbringlich dahin. Ein Lied Walthers von der Vogelweide, ein vielstimmiger Satz von Heinrich Schütz – sie dauern, solange ein Mund, ein Instrument sie kündet. Sie sind wirklich über ihr einmaliges Entstehen hinaus. Bilder und Bauten ragen nur in die Wirklichkeit hinauf, solange sie leibhaftig da sind. In ihrem konkreten Dasein, zu dem ihr Entstehen einst glückte, ist ihre Dauer beschlossen. Deren Verschwinden ist ihr Untergang überhaupt. Daß sie waren, mag manches Abbild verbürgen und wesentlicher als solche Abbilder unser Erinnern. Da mag es Wurzel schlagen, und in glücklicher Stunde zu neuem Werk aufstehen. Für unser spontanes Erleben sind sie verloren.

Doch unter all dem, was dahin ist, blieb ein Wesentliches uns erhalten. Nicht nur dieses oder jenes bedeutende Bauwerk im Ruinenmeer, nicht irgendein von den Bomben verschonter lauschiger Winkel, ein Stück Mauer am Tor. Wir freuen uns, daß es uns blieb. Aber uns geht es um mehr, es geht uns um die Urschrift der Gestalt. Noch ragen ihre Umrisse aus den Trümmern und aus der Zerstörung tritt ihr Grundgefüge, aus Überwucherungen späterer Zeit zu gewaltiger Nacktheit herausgenagt, zutage. Ein Blick übers zerstörte Augsburg offenbart nun das Grundgerüst der hochmittelalterlichen Stadt in seiner monumentalen Größe. Aus dem Trümmerfeld Würzburgs rufen die Domtürme mit fast unheimlichem Klang zur Marienfeste hinauf. Im Ruinengeflacker Lübecks strecken sich die nackten Straßenläufe zu Füßen des jetzt noch ungestümer aufgehenden Türmereigens.

Grausig offen liegt da, wie das Leben sich eingrub in Boden und Raum, wie Straßen und Gassen in Freiheit und Zwang sich fügten zum System, wie Plätze sich sammelten und Raum einließen ins Adernetz der Stadt. Dies alles, was Jahrhunderte aus Zwängen der Landschaft, des Bodens, des treibenden Verkehrs, aus bewußten und unbewußten Regungen der Empfindung zum Grundriß haben gerinnen lassen, diese Kerngerüste unserer Stadtgestalten konnten die Bomben nicht zertrümmern. Sie haben es in ihrer schicksalhaften Notwendigkeit zu schauriger Großartigkeit bestätigt. Jetzt dröhnen die Fugen, die ehedem im Melodiengeranke der alten, unterm Betriebsschutt der neuen Zeit fast erstickten. An uns nun liegt es, sie zu vernehmen.

Erhalten blieben uns auch so manche Fixpunkte der Überbauung, in denen das Auf und Nieder des Stadtreliefs verankert war. In ihnen und manch anderen Resten blieb uns der Charakter bewahrt, der in ihnen die Physiognomie der Stadt bestimmte, die steile oder die stämmige Proportion der Hauskörper, das derbe oder zarte Relief der Wände, ihre Öffnung in Fenstern und Portalen, die Führung der Gesimse, die Tonart des Giebelschwungs und mehr. Wir müssen diese Reste heute mit vielfacher Intensität begreifen, nicht um sie als Einzeldenkmäler pietätvoll zu konservieren, sondern um mit ihrer Wirkkraft die gähnenden Lücken zu füllen, die daneben aufklaffen, um den Atem der Gestalt wieder vernehmbar zu machen, der diese Reste mit dem Grandgefüge einst zusammenschmolz. Dann werden wir inniger verstehen, was unsere alten Städte sind.

Man wird einwenden: »Sehr schön! Ein phantasievolles Beginnen, jedoch – einem Wiederaufbau wird es wenig frommen.« Ich erwidere: ein wirklicher Wiederaufbau bedarf solch phantasievoller Bestandsaufnahme zu allererst. Aus was für Elementen die Gestalt sich aufbaute, wie diese Elemente notwendig sich zusammenfügten, das zu erkennen ist Grundbedingung für einen Wiederaufbau, wie wir ihn verstehen. Wir denken ja beileibe nicht an Kopie des Gewesenen, auch nicht an stümperhaftes Zusammenkleben erhaltener Reste. Wir denken an Wiederbelebung des Geistes, der in der Gestalt sich bekundet, an die Neuaufrichtung eines Gehäuses, in dem das einmal zu gültiger Form erwachte Leben sich wieder zu regen vermag. Um dieses Leben ist es uns zu tun. Ja, um das Leben!

Da steht unausweichlich die zweite Kernfrage auf, die aller Besinnung um einen Wiederaufbau unserer alten Städte zugrunde gelegt werden muß: in was für ein Leben wollen und sollen wir diese Städte denn wieder aufbauen?

Doch nicht in ein längst vergangenes, in dem wir wie in verstaubte Harnische zurückkriechen sollten! Armselige Epoche, die mit vermodertem Kulissenzauber sich umbauen wollte! Nein, gewiß nicht! Aber doch wohl auch nicht in ein Leben, wie es den übereifrigen Neuerern und Fortschrittsaposteln von gestern vorschwebte: ein Leben der Vergötzung von Bequemlichkeit und Genuß, von gigantischer Weitung der Dimensionen und lärmender Verbrämung der im Grunde drohenden, ja angelockten Vermassung! Nein, unser kommendes Leben wird sich – diese Einsicht ist den meisten in diesem leidvollen Jahr schon bitter aufgezwungen worden – es wird sich von dem noch gestern von vielen erhofften beträchtlich unterscheiden. Bedenken wir nur erst mal seine äußeren Bedingungen. Was für Forderungen wird es an seinen städtischen Rahmen stellen? Lassen sie sich überhaupt schon erkennen? Können wir denn, was da aus dem Zukunftsdunkel nur erst vage heraufdämmert, schon baulich projektierend, ja überhaupt nur erst ganz allgemein gedanklich fassen?

Plötzlich begreift man das Wagnishafte eines solchen Wiederaufbaues, das Wagnis einer Vorwegnahme werdender Entwicklung, die Umkehrung also jenes anschaulichen Begreifens einer alten Stadt, dem die gewordenen Entwicklungen sich hinaufheben in eine plötzlich transparent werdende Gegenwärtigkeit. Müssen sich solchem Vorausplanen nicht Glaube und Ahnung gesellen, und müssen sie nicht auch gleich wieder zurückgenommen werden ins bescheidende Gefilde zuwartender Bereitschaft?

Man möge hier nicht nahe Zielweisung erwarten für die Arbeit der Architekten, konkrete Ratschläge für dessen schwieriges Tun. Wie dürfte der Betrachtende, der Außenstehende, wie es der historisch Verstehende dem praktisch und künstlerisch Schaffenden gegenüber nun einmal ist, so anmaßend sich gebärden! Was hier zu sagen gestattet und als Pflicht auferlegt ist, darf nur der Eingliederung solchen Schaffens in die Verantwortlichkeit aller heute Lebenden dienen. Aus ihr muß die Berechtigung erwachsen für das Wagnis unseres Beginnens.

Unser künftiges Leben! Das eine ist uns klar: wir werden unsere Lebenshaltung beträchtlich einzuschränken haben, und unsere Arbeit, auf der sich diese Lebenshaltung aufbauen soll, wird mühsam sein. Die meisten unserer Industrievampire werden zerschlagen bleiben. Der Arbeitsprozeß wird sich weitgehend zerteilen, in kleine Betriebe auflösen. Der Kleinmotor wird vielfach an die Stelle der Kraftzentrale treten. Er wird in der Werkstatt stehen und diese wird sich in vielen Fällen wieder an die Wohnstätte angliedern. Das ergäbe einen Haustyp des Kleingewerbetreibenden, ähnlich dem, wie ihn das Mittelalter für seinen Handwerker sinnvoll ausgebildet hat. Dieser neualte, unseren Zeiterfordernissen gemäß ausgestaltete Typ wird sich der alten Stadtanlage weniger widerspruchsvoll einfügen lassen, wie manche befürchten oder gegnerisch argumentieren.

Auch der künftige reine Wohnhaustyp braucht nicht als störender Eindringling die zu erneuernde Stadtgestalt zu bedrohen. Was die neuere Entwicklung schon tatkräftig gefördert hatte: die Reduzierung der Stockwerkhöhen auf sinnvolle Maße, die Befreiung der Fassaden von pomphaftem Putzwerk der Gründerzeiten, ihre Reinigung zu schlichter Flächenwirkung, in der die echte Proportion sich auszuwirken vermag, vor der der Straßenraum wieder zur Geltung kommt, diese günstige Entwicklung wird durch die Notlage künftig noch weitergetrieben werden. Sie wird den neuen Wohnhaustyp bei aller inneren Neuzeitlichkeit und auch in der aus Ersparnisgründen geforderten Reihenbauweise dem noch Bestehenden und über ihm dem Gestaltgesetz der zu erneuernden Stadt weit gefügiger sich einpassen lassen, als die harte Alternative Alt oder Neu zunächst mag erscheinen lassen.

Für neue Repräsentationsbauten wird unsere Not die Mittel kaum aufbringen können. Man wird sich bescheiden müssen, die Ruinen der alten auszubauen, und deren Gestaltenergien werden den Takt und die Behutsamkeit erzwingen, die einer würdigen Erneuerung unerläßlich sind. So werden wir auch von außenher zur Erfüllung einer innersten Verpflichtung gedrängt sein: zur Wiederaufrichtung der alten symbolhaften Bauten. Wir sollten nicht zu lange damit zögern. Gewiß, unseren Heim- und Heimatlosen lebenswürdige Wohnstätten zu schaffen, ist vordringliches Gebot. Und wir wünschten, das gestürzte Regime hätte, statt in pomphaften Repräsentationskulissen der eigenen Verherrlichung zu huldigen, dem naturnahen Siedlungsbau, wie er damals noch möglich gewesen wäre, mehr Sorge zugewendet. Wieviel Zerstörung von Hab und Gut, wieviel grausames Elend der in die Städte Gepferchten wäre uns erspart geblieben. Da vor allem gilt es heute unter schwierigsten Verhältnissen nach Möglichkeit zu lindern. Aber der Mensch lebt nicht von Brot allein. Unser Volk will seine alten Symbolbauten wieder haben. Seine äußere Not, die ihm bewußt ist, schreit nach Wohnstätten. Aber seine innere Not, meist unbewußt, will mehr.

Nach der Augsburger Schreckensnacht im Februar 1944 sah man sie ziehen, die aus dem brennenden Haus Vertriebenen, den Handkarren mit kläglich gerettetem Hausrat durch den Moder schiebend, versengt, zerrissen, verzweifelt, die Gespenster der Nacht noch im wirren Aug, den ungewissen Morgen, das gewisse Elend vor sich. Stumm torkelten sie vorwärts. Aber plötzlich riß sie durch Ruinen hindurch der Blick aufs noch schwelende Rathaus hoch. Da stockte der Zug, da brach der Jammer in fassungsloses Schluchzen aus. Das war nicht historisierende Sentimentalität, das war Jammer der Existenz, die da ein Stück ihres Wesens herausgebrochen sah aus dem eigenen Leben. Ja, dieser Bau hatte sich eingegraben ins Leben eines jeden Augsburgers, von Kindestagen, seit Urgroßväterzeiten her. Er gehörte zu seinem Sein, wie das Erwachen am Morgen, wie der Schluck hellen Wassers nach weiter Wanderung, wie das Tor, das Einlaß gewährt am Abend. Nun, da er in Trümmern lag, nun erkannten sie dumpf, daß er Kraftquell gewesen, unbewußt aufgenommen ein Leben lang, daß er ihr Leben geformt hat und durchstählt. Jetzt, im plötzlichen Verlust des geliebten Baues, jetzt erst ganz erfuhren sie das eigene Elend. –

Ja, wir sollten nicht zu lange zögern, diese Bauten wiederherzustellen. Heute, o heute ganz besonders bedarf unser Volk solcher Anker im Übertäglichen, solcher Klammern von Gestern und Morgen.

Wir können uns heute nur erst zögernd vortasten in die Bedingungen und Möglichkeiten des Morgen. Und oft wird es nötig sein, ganze Quartiere, die in Trümmern liegen, noch ruhen zu lassen, oder doch nur erst, wie es für Stuttgart vorgeschlagen wurde, die noch stehenden Fundamente zur Ausnützung der Bodenwerte als Ladenprovisorien zu überdachen, – um dem kommenden Leben, das seine Formen erst entwickeln soll, nicht übereilt vorzugreifen. Denn immer wieder bei unserem Wiederaufbauplanen muß uns die Frage in Unruhe halten: verfügen wir heute überhaupt über eine architektonische Gestaltungskraft, wie sie notwendig ist, um die vom Zeitgeschick uns aufgetragene, uns verhängte Aufgabe zu erfüllen: unsere Städte neu zu begründen für kommende Jahrhunderte? Muß eine solche Gestaltungskraft nicht erst im bedächtigen Vollzug der Aufgabenstellung reifen? Werden nicht spätere Geschlechter über unseren Vorgriff richten – nicht nur als Richter in Form- und Kunstdingen, nein, als Opfer von falschen Lebensbahnen, in die ein vorwitziger Eifer sie gezwungen hat.

Dies gilt vor allem für tiefere Eingriffe ins Gestaltgefüge der alten Städte. Da werden, um neuzeitlichem Verkehr die Bahn zu erleichtern, manche Erweiterungen alter Straßenläufe, manche Durchbrüche durch alte Quartiere nicht zu umgehen sein. Ja, solche Eingriffe werden unter kleineren Opfern oft ein Wertvolleres retten. Auch hier gilt ein Gleiches wie bei der Einfügung der neuen Einzelbauten: je bedächtiger solche Eingriffe erledigt werden, um so schmiegsamer wird sich ihre Durchführung ins bestehende Grundgefüge einpassen lassen. Denn dieses Grundgefüge erweist sich, je tiefer man es durchsinnt, immer elastischer und immer gültiger den bleibenden Bedingungen der Lage entsprungen. Die neuzeitlichen Verkehrswege haben sich, Straßen- und Bodenbedingungen entsprechend, zumeist über den früheren entfaltet. So konnten die Grundachsen des Stadtgefüges meist beibehalten bleiben und können es auch weiterhin. Wo infolge willkürlicher Bodenspekulation, zeitbedingter Bahnführung oder mißgeleiteter Erweiterungsplanung Achsendrehungen stattgefunden haben, da haben sie sich häufig als verhängnisvoll für die gesamte Neuentwicklung der Stadtanlage erwiesen. So hat sich zum Beispiel in Augsburg die ursprüngliche Grundachse der Stadt, die Süd-Nord-Achse, als die sinnvollere erwiesen gegenüber der neuzeitlichen Auswucherung der Stadt gegen Ost und West. Die Wiederaufbauplaner haben die richtige Folgerung gezogen: die alte Lebensader wird Grundlage der Erneuerung sein. In Nürnberg werden die Erneuerer Bedacht legen müssen auf reibungslosere Verbindung der Teilstädte über den Fluß hinüber. Doch das großartige Spannungsverhältnis der Teile, diese zum Gestaltgesetz gewordene Lebensdynamik des Nürnberger Menschentyps, wird auch weiterhin, weil existentiell, nicht nur historisch bedingt, erhalten bleiben sollen.

Bei solchen Entscheidungen wirkt über den einzelnen Planer hinweg das Leben selbst. So hat es immer geschaltet. Man beruft sich heute gern auf Sir Oliver Wren, den Wiederaufbauer Londons nach dem verheerenden Stadtbrand im Jahre 1666, als Kronzeugen einer unbedenklichen Neuplanung aus dem Bewußtsein der eigenen Zeit heraus. Wie denn – stellt der Grundriß Londons mit der Winkelführung seiner Hauptachse vom Tower am Themseufer schräg hin zur Börse, vor ihr in scharfer Knickung abwinkelnd zur Paulskathedrale hin, stellt diese gebrochene Achsenziehung wirklich eine damals »moderne«, also eine Barockplanung dar? Gewiß – der damals neu sich bildende Faktor der Wirtschaft, die Börse, wird monumental eingebunden in die vom Mittelalter überkommenen Fixpunkte Burg und Dom. Aber hätte der von Grund aus neu planende Städtebauer der Barockzeit nicht eine andere Art der Eingliederung vorgezogen? Hätte er nicht von der Burg aus die Achse zur Figur geordnet, in sie die übrigen Fixpunkte der Stadtbildung eingebunden, hätte er also nicht abstrakter, im Sinne des Barockideals konkreter, das Symbol der Fürstenmacht betont? Plante doch ein römischer Papst gar die Niederlegung des Kolosseums, um seine Achse vom Vatikan hinüber zum Lateran hemmungslos zu erzwingen! Hat man an Oliver Wrens Grundrißziehung die Einwirkung politisch-soziologischer Tatbestände allein zu begreifen, oder nicht doch die vitale Wucht einer vorgegebenen Situation: die Nachwirkung des mittelalterlichen Londons, das seine Grundanlage, wie Straßen- und Bodenbedingungen sie als dauernd gültig herausgearbeitet hatten, in die Neuplanung hinauf durchprägt? In unseren deutschen Städten jedenfalls erweist sich die vorgegebene Gestalt fast nie als Hemmnis, sobald sie nur in ihrer existentiellen Wirkmächtigkeit begriffen ist.

Diese Wirkmächtigkeit der Gestalt – sie ist es, um die es uns geht. Uns geht es beileibe nicht um Erhaltung des Alten um des Alten willen, kaum der Kunst um der Kunst willen. Uns geht es um die Rettung des Geistes, der da einer langen Folge von Epochen in wunderbarer Verdichtung entstieg, der in sich birgt, was diese Epochen an Gültigem schufen, was da aus Willkür und Zufall, aus Wandel und Wechsel von Sehnsucht und Stimmung, von Bedürfen und Müssen als geformter Lebensgrund sich auskristallisiert hat zur Gestalt. Und dieser Geist, der auf uns gewirkt hat, soll weiter wirken auf unsere Enkel. Diesem Geist muß sich fügen, was wir heute erneuernd einbauen. Es hat seinen Stil geprägt, ihm gilt es aufzuspüren, ihm eine äußere Form zu geben, die unserem heutigen Empfinden gemäß ist.

Spricht man – besonders in Fragen der Architektur – vom Stil, so denkt man meist an jene Angleichung der äußeren Erscheinung, wie zeitliche Übereinkünfte des formenden Bewußtseins sie in horizontaler Schichtung übereinanderlagerte. Nicht von diesem, dem Zeitstil, ist hier die Rede. Seine Schichten werden senkrecht durchstoßen von einem tiefer her aufstrebenden Stil des Bodens, der alle Zeitstile durchwächst, der aus der besonderen Lebenssubstanz sich speist, die gerade hier zur Form drängt. Ein Renaissancebau in Lübeck wirkt anders als einer in Nürnberg. Eine andere vitale Haltung, ein anderer Charakter hat die zeitliche Stilkonvention sich anverwandelt. Überlieferungen in Sitte und Brauch, Arbeitsmethode und ortsgegebenes Material wirken mit, um diesen Ortsstil zuweilen verpflichtender wirken zu lassen als den oft nur darübergesponnenen Zeitstil. Daß man beide verwechselte, daß man, um ortsgerecht zu bauen, aus Lehrbüchern einen falsch gesehenen Zeitstil zusammenleimte, in dem nun im »Alt-Nürnberg-Stil« zum Beispiel gebaut wurde, das hat manche unserer alten Städte gar sehr entstellt. Der richtig begriffene Ortsstil wird ohne verlogene »Stil«-Allüren auch heute wieder einer unserem Zeitempfinden entsprechenden Form ihr echtes Leben sichern.

Immer wieder bewundern wir, mit welcher Selbstverständlichkeit frühere Zeiten ihre eigenen Empfindungsweisen in jeweils ganz verschiedenen Zeitstilen aneinanderfügten. Da widerspricht inmitten einer gotischen Häuserzeile ein Barockbau keineswegs dem stilistisch einheitlichen Charakter des Ganzen. Warum nicht? Weil der Barockarchitekt bei seiner Gestaltung in jenen gleichen Substanzgrund hinunterstieg, aus dem die gotischen Meister ihre Formen speisten. Nicht äußerliche Angleichung ist da das Entscheidende, obwohl auch die in spätgotischen und besonders in Barockzeiten häufig auftritt. Die geschichtshaltige Substanz, die der Boden birgt, zeugt hier und dort. Sie bildet den Kern, um den die Stilweisen der verschiedenen Zeiten die wechselnden Gewänder legen. Sie bestimmt die Einlagerung des Hausblockes in die Zeilenflucht, seine Proportionierung und die seiner Teile. Sie stärkt die Plastik der Fassaden oder dämpft sie zu kühler oder zarter Flächigkeit. Sie treibt die Steilheit oder Flachheit der Giebel hervor und lagert die Fenster in jeweils anderen Tiefen ein. Sie greift über den einzelnen Bau ins ganze Stadtgefüge hinaus, ordnet das Verhältnis von körperlicher und räumlicher Masse, formt die Plätze, die Winkel der Straßengabelungen. Sie ist's, die das Temperament einer Stadtpersönlichkeit bestimmt. Als Prägung der Volksstile hat man diese die Zeiten senkrecht durchstoßende Formkraft längst erkannt. Als Stile der Stammeslandschaften deuten sie unserem Verstehen so manchen Befund. Man wird sie auch als Stil einer Stadt erspüren, zu voller Bewußtheit der Schaffenden, aller Mitlebenden bringen müssen, wenn jetzt die größte Erneuerungsaufgabe, die je einer Zeit gestellt wurde, zu sinnvoller Lösung geführt werden soll.

Ja, aller Mitlebenden! Nicht den Architekten allein soll Aufgabe und Verantwortung aufgebürdet werden. Wir alle müssen mittragen. Unser Lebenswille, unser Lebensernst muß den Führern am Werk den Schaffensgrund sichern. Unser aller Arbeit muß eingehen in das große Werk. Zuvörderst die Arbeit derer, die unmittelbar beteiligt sind am Bau. Das Alte, in das eingefügt werden soll, verpflichtet. Nicht nur seine äußeren Formen, vor allem das Ethos, dem diese Formen entwuchsen. Unser Baugewerbe im weitesten Sinne, alle Berufe, die mitwirken sollen – sie müssen im Vollzug dieser Arbeit zu ihrem tiefsten Arbeitsernst zurückfinden.

Friedrich Schinkel schreibt in seinem Projekt für den von ihm als Nationaldenkmal geplanten Berliner Dom (Druckschrift 1819): »Der Staat müßte dies Monument als den Mittelpunkt ansehen, wo alles, was er sonst für Gewerbe und Künste tun wollte, konzentriert würde, damit es auch der Mittelpunkt würde für die Bildung eines ganz neuen Geistes in dem Gebiete dieser und wodurch ganz besonders der völlig erloschene alte werkmeisterliche Sinn wieder geweckt würde … Denn es wird ehrenvoller sein, wenn ein solches Werk, sollte das Schicksal auch seine Vollendung stören, halb auf die Nachwelt kommt, als ein Ganzes, welchem die Gebrechen der Zeit den Charakter eines Denkmals nahmen und der Verachtung unserer Nachkommen preisgeben …« Welch tiefes Ethos in solcher Vorausnahme des Verzichts! Vor fast eineinhalb Jahrhunderten rief der große deutsche Baumeister die Nation auf zur Wiedererweckung des alten Arbeitssinnes in den Gewerben. Wieviel grausamer ward dieser Sinn seither verwüstet. Bis in welche Tiefen hinunter hat der Einbruch der maschinellen Methoden die sichere Tradition der Werkarbeit, ihre solide Güte zerstört. Ja, in vielen Gewerben sind die Fähigkeiten für die Fertigung so mancher Qualitäten überhaupt erloschen. Zur alten Werktreue zurückzufinden, Anknüpfung an alte Fertigkeiten langsam wiederzugewinnen – das wird unerläßlich sein, um in würdiger Weise die alte Gestaltung in eine neu zu schaffende überzuführen.

So riefen denn auch heute wieder gewichtige Stimmen zur Erneuerung des alten Arbeitsgeistes. Verantwortungsbewußte Vorkämpfer schufen schon Stätten der Erziehung, wie Schulungswerkstätten u. a., um einen Nachwuchs vorzubereiten für die schwere Arbeit, die seiner harrt. Da wurde der Schlosser und der Schmiede gedacht, der Tischler und der Schreiner, der Steinmetze und Maurer. Auch der Herstellung der Werkstoffe, mit denen sie zu arbeiten haben, galt die Sorge dieser Männer. Man denke nur, was in der Ziegelherstellung zum Beispiel an Fertigung und Proportionierung geändert werden müßte, um Qualitäten zu erreichen, in denen frühere Geschlechter die Grundlage für ihre große Form gesichert haben. Der Wiederaufbau als Gemeinschaftswerk – er müßte die große Schulung der Nation werden, für die die Gemeinden, die Länder die verantwortliche Leitung zu übernehmen hätten. »Nur in werkhüttenartigen Baubetrieben und in kameradschaftlicher Zusammenarbeit aller am Bau mitgestaltenden Kräfte entsteht wieder jenes organische Zusammenspiel lebendiger Formen, das alte Bauten und Straßenbilder vor allen Neuschöpfungen auszeichnet.« (Hermann Esterer.)

Aber nicht nur dem Handwerk müßte solche Schulungsarbeit gelten. Die industriellen Gewerbezweige lassen sich aus unserem heutigen Großbaubetrieb nicht ausschalten. Ja, wir wollen sie nicht entbehren. Nicht nur, daß sie uns nützen, – sie schaffen mit am Ausdruck unserer Zeit. Aber wir wollen uns ihren Fabrikationsmethoden nicht mehr blindlings unterordnen, wir wollen nicht weiter hinnehmen, was ein »verbilligtes Verfahren« an Monstreformen zeitigt. Wir wollen diese Verfahren zwingen, Material und ihre Formung unserem Bedürfen und unserem Empfinden entsprechend zu läutern, ihre Gesetze denen gefügig zu machen, die uns bestimmen. Auch hier ist Wesentliches schon geleistet worden. Der Pionierarbeit des Bauhauses sei immer dankbar gedacht. Die Normung aller Bauteile nach dem Maß unserer menschlichen Gestalt verspricht ein Einordnen der neuen Stilweisen in die alten in elementarerer Weise, als alle von außen herangetragenen Stilisierungen. Wir müssen, über alle Nutzbarkeit hinaus, das Ethos gewahren, das auch in dieser Äußerung menschlichen Tuns und Bildens bereit liegt. Ein nach unserem Maß genormter Bau kann Fabrikware bleiben, – er kann aber auch erzieherisch wirken, je nach unserer Fähigkeit, nach unserem Willen, der genormten Maße uns zu bedienen. Auch das Mittelalter hat – noch innerhalb des Handwerks – genormt – und zu was für einer bildnerischen Lebendigkeit. Auch den maschinellen Methoden und Fertigungen kann die Aufgabe des Wiederaufbaues die große Bewährungsarbeit bieten. Sie werden sich unter dem Gebot des Gesamtwerkes mit der Handarbeit wieder inniger verbinden als bisher. Der Geist, aus dem aller Wiederaufbau sich nähren, zu dem als letztes Ziel er hinstreben muß – er schafft in der unterm Ethos geeinten Arbeit die hohe Schule unseres künftigen Lebens.

Begreifen Sie, daß ich kein »Zurück« predige, sondern ein ungestümes »Vorwärts«. Das Jahrhundert, das mit dieser Katastrophe seinen endgültigen Abschluß fand, hat wie ein Riesenbagger gewaltige Massen an Lebensrohstoff gehoben. Zuviel, als daß es sie hätte bewältigen können in sinnvoller Formung. So mußten diese Massen sich stauen, überschlagen. Was über uns hereinbrach, ist Abschluß und Beginn, Gericht und Aufgabe in einem. An uns ist es, die aus den Fugen gegangene Welt unseres Gestern neu zu ordnen, Gestalt hineinzuzwingen in die Trümmermassen, Sinn zu schlagen aus dem dumpfen Gestein als irdisches Gleichnis einer höheren Ordnung. Da taugt nicht bloßes Nachahmen dessen, was früher Gestalt war. Das Frühere darf uns nur deuten, was Gestalt sein kann, wie Gestalt ersteht. Die uns aufgegebene Gestaltung muß über alle frühere hinaus aufnehmen, was inzwischen angefallen ist an noch tauber Substanz, muß ausscheiden, was seither vermodert ist.

Wiederaufbau – jetzt erweist er sich als Forderung, der alle Zerstörungen des Krieges nur Anlaß sind, die eigentliche Zerstörung unseres Lebens zu begreifen. Wiederaufbau – bemerken Sie nun, wie seine Aufgabenstellung plötzlich transparent wird, wie hinter der Forderung, unsere alten Städte neu erstehen zu lassen, die elementare Forderung aufsteht: Erneuerung unseres Lebens! Nicht neue Häuser gilt es zu bauen, sondern neue Menschen.

Wo sollen wir ansetzen, aus unserem Elend heraus? Weicht nicht auch da beim Versuch einer Erneuerung unseres Menschseins alle Wirklichkeit vor uns zurück ins Schemenhafte, wird nicht gerade alle Bemühung um echte Menschlichkeit aufgesogen von der krassen Alltagsmühe. So viele rings um uns zieht es heute hinunter in den Schlamm der banalsten Sorge, in eine armselige Nur-Gegenwärtigkeit. Es ist schwer, sein Menschentum aufzubauen, wenn der Boden unter einem wankt, wenn das nackte Leben noch immer gefährdet ist. Wohl denken wir an Herders Wort: »Der Mensch muß nach etwas Höherem streben, damit er nicht unter sich sinke.« Wie aber jenen Armen ein Höheres weisen, ohne ihr bitteres Gelächter zu reizen? Wie ihnen helfen?

Viele suchen zurück, in unserer alten Kultur Halt und Trost zu finden. Sie wollen retten, was uns davon geblieben ist, wollen verschüttete Schätze wieder lebendig machen. Ein schönes Beginnen, gewiß. Aber man verwechsele unseren Kampfruf um einen Wiederaufbau nicht mit solchen Versuchen!

Was ist denn Kultur? Sie ist nicht, wie sie oft gedeutet wird, ein mehr oder minder lebendiger Besitz objektiver Werte, ist nicht ein Genießen der von Vorfahren erworbenen geistigen Güter, die vor Rückschlägen ins Chaos zu sichern scheinen. Kultur ist Bauen und Pflegen, ist unermüdliches Ringen um jene Schwebe zwischen Dämon und Gott, wie sie dem Menschen als unabdingbare Haltung aufgetragen ist. Im Stande der Kultur leben, heißt der Fragwürdigkeit des Daseins sich bewußt sein, aber zugleich auch der unerbittlichen Notwendigkeit, in die es existentiell gespannt ist. Solche Haltung schafft Werte und Güter, an denen sie sich hinaufarbeitet zu immer höherer Selbsterfahrung, und früher erworbene mögen sie dabei stärken. Sie selbst aber ist mehr als alle ihre Produkte und als Aufgabe unendlich. Denn sobald dies Ringen um die hohe Schwebe nachläßt, sobald es dem Genießen weicht, erlischt das geheimnisvolle Feuer, in dem echte Kultur sich erhärtet.

Das gilt für die Einzelnen, gilt für die Völker und Zeiten. Uns Deutschen vor allem sollte unter der Zerstörung so vieler alter Kulturwerte aufgegangen sein, wie fragwürdig aller Besitz ist, auch aller Besitz jener »verbürgten Kultur«. Uns sollte die eigentliche Bedeutung von Kultur entsprechend klar geworden sein: tätige Funktion, wirkendes Menschsein. In furchtbarer Nacktheit stehen wir heute da, dem fordernden Leben preisgegeben wie unsere Städte. Uns bleibt nur zu ringen um Sicherung vor dem Chaos, vor allem vor dem Chaos in uns selbst.

Da frommt nicht armseliges Flickwerk hier und dort und gar nicht ein Wiederanknüpfen an Positionen, die 1933 verloren gingen. Erschreckend, wie alte Irrwege weiterschieben – auch über die ärgste Katastrophe hinüber. Nein, unser Leben darf nicht in die alten Gleise einrangieren. Vom Kern aus muß es sich umbilden.

Wissen wir Heutigen noch, wo der Kern unseres Lebens ruht? Ein dumpfer Lebenswille hat ihn überkrustet, Hast und Genuß haben ihn verdeckt. Ein Ahnen bestenfalls blieb noch von jener Ehrfurcht, aus der frühere Geschlechter ihren Glauben hoben. Solchem Ahnen ist im Irdischen die Entsprechung gewiesen in sinnvoller Arbeit des Alltags. In unserer Arbeit müssen wir uns sammeln, um wieder hinaufzufinden zum eigentlichen Kern unseres Daseins. Hier im Bereich unserer schlichten Alltagsarbeit müssen wir ansetzen zum Neubeginn, mitten aus unserem tiefen Elend heraus.

Unsere Arbeit, die Arbeit der meisten von uns, ist sinnlos geworden. Im Triebwerk der Technik wird sie zermahlen zu armseligem mechanischem Tun und ewigem Wiedertun. Da gedeiht dem einzelnen kein Werk, und das Werk, das der Masse gedeiht, bleibt dem einzelnen unfaßbar. Er kann es nicht mit seinen Händen fassen, nicht mit seinen Sinnen und Gedanken. Es bleibt ihm gestaltlos, übergreift ihn und stampft ihn nur tiefer hinunter in sein Massenschicksal. Was ihn als Stadt heut umgibt, ist Spiegelung seines armen sinnleeren Tuns.

Wir wollen das heute oft gehörte Klagelied vom »Fluch der Technik« nicht wiederholen. Forschender Menschengeist hat die Technik einst geweckt. Zwangsläufig mußte er immer weiterforschen, mußte sie immer mehr entbinden aus jener geheimnisvollen Balance zwischen Sinn und Zweck, in die sie ehdem dienend eingelagert war. Bis sie selbstherrlich aufstand, bis listige Nutzung sie hat wuchern lassen. Heute stehen wir zu tief unter dem Bann dieser dämonischen Macht, als daß wir wähnen dürften, durch sentimentales Gewinsel ihren Fängen zu entkommen. Narrheit wäre es, diesem Moloch der Technizität mit dem biederen Mahnruf steuern zu wollen: »Zurück zur Handarbeit.« Es hieße die Bewußtheitsstufe leugnen, die uns heute notwendig in die Haltung eines technisierten Lebens zwingt. Auch hier kann ein »Zurück« nicht gelten. Auch hier heischt ein »Vorwärts« den Neubeginn.

Nein, die Tatsache der Technisierung unseres Lebens läßt sich nicht ungeschehen machen, wohl aber deren Art. Es gilt, diese blind vorstürmenden Energien der Technik abzufangen, sie einzugliedern ins Gefüge einer sinnvollen Arbeit des Menschen. Nicht mehr die »unbegrenzten Möglichkeiten der Technik« dürfen die Weise unserer Arbeit bestimmen. Umgekehrt: unsere Arbeit, ihr zum Kern unseres Lebens hingewandter Sinn soll jene Möglichkeiten lenken, wenn nötig begrenzen, auf daß die Energien, die da gelöst wurden, uns wieder dienen, als Diener uns helfen, zu uns selbst zu gelangen.

Revolutionierung der Arbeit – heute ist ihre Stunde da. Heute erbebt die zum Moloch gewordene Übertechnisierung in ihren Fugen. Die Katastrophe fiel ihr in den Rücken. Die Gleise, auf denen sie vorwärtsraste, auf denen sie gestern noch als Krieg den Triumphzug des Todes führte, die alten Gleise sind verstellt. Jetzt schlägt ein Leerlauf in ohnmächtiger Wut zurück: was unsere Arbeit lähmt, was die Kräfte drosselt, die Produktionen versiegen macht mangels Nachschubs der erforderlichen Energien, der Rohstoffe, der Leistungskraft, was uns alle, was unsere Äcker noch hungern läßt – es ist die Rache dieser ungebändigten Technik, die, plötzlich im torkelnden Vorwärtsrasen gehemmt, nun in Krämpfen sich windet, die die lächelnde Maske abwirft und ihr sinnentstelltes Antlitz offen zeigt. Wer ehedem noch blind blieb für die Wirkung dieser zügellosen Masse, wer sie in der Vermassung der ihr Verfallenen, in ihrer Verarmung und Verödung nicht erkannte, dem muß ihr Wesen heute furchtbar aufgehen unter dem Elend, in das ihre Selbstbedrohung uns alle hinunterreißt.

Heut gilt es, des niedergebrochenen Ungetüms Herr zu werden. Zur Produktionskatastrophe tritt das Diktat der Sieger: viele unserer großen Industrien werden zerschlagen bleiben, und wir werden uns viele der andern nicht mehr leisten können. Unsere künftige Produktion wird sich vielfach in Kleinbetriebe auffädeln müssen. Viele dieser Kleinbetriebe werden aus den Städten auswandern aufs Land, zum kraftspendenden Gewässer, zum Rohstofflager, zum Kräftereservoir der Natur. Auch die in der Stadt verbleibenden werden sich wieder näher dem eigentlich menschlichen Leben gesellen. Dies alles wird die Arbeitsprozesse aufschmelzen. Diese elastisch gewordenen Arbeitsprozesse müssen wir formen. Auch die Arbeit an der Maschine kann sich dem Ganzheitsgefüge des Menschen einschmelzen, wenn dem Schaffenden nur die Gestaltgebung, an der er mitwirkt, überschaubar, der Produktionsgang vom Anfangsstadium des Hervorzubringenden bis zur Vollendung des Werkes faßbar bleibt. Dies wird in vielen Fabrikationszweigen zu erreichen sein. Ein Rest von unbezwinglicher Dumpfheit, von armer Massenarbeit wird immer bleiben müssen. Er muß als Opfer getragen werden, von den Betroffenen als Dienst, von uns andern als dauernde Mahnung an die immer lauernde Dämonie des bezwungenen Mittels.

Aus solcher vermenschlichten Arbeit als Ursprung werden menschendienliche Erzeugnisse gedeihen. Wieviel Mühen in Haus und Hof, in Wirtschaft und Betrieb können uns noch abgenommen werden durch sachdienliche Einrichtungen der Technik. Wieviel Lebenserleichterung vermag sie uns noch zu schenken. Ihr Ausbruch ins Gigantische hat die Sorge um die kleinen Dinge des Lebens überrannt. Energieballung war stets ihre Parole – bis hin zum millionenfachen Mord. Schreckgespenster schweben über dem Morgen. Die bannt kein sentimentales Gedusel. Die bannt nur die Tat. Dies Idol der Energieballung muß gebrochen werden. In andere Bahnen werde der ingeniöse Geist gelenkt! Teilung der Energien ist das Gebot der Stunde, auf daß unter menschlichem Gesetz ein gestalthaftes Ziel sich weise. Die ungebändigte Technik hat die innere Gestalt unserer Arbeit, hat die Gestalt unserer alten Städte, hat die Gestalt unseres Lebens zerstört. Die gebändigte soll die neuen Gestalten erzwingen.

Dies ist das Ziel. Uns geht es ja nicht um Erleichterung unseres Lebens. Wohin hat die Welt dies Streben geführt! Nicht ein bequemeres Leben sei das Ziel dieser Revolutionierung, sondern seine Vertiefung. Wir ringen um eine Arbeit, die uns als irdische Entsprechung einer höheren Sinngebung gelten darf. Ist uns Heutigen mehr zu fordern erlaubt?

Sinnvolle Arbeit als Ursprung – als Ergebnis die sinnweisende Gestalt. In beide eingespannt, von beiden durchwirkt unser Leben! Es ist die fordernde Idee, die uns aufreißen muß aus unserem Elend. Unser Volk braucht über seinen Elendstag hinaus Ideen. Seine alten Ideologien sind ihm vom Weltgericht der Geschichte zerschlagen worden. Ausgeschlossen vom großen politischen Geschehen für immer – was soll sein ruhelos-rastloses Wesen denn fürderhin wirken? Es braucht die Idee, der es folgen kann. Hier in der Sinnerfüllung seiner Alltagsarbeit ist sie ihm geboten.

Ideen rufen nach Verwirklichung. Wo ist sie uns umfassender, so alle Glieder unseres Volkes umspannend, gewiesen als im Wiederaufbau unserer alten Städte! Hier wartet die sinnerfüllte, die überschaubare Arbeit. Hier wartet das große Ergebnis: die Ehrfurcht weisende Gestalt. Hier fördern sich Aufgabe und Vollzug zur vertrauensvollen Leistung, zu treuem Dienst am Werk. Hier wird der einzelne eingebunden ins Schaffen der Gemeinschaft und freier wieder entlassen zu sich selbst. Wiederaufbau als Symbol und als Tat – es sei die Antwort auf die Not, die uns würgt!

 

»Denn gelöst sind die Bande der Welt. Wer knüpft sie wieder als allein nur die Not, die höchste, die uns bevorsteht!«

Im Goethejahr 1932 hat Albert Schweitzer seine Frankfurter Gedenkrede mit diesen Versen aus »Hermann und Dorothea« beschlossen. Er ahnte das Kommende. Und er glaubte an die verpflichtende Kraft der Not. Nun hat uns die Not überfallen. Nun stöhnen wir unter ihrer Faust. Die Trümmer unserer alten Städte klagen in die Himmel.

Aber über alle Klage hinaus sind sie Anruf des Schicksals. Es hat uns Deutsche schuldig werden lassen vor andern. In unserm Volk sind die verderblichen Keime aufgebrochen, die ringsum in allen Völkern gären. Uns hat die Schuld in die tiefste Not gestürzt. Laßt sie uns bejahen, diese unsere tiefe Not! Sie weist uns den Weg, der not tut. Nur aus solcher Not heraus kann der neue Mensch geboren werden. Aus unserer Notzeit heraus erwachse der Anruf an die Welt!

Und wäre uns ein Gelingen versagt, überschattete der düstere Engel einer Endzeit mit schwerem Fittich auch all unser Mühen, so möge ein tragisches »Dennoch« unser Wagnis adeln. »Denn es wird ehrenvoller sein, wenn ein solches Werk, sollte das Schicksal auch seine Vollendung stören, halb auf die Nachwelt kommt, als ein Ganzes, welchem die Gebrechen der Zeit den Charakter eines Denkmals nehmen und der Verachtung unserer Nachkommen preisgeben …« Dann mögen wir doch in Würde untergehen und noch im Untergang unseren Glauben erweisen.


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